27

Lord dy Baocia und Ser dy Ferrej erreichten Ista zuerst. Der rote Hengst legte die Ohren an, wieherte schrill und schnappte mit den Zähnen, worauf die beiden Männer wieder mehrere Schritte zurückwichen.

»Bei den Göttern, Ista«, rief dy Baocia, kurzzeitig abgelenkt. »Was für ein Pferd! Wer war so närrisch, dich auf so ein Biest zu setzen?«

Ista tätschelte Dämon den Nacken. »Er leistet mir gute Dienste. Eigentlich gehört er Lord Illvin, teilweise zumindest. Doch ich hoffe, man kann eine dauerhafte Leihgabe daraus machen.«

»Von beiden seinen Herren, wie es scheint«, murmelte Illvin und blickte über das Lager. »Majestät … Ista … Liebste, ich muss erst dem Grafen dy Oby Bericht erstatten.« Seine Miene wurde hart. »Seine Tochter ist noch immer auf Burg Porifors eingeschlossen, wenn die Götter meine Gebete erhört haben und die Mauern halten.«

Zusammen mit Liss und dy Cabon, dachte Ista und fügte ihre stummen Gebete den seinen hinzu. Sie fühlte in ihrem Innern, dass die Mauern noch hielten. Doch sicher wusste sie nur, dass Goram noch lebte. Und sie hatte sich schon früher geirrt.

»Den Neuigkeiten zufolge, die wir überbringen«, fuhr Illvin fort, »dürfte dy Obys Armee innerhalb der nächsten Stunde ausrücken. Ich will gar nicht daran denken, was für Gerüchte inzwischen über das Schicksal meines Bruders an seine Ohren gedrungen sind. Es bleibt noch viel zu tun.«

»Mögen die fünf Götter Euer Vorankommen beschleunigen. Unter Euren vielen Bürden bin ich nun die geringste. Diese Leute hier werden mich so sehr umsorgen, dass ich gar nicht mehr dazu kommen werde, mir Gedanken zu machen — ich kenne sie!« Ernst fügte sie noch hinzu: »Achtet auch ein wenig auf Euch selbst. Zwingt mich nicht, noch einmal hinter Euch herzukommen.«

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Würdet Ihr mir auch in die Hölle des Bastards folgen, geliebte Zauberin?«

»Ohne Zögern — jetzt, wo ich den Weg kenne.«

Er beugte sich über den Sattelbaum und griff nach ihrer Hand, hob sie an die Lippen. Sie fasste danach seine Hand und führte sie an ihre Lippen, biss ihm verstohlen in die Knöchel, was seine Augen aufleuchten ließ. Widerstrebend ließen sie einander los.

»Foix«, rief Illvin. »Begleitet mich. Euer Zeugnis ist dringend erforderlich.«

Dy Baocia wandte sich eifrig an Foix. »Junger Mann, muss ich Euch für die Rettung meiner Schwester danken?«

»Nein, Herr«, erwiderte Foix und verbeugte sich höflich. »Sie hat mich gerettet.«

Dy Baocia und dy Ferrej starrten ihn verständnislos an. Ista wurde sich des seltsamen Bildes bewusst, das sie bieten mussten: Foix, grau vor Erschöpfung und mit der Ausrüstung eines Jokoners; Illvin, eine stinkende Vogelscheuche in elegantesten höfischen Trauergewändern, mit tief eingesunkenen Augenhöhlen; und sie selbst in einem zerknitterten weißen Festtagsgewand, das mit braunem Blut bespritzt war, barfuß, zerschlagen und zerkratzt. Ihr zerzaustes Haar vervollständigte den Eindruck allgemeiner Auflösung.

»Kümmere du dich um die Königin«, sagte Foix zu Ferda. »Dann komm zu dy Obys Zelt. Wir haben seltsame und großartige Geschichten zu erzählen.« Er klopfte seinem Bruder auf die Schulter und folgte Illvin.

Für den Augenblick nahm Istas launenhaftes Ross keine bedrohliche Haltung ein, und so trat Ferda an Dämons Schulter und half ihr herunter. Ista war benommen vor Müdigkeit, hielt sich aber entschlossen aufrecht.

»Sorgt dafür, dass dieses schreckliche Pferd gut versorgt wird. Letzte Nacht hat es Lord Arhys treu getragen. Euer Bruder ritt ebenfalls in diesem ruhmreichen Gefecht, und er erduldete Gefangenschaft und schreckliche Unbill. Er benötigt Ruhe, wenn Ihr dafür sorgen könnt, dass er sie sich in diesem Tumult nimmt. Wir alle sind seit gestern Morgen auf den Beinen, und wir haben eine Flucht, eine Belagerung und … Schlimmeres durchlebt. Lord Illvin hat letzte Nacht viel Blut verloren. Achtet darauf, dass er unverzüglich etwas zu trinken und zu essen bekommt.« Nach kurzem Nachdenken ergänzte sie noch: »Und wenn er versucht, in seinem gegenwärtigen Zustand in der Schlacht mitzureiten, dann schlagt ihn nieder und setzt Euch auf ihn drauf. Obwohl ich eigentlich davon ausgehe, dass er mehr Verstand hat.«

Sobald ihr Pferd von einem Soldaten aus Oby außer Reichweite geführt worden war, sprang dy Ferrej wieder auf Ista zu und entwand sie Ferdas Griff. »Majestät! Wir haben Todesängste um Euch ausgestanden!«

Und nicht ohne Grund, wie sie zugeben musste. »Nun, jetzt bin ich in Sicherheit.« Beruhigend tätschelte sie seine Hand, die ihren Arm umklammert hielt.

Lady dy Hueltar stolperte heran, gemeinsam mit der Geistlichen Tovia. »Ista, Ista, Liebes!«

Dy Baocia schaute aufmerksam hinter Illvin her. »Nun, da ihr alle wieder vereint seid, sollte ich mich vielleicht besser auch dy Oby anschließen.« Er brachte ein Lächeln für Ista zustande. »Ja, ja, gut.«

»Hast du deine eigenen Truppen mitgebracht, Bruder?«, fragte Ista.

»Ja, fünfhundert Berittene. Alle, die ich in der Eile zusammenbringen konnte, nachdem diese Leute auf mich einstürmten und mit deinem beunruhigenden Brief herumgefuchtelt haben.«

»Dann solltest du dich unbedingt dy Oby anschließen. Deine Wache bekommt hier vielleicht Gelegenheit, sich ihren Sold zu verdienen. Chalion schuldet der Besatzung von Burg Porifors … einiges, aber auf jeden Fall zuerst Entsatz, und das so schnell wie möglich.«

»Ah.« Er nahm Ferda und dy Ferrej mit sich und eilte hinter den anderen her, teils vor Neugier, teils, wie Ista glaubte, um seinem aufdringlichen Gefolge zu entfliehen.

Sie wusste nicht, wie sie von ihren Erlebnissen berichten sollte, ohne sich wie eine Verrückte anzuhören. Doch sie stellte fest, dass sie dieses Problem beliebig lange vor sich herschieben konnte, indem sie die anderen nach ihrer Reise fragte. Die einfache Frage: »Wie seid ihr nur so schnell hierhin gekommen?«, führte zu einer Antwort, die immer noch andauerte, als sie dy Baocias Zelte erreichten, und darüber hinaus. Ista stellte fest, dass die fünfhundert Berittenen von vielleicht hundert weiteren Personen begleitet wurden, Dienern, Knechten und Mägden — dem Gefolge von einem Dutzend Damen sowohl aus Valenda wie aus Taryoon, die sich Lady dy Hueltar auf ihrer selbst erklärten Mission, Ista heimzubringen, angeschlossen hatten. Dy Ferrej war mehr oder minder verantwortlich für die Reisegruppe und damit zu Recht gestraft, befand Ista. Doch dass sie innerhalb einer Woche eine derartige Entfernung zurückgelegt hatten — nicht innerhalb eines Monats —, war für sich selbst betrachtet fast schon ein Wunder. Ihr Respekt für dy Ferrej war stets groß gewesen, nun aber stieg er noch um ein ganzes Stück.

Ista verkürzte Lady dy Hueltars Abendplanung, indem sie ein Bad, Essen und einen Platz zum Schlafen forderte. In dieser Reihenfolge. Die Geistliche Tovia unterstützte sie. Sie war schon immer praktischer veranlagt gewesen als die anderen, und sie beäugte misstrauisch das Blut auf Istas Kleid. Die ältliche Heilerin lotste Ista in ein Zelt, zum Bad und zur Behandlung, und es gelang ihr, bis auf Lady dy Hueltar und zwei Mädchen — ihre eigenen Helferinnen und Akolythen — sämtliche Begleiter hinauszukomplimentieren. Ista musste zugeben, es war so angenehm wie tröstlich, sich der Pflege dieser vertrauten Hände hinzugeben, die Salben und Verbände auf ihre Wunden und angestoßenen Stellen aufbrachten. Auch Tovias gebogene Nadel war dünn und scharf, und wo es nötig war, vernähte sie Verletzungen rasch und mit einem Mindestmaß an Unannehmlichkeiten.

»Woher, in aller Welt, habt Ihr diese Druckstellen?«, wollte Tovia wissen.

Ista reckte den Hals und blickte auf die Rückseite ihres Oberschenkels, auf den die Heilerin wies. Fünf dunkelviolette Stellen zeichneten sich darauf ab. Ihre Mundwinkel hoben sich, und sie verrenkte sich, um die eigenen Finger zwischen den Malen auszubreiten.

»Fünf Götter, Ista!«, rief Lady Hueltar entsetzt. »Wer hat gewagt, Euch so anzufassen?«

»Die stammen von … gestern. Als Lord Illvin mich vor dem jokonischen Heerzug auf der Straße gerettet hat. Was hat er doch für lange Finger! Ich frage mich, ob er irgendein Instrument spielt. Ich werde ihn danach fragen.«

»Ist Lord Illvin dieser seltsame große Bursche, der mit Euch ins Lager geritten kam?«, fragte Lady dy Hueltar misstrauisch. »Die stürmische Art, wir er Eure Hand geküsst hat, gefiel mir gar nicht.«

»Nein? Nun, er hatte nicht viel Zeit. Ich werde ihn noch üben lassen, bis seine Technik besser wird.«

Lady dy Hueltar wirkte beleidigt, doch zumindest die Geistliche Tovia schnaubte ein wenig.

Ista erhielt einen Schlafplatz, in einem Zelt, unter dem Schutz einiger Damen. Doch als sie den Hufschlag vieler Pferde hörte, die sich aus dem Lager entfernten, erhob sie sich wieder und spähte hinaus — trotz ihres Nachthemds. Es war erst später Nachmittag. Wenn Obys’ Reiterei an diesem langen Sommertag auf Porifors herabstieß, würde sie noch viele Stunden Tageslicht für ihre Arbeit zur Verfügung haben. Der Zeitpunkt konnte besser nicht sein. Nach den furchtbaren Geschehnissen am Mittag musste sich ein Höchstmaß an Verwirrung und Entsetzen im jokonischen Heer verbreitet haben. Vermutlich waren die Jokoner noch immer mehr oder minder führungslos — zu lange hatte Joen einen trägen, geistlosen Gehorsam erzwungen, und es war unwahrscheinlich, dass die Betroffenen diese Gewohnheit so schnell wieder abschütteln konnten.

Ista ließ sich schließlich überreden, zurück ins Bett zu kriechen — ein Rat von Menschen, die sie liebten, obwohl die Ista, die sie meinten, vermutlich nur eine Illusion war, eine Frau, die ausschließlich in ihren Gedanken existierte; teilweise eine Ikone, teilweise Gewohnheit.

Diese Erkenntnis stimmte sie nicht übermäßig traurig, denn jetzt kannte sie immerhin jemanden, der die wahre Ista liebte. Sie schlief ein, während sie an ihn dachte.


Ista schreckte aus einem scheußlichen Traum hoch, der nicht ganz der ihre gewesen war, wie sie glaubte. Es war der Klang streitender weiblicher Stimmen, der sie geweckt hatte.

»Lady Ista wünscht zu schlafen, nach ihrem Martyrium«, stellte Lady dy Hueltar bestimmt fest. »Ich lasse nicht zu, dass sie schon wieder gestört wird.«

»Aber … aber …«, sagte Liss verwirrt, »die Königin möchte gewiss die Neuigkeiten aus Porifors hören. Wir sind noch vor der Morgendämmerung aufgebrochen, um ihr so schnell wie möglich davon zu berichten.«

Ista rollte sich unter ihren Decken hervor. »Liss!«, rief sie. »Komm her!« Anscheinend hatte sie die ganze kurze Sommernacht durchgeschlafen. Das genügte.

»Nun schau, was du angerichtet hast!«, sagte Lady dy Hueltar verärgert.

»Was denn?« Liss’ Verblüffung war echt. Im Gegensatz zu Ista hatte sie keine jahrelange Erfahrung darin, die versteckten Andeutungen der ersten Hofdame ihres Haushalts zu entschlüsseln. Ista übersetzte Lady dy Hueltars Ausruf mühelos mit: Ich wollte heute nicht mehr Weiterreisen, und nun muss ich es doch tun, verflixtes Mädchen.

Ein Sprung vom Feldbett kam nicht in Frage, wie Ista feststellen musste. Es gelang ihr, sich mühsam auf die Füße zu kämpfen, ehe die Zeltklappe zurückgeschlagen wurde und waagerechte goldene Lichtstrahlen hereinließen, gefolgt von einer strahlenden Liss. Ista umarmte sie, und Liss umarmte Ista. Das Lächeln und Liss’ Anwesenheit schienen als Bericht beinahe auszureichen. Porifors ist befreit. Es gab keine weiteren verheerenden Verluste letzte Nacht. Den Rest mochte sie der Reihe nach erfahren, oder in einem wirren Durcheinander, wie es sich ergab.

»Setz dich«, sagte Ista. Sie ließ Liss’ Hände nicht los. »Erzähl mir alles.«

»Lady Ista muss sich erst anziehen, ehe sie Besucher empfängt«, verkündete Lady dy Hueltar streng.

»Ein großartiger Gedanke«, pflichtete Ista bei. »Besorgt mir etwas zum Anziehen. Reitkleidung.«

»Oh, Ista, Ihr werdet heute doch nicht reiten wollen, nach allem, was Ihr durchgemacht habt! Ihr braucht Ruhe.«

»Tatsächlich«, warf Liss ein, »hat der Graf dy Oby einige Offiziere ausgesandt, die dafür sorgen sollen, dass das Lager hier abgebaut und so schnell wie möglich nach Porifors verlegt wird. Ferda steht mit einigen Männern Eures Bruders bereit, um Euch auf dem Weg zu beschützen, Majestät, sobald Ihr soweit seid. Es sei denn, Ihr reist lieber mit einem Wagen im Tross.«

»Gewiss will sie mit uns im Wagen reisen«, befand Lady dy Hueltar.

»Verlockend«, log Ista, »aber … nein. Ich reite auf meinem Pferd.«

Lady dy Hueltar schnaubte böse und zog sich zurück.

Eifrig sprach Ista weiter zu Liss: »Oh, was wirst du lachen über mein neues Pferd. Es ist als Kriegsbeute zu mir gekommen, würde ich sagen, obwohl ich Illvin vielleicht dazu überreden kann, ein Geschenk daraus zu machen. Das würde ihm gefallen. Es ist Illvins bösartiger roter Hengst.«

»Der von dem umherstreunenden Elementargeist besessen ist?«

»Ja. Er hat eine plötzliche Verehrung für mich entwickelt und erniedrigt sich auf schockierend unpferdische Weise. Du wirst feststellen, dass er regelrecht geläutert ist, und wenn nicht, dann gibt mir Bescheid, und ich werde ihn wieder die Furcht vor seinem Gott lehren. Doch nun erzähl, liebe Liss!«

»Nun, die Burg und die Stadt sind gesichert, die Jokoner vertrieben oder gefangen. Die meisten von ihnen sind in den Norden entkommen, doch ein paar Nachzügler schleichen vielleicht noch in der Gegend umher.«

»Schleichen … oder irren sie vielleicht eher umher?«, merkte Ista trocken an. »Das wäre nicht das erste Mal.«

Liss kicherte. »Wir haben Fürst Sordso und sein gesamtes Gefolge erwischt, was Lord Illvin und Graf dy Oby über die Maßen erfreut hat. Sie sagen, der Fürst ist verrückt geworden. Stimmt es, dass Ihr ihn verhext und dazu gebracht habt, die Fürstinnenwitwe niederzustrecken?«

»Nein«, sagte Ista. »Ich habe nur den Zauber von ihm genommen, der ihn daran hinderte. Ich denke, es war nur ein plötzlicher Impuls, dem er nachgab und den er vermutlich rasch bereut hat. Joen war bereits tot, ehe seine Klinge traf. Der Bastard hat ihre Seele mitgenommen. Ich frage mich, ob Sordso erleichtert wäre, wenn er das erfährt, oder ob er es bedauern würde. Ich sollte es ihm vermutlich auf jeden Fall sagen. Aber weiter: Was ist mit Lady Cattilara und unserem treuen Geistlichen?«

»Nun, wir alle haben von den Mauern aus verfolgt, wie die Jokoner Euch abgeführt haben. Und dann war für eine Weile alles ruhig, bis wir von diesen großen grünen Zelten her einen gewaltigen Aufruhr hörten. Aber wir konnten nicht ausmachen, was da geschah. Lady Cattilara hat uns alle überrascht. Nachdem Ihr und Lord Illvin als Geiseln fortgegangen wart — oder wir das zumindest angenommen haben —, ist sie aufgestanden. Sie hat ihre Damen dazu genötigt, die Mauern zu verteidigen, denn zu diesem Zeitpunkt waren fast alle Männer zu krank, um noch aufrecht zu stehen. Wie es scheint, pflegen sie hier zu Lande das Bogenschießen, und die jokonischen Zauberer hatten ihre Jagdbögen nicht unbrauchbar gemacht. Einige Damen erwiesen sich als ziemlich gute Schützinnen. Ihre Pfeile hatten nicht genug Kraft, um eine Rüstung zu durchschlagen, aber ich habe gesehen, wie Lady Catti selbst einem ungehobelten jokonischen Offizier einen Pfeil durchs Auge schoss. Hochwürden dy Cabon stand neben ihr — sie hat geschworen, dass Porifors nicht fallen würde, solange sie die Herrin der Burg sei. Ich für meinen Teil habe Steine geworfen — wenn man sie nur hoch genug von einem Turm hinunterwirft, schlagen sie ziemlich hart auf, wenn sie unten ankommen, selbst wenn sie nicht mit viel Kraft geschleudert werden.

Wir konnten sehen, dass die Jokoner unsere Verteidigung nur auf die Probe stellen wollten. Aber wir haben sie trotzdem blutig geschlagen. Einem entschlossenen Angriff hätten wir nicht lange standgehalten, nehme ich an. Aber wir haben sie wohl überzeugt, dass sie nicht so ohne weiteres sofort über die Mauern vordringen können — und dann war es zu spät, denn die Truppen des Grafen von Oby fielen über sie her und jagten sie davon. Lady Catti war großartig, als sie ihrem Vater die Tore öffnete. Ich dachte, sie würde in Tränen ausbrechen, als er sie umarmte, denn ihm ging es ganz sicher so. Aber sie blieb gefasst.«

»Und was ist mit Goram?«

»Er half uns, die Mauern zu halten. Heute Morgen war er erschöpft und hatte Fieber, und deshalb hat Lord Illvin ihn nicht zu Euch geschickt. Er sagte zu mir, ich soll Euch das ausrichten. Da Ihr ohnehin heute Morgen nach Porifors kommt, sah er keinen Sinn darin, Goram zweimal zehn Meilen weit reiten zu lassen. Zumal ihr dann auch nicht viel früher aufeinander treffen würdet.«

»Gut überlegt. Ich werde sofort aufbrechen.« Sie schaute sich um. Lady dy Hueltar eilte geschäftig zurück ins Zelt, begleitet von einem Dienstmädchen, das einen Arm voll Kleidung herbeischleppte. »Ah. Gut.«

Istas Zufriedenheit schwand, als sie das Kleid sah, welches das Mädchen für sie ausschüttelte: ein Gewand aus feinen Seidenschichten, passend für höfische Anlässe und in Witwengrün. »Das ist keine Reitkleidung.«

»Natürlich nicht, Ista, Liebes«, entgegnete Lady dy Hueltar. »Das sollt Ihr bei unserem gemeinsamen Frühstück tragen.«

»Ich werde nur eine Tasse Tee und einen Bissen Brot zu mir nehmen, wenn sich so etwas in diesem Lager auftreiben lässt. Dann breche ich sofort auf.«

»Nein, nein«, entgegnete Lady dy Hueltar. »Das Frühstück wird schon bereitet. Wir wollen feiern, dass Ihr wieder mit uns vereint seid, so wie es sein sollte. Wir alle freuen uns schon sehr darauf.«

Das Festmahl würde zwei Stunden in Anspruch nehmen, schätzte Ista, vielleicht drei. »Ein Mund weniger wird nicht auffallen. Ihr müsst ohnehin etwas essen, bevor ihr das Lager abbrecht. Es wird nichts verkommen.«

»Aber Lady Ista, so nehmt doch Vernunft an!«

Istas Stimme wurde kühl. »Ich reite. Wenn Ihr mir nicht die Kleidung bringt, nach der ich verlangt habe, werde ich Liss durchs Lager schicken, um mir welche zu erbetteln. Und wenn sich nirgendwo etwas auftreiben lässt, dann reite ich im Nachthemd. Oder völlig unbekleidet, wenn es sein muss.«

»Ich würde meine Kleidung mit Euch teilen, Majestät«, warf Liss rasch ein. Offenbar erschütterte sie die Vorstellung einer nackten Ista.

»Das weiß ich, Liss.« Ista klopfte ihr auf die Schulter.

Lady dy Hueltar warf sich beleidigt in Pose. »Lady Ista, Ihr dürft nicht so ungebärdig sein!« Sie dämpfte die Stimme. »Oder sollen die Leute glauben, Eure alten Schwierigkeiten hätten Euch doch wieder übermannt?«

Einen gefährlichen Augenblick lang war Ista versucht, auszuprobieren, mit wie viel Zauberkraft genau der Bastard sie versehen hatte. Doch das Ziel ihres Zorns war zu klein und unwürdig, und in gewisser Weise bedauernswert. Als geborene Schmeichlerin hatte Lady dy Hueltar es verstanden, sich während der vorangegangenen zwei Dekaden als Gesellschafterin der alten Herzogin behaglich einzurichten. Sie hatte sich einer gewissen Unentbehrlichkeit und des Ranges erfreuen können, der von ihrer erhabenen Herrin auf sie abfiel. Es war deutlich, dass sie diese angenehme Existenz gern fortsetzen wollte. Und das könnte sie auch, wenn nur Ista den Platz ihrer Mutter einnehmen und deren Leben fortführen würde. Und alles würde so sein wie zuvor …

Ista wandte sich an die Dienstbotin. »Mädchen, besorg mir Reitkleidung. In Weiß, wenn möglich, oder in jeder anderen Farbe, wenn es sein muss. Doch auf keinen Fall Grün!«

Verängstigt öffnete das Mädchen den Mund. Sie schaute von Ista zu Lady dy Hueltar und wieder zu Ista, hin und her gerissen zwischen widerstreitenden Autoritäten. Ista kniff die Augen zusammen.

»Warum müsst Ihr überhaupt nach Porifors reiten?«, fragte Lady dy Hueltar. Ihr runzliges Gesicht bebte vor Kummer, und sie war den Tränen nahe. »Mit den Truppen Eures Bruders als Schutz können wir gewiss auch gleich von hier aus zurück nach Valenda reisen!«

Ista beschloss, sich noch mehr Gedanken um Lady dy Hueltar zu machen. Tatsächlich hatte diese sich durch ihre langjährigen treuen Dienste eine gewisse Rücksichtnahme verdient. Doch jetzt wollte Ista erst einmal aufbrechen. Sie entspannte sich ein wenig und sagte sanft: »Bestattungen, meine liebe Lady dy Hueltar. Sie werden heute noch die Toten von Porifors beerdigen, und es ist meine heilige Pflicht, dabei zugegen zu sein. Ich möchte Euch bitten, mir die angemessene Ausstattung mitzubringen, wenn Ihr nachkommt.«

»Oh, Bestattungen«, wiederholte Lady dy Hueltar in einem Tonfall erleichterten Verständnisses. »Bestattungen, natürlich.« Sie hatte die alte Herzogin zu einer Vielzahl solcher Zeremonien begleitet. Ista nahm an, dass dies nur scheinbar ihre Hauptbeschäftigung gewesen war. Allerdings hätte sie sich schon sehr anstrengen müssen, sollte sie eine üblichere benennen. Aber Begräbnisse waren etwas, das Lady dy Hueltar verstand.

Diese hier wird sie nicht verstehen. Doch das machte nichts. Zumindest für den Augenblick schien ihre gewohnte Rolle gesichert und bestätigt. Das Gesicht der alten Dame hellte sich auf.

Tatsächlich entspannte sie sich sogar so weit, dass sie sich auf die Suche nach einem Reitkleid für Ista machte, während Liss Dämon sattelte und Ista ein wenig Tee und Brot zu sich nahm. Als sie sich schließlich auf dem Sattel niederließ, bemerkte Ista zufrieden, dass die blassbraune Farbe des Kostüms sogar gut zum kastanienbraunen Hengst passte. Und zumindest würde der Ritt ihren steifen Leib ein wenig auflockern. Sie verspürte anhaltende Kopfschmerzen, doch sie wusste, woher sie kamen. Und ihre Heilung lag in Porifors. Ferda befahl seiner baocischen Truppe, aufzubrechen, und Liss fiel an seiner Seite in Schritt. Die Morgensonne schien hell, und sie kamen rasch voran.


Als Istas Trupp durch das Tor ritt, war eine Staffel von dy Obys Männern gerade damit beschäftigt, Schutt aus der Burg zu schaffen. Ista nahm ihre Arbeit mit großem Wohlwollen zur Kenntnis. Der Wiederaufbau würde länger dauern, doch mit so vielen Händen ließen sich zumindest das Aufräumen und Saubermachen rasch beenden.

Der Vorhof war bereits gereinigt. Sogar die schlaffen Blumen in den zwei oder drei heil gebliebenen Kübeln an der Wand schienen schon wieder die Köpfchen zu heben. Ista empfand eine unbestimmte Dankbarkeit, dass inmitten all der lärmenden Verwirrung jemand ein bisschen Wasser für die Pflanzen übrig gehabt hatte. Sie fragte sich, wer es gewesen war. Der Aprikosen- und der Mandelbaum waren halb kahl, doch sie verloren nicht länger ihre Blätter. Ista hoffte, dass die Bäume sich erholten.

Wir können mehr tun als nur hoffen, sagte sie sich dann. Lebt, mit dem Segen des Bastards. Ich befehle es euch, dachte sie in Richtung der Bäume. Wenn ihnen das irgendeine besondere Vitalität verlieh, war diese zumindest nicht sofort sichtbar. Ista verließ sich darauf, dass die endgültigen Ergebnisse sich nicht als merkwürdig erweisen würden.

Sie sah Lord Illvin durch den Torbogen schreiten, und ihr wurde leicht ums Herz. Sein Haar war sorgsam geflochten, und er selbst war gewaschen und frisch eingekleidet als Offizier von Porifors. Vielleicht hatte er sogar einige Stunden Schlaf genießen können. Der kleinere und stämmigere Lord dy Baocia trippelte an seiner Seite und schnaufte bei dem Versuch, Schritt zu halten. An dy Baocias anderer Seite stapfte dy Cabon und winkte Ista zu. Zu ihrer Erleichterung folgte ein müde aussehender Goram unmittelbar hinter ihnen.

Vorsichtig griff Goram nach dem Kopf ihres Pferdes und beäugte misstrauisch die neue Sanftmut des Tieres. Ista ließ sich aus dem Sattel in Illvins ausgestreckte Arme gleiten und erwiderte auf dem Weg nach unten seine verstohlene Umarmung.

»Guten Morgen, Ista«, wurde sie von Lord dy Baocia begrüßt. »Alles in Ordnung mit dir?« Er wirkte ein wenig benommen, wie es wohl jedem Befehlshaber ergehen mochte, der heute Morgen durch das Innere von Porifors wanderte. Das Lächeln, mit dem er sie bedachte, war nicht annähernd so beiläufig, wie Ista es gewohnt war. Tatsächlich hatte sie den Verdacht, dass sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit genoss — ein sehr merkwürdiges Gefühl.

»Vielen Dank, Bruder. Mir geht es gut. Ein wenig müde, aber ohne Zweifel nicht so erschöpft wie viele der Männer hier.« Sie blickte zu dy Cabon hinüber. »Wie geht es den Kranken?«

»Seit gestern Mittag gab es keine weiteren Toten, den Göttern sei Dank.« Voll herzlicher Dankbarkeit schlug er das heilige Zeichen. »Ein paar sind sogar schon wieder auf den Beinen, obwohl ich annehme, dass die anderen ebenso lange zur Erholung brauchen werden wie nach einem weniger unheimlichen Leiden. Die meisten wurden hinunter in die Stadt gebracht, in die Obhut der Kirche oder ihrer Verwandten.«

»Das ist gut.«

»Foix und Lord Illvin haben uns von den großen Taten und Wundern berichtet, die Ihr gestern in den Zelten der Jokoner vollbracht habt, dank der Gnade des Bastard. Ist es wahr, dass Ihr gestorben seid?«

»Ich … weiß es nicht genau.«

»Ich schon«, murmelte Illvin. Irgendwie hatte seine Hand es versäumt, die ihre loszulassen. Nun hielten sie beide einander noch fester.

»Ich hatte eine sehr merkwürdige Vision. Ich verspreche Euch, Hochwürden, ich werde sie Euch beschreiben, sobald wir ein wenig mehr Zeit haben.« Nun, zumindest teilweise.

»Wie sehr ich mir wünsche — trotz all meiner Furcht! —, ich hätte ebenfalls dabei zugegen sein und Zeugnis ablegen können. Ich hätte mich als über die Maßen gesegnet erachtet!«

»Ach? Dann bleibt noch einen Moment. Ich habe eine weitere wichtige Aufgabe zu erfüllen. Liss, halte mein Pferd. Goram, komm her.«

Erstaunt gehorchte Goram. Er trottete heran und nickte ihr eingeschüchtert zu. »Majestät.« Nervös hielt er die Hände verschränkt und warf seinem Herrn einen flehentlichen Blick zu. Illvin kniff die Augen zusammen und musterte Ista eindringlich.

Ista betrachtete ein letztes Mal die klaffenden Löcher in Gorams Seele. Dann legte sie ihm die Handflächen auf die Stirn und ließ von ihren spirituellen Händen eine plötzliche Flut von weißem Feuer in diese dunklen und leeren Höhlungen strömen. Das Feuer wogte wild in seinen neuen Schranken und beruhigte sich dann langsam, als würde es sich auf einem bestimmten Stand einpegeln. Erleichtert atmete Ista auf, als der unangenehme Druck in ihrem Kopf verschwand.

Goram ließ sich mit überkreuzten Beinen und offenem Mund aufs Pflaster sinken. Er barg das Gesicht in den Händen. Nach einer Weile begannen seine Schultern zu beben. »Oh«, sagte er mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien. Er fing an zu weinen — erschüttert, wie Ista annahm, und von anderen, komplizierteren Gefühlen erfüllt. Die Träume der letzten Nacht ließen manches vermuten.

»Lord Illvin, Bruder — darf ich euch Hauptmann Goram dy Hixar vorstellen, vormals Mitglied der Reiterei König Oricos, in Diensten von Lord Dondo dy Jironal. Kürzlich, wenn auch unfreiwillig, war er Sordso von Jokona zu Diensten, als Schwertmeister und Reiter. In gewisser Hinsicht.«

Goram blickte auf, immer noch schluchzend. Sein Gesicht war wie erstarrt, aber nicht schlaff: Sein Ausdruck schien sich um den Verstand zu festigen, der darunter allmählich zusammenwuchs.

»Ihr habt ihm seine Erinnerung und seinen Verstand zurückgegeben? Aber Ista, das ist wunderbar!«, rief Illvin aus. »Nun können wir endlich seine Familie und sein Zuhause ausfindig machen!«

»Was es da gibt, bleibt noch festzustellen«, murmelte Ista. »Aber seine Seele ist nun wieder die seine, und sie ist vollständig.«

Für einen Augenblick schaute sie in Gorams stahlgraue Augen, und er wich ihrem Blick nicht aus. Sie las Erstaunen darin, Aufruhr und andere Empfindungen. Eine davon war Schmerz, nahm sie an. Sie nickte ihm ernst zu und würdigte all das, was sie sah. Er antwortete mit einer erschütterten Kopfbewegung.

»Dy Cabon«, fuhr sie fort. »Ihr wolltet Zeuge eines Wunders sein, und das seid Ihr nun. Bitte geleitet Hauptmann dy Hixar zurück in sein Gemach. Er braucht Ruhe, damit sein Verstand seine Erinnerung wieder ins Gleichgewicht kommen. Ein wenig geistlicher Beistand wäre vielleicht nicht verkehrt, wenn er so weit ist.«

»Allerdings, Majestät«, entgegnete dy Cabon und schlug überglücklich das heilige Zeichen. »Es wäre mir eine Ehre.« Er half Goram — dy Hixar — auf die Füße und führte ihn unter dem Torbogen hindurch davon. Illvin sah ihnen nach und richtete seine dunklen Augen dann wieder nachdenklich auf Ista.

Mit schwacher Stimme wollte dy Baocia wissen: »Was ist da eben geschehen?«

»Fürstin Joen hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit Hilfe ihres Dämons für ihre Zauberer nützliche Stücke aus den Seelen anderer Leute zu stehlen. Unter anderem von Kriegsgefangenen. Fürst Sordso war ihr bedeutendstes Konstrukt und voll von solchen Bruchstücken. Als Sordsos Dämon gestern durch mich hindurchgegangen ist, erlaubten mir die Götter, jenen Teil von Hauptmann dy Hixar zu erkennen und zurückzuhalten, der mit den anderen Teilen verwoben war, und so konnte ich ihn gerade zurückgeben. Dies gehört zu der Aufgabe, die der Bastard mir übertragen hat: Die Dämonen in der Welt der Materie zu jagen, sie aus ihren Wirten herauszurupfen und in seine Hölle weiterzuleiten.«

»Und diese Aufgabe … ist nun vollendet, nicht wahr?«, fragte er hoffnungsvoll. Oder eher besorgt. Er blickte über das Durcheinander von Porifors. »Gestern, oder?«

»Nein. Ich nehme an, das war nur der Anfang. In den letzten drei Jahren ließ Joen eine regelrechte Heimsuchung an Elementargeistern auf die Welt los. Sie sind entkommen und haben sich über alle fünf Fürstentümer und über die Königreiche verbreitet. Doch die meisten von ihnen befinden sich vermutlich noch immer in Jokona. Die Frau, die vor mir diese Berufung hatte, wurde in Rauma ermordet. Es ist nicht leicht, sich für diesen Dienst ausbilden zu lassen. Wenn ich den Gott richtig verstanden habe — Er findet Gefallen an Rätseln und Mehrdeutigkeiten —, suchte Er einen Nachfolger, der ein wenig besser beschützt sein würde, da uns in der nächsten Zeit einige … äh, theologische Herausforderungen bevorstehen.«

Illvins Augen funkelten, während er zuhörte. »Das erklärt einiges«, murmelte er.

»Er ließ mich wissen, dass Er nicht noch einen Pförtner ausbilden will«, fügte Ista hinzu. »Und dass Er seit einiger Zeit eine Schwäche für eine Königin hat. Genau so hat Er es ausgedrückt.« Sie hielt kurz inne, um ihre letzte Aussage zu unterstreichen. »Ich wurde gerufen. Ich komme.« Und du kannst mir entweder helfen, Bruder, oder mir aus dem Weg gehen. »Ich möchte einen fahrenden Hof zusammenstellen, klein und beweglich. Die Pflichten des Gottes werden vermutlich auch weiterhin körperliche Mühen erfordern. Mein Sekretär, sobald ich einen ernannt habe, und der Eure müssen sich bald zusammensetzen und überlegen, wie man mir die Erträge meines Wittums nachsenden kann. Ich bezweifle, dass meine Aufgaben mich zurück nach Valenda führen werden.«

Dy Baocia ließ das alles für einen Augenblick auf sich wirken, dann räusperte er sich und meinte bedächtig: »Meine Männer bereiten unser Lager bei einer Quelle östlich der Burg vor. Willst du dich auch dort einrichten, Ista, oder wieder deine Gemächer hier in Porifors beziehen?«

Ista schaute zu Illvin auf. »Das zu entscheiden, obliegt der Burgherrin. Doch solange die Festung noch mit den Folgen des Angriffs belastet ist, möchte ich ihr nicht meinen angewachsenen Haushalt aufbürden. Ich werde eine Weile in deinem Lager verweilen.«

Illvin bedachte sie mit einem kurzen, anerkennenden Nicken für ihr Feingefühl und für alles, was unausgesprochen mitschwang: Bis die Toten begraben sind.

Ihr Bruder bot ihr an, sie zu den Zelten zu begleiten, da er sich ohnehin in diese Richtung wenden wollte. Illvin verneigte sich förmlich vor ihr, zum vorläufigen Abschied.

»Meine Pflichten heute sind drängend«, murmelte er. »Doch später muss ich mit Euch noch besprechen, wie wir einen angemessenen Wachtrupp für Euren fahrenden Hof zusammenstellen.«

»Das ist wahr«, erwiderte sie. »Und auch über weitere Einstellungen.«

»Und Berufungen.«

»Darüber auch.«


Pejar und seine beiden getöteten Kameraden aus dem Orden der Tochter wurden an diesem Nachmittag außerhalb der Mauern von Porifors begraben. Ista und all ihre Begleiter nahmen an den Feierlichkeiten teil. Früher am Tag war dy Cabon noch besorgt zu Ista gekommen, da er zwar die Zeremonien leiten sollte — keiner war besser dafür geeignet, wie Ista fand —, aber keine heiligen Tiere zur Verfügung hatte, um anzuzeigen, welcher Gott sich der Seelen angenommen hatte. Die Tiere aus Porifors’ eigenem Tempel waren bereits überlastet und überdreht von den Anforderungen des Tages.

»Hochwürden«, schalt sie ihn sanft. »Wie brauchen keine Tiere. Wir haben mich.«

»Oh«, sagte er und wich zurück. »Da Ihr jetzt wieder eine Heilige seid — natürlich.«

Und so kniete sie nun im hellen Sonnenlicht nacheinander neben jeder der eingehüllten Gestalten, legte die Hände auf deren Stirn und betete für das Zeichen. In größeren Tempeln wie dem von Cardegoss bot jeder Orden ein heiliges Tier auf, in Farbe und Geschlecht passend zu der Gottheit, die es repräsentierte, zusammen mit dem jeweiligen geweihten Tierpfleger. Diese Tiere wurden nacheinander an die Bahre geführt, und aus ihrem Verhalten schlossen die Geistlichen für die Trauernden, welcher Gott die Seele des verstorbenen Angehörigen aufgenommen hatte, wohin sie ihre Gebete richten mussten und auf welchem Altar sie ihre Opfer abzulegen hatten. Diese Zeremonie brachte den Hinterbliebenen Trost, dem Tempel Einnahmen und gelegentlich ein paar Überraschungen.

Ista hatte sich oft gefragt, was die für diese Pflicht abgerichteten Tiere dabei empfanden. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nicht von heiligen Visionen heimgesucht wurde. Sie verspürte einfach nur eine ruhige Gewissheit. Pejar und der Erste seiner Kameraden waren von der Frühlingstochter aufgenommen werden, der sie auch so treu gedient hatten. Das spürte sie sofort, und so ließ sie es die anderen wissen. Beim letzten Mann, stellte sie fest, war es anders.

»Seltsam«, meinte sie zu Ferda und Foix. »Der Wintervater hat Laonin zu sich genommen. Ich frage mich, ob wegen seines Mutes bei Arhys’ Ritt, oder ob er irgendwo ein Kind zurückgelassen hat. Er war nicht verheiratet, oder?«

»Ah … nein«, bestätigte Ferda.

Ista erhob sich vom Grab. »Dann gebe ich Euch den Auftrag, das herauszufinden. Sorgt dafür, dass das Kind versorgt ist, falls es lebt. Ich werde auch ein Schreiben an den Großmeister dy Yarrin aufsetzen. Ich werde Geld stiften, um es während der Kindheit zu unterhalten, und wenn es Interesse daran hat, soll es Anspruch auf einen Platz in meinem Haushalt haben, sobald es alt genug ist.«

»Jawohl, Majestät«, sagte Ferda. Verstohlen wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen.

Ista nickte zufrieden. Sie war sicher, als gewissenhafter Offizier würde er dieser Aufgabe gerecht werden.

Der schattige Hain, der den Toten der Burg vorbehalten war, überblickte das idyllische Flüsschen. Immer noch wurden zahlreiche Gräber ausgehoben, und andere Trauernde — Kameraden und Verwandte der Getöteten — hatten bei den Riten ihrer Trauergesellschaft zugesehen. Ista hatte kaum eine Vorstellung, was für Gerüchte in Porifors über sie kursierten, doch innerhalb der nächsten Stunde bestürmten demütige Bittsteller dy Cabon und erflehten den Ablass der königlichen Heiligen für ihre eigenen Toten.

Also ließ sie sich den Rest des Tages bis zum Einbruch der Dunkelheit von dy Cabon und Liss von Grabstelle zu Grabstelle geleiten und berichtete vom Verbleib der Seelen. Es waren viel zu viele, doch diese Aufgabe war nicht so gewaltig wie die Verwüstung, die Joen und ihre Zauberer über Chalion gebracht hätten, wären sie nicht durch Porifors’ Opfer aufgehalten worden. Ista wies niemanden zurück, der ihre Hilfe erbat, denn gewiss hätte der Bittsteller sie auch nicht zurückgewiesen. Anscheinend hatte jeder Trauernde eine Geschichte über seinen Toten zu erzählen, und bald erkannte Ista, dass von ihr nichts anderes erwartet wurde als zuzuhören. Gib acht! Majestät, seht diesen Mann. Lasst ihn in Eurem Geist Gestalt annehmen wie in unserem. Denn in der stofflichen Welt lebt er jetzt nur noch in unserer Erinnerung. Sie hörte zu, bis ihr die Ohren ebenso schmerzten wie ihr Herz.

Als sie spät am Abend zu den Zelten ihres Bruders zurückkehrte, fiel sie selbst wie eine Tote aufs Feldbett. Und während die Nacht voranschritt, ging sie in Gedanken noch einmal die Namen, die Gesichter und die Ausschnitte aus dem Leben der Toten durch. Wie konnten die Götter sich alle diese Berichte in vollem Umfang merken? Denn sie erinnern sich an uns, erinnern sich vollkommen.

Schließlich drehte Ista sich erschöpft um und schlief ein.

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