10

Von zwei lächelnden Kammerfräulein flankiert, führte die junge Gräfin Ista durch einen kühlen, schattigen Torbogen und unter dem Balkon hindurch auf einen Innenhof. Ferda und die Akolythin folgten ein wenig unsicher, bis Lord Arhys ihnen aufmunternd zuwinkte. Ein kleiner Marmorbrunnen in Gestalt eines Sterns schmückte diesen Innenhof; hinzu kamen weitere Kübel mit Blumen und üppigen Pflanzen. Lady Cattilara eilte die Stufen zur Galerie im Obergeschoss hinauf und hielt dort wartend inne. Sie blickte betroffen, als Ista sich auf ihren wunden Beinen mühsam emporkämpfte und sich von der Akolythin helfen lassen musste. Ferda eilte herbei und bot ihr helfend seinen Arm dar. Ista verzog das Gesicht und empfand Dankbarkeit und Zorn zugleich.

Ihre Schritte pochten auf den Dielen, bis sie eine Ecke mit einem kleinen Turm erreichten. In diesem Augenblick hielt Lord Arhys unvermittelt an. »Catti, nein! Nicht diese Gemächer!«

Lady Cattilara verhielt vor dem beschnitzten Doppelportal, das eine ihrer Damen gerade hatte aufstoßen wollen. Unsicher lächelte sie Arhys an. »Aber mein Herr Gemahl, das sind die besten Räumlichkeiten unseres Hauses — wir können der Königinwitwe nicht weniger bieten!«

Arhys trat an ihre Seite, senkte die Stimme und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Hab doch ein wenig Feingefühl!«

»Aber ich habe alles für sie putzen und herrichten lassen …«

»Nein, Catti!«

Bestürzt schaute sie zu ihm auf. »Ich … es tut mir Leid. Ich … kümmere mich um andere Räumlichkeiten.«

»Bei den fünf Götter, tu das!«, fauchte er. Zorn spiegelte sich auf seinen Gesicht und lag in seiner Stimme. Mit einiger Mühe beherrschte er sich und brachte einen Ausdruck nichts sagender Höflichkeit zustande.

Lady Cattilara wandte sich um und lächelte steif. »Königin Ista. Wollt Ihr vielleicht … erst einmal in meine Räumlichkeiten kommen, um Euch vor dem Abendessen auszuruhen und zu erfrischen? Bitte hier entlang …«

Alle marschierten nun in eine andere Richtung auf ein ähnliches Paar Türen am anderen Ende der Galerie zu. Für einen Augenblick fand sich Ista an Arhys’ Seite wieder.

»Was stimmt denn nicht mit den anderen Gemächern?«, fragte sie.

Er zögerte kurz; dann sagte er: »Das Dach ist undicht.«

Ista blickte kurz zum wolkenlosen blauen Himmel. »Oh.«

Die Männer mussten an den nachfolgenden Türen zurückbleiben.

»Soll ich Eure Sachen hierher bringen, Majestät?«, wollte Ferda wissen.

Ista warf Arhys einen besorgten Blick zu.

»Ja, vorerst«, gab er zurück. Anscheinend fand er diese Unterkunft eher akzeptabel. »Kommt, dy Gura. Ich zeige Euch und Euren Männern die Quartiere. Sicher wollt Ihr auch für Eure Pferde sorgen.«

»Gewiss, Lord Arhys. Habt Dank.« Ferda bedachte Ista mit einem Abschiedsgruß; dann folgte er Arhys die Treppe hinunter.

Das Kammerfräulein verweilte und hielt die Tür auf, und Ista betrat die Gemächer und empfand sofort Erleichterung, weil sie sich endlich wieder in Räumlichkeiten aufhielt, die offensichtlich das persönliche Refugium einer Frau waren. Gedämpftes Licht fiel durch kunstvolles Flechtwerk vor den schmalen Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite des Gemachs. Wandteppiche und Vasen mit Schnittblumen lockerten große Flächen der nüchternen, weiß getünchten Wände auf. Eine geschlossene Verbindungstür bot Zugang zu angrenzenden Zimmern, und Ista fragte sich, ob es die von Arhys waren. Zahllose Kisten und Kästchen standen vor den Wänden, manche beschnitzt, andere mit Intarsien versehen oder in Eisen gefasst, Cattilaras Damen räumten rasch einige Kleiderhaufen oder andere Spuren von Unordnung beiseite; dann legten sie ein federgepolstertes Kissen auf eine der Truhen, damit Ista sich setzen konnte. Behutsam ließ sie sich auf diesem Ruheplatz nieder und schaute durch das Flechtwerk. Die Fenster gewährten einen Blick über die Dächer auf einen weiteren Innenhof.

»Was für hübsche Gemächer«, sagte Ista, um die augenscheinliche Verlegenheit Lady Cattilaras zu zerstreuen, die ihre Räume so unversehens besetzt fand.

Cattilara lächelte dankbar. »Mein Haushalt erwartet voller Freude, Euch bei Tisch die Ehre erweisen zu dürfen. Doch vielleicht wollt Ihr Euch zuvor waschen und ein wenig ausruhen.«

»O ja«, erwiderte Ista inbrünstig.

Die Akolythin machte einen Knicks vor der Burgherrin. »Wenn es Euch recht ist, Herrin« sagte sie, »sollte Ihre Majestät auch die Verbände wechseln lassen.«

Cattilara blickte erstaunt. »Ihr seid verletzt? Davon hat mein Gemahl in seinem Brief nichts verlauten lassen …«

»Es ist auch nicht der Rede wert.« Doch Ista hatte nicht vor, ihre Verletzungen zu vernachlässigen. Ihr Sohn Teidez, so hieß es, war an einer unbehandelten Wunde am Bein gestorben, die kaum mehr als ein Kratzer gewesen war und aus der sich eine fiebrige Entzündung entwickelt hatte. Ista vermutete, dass gewisse übernatürliche Einflüsse die Sache verschlimmert hatten. Gebete genug jedenfalls waren für den Jungen gesprochen worden, doch sie wurden nicht erhört.

Lady Cattilara überspielte ihr zeitweiliges Unbehagen mit hektischer Betriebsamkeit. Sie ließ Tee, getrocknete Früchte und Brot reichen, ließ Schüsseln und ein Sitzbad holen und Wasser bereitstellen. Dann kümmerten die Akolythin und Cattilaras Bedienstete sich um Istas Körperpflege. Als diese beendet und Ista in einen Bademantel gehüllt war, hatte die Gastgeberin ihre gute Laune wieder zurückgewonnen.

Unter Cattilaras Anleitung brachten die Zofen ein Kleidungsstück nach dem anderen herbei, damit Ista es begutachten konnte, und die Burgherrin öffnete ihr Schmuckkästchen.

»Mein Herr Gemahl sagte, Ihr hättet all Eure Besitztümer an die Jokoner verloren«, erklärte Cattilara atemlos. »Deshalb bitte ich Euch, nehmt von mir zum Geschenk, was auch immer Euer Gefallen findet.«

»Da ich ursprünglich auf einer Pilgerreise war, hatte ich nur wenig dabei, deshalb habe ich auch nur wenig verloren«, beschwichtigte Ista. »Viel wichtiger ist, dass die Götter meine Männer verschont haben. Alles andere kann ersetzt werden.«

»Ich habe den Eindruck, es war eine grausame Prüfung für Euch«, sagte Cattilara, die bestürzt nach Luft geschnappt hatte, als die Akolythin die hässlichen Wunden an Istas Knie enthüllte.

»Den Jokonern ist es am Ende schlimmer ergangen, Dank Eures Herrn Gemahls und seiner Leute.«

Dieses Lob für ihren Gemahl ließ Cattilara freudig strahlen. »Ist er nicht großartig? Vom ersten Augenblick an, da ich ihn sah, bin ich unsterblich in ihn verliebt. Es war an einem Herbsttag, als er gemeinsam mit meinem Vater durch die Tore von Oby ritt. Mein Vater ist der Graf von Oby, der bedeutendsten Festung in Caribastos, abgesehen von der Residenz des Herzogs.«

Ista schmunzelte. »Ich kann Euch versichern, dass Lord Arhys auf dem Rücken eines Pferdes einen bemerkenswerten ersten Eindruck vermittelt.«

Cattilara plapperte weiter: »Er sah wundervoll aus, aber auch sehr traurig. Seine erste Frau war im Kindbett gestorben, schon Jahre zuvor, bei der Geburt seiner Tochter Liviana. Man erzählte sich, dass er seither keine andere Frau mehr angeschaut hatte. Ich war damals erst vierzehn. Zu jung, sagte mein Vater zu mir, und dass es bloß eine mädchenhafte Schwärmerei von mir wäre. Aber ich habe ihm das Gegenteil bewiesen. Drei Jahre lang habe ich mit meinem Vater um Lord Arhys Gunst gekämpft, und was habe ich alles dabei gewonnen!«

Allerdings. »Seid Ihr schon lange verheiratet?«

»Seit fast vier Jahren.« Sie lächelte stolz.

»Habt Ihr Kinder?«

Ihr Mundwinkel sanken herab, und ihre Stimme wurde traurig. »Bisher nicht.«

»Nun«, entgegnete Ista und versuchte, den unerwarteten Abgrund an verborgenem Kummer zu überbrücken, der sich so deutlich auf dem Gesicht des Mädchens zeigte. »Ihr seid noch jung … Schauen wir uns die Kleider an.«

Ista erschrak, als sie durchsah, was Cattilara ihr anbot. Die Gräfin bevorzugte helle, leichte, luftige Gewänder, die ihrer schlanken Figur ohne Zweifel außerordentlich gut anstanden. Doch Ista hatte den Verdacht, dass sie selbst darin aussehen würde wie ein Zwerg, der eine Gardine hinter sich her schleppt. Doch sie drückte es nicht ganz so unverblümt aus. »Ich … ich bin immer noch in Trauer wegen des kürzlichen Todes meiner Mutter«, sagte sie. »Und auch meine Pilgerfahrt ist noch lange nicht beendet, auch wenn sie von den jokonischen Plünderern so grob unterbrochen wurde. Habt Ihr vielleicht etwas in Farben, die meiner Trauer angemessener sind …?«

Die ältere von Cattilaras Damen blickte auf Ista, dann wieder auf die hellen Seidenstoffe. Offenbar verstand sie Istas Worte richtig, denn längeres Stöbern in den Truhen sowie kurze Ausflüge zu weiter entfernten Lagerräumen beförderten schließlich mehrere Kleider zu Tage, die einen weniger mädchenhaft Schnitt aufwiesen, nicht ganz so lange Schleppen besaßen und in angemessenem Schwarz und Flieder gehalten war. Ista lächelte und schüttelte den Kopf, als Cattilara ihr das Schmuckkästchen reichte. Die Gräfin schaute sich selbst noch einmal an, was darin zur Auswahl stand; dann machte sie einen Knicks und entschuldigte sich kurz.

Ista hörte, wie Cattilara draußen auf der Galerie nur wenige Schritte machte und dann in einen Raum abbog. Bald darauf waren ihre Stimme und die eines Mannes zu vernehmen.

Offensichtlich war Lord Arhys zurückgekehrt. Kurze Zeit später näherten sich die leichten, eiligen Schritte der Gräfin wieder, und Cattilara kam zurück ins Zimmer, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen.

Sie streckte die Hand aus, in der eine kostbare Trauerbrosche aus Silber lag, mit Amethysten und Perlen besetzt.

»Mein Herr Gemahl hat nur wenige Preziosen von seinem großen Vater geerbt«, meinte sie schüchtern, »doch das ist eine davon. Er würde sich geehrt fühlen, wenn Ihr sie annehmt, um dieser vergangenen Zeit willen.«

Ista war von dem Anblick überrascht und stieß ein belustigtes Schnaufen aus. »O ja. Ich erinnere mich an dieses Stück. Lord dy Lutez pflegte es am Hut zu tragen, wenn sich die Gelegenheit ergab.« König Ias hatte es ihm gegeben — eines der unbedeutendsten von vielen Geschenken, die sich schließlich zur Hälfte seines Königreichs summiert hatten, ehe alles zusammenbrach.

Cattilara hob den Blick, und Ista hätte schwören können, dass ihre Augen in verklärtem Glanz strahlten. Vermutlich teilte die Gräfin die Vermutungen ihres Gatten über das heroische Ende seines Vaters. Ista war sich immer noch nicht sicher, ob Lord Arhys ihr geglaubt hatte, als sie ein intimes Verhältnis abgestritten hatte. Immerhin hatte dy Lutez als Liebhaber einen nicht minder bedeutenden Ruf gehabt denn als Krieger. Womöglich hatte Arhys ihre Geschichte nur aus Höflichkeit akzeptiert. Glaubte er, dass sie noch immer um dy Lutez trauerte? Oder um Ias? Oder um welche verlorene Liebe auch immer? Die Brosche war eine vieldeutige Botschaft — falls es eine Botschaft war.

Arhys’ Haut war unter ihrer Hand so fest und kühl gewesen wie Wachs, als sie im Zelt seine Wunde berührt hatte. Die Haut eines Toten. Trotzdem war er wieder aufgestanden, war geritten, hatte geredet, seine Frau geküsst, hatte gelacht und so brummig geknurrt wie jeder andere Ehemann.

Ista hätte sich inzwischen vielleicht einreden können, dass alles nur Einbildung gewesen war, oder ein Trugbild, doch Ferda hatte das Blut auf ihrer Handfläche ebenfalls gesehen.

Doch Ista dachte nicht länger über seine möglichen geheimen Hintergedanken nach und sagte stattdessen: »Ich danke Euch. Und richtet auch Eurem Herrn Gemahl meinen Dank aus.«

Cattilara wirkte überaus selbstzufrieden.

Man brachte Ista zu Cattilaras Bett, ließ sie sich niederlegen und breitete ihre immer noch feuchten Haare auf einem leinenen Handtuch um ihren Kopf herum aus. Die Akolythin setzte sich auf einen Hocker auf der andere Seite des Gemachs und wachte über sie. Cattilara drängte ihre Damen hinaus, folgte ihnen leise und ließ ihren hoch geehrten Gast zurück, damit der bis zum Abendessen ruhen konnte. Womöglich wollte die Gräfin auch die Zubereitung der Mahlzeiten überwachen. Das stille, dämmrige Gemach, die Müdigkeit und die Wohltat sauberer Haut und sauberer Kleidung vermittelten Ista das Gefühl — oder die Illusion? —, endlich eine Zuflucht gefunden zu haben. Obwohl sie noch immer ein wenig Kopfschmerz hatte und eine leichte Anspannung fühlte, sanken ihre Lider herab.

Plötzlich spürte sie einen kühlen Hauch auf der Wange und schlug verärgert die Augen wieder auf. Im Grunde verwunderte es sie nicht, dass es in dieser Burg Geister gab — die gab es in allen alten Festungen. Und es wunderte sie auch nicht, dass diese Geister nun hervorkamen und einen neuen Besucher in Augenschein nahmen; dennoch erschrak Ista, als sie sich auf die Seite drehte und einen verschwommenen weißen Fleck sah, der vor ihr in der Luft schwebte. Während sie ihn unwillig anstarrte, kamen zwei weitere aus den Wänden und gesellten sich zu dem ersten, als würden sie von ihrer Wärme angezogen. Es waren alte Geister, schwach und formlos und beinahe gänzlich einem gnädigen Vergessen anheim gefallen. Zornig verzog Ista die Lippen. »Hinweg, Verlorene«, flüsterte sie. »Ich kann nichts für euch tun.« Eine wischende Bewegung mit der Hand ließ die Umrisse wie Nebel verwehen, und sie verschwanden vor ihrem inneren Auge. Kein Spiegel hätte diesen Anblick gezeigt, kein Begleiter ihn wahrgenommen.

»Majestät?«, murmelte die Akolythin schläfrig.

»Es ist nichts«, beruhigte Ista sie. »Ich habe bloß geträumt.«

Es war kein Traum gewesen. Es war ihr zweites Gesicht, das wieder zurückgekehrt war. Unerwünscht, unwillkommen, ärgerlich. Dennoch … trotz des hellen Nachmittags blieb manches an diesem Ort dunkel und undurchdringlich. Vielleicht würde sie diesen klaren Blick brauchen.

Keine Gabe der Götter ist ohne Dornen.

Ista erinnerte sich an ihren letzten lebhaften, beunruhigenden Traum und wagte kaum, wieder einzuschlafen. Stattdessen verharrte sie wohl eine Stunde lang am Rande eines unruhigen Halbschlafs, bis Cattilara und Ihre Damen wiederkamen und sie abholten.

Das ältere Kammerfräulein richtete Istas Haar so, wie es offensichtlich der hiesigen Mode entsprach: vorn geflochten und hochgesteckt, hinten frei über die Schulter fallend. Bei Cattilara fielt das Haar in üppigen Wellen; Istas fahlbrauner Schopf hingegen hatte sich bei ihrem Schläfchen vermutlich verheddert, und sie befürchtete, dass ihr Haar inzwischen wie ein Wischmopp aussah. Immerhin bot ein lavendelfarbenes Hängekleid aus Leinen, mit einem schwarzseidenen Überwurf, der unter der Brust von der Brosche zusammengehalten wurde, einen annehmbar würdevollen Anblick.

Die Sommerhitze lastete schon früh auf diesem nördlichen Landstrich. Die Tische waren im Hof aufgestellt, und das Essen wurde aufgetragen, als die tief stehende Sonne gerade hinter den Dächern versank und die immer längeren Schatten Schutz vor der Glut boten. Die Speisetafel stand an der Stirnseite des Hofes, dem sternförmigen Brunnen gegenüber, und zwei längere Tafeln waren senkrecht dazu aufgestellt.

Ista erhielt einen Platz zur Rechten Lord Arhys; Lady Cattilara saß auf ihrer anderen Seite. Arhys war schon in Eisen und blutbespritztem Leder eine eindrucksvolle Erscheinung gewesen; nun, in seiner höfischen Kleidung aus grauem Tuch mit Goldbesatz, die nach Zitronen duftete, sah er umwerfend aus. Er lächelte herzlich. Istas Herz tat einen Sprung. Sie nahm zusammen, was sie noch an Zurückhaltung aufbringen konnte, grüßte kühl und zwang sich, nicht zu ihm zu schauen.

Ferda erhielt einen Ehrenplatz auf der anderen Seite der Gräfin. Ein älterer Herr in den Roben eines Geistlichen saß links neben Arhys, einen Platz entfernt. Einer der Unterbefehlshaber kam heran, blieb aber stehen, als Arhys zwei Finger über dem leeren Sitz emporhielt. Der Offizier nickte verstehend und ging davon, um an einem der niederen Tische Platz zu nehmen.

Lady Cattilara beobachtete dies. Sie beugte sich hinter Ista zu ihrem Gemahl hin und flüsterte: »Mein Herr Gemahl. Angesichts der hoch geehrten Gäste sollten wir heute Abend eine Ausnahme machen und diesen Platz nutzen.«

Arhys Blick wurde finster. »Heute Abend am allerwenigsten.« Missmutig runzelte er die Stirn und legte einen Finger auf den Mund. Warnend?

Mit zusammengepressten Lippen lehnte Cattilara sich wieder zurück. Doch um Istas willen rang sie sich schließlich wieder ein Lächeln ab und wechselte höfliche Belanglosigkeiten mit Ferda. Ista war erfreut, als sie die verbliebenen Mitglieder von Ferdas Schar an den anderen Tischen entdeckte. Ausgeruht, gewaschen und in geliehenen sauberen Kleidungsstücken saßen sie zwischen den anderen Teilnehmern des Mahls — Arhys’ Offizieren, Cattilaras Damen und einigen wenigen Besuchern in geistlichen Gewändern. Die wichtigen Bürger aus dem Städtchen unterhalb der Burg würden ohne Zweifel bei den nachfolgenden Mahlzeiten Gelegenheit bekommen, vor Ista aufzumarschieren.

Der ältliche Geistliche erhob sich mühsam und trug mit zitternder Stimme die Gebete vor: Er dankte für den Sieg am Tag zuvor und für die wundersame Rettung der Königin; er bat um Heilung für die Verwundeten und segnete das bevorstehende Mahl. Es folgte die lobende Erwähnung der Standfestigkeit Ferdas und seiner Leute, in dieser der Tochter eigenen Jahreszeit. Ista konnte sehen, wie sehr der Ritter sich darüber freute.

»Und wie stets bitten wir besonders die Mutter, deren Zeit bald bevorsteht, um die Genesung des Lord dy Arbanos.« Der Geistliche machte eine segnende Geste über dem leeren Platz zur Linken Lord Arhys, und dieser nickte und seufzte verhalten. Ein eher fühl- als hörbares zustimmendes Gemurmel lief rings um die übrigen Tische, und Ista entging nicht, dass einige finstere, missbilligende Blicke getauscht wurden.

Als die Diener mit den Weinkrügen und dem Wasser kamen und die ersten Platten mit Speisen auftrugen, wagte Ista die Frage: »Wer ist Lord dy Arbanos?«

Cattilara musterte Arhys vorsichtig, doch der entgegnete nur: »Illvin dy Arbanos ist mein Rittmeister. Er … nun, ist nicht ganz gesund, schon seit zwei Monaten. Ich halte ihm den Platz frei, wie Ihr seht.« Seine letzte Bemerkung klang beinahe trotzig. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Außerdem ist Illvin mein Halbbruder.«

Ista nippte am verdünnten Wein in ihrem Kelch und ging in Gedanken Familienstammbäume durch. Ein weiterer nicht anerkannter Bastard von dy Lutez? Aber der mächtige Höfling hatte stets größten Wert daraufgelegt, für jedes Mitglied seiner verstreuten Nachkommenschaft offiziell die Verantwortung zu übernehmen, mit regelmäßigen Gebeten und Opfergaben an den Turm des Bastards für ihren Schutz. Vielleicht war die Mutter diesmal schon verheiratet gewesen, und das Kind war mit stillschweigender Zustimmung des gehörnten Ehemannes der Familie der Frau untergemischt worden? Stillschweigend, wenn auch nicht insgeheim, andernfalls hätte dy Arbanos seinen Platz im Umfeld des Grafen nicht einfordern können und zugebilligt bekommen.

»Es war eine schreckliche Tragödie«, sagte Cattilara.

»So schrecklich, dass wir uns heute Abend nicht die Feier damit verderben sollten«, knurrte Arhys.

So begann Cattilara, bedeutungslosen Tratsch über ihre Familie in Oby zu erzählen. Sie berichtete von ihrem Vater und ihren Brüdern und deren Zusammenstößen mit verstreuten Roknari an den Grenzen während des Feldzugs im letzten Herbst. Ista fiel auf, dass Lord Arhys sich nur wenig von den Speisen auf den Teller legte, und dieses Wenige schob er mehr mit seiner Gabel hin und her, als dass er es aß.

»Ihr esst ja gar nichts, Lord Arhys«, merkte Ista endlich an.

Mit gequältem Lächeln folgte er ihrem Blick auf seinen Teller. »Ich leide ein wenig unter Wechselfieber«, sagte er, »und ich habe festgestellt, dass es sich am besten durch Aushungern behandeln lässt, zumindest in meinem Fall. Es wird sicher bald besser.«

Eine Gruppe von Musikanten hatte auf der Galerie Aufstellung genommen und spielte schwungvoll, was für Arhys — wenn auch nicht für Cattilara — ein willkommener Vorwand war, die schleppende Unterhaltung zu unterbrechen. Kurz darauf entschuldigte er sich und ging davon, um sich mit einem seiner Offiziere zu besprechen. Ista schaute zu dem freien Platz der anderen Seite Arhys’ hinüber, der vollständig gedeckt war. Jemand hatte eine weiße Rose auf den Teller gelegt, als einen Gruß oder ein Gebet.

»Lord dy Arbanos scheint hier sehr vermisst zu werden«, sagte Ista zu Cattilara.

Sie schaute über den Hof hinweg, um ihren Gemahl ausfindig zu machen. Der aber stand an einem der anderen Tische und war in eine Unterhaltung vertieft, außer Hörweite der anderen.

»Wir vermissen ihn sehr«, sagte Cattilara. »Tatsächlich haben wir fast schon die Hoffnung aufgegeben, dass er sich jemals wieder erholen wird, aber Arhys will nichts davon hören … Es ist so traurig.«

»Ist er denn viel älter als der Graf?«

»Nein, er ist der jüngere Bruder meines Herrn Gemahl. Fast zwei Jahre jünger. Einen Großteil ihres Lebens waren die beiden unzertrennlich — der Majordomus hat sie gemeinsam aufgezogen, nachdem ihre Mutter gestorben ist, sagt mein Vater. Und er hat keinen von beiden bevorzugt. Illvin ist Arhys’ Rittmeister, solange ich zurückdenken kann.«

Ihre Mutter? Ista rollte besagten Familienstammbaum in Gedanken wieder zurück. »Dieser Illvin ist also kein Sohn des früheren Kanzlers dy Lutez?«

»Aber nein, keinesfalls«, erklärte Cattilara ernsthaft. »Ich habe immer gedacht, dass es damals eine sehr romantische Affäre gewesen sein muss. Wie man sagt …« Sie schaute sich wieder um, errötete leicht und senkte die Stimme, während sie sich näher zu Ista beugte. »Die Herrin von Porifors, Arhys’ Mutter … Man erzählt sich, nachdem Lord dy Lutez sie verließ, um an den Hof zu gehen, verliebte sie sich in ihren Majordomus, Ser dy Arbanos, und er verliebte sich in sie. Dy Lutez kam so gut wie nie zurück nach Porifors, und der Zeitpunkt von Lord Illvins Geburt … nun, er passte einfach nicht. Es war ein offenes Geheimnis, habe ich gehört, aber Ser dy Arbanos erkannte Illvin erst an, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Die arme Frau.«

Hier fand sich ein weiterer Grund, dass dy Lutez seine Frau im Norden so lange vernachlässigt hatte … Aber was war die Ursache, und was die Wirkung? Istas Hand berührte die Brosche an ihrer Brust. Wie sehr musste dieser Mann dy Lutez in Verlegenheit gebracht haben, wenn man dessen Eitelkeit und sein besitzergreifendes Wesen bedachte. War es eine großzügige Geste gewesen, als er den Jungen rechtmäßig dem eigenen Vater übertragen hatte, oder war es ihm bloß eine Erleichterung gewesen, als er diesen Bastard von der langen Liste seiner Erben streichen konnte?

»Was für eine Krankheit hat ihn denn befallen?«

»Eigentlich ist es gar keine Krankheit. Eine unerwartete … Tragödie, oder ein grausamer Unfall. Die vielen Mutmaßungen und Unsicherheiten machen es noch schlimmer. Meinen Gemahl hat es in tiefen Kummer gestürzt, und für uns alle in Porifors war es ein großer Schock … Oh, da kommt er ja zurück.«

Lord Arhys hatte sich aufgerichtet und hielt wieder auf seinen Platz an der Ehrentafel zu. Der Offizier, mit dem er gesprochen hatte, stand ebenfalls auf, salutierte knapp und verließ den Innenhof. Cattilara sprach noch leiser: »Es verstört meinen Gemahl zutiefst, darüber reden zu müssen. Ich werde Euch später im Vertrauen alles darüber erzählen, hm?«

»Danke«, erwiderte Ista. Sie wusste nicht recht, wie sie auf all diese geheimnisvollen Andeutungen reagieren sollte. Sie wusste allerdings, was sie als Nächstes fragen wollte: Ist Lord Illvin ein hoch gewachsener, hagerer Mann, mit Haaren wie ein Fluss aus geronnener Nacht? Dy Arbanos der Jüngere konnte natürlich auch klein sein, oder so rund wie ein Fass, oder feuerrotes Haar haben, oder kahlköpfig sein. Sie konnte fragen, und Cattilara würde es ihr sagen — und dann würde der Knoten in ihrem Magen sich lösen.

Die Tische wurden abgeräumt. Der vorhin von Arhys’ ausgesandte Offizier führte einige Soldaten herein. Sie trugen mehrere Kästen, Truhen und Taschen mit sich, dazu verschiedene Waffen und Rüstungsteile. Sie legten alles vor der erhöhten Tafel ab. Es war die Beute der gestrigen Schlacht, erkannte Ista. Lord Arhys und Lady Cattilara traten gemeinsam vor, stellten ein kleines Kästchen vor Ista ab und öffneten es.

Die zahllosen Schmuckstücke darin strahlten so viel Leid und Sterblichkeit aus, dass es Ista traf wie ein körperlicher Anprall. Anscheinend war sie die Erste, die vom Unglück der Jokoner profitieren sollte. Mehrere Ringe, Fibeln und Broschen von feinster Machart oder offensichtlich weiblicher Gestaltung glänzten im schwindenden Licht. Wie viel davon war erst vor kurzem aus Rauma geraubt worden? Wie viel war für Mädchen in Jokona bestimmt gewesen, die ihren Galan nun niemals wiedersehen würden? Ista holte tief Luft, setzte ein geziemend dankbares Lächeln auf und brachte ein paar angemessene Worte hervor. Sie lobte Arhys und dessen Männer für ihren Mut und ihre rasche Reaktion auf den Durchzug der Angreifer. Dabei hob sie die Stimme, damit ihre Schmeicheleien auch bis zu den entfernteren Tischen drangen.

Als Nächstes erhielt Ferda ein außergewöhnlich schönes Schwert, zu seiner offensichtlichen Freude. Cattilara verschenkte auch einige Stücke an ihre Damen, während Arhys den Hauptteil der Beute an seine Offiziere verteilte, stets begleitet von persönlichen Worten oder einem Scherz. Der Rest ging an den Geistlichen und sollte für Gebete im Tempel der Stadt verwendet werden. Ein junger Novize, offenbar der persönliche Gehilfe des alten Geistlichen, nahm die Spenden mit Dankesworten und Segnungen entgegen.

Ista ließ die Finger über den Inhalt des Kastchens gleiten. Es verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie wollte diese Hinterlassenschaft der Toten nicht. Nun, dafür gab es eine Lösung. Zunächst suchte sie einen Ring für ihre tapfere Zofe aus, zusammengesetzt aus kleinen goldenen Pferdchen im Galopp, die sie an Liss denken ließen. Wo das Mädchen inzwischen wohl sein mochte? Dann zögerte sie einen Augenblick, und ihre Hand glitt zu einem gebogenen Dolch mit juwelenbesetztem Griff. Er war prächtig, strahlte zugleich aber eine Zweckmäßigkeit aus, die eher zu dem Botenmädchen zu passen schien. Ista erinnerte sich, dass ihr gesamtes Geld auf dem Grund eines Flusses in Tolnoxo lag, und mit einem Seufzer entnahm sie noch einige kleinere Schmuckstücke für ihre Reisekasse. Sie legte den Ring und den Dolch beiseite und schob das Kästchen dann Ferda zu.

»Hier, Ferda, such dir das beste Stück aus, für dich und deinen Bruder. Die vier nächstbesten Stücke sollen für unsere Verwundeten und für die Männer sein, die bei ihnen geblieben sind. Such auch etwas Passendes für dy Cabon. Anschließend soll sich jeder Mann aus deiner Truppe das heraussuchen, was er gern haben möchte. Was den Rest angeht … sorge bitte dafür, dass er dem Orden der Tochter zukommt. Mit meinem Dank.«

»Gewiss, Majestät.« Ferda lächelte, dann wurde sein Gesicht wieder ernst, und er beugte sich über den leeren Platz der Gräfin näher zu ihr. »Ich möchte meine Frage wiederholen: Nun seid Ihr tatsächlich an einem sicheren Ort untergebracht, und für eine Weile kann der Graf gewiss für Eure Sicherheit sorgen. Könnte ich nun die Erlaubnis haben, aufzubrechen und nach meinem Bruder zu suchen, und nach Liss, und nach dem Geistlichen?«

Ich weiß nicht, was für ein merkwürdiger Ort das ist. Als sicher würde ich ihn jedenfalls nicht bezeichnen. Das allerdings konnte sie nicht laut sagen. Am liebsten hätte sie Ferda angewiesen, seine Männer bereitzuhalten und sich auf einen Aufbruch am nächsten Tag vorzubereiten. Noch heute Abend. Aber das war unmöglich, undurchführbar und unhöflich. Die Ritter der Tochter waren fast so erschöpft wie sie selbst. Die Hälfte ihrer Pferde war noch immer irgendwo auf der Straße unterwegs, zusammen mit Porifors Knechten, die sie in geruhsamen Etappen zur Burg brachten.

Sie versuchte, Zeit zu gewinnen: »Ihr braucht genauso viel Ruhe wie wir anderen.«

»Ich würde mehr Ruhe finden, wenn ich wüsste, was mit meinem Bruder geschehen ist.«

Sie musste gestehen, dass er Recht hatte. Doch der bloße Gedanke, ohne eigene Eskorte hier festzusitzen, ließ sie frösteln. Unsicher runzelte sie die Stirn, als Lady Cattilara wieder an ihren Platz kam.

Auch Lord Arhys kehrte zurück. Mit einem unterdrückten müden Seufzer ließ er sich auf seinem Stuhl nieder. Ista fragte ihn, was aus den Briefen geworden war, die er für sie hatte schreiben wollen. Die Briefe, in denen sie nach den vermissten Mitgliedern ihrer Schar fragte. Mit besonderem Mitgefühl hörte er von Ferdas Sorgen um seinen Bruder, doch es war noch zu früh für eine Antwort. In stillschweigender Übereinkunft erwähnte keiner von ihnen die zusätzlichen Probleme, die der Bärendämon mit sich brachte.

»Wir wissen, dass Liss zumindest den Herzog von Tolnoxo erreicht hat«, brachte Ista vor. »Es mag sein, dass auch andere die Nachricht von den Plünderern verbreitet haben. Aber nur sie wusste, dass ich unter den Gefangenen war. Und wenn sie sich in Sicherheit bringen konnte, wird sie auch genug Verstand gehabt haben, nach Eurem Bruder und dem guten Geistlichen suchen zu lassen.«

»Das stimmt.« Ferda verzog die Lippen, hin und her gerissen zwischen Gelassenheit und Sorge. »Wenn man ihr zugehört hat. Wenn man sie empfangen hat …«

»In den Kurierstationen der Kanzlei wird man sie aufgenommen haben, selbst wenn dy Tolnoxo sie abgewiesen hat. Obwohl er ganz bestimmt noch von mir hören wird, wenn er ihren Mut nicht mit der gebührenden Gastfreundschaft belohnt hat, oder auf ihre Bitten hin die notwendige Hilfe verweigerte. Und von Kanzler dy Cazaril wird er ebenfalls hören, das kann ich versprechen. Dank der Briefe von Lord Arhys wird die Welt bald wissen, wo wir gelandet sind. Wenn unsere Vermissten den Weg nach Porifors finden, während Ihr irgendwo herumlauft und nach ihnen sucht, Ferda, werdet Ihr sie erst recht verfehlen.«

Dem musste Ferda beipflichten.

Kühles Dämmerlicht erfüllte den Innenhof. Die Musikanten beendeten ihre Darbietungen, doch kein Tanz oder Maskenspiel folgte. Die Männer sorgten dafür, dass der letzte Rest Wein nicht verkam, und es folgten letzte Gebete und Segnungen. Der Geistliche wankte am Arm seines Novizen davon, gefolgt von den Angehörigen seines ländlichen Tempels. Arhys Offiziere vollführten leicht eingeschüchterte Verbeugungen vor der Königinwitwe. Anscheinend war es ihnen eine besondere Ehre, vor ihr niederzuknien und ihre berühmten Hände zu küssen. Doch wie sie anschließend davonschritten — die Gesichter bereits wieder angespannt und konzentriert auf bevorstehende Aufgaben —, erinnerte Ista daran, dass sie sich in einer Festung befand, die tatsächlich als solche benutzt wurde.

Cattilara stützte Ista helfend am Ellbogen, als sie aufstand.

»Jetzt kann ich Euch zu Euren Gemächern geleiten, Majestät«, verkündete sie lächelnd und warf Arhys einen raschen Blick zu. »Sie sind nicht so geräumig, aber … das Dach ist in besserem Zustand.«

Nach den Speisen und dem Wein verspürte Ista keine Lust mehr, heute Abend noch größere Strecken zurückzulegen. »Ich danke Euch, Lady Cattilara. Das würde mich freuen.«

Arhys wünschte ihr mit förmlichem Handkuss eine gute Nacht. Ista wusste selbst nicht recht, ob sie seine Lippen kalt oder warm nennen sollte. Sie war verwirrt von dem beunruhigenden Kribbeln, das die Berührung auf ihren Knöcheln hinterließ. In jedem Fall waren die Lippen nicht heiß vor Fieber, und als er seine klaren grauen Augen hob und in die ihren blickte, war sie es, die errötete.

Die Gräfin nahm Ista am Arm und spazierte mit ihr durch einen weiteren Torbogen unter der Galerie hindurch und einen kurzen Säulengang entlang. Ihre üblichen Begleiterinnen kamen hinterdrein. Sie bog ein weiteres Mal ab, ging an einer Reihe hoch aufragender Gebäude vorüber und kam schließlich in einen kleinen, viereckigen Innenhof. Der Abend war immer noch hell, doch am weiten blauen Himmelsgewölbe über ihnen schimmerte bereits der erste Stern.

Ein von steinernen Bögen überwölbter Wandelgang umsäumte den Hof; die zierlichen Säulen waren aus Alabaster und nach Art der Roknari mit einem filigranen Muster von Weinreben und Blumen geschmückt.

Es war weder die heiße Mittagszeit, noch die kühle Stunde um Mitternacht, unter dem Licht eines Halbmondes. Dennoch war es derselbe Innenhof wie in Istas Träumen, unverwechselbar. Er stimmte in jeder Einzelheit mit dem Bild überein, das wie eingemeißelt in ihrem Gedächtnis stand. Ista fühlte Schwäche in sich aufsteigen. Sie wusste nicht, ob sie auch überrascht war.

»Ich würde mich gern setzen«, sagte sie mit matter Stimme.

Erschrocken schaute Cattilara auf Istas zitternde Hand und führte sie zu einer Bank, von denen mehrere an den Rändern des Hofes standen, und gemeinsam setzten die beiden Frauen sich nieder. Der altersglatte Marmor unter Istas Fingern war immer noch warm von der Hitze des Tages, obwohl die Luft schon wieder abkühlte und milder wurde. Kurz umklammerte sie die steinerne Kante, dann zwang sie sich, aufrecht zu sitzen. Sie atmete tief ein. Dieser Ort war offenbar ein älterer Teil der Festung. Die allgegenwärtigen Blumenkübel fehlten hier, und nur die Hinterlassenschaft der roknarischen Steinmetze verhinderte, dass er allzu streng wirkte.

»Majestät, ist Euch nicht wohl?«, fragte Cattilara schüchtern.

Ista ließ sich verschiedene Lügen durch den Kopf gehen — oder vielleicht einfach nur Ausreden, die nicht einmal so sehr gelogen waren: Mir tun die Beine weh, und ich habe Kopfschmerzen … Schließlich sagte sie bloß: »Ich habe mich gleich wieder erholt. Ich brauche nur einen Augenblick Ruhe.« Sie musterte die besorgte Miene der Gräfin. »Ihr wolltet mir erzählen, was Lord Illvin dahinsiechen lässt.« Mit einiger Mühe verhinderte Ista, dass ihr Blick zu dieser Tür wanderte, in der Ecke der Galerie, rechts von der Treppe …

Cattilara zögerte und schaute nachdenklich drein. »Es geht nicht so sehr um das Was, sondern um das Wer, vermuten wir.«

Ista hob die Brauen. »Ein hinterhältiger Angriff?«

»Auf jeden Fall. Es war alles sehr undurchsichtig.« Sie schaute zu ihren Kammerfrauen. »Lasst uns bitte allein«, sagte sie und beobachtete, wie die Damen sich auf einer Bank auf der anderen Seite des Hofes niederließen, außer Hörweite. Dann senkte sie vertraulich die Stimme. »Vor ungefähr drei Monaten traf die Frühjahrsgesandtschaft aus Jokona hier ein, um über den Austausch von Gefangenen zu verhandeln, über Lösegelder, um Geleitbriefe für ihre Kaufleute zu erwerben und was solche Gesandte sonst so tun. Diesmal aber hatten sie eine ganz außergewöhnlich Beigabe in ihrem Tross: eine verwitwete Schwester des Fürsten von Jokona. Eine ältere Schwester, die — soweit ich mitbekommen habe — bereits zweimal verheiratet gewesen war, mit irgendwelchen schrecklichen, reichen alten Edelleuten aus Jokona, die getan haben, was alte Edelleute nun einmal tun. Ich weiß nicht, ob sie sich geweigert hat, noch ein weiteres Mal auf diese Weise missbraucht zu werden, oder ob sie einfach zu alt geworden war und ihren Marktwert eingebüßt hatte. Sie war fast dreißig, sah aber noch sehr gut aus. Prinzessin Umerue war ihr Name. Bald wurde deutlich, dass ihr Gefolge ein Heiratsbündnis mit dem Bruder meines Gemahls vermitteln sollte, falls er ihr gefiel.«

»Interessant«, sagte Ista mit betont unbeteiligter Stimme.

»Mein Gemahl hielt es für ein gutes Zeichen. Er war der Ansicht, dass man so vielleicht Jokonas Nichteinmischung während des bevorstehenden Feldzugs gegen Visping absichern könne, falls Illvin einverstanden war. Und es war rasch deutlich, dass Illvin … Nun, ich habe noch nie einen Mann erlebt, dem eine Frau derart den Kopf verdreht hat, auch wenn er die ganze Zeit vorgab, dass es nicht so war. Beißende Scherze fielen ihm stets leichter als süße Komplimente.«

Wenn Illvin nur ein wenig jünger als Arhys war …

»War Lord Illvin — Ser dy Arbanos — vorher noch nicht verheiratet?«

»Nie, Ser dy Arbanos. Soweit ich weiß, ist es fast schon zehn Jahre her, dass er den Titel seines Vaters erbte, sonst aber nicht viel. Zweimal wäre er beinahe verlobt gewesen, habe ich gehört, doch die Hochzeitsverhandlungen scheiterten beide Male. In seiner Jugend hatte sein Vater ihn eine Zeit lang bei der Kirche des Bastards untergebracht, zur Erziehung, aber er fühlte sich nicht berufen. Doch als die Zeit verging, machten die Leute sich so ihre Gedanken. Ich konnte spüren, dass ihn das sehr geärgert hat.«

Ista erinnerte sich, dass sie ähnliche Annahmen über dy Cabon angestellt hatte, und lächelte. Aber dennoch, selbst wenn diese Prinzessin mittlerweile schon ein wenig abgegriffen gewesen sein mochte, zeigte eine derartige Verbindung zu einem minderen quintarischen Edlen — noch dazu einem Bastard — einen seltsamen Mangel an Ehrgeiz für so eine hochwohlgeborene Frau des vierfältigen Glaubens. Ihr Großvater mütterlicherseits war immerhin der Goldene Heerführer selbst, wenn Ista die Ehebündnisse der fünf Fürstentümer richtig im Kopf hatte. »Wollte sie denn konvertieren, wenn die Werbung Erfolg gehabt hätte?«

»Ich habe meine Zweifel, ehrlich gesagt. Illvin war so sehr in sie verliebt, dass es genauso gut andersherum hätte kommen können. Sie gaben ein bemerkenswertes Paar ab. Dunkel und golden … Sie hatte die Haut einer reinblütigen Roknari, von der Farbe frischen Honigs, und ihr Haar besaß fast denselben Ton. Es war sehr … Nun, es war ziemlich offensichtlich, wie die Dinge laufen würden. Aber da war jemand, der damit nicht glücklich war.«

Cattilara atmete tief durch, und ihr Blick umwölkte sich: »Im Gefolge der Prinzessin gab es einen Höfling, der sich in Eifersucht und Verbitterung verzehrte. Er wollte sie für sich selbst, nehme ich an, und er konnte nicht einsehen, warum sie stattdessen an einen Feind verschachert werden sollte. Lord Pechma, so hieß er, hatte an Rang und Vermögen wenig mehr aufzubieten als der arme Illvin, obwohl er natürlich nicht dessen militärisches Ansehen besaß. Eines Nachts schickte sie ihre Zofen fort, und Illvin … nun, er besuchte sie.« Cattilara schluckte. »Wir nehmen an, dass Pechma ihn gesehen hat und hinterherkam. Am nächsten Morgen war Illvin nirgends aufzufinden, bis Umerues Damen in ihre Gemächer traten und sich ihnen ein grauenvoller Anblick bot. Sie eilten sofort zu meinem Gemahl und mir und weckten uns. Arhys ließ nicht zu, dass ich die Räumlichkeiten betrat, aber man erzählte sich …«, sie senkte die Stimme noch mehr, »… dass man Lord Illvin nackt zwischen ihren zerwühlten Decken fand, besinnungslos und blutend. Die Prinzessin war tot vor dem Fenster zusammengebrochen, als hätte sie noch versucht, zu fliehen oder um Hilfe zu rufen. Ein vergifteter Roknari-Dolch steckte in ihrer Brust. Und Lord Pechma, sein Pferd, seine Ausrüstung und die gesamte Kasse der roknarischen Gesandtschaft, die ihm anvertraut gewesen war — alles war aus Porifors verschwunden.«

»Oh«, sagte Ista.

Cattilara schluckte und rieb sich die Augen. »Die Männer meines Gemahls und die Diener der Prinzessin ritten gemeinsam aus und suchten nach dem Mörder, aber der war längst über alle Berge. Die Gesandtschaft wurde zum Leichenzug und brachte Umerues sterbliche Überreste zurück nach Jokona. Illvin … kam nicht mehr zu sich. Wir sind nicht sicher, ob es an irgendeinem üblen roknarischen Gift lag, das an der Dolchklinge war, die ihn durchbohrte, oder ob er zu Boden stürzte und sich den Kopf anschlug, oder ob er sonst einen furchtbaren Schlag abbekam. Aber wir haben schreckliche Angst, dass sein Geist von ihm gegangen ist. Ich glaube, diese grauenvolle Vorstellung bedrückt Arhys noch mehr, als Illvins Tod ihn schmerzen würde, denn auf den Verstand seines Bruders hielt er immer große Stücke.«

»Und wie wurde das alles in Jokona aufgenommen?«

»Nicht so gut, auch wenn sie ihr Unheil selbst mitgebracht hatten. Die Lage an der Grenze ist seither sehr angespannt. Nun, für Euch war das jedenfalls von Vorteil, denn so waren alle Männer meines Gemahls zum Ausritt bereit, als der Bote des Herzogs von Tolnoxo hier eintraf.«

»Kein Wunder, dass Arhys so empfindlich ist. Das sind schockierende Ereignisse.« Undichte Dächer, allerdings. Ista konnte für Arhys Reizbarkeit nur dankbar sein, andernfalls hätte sie diese Nacht in Prinzessin Umerues Sterbezimmer verbringen müssen. Noch einmal überdachte sie Cattilaras schrecklichen Bericht. Grässlich! Aber es gab nichts Unheimliches daran. Keine Götter, keine Visionen, keine glosenden weißen Feuer, die nichts verbrannten und keine tödlichen roten Wunden, die aufklafften und sich schlossen, so wie ein Mann seinen Kittel auf- und zuknöpft.

Ich möchte mir diesen Lord Illvin gern ansehen, hätte sie am liebsten gesagt. Könnt Ihr mich zu ihm bringen? Und was für eine Ausrede hätte sie für eine solch krankhafte Neugier gehabt, für den zweifelhaften Wunsch, einen Mann auf seinem Krankenlager zu betrachten? Zumindest verspürte sie kein Bedürfnis, die Großen am Boden zu sehen. Am liebsten wäre sie auf ein Pferd gestiegen — nein, auf einen Wagen — und hätte sich weit von hier fortbringen lassen.

Inzwischen war es so dunkel geworden, dass sie keine Farben mehr unterscheiden konnte. Cattilaras Gesicht war nur noch als undeutlicher blasser Schemen auszumachen. »Es war ein langer Tag. Ich werde langsam müde.« Mühsam kam Ista auf die Füße. Cattilara erhob sich rasch und half ihr die Treppen hinauf. Ista biss die Zähne zusammen und ließ ihre Linke leicht auf dem Arm der jungen Frau ruhen, während sie sich mit der rechten Hand am Geländer empordrückte. Cattilaras Damen trotteten hinterdrein, immer noch in ihre Gespräche vertieft.

Als sie die Galerie erreichten, schwang die Tür am gegenüberliegenden Ende auf. Istas Kopf fuhr herum. Ein kleinwüchsiger, O-beiniger Mann mit kurzem, angegrautem Bart kam heraus. Er trug ein Durcheinander aus schmutziger Wäsche und einen Eimer mit geschlossenem Deckel. Als er die Frauen erblickte, stellte er seine Last neben der Tür ab und kam herbei.

»Lady Catti«, sagte er mit rauer Stimme und senkte den Kopf. »Er braucht mehr Ziegenmilch. Und mehr Honig.«

»Jetzt nicht, Goram.« Mit verärgertem Nasenrümpfen bedeutete Cattilara dem Mann, dass er gehen sollte. »Ich komme gleich vorbei.«

Er senkte wieder den Kopf, spähte dabei jedoch zu Ista hinüber, und seine Augen strahlten unter den dichten Brauen. Ob neugierig oder gleichgültig, konnte Ista im Halbdunkel kaum feststellen. Doch sie fühlte seinen Blick wie eine Hand auf ihrem Rücken, als sie sich nach rechts wandte und Cattilara zu den Gemächern folgte, die am anderen Ende der Galerie auf sie warteten.

Sie hörte den Mann davonstapfen und blickte sich noch einmal um, gerade rechtzeitig, um die Tür am anderen Ende noch einmal auf- und zuschlagen zu sehen. Ein orangefarbener Streifen Kerzenlicht flackerte auf und verschwand sogleich wieder.

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