25

Ista hatte sich so gut gesäubert, wie es mit ungefähr einem halben Becher Wasser und einigen Lappen möglich war, als Liss in ihre Gemächer zurückkehrte. Sie trug einen Haufen Kleidungsstücke auf den Armen und stieß die Verbindungstür mit der Hüfte auf. »Das sind die besten, die Cattilaras Damen in der Eile auftreiben konnten«, erklärte sie.

»Gut. Leg sie aufs Bett.« Ista schloss ihr schmutziges schwarzes Kleid wieder und kam herüber, um sie anzusehen. Man konnte es beim besten Willen nicht als Bad bezeichnen, doch zumindest würde es sich nun nicht mehr ganz wie eine Entweihung anfühlen, wenn ihre jetzt etwas weniger klebrige Haut sauberen Stoff berührte. »Wie geht es der Gräfin?«

»Sie schläft. Oder ist bewusstlos. Man kann es wirklich nicht so genau sagen, wenn man sie ansieht. Sie wirkt sehr blass und grau.«

»Was immer es ist, vielleicht ist es besser so. Vielleicht hat sie sich mit dem Blut, das sie auf dem Turm verloren hat, einen Gefallen erkauft, wenn das für ihren erschöpften Schlummer verantwortlich ist.« Ista durchwühlte den Haufen. Ein Unterkleid sah so aus, als wäre der Saum kurz genug, dass sie nicht darüber stolpern würde. Es hatte die Farbe frischer Sahne, eingefasst mit aufwendiger Spitze. Außerdem fand Ista ein zartes weißes Kleid, ein Festtagsgewand zum Tag des Bastards. Es war mit schimmerndem weißem Garn bestickt, das ihm Gewicht und Schwung verlieh. Die unbekannte Schneiderin hat es irgendwie geschafft, das Fries aus kleinen, tanzenden Ratten und Krähen mit beträchtlichem Charme zu versehen. »Perfekt«, murmelte Ista und hielt es empor. Sie bemerkte, dass der Funke auf ihrer linken Hand verschwunden war, obwohl das eisige Mal fortbestand.

»Majestät … ist es nicht ein wenig gewagt, die Farben des Bastards zu tragen, wenn Ihr Euch in die Hände der Vierfältigen begebt?«

Ista lächelte grimmig. »Sollen sie das ruhig denken Ich erwarte nicht, dass sie die wahre Botschaft verstehen. Schnell jetzt. Mach mir das Untergewand zu.«

Liss schnürte die schmale Taille zusammen. Ista legte das Überkleid an, schüttelte die weiten Ärmel aus und schloss das Kleid unter den Brüsten mit der Trauerbrosche aus Amethyst und Silber. Ihr kam es so vor, als hätte sich die Bedeutung dieses Erbstücks ein halbes Dutzend Mal gewandelt, seitdem sie es bekommen hatte. In der letzten Nacht waren alle alten Kümmernisse gründlich daraus ausgetrieben worden. Als sie es heute anlegte, war es neu angefüllt mit tiefer Trauer um Arhys und jene, die mit ihm geritten waren. Zu dieser Stunde fühlte alles an ihr sich erneuert an.

»Und jetzt die Haare«, befahl sie und ließ sich auf der Bank nieder. »Irgendwas, das schnell geht und ordentlich aussieht. Wenn ich schon nach draußen gehe und mich in ihre Hände begebe, will ich dabei nicht aussehen wie eine Verrückte, die man durch eine Hecke geschleift hat, oder durch einen Heuhaufen, der von einem Blitz getroffen wurde.« Sie lächelte versonnen. »Flechte es zu einem Zopf.«

Liss schluckte und fing an zu kämmen. Und, zum vierten oder fünften Mal seit dem Morgengrauen auf dem Turm, sagte sie: »Ich wünschte, Ihr würdet mich mitnehmen.«

»Nein«, sagte Ista mit Bedauern. »Normalerweise würdest du als Dienstmädchen einer wertvollen Geisel sehr viel sicherer sein als in dieser zerfallenen Festung, die kurz vor ihrem Fall steht. Wenn ich aber scheitere mit dem, was ich versuchen will, könnte Joen dich zum Futter für die Dämonen machen und deinen Geist, deine Erinnerungen und deinen Mut für ihre eigenen Zwecke stehlen. Oder sie würde dich als Ersatz für die versklavten Zauberer verwenden, die Arhys letzte Nacht getötet hat, und würde dich nicht als mein Dienstmädchen einsetzen, sondern als ihre Wache. Oder als Schlimmeres.«

Und wenn Ista Erfolg hatte … Sie hatte keine Ahnung, was danach geschehen würde. Heilige waren gegen Stahl ebenso wenig gefeit wie Zauberer. Ihre Vorgängerin, die verstorbene Heilige von Ranma … war nicht länger in der Lage, das zu bezeugen.

»Was könnte schlimmer sein?« Liss’ ausgreifende, gleichförmige Bewegungen mit der Bürste stockten. »Glaubt Ihr, sie hat Foix und seinen Bären ebenfalls versklavt? Jetzt schon?«

»In einer Stunde werde ich es wissen.« Plötzlich kam es Ista in den Sinn, was Joen noch Schlimmeres machen konnte. Das wäre die perfekte, ruchlose Vereinigung zweier Herzen: Liss an Foix’ Bär zu verfüttern, damit Foix’ eigene Sorge ihn vor Schreck und Kummer um den Verstand bringen würde, während ihrer beider Seelen sich vermischten … Dann fragte sie sich, wessen Geist verdorbener war, Joens, weil sie so etwas tun könnte, oder ihr eigener, weil sie Joen eine solche Tat unterstellte. Mir scheint, ich bin ebenfalls keine nette Person.

Gut.

»Ich habe hier noch einige weiße Bänder. Soll ich sie hineinflechten?«

»Ja, bitte.« Ista verspürte ein angenehmes, vertrautes Zupfen, während Liss mit flinken Fingern weiterarbeitete. »Wenn du auch nur die geringste Gelegenheit siehst, musst du fliehen. Das ist jetzt deine höchste Pflicht als mein Kurier. Du musst verbreiten, was hier geschehen ist, auch wenn alle dich für verrückt halten werden. Lord dy Cazaril wird dir glauben. Du musst ihn um jeden Preis erreichen.«

Hinter ihr herrschte Stille.

»Sag: Ich verspreche es, Majestät«, forderte Ista entschlossen.

Ein kurzes, trotziges Zögern, dann ein Flüstern: »Ich verspreche es, Majestät.«

»Gut.« Liss zog die letzte Schleife fest, und Ista stand auf. Lady Cattilaras weiße Seidenschuhe passten Ista nicht, doch Liss kniete nieder und verschnürte ein Paar hübsche weiße Sandalen, die gut genug passten. Sie führte die Verschnürung um Istas Knöchel.

Daraufhin geleitete sie Ista durch das Vorzimmer und hielt ihr die Tür zur Galerie auf.

Draußen lehnte Lord Illvin an der Wand, die Arme verschränkt. Anscheinend hatte auch er einen halben Becher Wasser für ein Bad gefunden. Obwohl er immer noch stank, waren seine Hände und sein frisch rasiertes Gesicht frei von Blut und Schmutz. Er trug höfische Trauerkleidung aus dünnen Stoffen, die zum nördlichen Sommer passten: schwarze Stiefel, schwarze Leinenhosen, eine ärmellose schwarze Tunika, abgesetzt mit dünnen Strängen aus lavendelfarbener Kordel; außerdem hatte er eine fliederfarbene Schärpe mit schwarzen Quasten um die Taille geschlungen. Zu dieser heißen Mittagsstunde hatte er auf den schweren lavendelfarbenen Mantel verzichtet, obwohl ein besorgter Goram neben ihm verweilte und das Kleidungsstück gefaltet über dem Arm trug. Goram hatte das Haar seines Herrn wieder zu jener nach hinten geflochtenen eleganten Frisur gerichtet, wie Ista es beim ersten Mal gesehen hatte. Der grau durchsetzte schwarze Zopf auf dem Rücken wurde von einem lavendelfarbenen Band gehalten. Illvin richtete sich auf, als er sie sah, und begrüßte sie mit einer angedeuteten höfischen Verbeugung. Sie hatte den Verdacht, dass es die Benommenheit infolge des Blutverlustes war, die die Geste abkürzte.

»Was soll das bedeuten?«, fragte sie misstrauisch.

»Wie bitte, liebste Königin? Ich hatte nicht gedacht, dass Ihr schwer von Begriff seid. Wie sieht es denn aus?«

»Ihr werdet mich nicht begleiten.«

Er lächelte auf sie herab. »Es würde ein außerordentlich schlechtes Licht auf die Ehre von Porifors werfen, würden wir die Königinwitwe von ganz Chalion-Ibra ohne eine Begleitung in die Gefangenschaft schicken.«

»Das habe ich auch gesagt«, grollte Liss.

»Ihr habt nun den Oberbefehl über die Festung«, widersprach Ista. »Gewiss könnt Ihr jetzt nicht Euren Posten verlassen.«

»Porifors ist ein heilloses Durcheinander. Da gibt es nur noch wenig, was sich verteidigen lässt. Außerdem sind mir nicht genug Männer geblieben, die es noch verteidigen könnten. Allerdings würde ich es vorziehen, wenn Sordso das nicht so rasch erfährt. Die Verhandlung für Eure Übergabe heute Morgen hat uns kostbare Stunden erkauft, die wir nicht mit Blut hätten einhandeln können. Wenn das also Porifors’ letztes Gefecht sein soll, dann beanspruche ich, mit einigem Recht, daran teilzuhaben. Durch die unglücklichen, aber unabänderlichen Gegebenheiten während meines letzten Planes konnte ich nicht mitreiten, um zwischendurch noch die Taktik anzupassen. Aber das gilt diesmal nicht.«

»Wärt Ihr mitgeritten, hätte es am Ergebnis nichts geändert.«

»Ich weiß.«

Beunruhigt musterte sie ihn. »Seid Ihr vielleicht in einer sonderbaren Stimmung und versucht, Euren Bruder zu übertreffen?«

»Das habe ich vorher schon nie geschafft, und ich werde jetzt nicht damit anfangen. Nein.« Er nahm ihre Hand in die seine und beschrieb kleine, beruhigende Kreise mit dem Daumen auf ihrer Handfläche. »Während meiner Kindheit wurde ich in der Kirche meines Gottes in die Lehre gegeben, aber meine Berufung war so leise, dass ich sie überhört habe. Ein zweites Mal werde ich den Ruf nicht überhören. Nun, wie sollte ich das auch zustande bringen, wenn mein Gott mir gegen die Seiten meines Kopfes schlägt und dabei Komm! brüllt — mit einer Stimme, die ein Dach zum Einstürzen bringen kann. Meine Jahre als Erwachsener habe ich ziellos verbracht, wenn auch nicht nutzlos im Dienst meines Bruders, weil mir nichts Besseres einfiel. Jetzt weiß ich etwas Besseres.«

»Vielleicht für die nächste Stunde.«

»Eine Stunde ist genug. Wenn es die richtige Stunde ist.«

Arhys’ verlassener Page trottete auf den steinernen Innenhof und rief vom Fuße der Treppen hinauf: »Majestät? Sie sind für Euch zum Seitentor gekommen.«

»Ich komme«, rief sie freundlich zu ihm hinab. Sie zögerte und warf Illvin einen missmutigen Blick zu. »Werden die Jokoner Euch überhaupt mit mir kommen lassen?«

»Sie werden sich sogar freuen, dass sie einen weiteren Gefangenen von Rang erhalten, ohne etwas dafür tun zu müssen. Außerdem ist es die perfekte Verkleidung, um ihr Lager auszuspionieren und die Stärke ihrer Truppen.«

»Was glaubt Ihr, was Ihr als Gefangener auskundschaften könnt?« Sie musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Und was soll die Verkleidung dabei sein?«

Seine Lippen zuckten. »Eine Verkleidung als Feigling, liebe Ista. Wenn sie schon glauben, dass wir Euch verraten, um unser Eigentum zu retten, dann können sie auch glauben, dass ich mit Euch gekommen bin, um meine Haut zu retten.«

»Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas in dieser Richtung glauben werden.«

»Umso besser für mein mitgenommenes Ansehen.«

Sie blinzelte und fühlte sich allmählich aufgekratzt. »Wenn ich scheitere, werden sie Futter für die Dämonen aus Euch machen. Ein regelrechtes Festmahl für einen der jokonischen Zauber-Offiziere. Vielleicht sogar für Sordso selbst.«

»Ah, aber wenn Ihr Erfolg habt, Majestät! Habt Ihr Euch schon einmal überlegt, was Ihr danach machen wollt?«

Unbehaglich wich sie seinem dunklen, eindringlichen Blick aus. »Was danach kommt, ist nicht meine Aufgabe.«

»Genau das habe ich mir gedacht«, sagte er in triumphierenden Tonfall. »Und Ihr bezeichnet mich als sonderbar! Dazu sage ich jetzt gar nichts mehr. Gehen wir?«

Schon ruhte ihre Hand auf seinem Arm. Sie versuchte immer noch zu entscheiden, ob sie nun überzeugt worden war oder nur verwirrt. Er führte sie die Treppen hinunter, als schritten sie gemeinsam in einer Art Prozession dahin, zu einer Hochzeit oder einer Krönung, oder an einem Festtag, oder auf den Tanzboden im Palast des Königs.

Diese Illusion endete bald, als sie sich ihren Weg über den verwüsteten Sternenhof suchten, wo heute Morgen zwei weitere Pferde tot und mit geschwollenen Leibern lagen. Sie schritten weiter, unter dem schattigen Torbogen hindurch und in das Durcheinander auf dem Vorhof. Ein Dutzend Männer hatte sich auf den Mauern versammelt, um die jokonische Gesandtschaft zu sehen, die draußen auf sie wartete. Es war beinahe die gesamte Garnison, die überhaupt stehen konnte.

Zwei kurze, runde Türme ragten an beiden Enden des vorderen Walles nach außen. Von hier konnte man den Bereich vor dem Außentor ins Kreuzfeuer nehmen. Einige weitere Soldaten und eine füllige vertraute Gestalt in unvertrauten Gewändern wartete vor dem linken der beiden Türme, der die Seitenpforte beherbergte. Ista und Illvin, gefolgt von Goram und Liss, hielten dort an.

»Dy Cabon.« Ista begrüßte den Geistlichen mit einem Nicken. Er hatte sich der auffälligen Gewänder seines Ordens entledigt — die verschmutzten weißen Stoffe waren ohnehin nur noch zum Verbrennen gut gewesen. Inzwischen trug er ein Mischmasch geliehener Kleidung, die ihm meistenteils nicht passte. In allen Farben außer weiß, wie Ista bemerkte.

»Majestät.« Er schluckte. »Bevor Ihr geht … wollte ich um Euren Segen bitten.«

»Das trifft sich gut. Bevor ich gehe, wollte ich auch um den Euren bitten.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn. Wenn dabei irgendetwas vom göttlichen Licht auf ihn überging, war es zuwenig, um selbst von ihrem zweiten Gesicht gesehen zu werden. Er schluckte und legte ihr die Hand auf die Stirn. Was für einen förmlichen Segensspruch auch immer er vorbereitet hatte, er vergaß ihn, brach in Tränen aus und brachte nur ein ersticktes »Der Bastard hilf uns!« zustande.

»Pssst«, meinte Ista tröstend. »Es ist gut.« Zumindest so gut, wie es sein konnte, unter den gegebenen Umständen. Sie musterte ihn genauer. Er hatte schlaflose Stunden bei den Kranken verbracht, er war ihren Bedürfnissen ausgesetzt gewesen, die unmöglich zu erfüllen waren und die Fähigkeiten erforderten, die er nicht besaß. Das alles hatte ihn zutiefst erschüttert. Das blutige Ritual auf dem Nordturm war noch quälender für ihn gewesen. Sein Gott hatte seine Seele untertunnelt und ausgehöhlt, bis kurz vor dem Durchbruch. So dünn waren ihre Umfassungen geworden, dass sie jeden Augenblick aufbrechen konnten — auch wenn dy Cabon selbst nichts davon merkte. Entweder hatten die Götter ungewöhnlich viel Glück gehabt, indem sie zwei solche Maultiere für ihre Zwecke die Straße nach Porifors entlanggetrieben hatten, oder sie hatten sich außergewöhnlich viel Mühe gegeben … Ich frage mich, ob dy Cabon ihre zweite Angriffslinie sein soll?

Konnte sie vielleicht darum beten, dass ihre Bürde stattdessen auf ihn überging? Der Gedanke wühlte sie auf, und sie blinzelte, um ihre Sicht zu klären. In ihr regte sich die Furcht erregende Überzeugung, dass die Antwort Ja lautete. Ja. Ja! Lasst die Verantwortung für dieses Unglück auf einen anderen übergehen, nicht auf mich, nicht schon wieder auf mich …

Nur dass dy Cabons Chancen, einen Erfolg zu überleben — oder gar ein Scheitern —, noch geringer waren als die ihren. Sie unterdrückte den Wunsch, vor seinen Füßen niederzufallen und ihn zu bitten, an ihrer Stelle zu gehen. Nein.

Für diesen Platz habe ich bezahlt. Die Kosten haben mich leer werden lassen. Ich werde ihn für niemanden aufgeben.

»Reißt Euch zusammen, dy Cabon, oder verschwindet von hier«, murmelte Illvin finster. »Euer Weinen macht sie nervös.«

Dy Cabon schluckte wieder und gewann seine Selbstkontrolle zurück. »Entschuldigung. Entschuldigung. Es tut mir Leid, dass meine Fehler Euch hierher gebracht haben, Majestät. Ich hätte mich niemals in Eure Pilgerfahrt drängen sollen. Es war vermessen.«

»Ja, nun, wärt Ihr nicht gewesen, hätten die Götter einfach jemand anderen geschickt, um die Fehler zu machen.« Jemanden, der unterwegs vielleicht gescheitert wäre. »Wenn Ihr mir dienen wollt, so lebt und legt Zeugnis ab. Eure Kirche muss die Wahrheit über dies alles erfahren, auf die eine oder andere Weise.«

Er nickte eifrig und hielt dann inne, als fände er die angebotene Möglichkeit zum Rückzug schwerer anzunehmen, als er erwartet hatte. Er verneigte sich und blieb mit gerunzelter Stirn zurück.

Illvin legte sein Schwert ab und reichte es Goram. »Bewahre das für mich auf, bis ich zurückkehre. Ich sehe keinen Grund, Sordso das Schwert meines Vaters als Geschenk zu überreichen, außer mit der Spitze nach vorn.« Goram nickte und versuchte, würdevoll auszusehen, doch seine Miene wirkte verzerrt.

Ista umarmte Liss, die mit einem finsteren Blick auf dy Cabon die Tränen unterdrückte. Dann führte Illvin sie durch den dunklen umschlossenen Raum unter dem Turm. Die Tür schwang auf und ließ Licht ein, und grunzend und keuchend hantierte ein Soldat mit irgendetwas, das mit einem gedämpften Knall zu Boden fiel. Dann trat er beiseite und ließ die beiden vorüber.

Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Gegenstand um ein schmales Brett handelte, das er über die steile Kluft vor der Burgmauer geworfen hatte. Illvin zögerte, und Ista fragte sich, ob er an all die Dinge dachte, die gestern überall auf Porifors zufällig zu Bruch gegangen waren. Ob diese behelfsmäßige Brücke einem ebenso üblen Zauber ausgesetzt gewesen war? Dann aber warf er ihr ein ermutigendes Lächeln über die Schulter zu und ging entschlossen hinüber. Das Brett bog sich beunruhigend durch, als er die Mitte erreichte, aber es hielt.

Ista blickte zur jokonischen Gesandtschaft hinüber, die vor dem Tor angetreten war und ihre Kapitulation erwartete. Einige Dutzend Reiter waren versammelt — zahlreiche Soldaten und drei Offiziere. Ista erkannte Fürst Sordso auf Anhieb. An seiner Seite ritt nervös der Dolmetscher-Offizier. Der dritte Offizier, ein schwerer, verwitterter, bronzehäutiger Mann mit ergrautem, früher bronzefarbenem Haar, war ebenfalls ein versklavter Zauberer. Unter seiner Haut glänzte das dämonische Licht und beherrschte ihn vollkommen. Wie bei Sordso wand sich ein Band aus Licht von seinem Bauch aus zurück zu den fernen grünen Zelten.

Auf die gleiche Weise gebunden war die einsame Reiterin bei der Schar — besser gesagt eine Frau, die auf roknarische Weise hinter einem Diener saß, seitlich auf einem gepolsterten Sitz über den Hüften des Pferdes. Ihre Füße waren würdevoll auf einem kleinen Brett abgelegt. Die Zauberin trug höfische, ausladende Gewänder und einen breitkrempigen Hut, der unter dem Kinn mit dunkelgrünen Bändern verschnürt war. Sie war viel jünger als Joen, allerdings weder mädchenhaft noch besonders hübsch. Sie musterte Ista eindringlich.

Ista folgte Illvin und richtete den Blick auf sein Gesicht, nicht auf die dunkle Kluft, die am Grund absichtlich mit scharfen Felsen und glitzernden Glassplittern ausgelegt war. Cattilaras Sandalen rutschten an Istas verschwitzten Füßen. Illvin nahm ihre Hand und zog sie mit festem Griff zu sich, bis sie sicher auf dem staubigen Boden bei ihm stand. Das Brett wurde sofort zurückgezogen und verschwand scharrend durch die Seitenpforte, die anschließend zugeschlagen wurde.

Die Frau ritt näher heran. Während Ista noch aufblickte und ihren finsteren Blick erwiderte, verschwand das dämonische Licht in ihrem Innern, bis Ista nur noch Haut und Kleidung sah. Nur noch den Ausdruck ihres Gesichts, nicht mehr die Farben einer Seele. Ista hielt den Atem an und blickte wieder zu Sordso. Er sah nun nur noch aus wie ein goldhaariger junger Mann auf einem tänzelnden schwarzen Pferd. Nicht einer der Zauberer hob die Hand und zuckte zusammen vor dem Glosen des göttlichen Lichtes in Ista, und die Dämonen in ihnen duckten sich nicht mehr vor ihr — sie konnte die Dämonen nicht einmal mehr sehen.

Mein zweites Gesicht wurde mir genommen. Ich bin blind!

Noch etwas anderes fehlte. Der Druck des Gottes gegen ihren Rücken, der sie seit der blutbefleckten Morgendämmerung auf dem Nordturm vorangetragen hatte, wie in einem Traum dahintreibend, war ebenfalls verschwunden. Hinter ihr gähnte nur noch eine schweigende Leere. Unendlich leer, wo sie nur Augenblicke davor noch so unendlich voll gewesen war. Verzweifelt versuchte Ista sich zu erinnern, wann sie zuletzt die Hände des Gottes auf ihren Schultern gespürt hatte. Sie war sicher, auf dem Vorhof war er noch bei ihr gewesen, als sie mit dy Cabon gesprochen hatte. Sie glaubte, dass er noch bei ihr gewesen war, als sie auf das Brett über den Abgrund getreten war.

Er war nicht mehr bei mir, als ich es hinter mir ließ.

Ihre nutzlosen körperlichen Augen verschwammen vor Angst und Verlust. Sie bekam kaum noch Luft, als wäre ihr Brustkorb mit schweren Stricken fest umwunden. Was habe ich falsch gemacht?

»Wer ist das?«, fragte Fürst Sordso und zeigte auf Illvin.

Der bronzehäutige Zauberer trieb sein Pferd an die Seite des Fürsten und blickte überrascht auf Illvin, der den Blick gelassen erwiderte. »Ich glaube, das ist Illvin dy Arbanos selbst, Hoheit, der Halbbruder von Lord Arhys, der Fluch unserer Grenzen.«

Sordso runzelte die Stirn. »Der neue Befehlshaber von Porifors! Was macht er hier? Frag ihn, wo die andere Frau ist.« Er winkte seinem Dolmetscher.

Der Offizier ritt auf Illvin zu. »Dy Arbanos! Unsere Vereinbarung betraf die Königinwitwe und die Tochter des Grafen von Oby«, sagte er auf Ibranisch. »Wo ist Lady Cattilara dy Lutez?«

Illvin bedachte ihn mit einer angedeuteten, spöttischen Verbeugung. Seine Augen waren kalt und dunkel. »Sie hat sich ihrem Gemahl angeschlossen. Letzte Nacht hat sie ihn vom Turm aus beobachtet, und als sie seinen Tod spürte, stürzte sie sich über die Brüstung und beendete ihr Leid auf den Steinen darunter. Sie liegt nun aufgebahrt und wartet darauf, bestattet zu werden, sobald Ihr Euch wie vereinbart zurückgezogen habt und wir unseren Friedhof erreichen können. Ich komme an ihrer Stelle, und um Königin Ista als Wächter und Begleiter zu dienen. Denn die Königin konnte schon einmal die zweifelhafte Disziplin Eurer Armeen erleben und verspürte keine Lust, Euch ihre Zofen auszuliefern.«

Der Dolmetscher kniff die Brauen zusammen, und das nicht nur wegen der versteckten Beleidigung. Er wiederholte für Sordso und die anderen, was Illvin gesagt hatte. Die Zauberin stieß ihren Reiter an, um sie näher heranzubringen. »Ist das wahr?«, wollte sie wissen.

»Wenn Ihr es nicht glaubt, so schaut doch selbst nach dem, was Ihr wirklich sucht«, sagte Illvin mit einer Verbeugung in ihre Richtung. »Ich würde annehmen, dass Fürst Sordso die Überreste seiner Schwester Umerue auch aus dieser Entfernung noch erkennen könnte, wäre sie immer noch … nun, am Leben wäre jetzt nicht der richtige Ausdruck, oder? Würde sie sich immer noch innerhalb von Lady Cattilara und hinter diesen Mauern aufhalten.«

Der Dolmetscher zuckte auf seinem Sattel zusammen, doch Ista war nicht sicher, ob es an der Überraschung über Illvins Botschaft lag oder am Tonfall. Sordso, der bronzehäutige Offizier und die Zauberin wandten sich Porifors zu, und ihre Mienen wurden angespannt und in sich gekehrt.

»Nichts«, hauchte Sordso nach einer Weile. »Er ist fort.«

Die Zauberin musterte Illvin. »Der da weiß zu viel.«

»Meine arme Schwägerin ist tot, und das Geschöpf, das Ihr verloren habt, ist Eurem Zugriff entkommen«, sagte Illvin. »Können wir das jetzt hinter uns bringen?«

Auf ein Nicken des Fürsten hin stiegen zwei der Soldaten ab. Zunächst einmal überprüften sie, ob Illvin Klingen in der Schärpe oder den Stiefeln versteckt hatte. Er ertrug ihre tastenden Hände mit einem Ausdruck gelangweilten Missfallens. Sein hoch gewachsener Körper spannte sich an, als einer der Soldaten auf Ista zuging. Als der Mann vor ihren weißen Röcken niederkniete, entspannte er sich nur ein wenig.

»Ihr müsst Eure Schuhe ablegen«, erklärte der Dolmetscher. »Ihr werdet barfuß und ohne Kopfbedeckung vor die erhabene Mutter treten, wie es sich für eine geringere Frau und quintarische Irrgläubige geziemt.«

Illvin hob den Kopf und biss die Zähne zusammen. Doch was für Einwände ihm auch immer auf der Zunge lagen, er hielt sie hinter den Zähnen fest.

Die warmen Hände des Mannes fingerten an den Bändern herum, die Liss eben erst um Istas Knöchel gewickelt hatte. Sie stand steif da, leistete aber keinen Widerstand. Er zerrte die leichten Sandalen von ihren Füßen und warf sie beiseite. Dann stand er auf, wich zurück und stieg wieder auf sein Pferd.

Sordso ritt zu ihr und musterte sie von Kopf bis Fuß. Er lächelte grimmig über das, was er sah — oder vielleicht eher über das, was er nicht sah. Jedenfalls fürchtete er sich nicht, ihr den Rücken zuzuwenden, denn schroff wies er sie an, in der sich allmählich formenden Prozession den Platz direkt hinter seinem Pferd einzunehmen. Illvin versuchte, ihr seinen Arm zur Stütze anzubieten, doch der bronzehäutige Offizier zog sein Schwert und bedeutete ihm damit, hinter ihr zu gehen. Auf eine Handbewegung Sordsos hin setzten sie sich alle über die trockene unebene Landschaft in Bewegung.

Ista war sich kaum des messingfarbenen, strahlenden Mittagshimmels bewusst, unter dem sie dahertaumelte. Sie tastete im Innern ihres Geistes umher, fand aber nur eine widerhallende Dunkelheit. Sie schickte stille Flüche an den Bastard. Dann stille Gebete, erhielt jedoch keine Antwort.

War dies das Werk der jokonischen Zauberer? Einen Gott in der materiellen Welt zu besiegen? Gewiss konnten diese Gegner nicht diesen Gott überwältigen …?

Also nicht ein Versagen des Gottes, sondern ihres. Irgendwie waren die Pforten ihrer Seele wieder zugefallen, zusammengebrochen und verschüttet. Versperrt durch Steine aus Angst, Wut oder Demütigung, die den kürzlich erweiterten Durchgang versperrten …

Sie hatte einen Fehler gemacht, einen ungeheuren Fehler, irgendwann in den wenigen vorangegangenen flüchtigen Minuten. Vielleicht hätte sie die Aufgabe und den Gott doch an dy Cabon übergeben sollen. Vielleicht war es eine schreckliche Anmaßung von ihr gewesen, ihn für sich zu behalten, eine ungeheuerliche und fatale Anmaßung. Maßlose Überheblichkeit, sich einzubilden, eine solche Aufgabe wäre ihr übertragen. Wer wäre schon dumm genug, eine solche Aufgabe ihr aufzuerlegen?

Die Götter. Zweimal. Es war ein Rätsel, wie dermaßen gewaltige Geschöpfe sich so gewaltig irren konnten. Ich hätte es besser wissen müssen, als ihnen zu vertrauen. Und doch bin ich hier, wieder einmal …

Während des ganzen Weges stachen spitze Steine in ihre Füße. Der Zug bog auf den Hain ab und querte eine flache Senke voller dunklem Dreck, der unter den Hufen saugte und nach stehendem Wasser und Pferdepisse stank. Sie kletterten eine kleine Anhöhe empor. Ista hörte Illvins lange Schritte hinter sich, und seinen rascher gehenden Atem. Sein ungleichmäßiges Keuchen verriet mehr von seiner Schwäche, als sein Gesicht es jemals tun würde. Der Hain zeichnete sich vor ihr ab; sein Schatten versprach Erleichterung von der stechenden Sonne über ihnen.

Oh. Keine Erleichterung, gar keine. Sie marschierten durch ein Spalier der Toten. Ganz bewusst, entlang der linken Seite ihres Weges, als sollten sie Zeuge dieser Prozession werden, lagen die Körper der Männer von Porifors aufgereiht, die letzte Nacht während Arhys’ Ausfall getötet worden waren. Sie alle waren ausgezogen, und ihre Wunden waren schutzlos den schillernden grünen Fliegen ausgesetzt, die um sie her summten.

Sie blickte auf die Reihe der bleichen Körper und zählte sie. Acht. Acht von den vierzehn, die gegen die fünfzehnhundert ausgeritten waren. Sechs mussten immer noch am Leben sein, irgendwo im Lager der Jokoner, verwundet und gefangen. Foix’ muskulöser Körper war nicht unter den reglosen Gestalten zu sehen. Pejars schon.

Sie schaute noch einmal hin und zählte neu: Fünf leben noch.

Es lag noch ein Neunter da, aber kein Körper. Eher ein … Haufen. Ein Speer war hinter dem Durcheinander in den Boden gerammt, und auf dem Schaft steckte Arhys’ entstellter Kopf. Blicklos starrte er über das jokonische Lager hinweg. Die einst so hinreißenden Augen waren herausgeschnitten worden — ein Soldat, verrückt vor Furcht, hatte noch versucht, an der leeren Hülle Rache zu nehmen.

Zu spät. Er war fort, bevor du ihn erreicht hast, Jokoner. Ihre bloßen Füße stolperten über eine Wurzel, und sie schnappte vor Schmerz nach Luft.

Illvin trat vor und ergriff ihren Arm, bevor sie der Länge nach hinfiel.

»Sie wollen uns prüfen. Schaut nicht hin«, wies er sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch an. »Fallt nicht in Ohnmacht. Und übergebt Euch nicht.«

Er sah so aus, als könne ihm jederzeit beides geschehen. Sein Antlitz war so grau wie die Gesichter der Leichen, obwohl seine Augen in einem Feuer loderten, wie sie es noch nie im Gesicht eines Mannes gesehen hatte.

»Das ist es nicht«, flüsterte sie zurück. »Der Gott hat mich verlassen.«

Seine Augenbrauen zuckten, bestürzt und verwirrt. Mit gezogenem Schwert wies der bronzehäutige Offizier sie an, zum gegenüberliegenden Ende des Hains weiterzugehen, obwohl er Illvin nicht länger dazu zwang, hinter ihr herzugehen. Vielleicht sah auch sie so aus, als wäre sie der Ohnmacht nahe.

Sie überlegte sich, dass Illvin durchaus zu Recht von prüfen gesprochen hatte. Wenn einer von ihnen bisher tatsächlich noch irgendwelche unheimliche Macht verborgen gehalten hätte — oder überhaupt irgendwelche Stärke —, hätte dieses Schauspiel sie leicht zu irgendeinem zornigen, nutzlosen Schlag gegen die selbstgefälligen Feinde verleiten können. Wäre sie entweder eine Zauberin oder ein Schwertkämpfer gewesen, so hätte der Fürst gewiss nicht dieses Grinsen überlebt, das er über die Schulter zurückgeworfen hatte, als sie an Arhys’ Überresten vorübergetaumelt war. Doch vor einer gescheiterten Heiligen waren die Jokoner anscheinend ziemlich sicher.

»Sie wollten Catti daran vorübergehen lassen«, murmelte Illvin unterdrückt. »Setz ihnen das auf die Rechnung, und die fünf Götter mögen geben, dass ich derjenige bin, der zum Kassieren kommt …« Seine Blicke flogen weiterhin von einem Zelt zum nächsten, verfolgten den Pfad der Verwüstung, den der Ausfall der letzten Nacht zurückgelassen hatte, schätzten den Zustand der Männer und Pferde ein, an denen sie vorüberkamen. Einige Dutzend höhnische Soldaten hatten sich versammelt und verfolgten ihre kleine Parade. Dünne, silbrige Spuren liefen Illvins Gesicht hinunter, doch er wollte sie nicht fortwischen vor diesem Publikum. Ista kannte nicht genug unflätiges Roknari, um all die Beleidigungen zu übersetzen. Doch bei Illvin war das ohne Zweifel der Fall. Sein verbissenes Gemurmel hielt an: »Sie bereiten sich nicht darauf vor, das Lager abzubrechen. Sie bereiten einen Angriff vor. Sollte uns das überraschen? Ha! Aber eines ist sicher. Sie haben keine Ahnung, wie schwach wir inzwischen sind. Ansonsten würden sie schon die Siegesfeier vorbereiten …«

Wollte er sich damit von der Entweihung des Leichnams seines Bruders durch die Jokoner ablenken? Sie betete, dass diese Strategie bei ihm aufgehen mochte. Sie hielt mit ihren eigenen, blind gewordenen Sinnen nach irgendeinem Anzeichen des Gottes Ausschau. Nichts. Joen und Sordso hatten Arhys’ Kopf an ihrem Weg aufgestellt, als Symbol von Istas Scheitern, um sie verzweifeln zu lassen. Ob Arvol dy Lutez sich ebenso verlassen fühlte, als sein herabhängendes Haar zum zweiten Mal das Wasser berührte?

Und doch hatte dieses Symbol auch eine Bedeutung, die den Feinden entging. Die Erinnerung an die Niederlage war ebenfalls die Erinnerung an einen Sieg, zum Ausdruck gebracht durch die Abwesenheit von Arhys’ Seele in diesem Fleisch. Wie paradox.

Der Gott mag fort sein, doch ich bin noch da. Vielleicht ist dies meine Aufgabe in der Welt des Stofflichen: zu tun, was das Stoffliche am besten kann — durchhalten! Sie holte tief Luft und ging weiter.

Sie erreichten das größte der grünen Zelte. Eine Seite war hochgerollt und enthüllte ein Inneres, das aussah wie ein transportabler Thronsaal. Teppiche waren dick auf dem Boden verteilt. Ein Podium befand sich an der Rückseite; darauf stand ein Paar beschnitzter Stühle, die mit Blattgold verziert waren, sowie eine Ansammlung von Kissen. Überall war das Dunkelgrün gesetzter, ernsthafter mütterlicher Witwenschaft zu sehen und erdrückte selbst das Meergrün des jokonischen Wappens. Nie zuvor hatte Ista diese Farbe so sehr verabscheut.

Auf dem kleineren, niedrigeren der beiden Stühle saß die Fürstinnenwitwe Joen. Sie trug ein anderes, aber ebenso aufwendiges Gewand aus vielen steifen Kleiderschichten, wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. Fünf Götter, war es tatsächlich erst gestern zu dieser Zeit gewesen, dass sie einander auf der Straße begegnet waren? Ihre Zofen knieten auf den Kissen, und eine mondgesichtige junge Frau, die vielleicht eine andere Tochter sein mochte, kauerte zu ihren Füßen. Ista konnte nicht sagen, wie viele von ihnen Zauberinnen waren. Ein Dutzend Offiziere stand kerzengerade und angespannt an jeder Seite. Ista fragte sich, ob alle elf angeleinte Dämonen, die Joen noch hatte, zu dieser … Demonstration anwesend waren.

Zwölf. Foix stand steif zwischen den jokonischen Offizieren. Sein Gesicht war zerschlagen und zerkratzt, aber gesäubert, und er trug frische jokonische Kleidung und einen grünen Wappenrock mit den fliegenden weißen Pelikanen. Seine Miene war benommen, und sein merkwürdiges Lächeln wirkte gezwungen und unnatürlich. Ista benötigte nicht einmal ihr verlorenes zweites Gesicht, um zu wissen, dass eine neue schimmernde Schlange von der Frau auf dem Podium zu ihm hinführte, und dass deren Fänge tief in seinen Bauch eingesunken waren. Auch Illvins Blick fiel auf Foix und glitt darüber hinweg.

Die Möglichkeiten für noch grausamere Prüfungen waren endlos. Zum Glück war die Zeit es nicht. Der bronzehäutige Offizier bedeutete Ista, bis zur Mitte der Teppiche voranzuschreiten, ins Zentrum dieser kurzen Zurschaustellung von Macht, Joen gegenüber. Illvin wurde mit der Schwertspitze einige Schritte hinter ihr zurückgehalten, hinter Istas rechter Schulter, und dass sie ihn nicht sehen konnte, bedauerte sie mehr als die Tatsache, dass er sie sehen musste. Sie fragte sich, welche letzte Demütigung für sie vorbereitet worden war.

Oh. Natürlich. Keine Demütigung. Kontrolle. Die Demütigung dort draußen hatte Sordsos Truppen befriedigen sollen, die immer noch von dem nächtlichen Gefecht erschüttert waren. Die Frau hier drin dachte praktischer.

Ista blinzelte. Zum ersten Mal sah sie Joen ohne ihr zweites Gesicht, ohne die gewaltige finstere Bedrohung durch den Dämon, der düster aus ihrem Bauch herausblickte wie aus einer pechschwarzen Grube, in die man fallen und für alle Ewigkeit stürzen konnte. Ohne ihren Dämon war sie nur … eine kleine, verbitterte, ältere Dame. Unfähig, Respekt zu erwecken, oder Treue zu erzwingen. Leicht zu übergehen. Unbedeutend. Fünf Götter, sie war tatsächlich unbedeutend. All ihre Möglichkeiten waren dahingeschwunden. Macht blieb ihre einzige Zuflucht. Starrsinn ohne geistige Größe.

Istas Mutter hatte einst mit ihrer Autorität den gesamten Haushalt ausgefüllt, von Mauer zu Mauer. Der Gemahl der Herzogin hatte Baocia regiert, doch in seiner eigenen Burg hatte er nur mit ihrer Duldung gelebt. Nachdem Istas ältester Bruder den Titel des Vaters geerbt hatte, verlegte er die Residenz, um der dauerhaften Kindheit zu entkommen, die ihn im Haus seiner Mutter erwartet hätte. Das war einfacher für ihn gewesen, als dort die Herrschaft zu beanspruchen. Doch stets hatte die alte Herzogin ihre Grenzen gekannt. Nie hatte sie einen größeren Raum beansprucht, als sie ausfüllen konnte.

Ista kam es so vor, als wollte Joen ganz Jokona mit ihrer Autorität erfüllen, wie eine Frau ihren Haushalt erfüllen mochte, und das mit denselben Methoden. Und niemand konnte sich derart überdehnen. In einer schrankenlosen Welt mit unbegrenztem Raum konnte man sich vielleicht bewegen, wie man wollte, doch man musste zwangsläufig Raum für den Willen anderer lassen. Nicht einmal die Götter konnten alles beherrschen. Menschen mochten die Körper anderer Menschen versklaven, doch der unausgesprochene Wille der Seele war selbst den Göttern heilig und unantastbar. Joen ergriff ihre Sklaven von innen her. Was Joen ihren Feinden antat, mochte man Krieg nennen. Doch was sie mit ihren eigenen Leuten machte, war ein Frevel.

Fürst Sordso nahm den Ehrenplatz ein. Er verzog das Gesicht und sah sich im Zeltinnern um. Der Blick seiner Mutter fiel auf ihn, und er setzte sich aufrecht hin, plötzlich wachsam und aufmerksam.

Wieder wurden Istas Blicke zu der mondgesichtigen Prinzessin zu Joens Füßen hingezogen. Das Mädchen schien um die vierzehn zu sein, doch zurückgeblieben für ihr Alter, mit den dicken Fingern und den seltsamen Augen dieser spät geborenen Kinder mit schlichtem Verstand, die oft kein langes Leben vor sich hatten. Sie war eine Prinzessin, die dem Haushalt ihrer Mutter nicht durch Heirat in ein fernes Land entkommen konnte. Joens Hand ruhte auf ihrem Kopf, wenn auch nicht in einer Geste der Liebkosung, wie Ista erkannte. Sie benutzt das Mädchen als Behältnis für einen Dämon. Die Seele ihrer eigenen verachteten Tochter macht sie zu einem Verschlag für diese Kreatur.

Für den Dämon, den sie als Nächstes mir einsetzen will.

Joen erhob sich und blickte Ista an. Auf Ibranisch, mit starkem Akzent, sagte sie: »Ich heiße Euch auf meiner Türschwelle willkommen, Ista dy Chalion. Ich bin die Mutter von Jokona.« Sie nahm ihre Hand vom Kopf des Mädchens und ließ sie mit gespreizten Fingern vorschnellen.

In Istas Innerem entfaltete sich der Gott.

Wieder durchdrang das zweite Gesicht Istas Geist wie ein blendender Lichtblitz, strahlend jenseits aller Vorstellungskraft. Es enthüllte eine unheimliche Landschaft. Auf einen Blick sah sie alles: ein Dutzend Dämonen; die wirbelnden und Funken sprühenden Leinen der Macht; die gequälten Seelen; Joens dunklen, dichten, sich windenden Passagier. Den dreizehnten Dämon, der wild durch die Luft auf sie zuwirbelte und seine bösartige Nabelschnur hinter sich herzog.

Ista öffnete den Mund zu einem wilden Grinsen und schnappte den Dämon in einem großen Schluck.

»Willkommen, Joen von Jokona«, sagte Ista. »Ich bin der Schlund der Hölle.«

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