15

An diesem Abend breitete sich ein Leichentuch über Porifors. Der Herr und die Herrin der Burg zogen sich zur vertraulichen Unterredung zurück, und sämtliche anstehenden Festlichkeiten wurden kurzerhand abgesagt. Ista empfand Erleichterung darüber, dass sie in ihren Gemächern bleiben konnte. Bei Sonnenuntergang, so berichtete Liss, wurden mehrere der wichtigsten Offiziere zu Arhys gerufen und kamen viel später mit sehr ernsten Gesichtern wieder zum Vorschein. Ista hoffte, dass der Graf klug genug war, die ursprüngliche Geschichte von Umerues Tod nicht anzutasten und dass er stattdessen einen anderen Grund fand, seine bald — oder rückwirkend? — tödliche Krankheit zu erklären. Aber da die Wahrheit zugleich auch die Gräfin zur Mörderin der jokonischen Prinzessin machen würde, konnte Ista sich nicht vorstellen, dass Cattilara allzu eifrig damit herausrückte. Oder das Arhys ein solches öffentliches Geständnis zugelassen hätte.

In dieser Nacht wurden Istas Träume nicht von Göttern oder Visionen heimgesucht, obwohl diese Träume auch so schon unangenehm genug waren: trübe, wirre Albträume, in denen entweder furchtbare Reisen auf geschundenen oder sterbenden Pferden vorkamen, oder in denen sie orientierungslos durch zerfallende Burgen von bizarrer Bauweise wanderte und aus irgendwelchen Gründen für deren Instandhaltung verantwortlich war. Als sie erwachte, fühlte sie sich kaum erholt. Ungeduldig wartete sie auf die Mittagsstunde.

Sie sandte Liss aus, um Goram zu unterstützen und ihren Besuch anzukündigen. Dann hielt sie Ausschau nach dem Tablett mit dem Essen. Eine Magd brachte es an Lord Illvins Tür; kurz darauf kam Liss hervor und schlenderte über die Galerie zu Istas Gemächern.

»Wenn Goram soweit ist, wird er uns als Zeichen die Tür öffnen«, berichtete sie. Sie war noch niedergeschlagen von den Wundertaten des vergangenen Tages, aber auch aufgekratzt. Und sie machte sich zunehmend Sorgen um Foix, so sehr Ista ihr auch versicherte, dass dieser inzwischen unter der Obhut des Erzprälaten von Maradi stehen musste. Viel tröstlicher war offenbar der Hinweis, dass Lady Cattilara nun schon seit über zwei Monaten einen sehr viel mächtigeren Dämon beherbergte, und das ohne sichtbare Beeinträchtigung. Ista wünschte sich nur, sie hätte selbst die Beruhigung empfunden, die sie so großzügig austeilte.

Endlich schwang die beschnitzte Tür an der gegenüberliegenden Seite der Galerie auf, und Liss geleitete Ista hinüber.

Illvin hatte sich im Bett aufgesetzt. Er war mit Tunika und Hosen bekleidet; sein Haar war zurückgekämmt und im Nacken zusammengebunden.

»Majestät«, sagte er und senkte den Kopf. Er schaute wachsam und ängstlich zugleich drein. Vermutlich hatten Goram oder Liss — oder beide — ihn schließlich doch von Istas Rang unterrichtet, in der kurzen Zeitspanne, die er wieder bei Bewusstsein war. »Es tut mir Leid. Ich schwöre Euch, ich habe um Hilfe gebetet, nicht um Eure Ankunft!«

Seine Stimme klang wieder undeutlich. Ista rief sich ins Bewusstsein, dass sie vielleicht einen ganzen Tag gehabt hatte, um all die Enthüllungen zu verarbeiten, während für Illvin nur eine Stunde vergangen war. Sie seufzte, trat an sein Bett und lenkte das weiße Feuer von der unteren Hälfte seines Körpers hinauf, um die obere Hälfte zu stärken. Er blinzelte und schluckte.

»Nicht dass ich … Ich will Euch nicht beleidigen …« Seine Worte verloren sich in verwirrter Verlegenheit, die jetzt nicht mehr verschwommen war, nur noch. Er versuchte, seine Beine anders hinzulegen, schaffte es aber nicht. Zweifelnd blickte er die Bettdecke hinab.

»Ich nehme an«, sagte Ista, »dass ich nicht hergerufen wurde, weil ich eine Königin bin. Die Götter messen dem Rang nicht denselben Wert bei wie wir. Eine Königin und ein Stubenmädchen sehen aus ihrer Warte ziemlich gleich aus.«

»Doch Ihr müsst zugegeben, dass man Stubenmädchen häufiger trifft.«

Sie lächelte freudlos. »Wie es scheint, wurde ich auserwählt. Das war nicht meine Entscheidung. Offenbar werden die Götter von mir angezogen wie Fliegen vom Blut.«

Auch er zeigte ein mattes Lächeln. »Ich muss gestehen, ich habe mir die Götter noch nie als Fliegen vorgestellt.«

»Ich auch nicht, ehrlich gesagt.« Sie dachte daran, wie sie in die schwarzen, endlosen Abgründe geblickt hatte. »Aber wenn ich mich näher mit ihrer wirklichen Natur beschäftige, dann … leidet mein Verstand, fürchte ich. Es schwächt meinen Mut.«

»Vielleicht haben die Götter Euch aus gutem Grund ausgewählt. Woher wusstet Ihr, was ich geträumt habe? Ich habe Euch dreimal gesehen, wenn ich in meinen Träumen wach war. Zweimal habt Ihr in einem unheimlichen Licht geschimmert. «

»Ich hatte diese Träume ebenfalls.«

»Auch den dritten?«

»Ja.« Das war kein Traum gewesen, doch sie war noch immer verlegen, wenn sie an den tollkühnen Kuss dachte. Obwohl es im Vergleich zu dem, was Cattilara getan hatte, nur eine sehr kleine Hemmungslosigkeit gewesen hatte …

Er räusperte sich. »Ich entschuldige mich, Majestät.«

»Wofür?«

»Äh …« Er blickte auf ihre Lippen; dann schaute er zur Seite. »Für nichts.«

Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie sein Mund geschmeckt hatte, als das Leben in ihn zurückgekehrt war. Goram zog den abgenutzt wirkenden Stuhl an Illvins Bett, damit Ista sich darauf setzen konnte. Dann stellte er den Hocker für Liss zu Füßen des Bettes auf. Er selbst zog sich an die gegenüberliegende Wand zurück und verharrte dort, zusammengekauert, aber aufmerksam. Ista und Illvin blickten einander gleichermaßen verwirrt an.

»Angenommen«, begann er schließlich wieder, »Ihr seid nicht aus Zufall hier, sondern wurdet herbeigeführt von …«, er räusperte sich verlegen, »von jemandes Gebeten. Dann doch nur deswegen, um diese verwickelte Angelegenheit zu entwirren, nicht wahr?«

»Sagen wir lieber, zu enthüllen. Wie man sie entwirren soll, davon habe ich keine Vorstellung.«

»Ich dachte, Ihr hättet Macht über Cattis Dämon. Werdet Ihr ihn denn nicht bannen?«

»Ich wüsste nicht wie«, gestand sie. »Der Bastard hat mir das zweite Gesicht verliehen … zurückgegeben, sollte ich wohl besser sagen, denn dies ist nicht das erste Mal, dass die Götter mich heimsuchen. Aber der Gott hat mir keine weiteren Anweisungen erteilt, es sei denn, sie kämen mit einem anderen Mann, den ich in meinen Träumen sah.« Und umgekehrt. Sollte dy Cabons Erscheinen unmittelbar nach dem geheimnisvollen zweiten Kuss des Bastards vielleicht genau das andeuten? »Der Gott hat mir geistlichen Beistand zur Seite gestellt — Hochwürden dy Cabon. Ich möchte dringend seinen Rat einholen, ehe ich etwas unternehme. Soweit ich weiß, versteht er sich darauf, wie man Dämonen zu ihrem Herrn zurückschickt. Aber wir wurden unterwegs getrennt, und ich mache mir Sorgen um seine Sicherheit.« Sie zögerte. »Ich habe es nicht eilig hier. Ich sehe keinen Gewinn darin, wenn ich Arhys von seinem Körper löse, nur damit er als verlorener Geist der Verdammnis anheim fällt.«

Er erstarrte. »Als Geist? Seid Ihr sicher?«

»Ich habe es gesehen, als der Zauber gestern unterbrochen wurde. Es geschah … nichts. Aber das ist nicht richtig so! Wenn der Tod die Türen der Seele für die Götter öffnet, gibt es für gewöhnlich ein weißes Tosen. Es ist ein großartiges Ereignis. Die Verdammnis ist nichts als Stille, ein langsames Erstarren.« Sie rieb sich die müden Augen. »Und schlimmer noch: Selbst wenn ich einen Weg finde, ihn zu seinem Gott zu geleiten, bin ich mir keinesfalls sicher, ob Arhys seine Frau dazu überreden kann, ihn freizugeben. Und wenn er sie nicht überreden kann, wer dann? Ich nicht, fürchte ich. Und selbst wenn sie ihn gehen lässt … Der Dämon in ihr scheint überaus erfahren und mächtig zu sein. Wenn sie nicht mehr von dem überwältigenden Willen aufrecht gehalten wird, Arhys in seinem scheinlebenden Zustand zu halten, sondern sie dem Kummer und Leid ergibt … dann ist sie sehr verwundbar.«

»Hm.« Seine Zweifel nahmen sichtlich zu.

»Was meint Ihr? Würdet Ihr sagen, sie ist ein starker Charakter?«

Er runzelte die Stirn. »Das hätte ich nicht gesagt, ehe das alles passiert ist. Ein bezauberndes Mädchen. Sie bewundert Arhys, aber ich würde schwören: Wenn ich ihr eine brennende Kerze vor eines ihrer hübschen Ohren halte, kann ich die Flamme durchs andere Ohr auspusten. Arhys stört das scheinbar nicht.« Er lächelte. »Andererseits, würde eine solche Schönheit mich so glühend verehren, würde mir das vielleicht auch zu Kopfe steigen, oder anderswohin, und ich würde ihren Geist womöglich höher schätzen. Und doch — sie hat sich dem Nebel von Umerues Zauber entzogen, und ich … ich habe das nicht geschafft.«

»Ich nehme an, Umerue hat sie unterschätzt. Und damit kommen wir zu etwas Anderem«, sagte Ista. »Wie kann eine Prinzessin aus Jokona, eine gläubige Anhängerin des vierfältigen Glaubens, überhaupt an einen Dämon kommen? Und ihn verborgen halten, oder anderweitig einer Anklage entgehen? Sie verbrennen Zauberer, obwohl ich nicht weiß, wie die jokonischen Geistlichen verhindern, dass der Dämon durch die Flammen auf einen anderen überspringt. Sie müssen irgendwas tun, um ihn an seinen Wirt zu binden, ehe sie beide ins Jenseits befördern.«

»Ja, mit aufwendigen Zeremonien und Gebeten. Keine schöne Sache. Und schlimmer noch: Es wirkt nicht immer.« Er zögerte. »Catti meinte, dass die Zauberin ausgeschickt wurde.«

»Von wem? Ihrem Bruder, dem Fürsten? Mal angenommen, dass die Erben ihres verstorbenen Gatten sie wieder bei ihm abgeladen haben.«

»Das haben sie, soweit ich weiß. Aber … es ist schwer vorstellbar, dass Sordso der Säufer um Jokonas willen mit Dämonen herumstümpert.«

»Sordso der Säufer? So wird der junge Fürst in Caribastos genannt?«

»So wird er überall genannt, zu beiden Seiten der Grenze. Die Zeitspanne zwischen dem Tod seines Vaters und dem Ende der Regentschaft seiner Mutter verbrachte er nicht mit dem Studium der Staatsführung und Kriegshandwerk, sondern mit Weingelagen und Dichtkunst. Er ist sogar ein ganz ordentlicher Dichter, der ein wenig zu Schwermut neigt, den Beispielen nach zu urteilen, die ich zu hören bekommen habe. Wir alle haben darauf gehofft, er würde dieser Berufung folgen. Offensichtlich eignet er sich dafür besser als für die Geschäfte eines Fürsten.« Er grinste. »Mein Herr, der Herzog dy Caribastos, hätte ihm mit Freuden einen Palast gestellt, ihm eine Pension gezahlt und seine schmalen Schultern damit von den Bürden der Herrschaft entlastet.«

»Wie es aussieht, ist der Fürst inzwischen nicht mehr so nachlässig. Er hat den Raubzug nach Ibra befohlen, dessen Teilnehmer später von Rauma aus ostwärts über die Berge flohen und mich entführten. Es waren Schreiber der Schatzkammer dabei, die über den fürstlichen Fünften Buch geführt haben. Hat Liss Euch davon erzählt?«

»Nur kurz.« Er nickte dem Kuriermädchen zu, und sie nickte bestätigend zurück. Dann kniff er seine dunklen Brauen zusammen. »Rauma? Das ist seltsam. Warum Rauma

»Wahrscheinlich wollten sie damit den Fuchs von Ibra so weit einschüchtern, dass er beim anstehenden Herbstfeldzug seine Truppen im eigenen Land lässt, anstatt seinen Sohn gegen Visping zu unterstützen.«

»Hm. Das könnte sein. Aber Rauma liegt zu weit in Ibra, als dass ein solcher Schlag sinnvoll erscheint. Die Rückzugsmöglichkeiten sind schlecht. Das haben die Angreifer ja offensichtlich auch festgestellt.«

»Lord Arhys meinte, es sind nur drei von dreihundert ausgezogenen Kriegern nach Jokona zurückgekehrt.«

Illvin stieß einen Pfiff aus. »Gut für Arhys. Ein teures Ablenkungsmanöver für Sordso!«

»Nur dass die Verluste sich am Ende beinahe doch ausgezahlt hätten, wenn sie mich hätten mit zurücknehmen können. Aber das gehörte bestimmt nicht zu ihrem ursprünglichen Plan. Sie hatten nicht einmal Karten von Chalion dabei.«

»Ich kenne den Grafen von Rauma von früher. Ich kann mir vorstellen, dass er den Jokonern einen heißen Empfang bereitet hat. Er war einer unserer besseren Feinde, damals, bevor wir alle mit Ibra verschwägert wurden. Die Heirat Eurer Tochter hat die westlichen Grenzen von Porifors ziemlich entlastet, und dafür bin ich ihr dankbar, Majestät.«

»Prinz Bergon ist ein guter Junge.« Doch von jemandem, der so offensichtlich in ihre Tochter verliebt war wie Iselles junger ibranischer Ehemann, konnte Ista natürlich nur eine gute Meinung haben.

»Sein Vater allerdings, der König, hat etwas von einem Kaktus an sich — trocken und stachlig. Man holt sich leicht blutige Finger, wenn man mit ihm zu tun hat.«

»Nun, jetzt ist es unser Kaktus.«

»Allerdings.«

Mit einem Seufzer lehnte Ista sich zurück. »Diese Neuigkeiten sollten nicht vertuscht werden … Zumindest nicht die Neuigkeit, dass eine hochwohlgeborene Dame von Jokonas Hof einen Dämon beherbergt hat und versuchte, eine Festung Chalions mit Zauberei zu unterwandern. Ich sollte zumindest eine Warnung an den Erzprälaten Mendenal in Cardegoss aufsetzen, und an Kanzler dy Cazaril.«

»Das wäre angebracht«, räumte Illvin widerstrebend ein. »Obwohl es mich sehr in Verlegenheit bringt, dass Umerue beinahe Erfolg gehabt hätte. Andererseits … Es war nicht der Erzprälat von Cardegoss, den der Zufall bei den Haaren gepackt und zum hintersten Ende Chalions geschleift hat. Das wart Ihr! Ich kann mir kaum eine unwahrscheinlichere Antwort auf meine Gebete vorstellen.«

»Habt Ihr zum Bastard gebetet, wenn Ihr bei Sinnen wart?«

»Sagen wir lieber, wenn ich wach war, nicht bei Sinnen. Alles wirkt sehr unklar, bis … gestern? Ja, gestern. Ich habe jedenfalls inbrünstig gebetet. Sonst konnte ich ja nichts tun. Ich konnte nicht einmal die Worte richtig aussprechen, nur in meinem Innern herausschreien. An meinen Gott, den ich verlassen habe. Ich habe nicht viel gebetet, seit ich erwachsen bin. Wenn Er gesagt hätte: Verschwinde, Junge! Du wolltest es allein versuchen, also musst du jetzt auch allein fertig werden mit dem, was du dir eingebrockt hast, so hätte ich mir gesagt, dass es Sein gutes Recht ist.« Bedächtiger fügte er hinzu: »Aber warum Ihr? Wenn der Grund dafür nicht noch weiter zurückliegt, beim Vater meines Bruders und den Vorfällen bei Hofe in Cardegoss.«

Seine scharfsinnige Vermutung brachte Ista außer Fassung. »Ich trage noch einen Rest alten Schuldgefühls mit mir herum, was den verstorbenen Lord dy Lutez angeht, und muss damit fertig werden. Aber das hat nichts mit Arhys zu tun. Und Arvol war nicht mein Liebhaber!«

Illvin reagierte überrascht auf ihre Heftigkeit. »Das habe ich auch nicht behauptet, Majestät!«

Sie stieß den Atem aus. »Nein, das habt Ihr nicht. Es ist Lady Cattilara, die diese alte Verleumdung als romantische Geschichte betrachtet, die Götter mögen mich verschonen! Arhys möchte mich einfach als eine Art geistige Stiefmutter ansehen, nehme ich an.«

Zu ihrer Überraschung schnaubte er nur. »O ja.« Sein brüderlich erbostes Kopfschütteln trug kaum dazu bei, Ista diese rätselhafte Bemerkung verständlich zu machen.

Ein wenig säuerlich merkte sie an: »Bevor ich Gelegenheit hatte, euch beiden zuzuhören, war ich beinahe schon davon überzeugt, dass Ihr der eifersüchtige Mörder wart. Der verachtete uneheliche Halbbruder, dem der Vater vorenthalten war, Titel und Besitz, und der die neuerliche Zurückweisung schließlich nicht mehr ertragen konnte.«

Sein trockenes, halblautes Lachen klang nicht im Mindesten beleidigt. »Einer solchen Täuschung sind vor Euch schon andere aufgesessen. Tatsächlich ist es wohl eher umgekehrt. Ich hatte einen Vater, mein Leben lang. Oder zumindest sein Leben lang. Arhys hatte nur einen Traum. Mein Vater hat uns beide erzogen, und er hat stets versucht, bei Arhys sein Bestes zu geben. Doch es war immer ein bewusstes Bemühen zu spüren, während ich selbst seine Liebe ohne dieses Hindernis empfangen konnte.

Doch Arhys war niemals eifersüchtig oder verärgert, denn irgendwann einmal würde alles wieder gutgemacht. Irgendwann würde sein Vater ihn an den Hof rufen. Wenn er groß genug war. Wenn er gut genug war, ein hinreichend guter Schwertkämpfer, Reiter, Offizier. Der große Lord dy Lutez würde ihm einen Platz zu seiner Rechten gewähren, würde ihn seinem glanzvollen Gefolge vorstellen und zu all seinen mächtigen Freunden sagen: Seht her, dies ist mein Sohn. Ist er nicht großartig? Arhys trug niemals seine besten Gewänder. Die hatte er bereits für die Reise eingepackt. Für den Tag, an dem sein Vater nach ihm riefe. Er war jederzeit bereit, binnen einer Stunde aufzubrechen. Dann starb Lord dy Lutez, und … Arhys’ Traum blieb nur ein Traum.«

Traurig schüttelte Ista den Kopf. »Während der fünf Jahre, die ich ihn kannte, hat Arvol dy Lutez kaum von Arhys gesprochen. Und nicht von Euch. Hätte er nicht den Tod gefunden, in jener Nacht in den Kerkern des Zangres … vielleicht müsste Arhys trotzdem immer noch auf diesen Ruf warten.«

»Das habe ich mich im Rückblick auch gefragt. Aber ich flehe Euch an, erzählt es Arhys nicht.«

»Ich bin mir nicht sicher, was ich ihm erzählen muss.« Obwohl ich da meine Befürchtungen habe. Doch was immer es war, sie sollte nicht zu lange damit warten.

»Was mich betrifft, ich hatte einen lebenden Menschen als Vater«, fuhr Illvin fort. »Er war mitunter launenhaft — was für Auseinandersetzungen wir hatten, als ich noch jünger war! Ich bin froh, dass er lange genug lebte, damit wir eine Zeit lang als erwachsene Männer zusammen verbringen konnten. Nach seinem Schlaganfall haben wir ihn hier auf Porifors gepflegt, wenn auch nicht allzu lange. Ich glaube, er sehnte sich inzwischen danach, unserer Mutter nachzufolgen. Einige Male haben wir ihn draußen gefunden, auf der Suche nach ihr.« Seine wohltönende Stimme klang gepresst. »Sie war damals bereits seit zwanzig Jahren tot. Ihn band am Ende so wenig ans Leben, dass sein Tod während der Jahreszeit des Vaters kaum noch als Unglück erscheinen konnte. Ich hielt seine Hand, als es zu Ende ging. Sie fühlte sich kalt an, und trocken. Beinahe substanzlos … bei den fünf Göttern, wie bin ich jetzt auf dieses Thema gekommen? Demnächst bringt Ihr mich noch dazu, in Tränen auszubrechen.« Tatsächlich weinte er schon, ignorierte jedoch standhaft das verdächtige Glitzern in seinen Augen; deshalb tat Ista es höflicherweise auch. »Soweit also meine Erfahrungen mit der unehelichen Geburt.« Er zögerte, schaute sie an. »Glaubt Ihr — nachdem Ihr gesagt habt, dass Ihr ihnen von Auge zu Auge gegenüberstandet — dass die Götter uns wieder mit denen zusammenbringen, die wir lieben? Wenn sie unsere Seelen aufnehmen?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Ista, zu überrascht, um anders als ehrlich zu antworten. Dachte er in diesem Augenblick auch an die Zukunft, an Arhys, ebenso wie an die Vergangenheit und den älteren Ser dy Arbanos? »Vielleicht habe ich nie jemanden so sehr geliebt, dass ich mir diese Frage gestellt hätte. Aber ich glaube … man kann durchaus darauf hoffen.«

»Hm.«

Ista wandte den Blick ab. Wenn sie sein wehmütiges, in sich gekehrtes Gesicht betrachtete, fühlte sie sich wie ein Eindringling. Ihr Blick fiel auf Goram, der wieder vor und zurück wippte und seine Hände umklammert hielt. Äußerlich ein ergrauter, alternder Dienstbote. Doch innerlich … beraubt, geplündert, ausgebrannt wie ein Dorf, das von zurückweichenden Armeen heimgesucht worden war.

»Wie seid Ihr zu Goram gekommen?«, wollte Ista von Illvin wissen. »Und wo?«

»Ich war auf Erkundung in Jokona, wie es meine Gewohnheit ist, wenn ich mal eine Woche Zeit habe. Ich sammle nämlich Pläne von Burgen und Städten, das ist mein Steckenpferd.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und ließ erkennen, dass er noch einiges mehr sammelte. Doch er fuhr fort: »Nachdem ich als Pferdehändler verkleidet nach Hamavik geritten war und mehr Tiere beisammen hatte als geplant, stellte ich plötzlich fest, dass ich einen zusätzlichen Pferdeknecht benötigte. Als roknarischer Händler kaufe ich Gefangene aus Chalion, wann immer ich die Gelegenheit erhalte. Männer ohne Familie haben nur wenig Hoffnung auf ein Lösegeld, und Goram noch weniger als die meisten, denn er hatte offensichtlich einen Großteil seines Verstandes und seiner Erinnerung verloren. Könnte sein, dass er während seiner letzten Schlacht einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, obwohl keine Narbe zu sehen ist. Also mag es an irgendeiner Misshandlung liegen, oder an einem Fieber. Oder an beidem. Jedenfalls war offensichtlich, dass kein anderer Besucher des Marktes an jenem Tag Interesse an ihm hatte, und so machte ich ein besseres Geschäft als erwartet, wie sich herausstellte.« Erneut flackerte das Lächeln auf. »Als wir in Porifors eintrafen und ich ihn freiließ, bat er mich, in meinen Diensten bleiben zu dürfen. Er wusste nicht mehr, wo sein Zuhause war.«

Von der Wand her nickte Goram zustimmend.

Ista holte tief Luft. »Seid Ihr Euch darüber klar, dass ein Dämon an ihm gezehrt hat?«

Illvin fuhr hoch: »Nein!« Goram schaute gleichermaßen verblüfft drein. Auch Liss’ Kopf ruckte herum, und sie starrte den Knecht verwundert an.

Illvins Augen wurden schmal, während seine Gedanken sich überschlugen. »Woher wisst Ihr das, Majestät?«

»Ich kann es sehen. Ich sehe seine Seele. Sie ist zerfetzt.«

Illvin blinzelte und ließ sich zurücksinken. Nach einer Weile fragte er zögernd: »Seht Ihr auch meine?«

»Ja. Für mich sieht sie aus wie ein gedämpftes weißes Feuer, das von Eurem Herzen aus zu Eurem Bruder strömt. Seine Seele ist so grau wie die eines Geistes; sie zerfällt bereits und bleicht aus. Sie ist in seinem Körper, aber nicht mehr damit verbunden. Sie … schwebt bloß mit ihm mit. Liss’ Seele hingegen ist hell und farbenfroh, genau in ihrer Mitte, sehr dicht und fest in die Materie eingeschlossen, von der sie ausgeht.«

Liss war offenbar der Meinung, soeben ein Kompliment bekommen zu haben, und lächelte erfreut.

Nach kurzem nachdenklichem Schweigen sagte Illvin: »Das muss sehr verwirrend für Euch sein.«

»Ja«, entgegnete Ista kurz angebunden.

Er räusperte sich. »Wollt Ihr behaupten, Goram war ein Zauberer?«

In entsetztem Unverständnis schüttelte Goram den Kopf. »War ich nie, Herrin!«

»Woran kannst du dich erinnern, Goram?«, wollte Ista wissen.

In seinem zerfurchten Gesicht arbeitete es. »Ich weiß noch, ich war mit König Oricos Heer gezogen. Ich erinnere mich an die königlichen Zelte, ganz in roter und goldener Seide. Sie schimmerten im Sonnenlicht. Ich erinnere mich … wie ich als Gefangener marschiere, in Ketten. Ich arbeite … auf Feldern. Es ist heiß in der Sonne …«

»Wer waren deine roknarischen Herren?«

Er schüttelte den Kopf. »An die erinnere ich mich nicht, nicht so genau.«

»Schiffe? Warst du jemals auf Schiffen?«

»Glaub ich nicht. Pferde, ja. Pferde waren da.«

Illvin warf ein: »Wir haben uns früher schon darüber unterhalten, woran er sich noch erinnern kann, als ich versucht habe, etwas über seine Familie herauszufinden. Er muss schon mehrere Jahre in Gefangenschaft zugebracht haben, seit der Zeit, als der Fürst von Borasnen zum ersten Mal gen Gotorget marschiert ist. Zwei Jahre, bevor die Festung schließlich fiel. Goram konnte sich noch an bestimmte Einzelheiten erinnern, und daraus habe ich geschlossen, dass er an diesem Feldzug teilgenommen hatte. Aber er erinnert sich auch nicht mehr genau an die Zeit seiner Gefangenschaft. Deshalb nahm ich an, dass sein Gedächtnis möglicherweise einem Fieber zum Opfer gefallen war, vielleicht, kurz bevor ich auf ihn stieß.«

»Goram, erinnerst du dich noch, was mit dir geschehen ist, seit Lord Illvin dich ausgelöst hat?«, fragte Ista.

»O ja. Das tut nicht weh.«

»Erinnerst du dich überhaupt an irgendetwas aus der Zeit, bevor Lord Illvin dich losgekauft hat?«

Goram schüttelte den Kopf. »Da war ein dunkler Ort. Ich mochte ihn, weil es kühl war. Aber es stank.«

»Verstand und Erinnerung sind verzehrt, der Dämon ist fort, und doch … nicht tot«, sagte Ista grübelnd. »Es ist nicht leicht für einen Dämon, einen lebenden Wirt zu verlassen, habe ich dy Cabons Worten entnommen. Dämon und Wirt sind auf irgendeine Weise miteinander verstrickt. Tötet man den Menschen, zwingt man den Dämon heraus. Wie bei Umerue. Oder bei den Verbrennungen der Roknari.«

»Verbrennt mich nicht!«, jammerte Goram. Er machte sich noch kleiner, kauerte sich zusammen und starrte bestürzt auf seine Brust.

»Niemand wird dich verbrennen«, sagte Illvin beruhigend. »Nicht in Chalion. Und es besteht jetzt ohnehin keine Veranlassung, denn sie sagt ja, dass der Dämon dich verlassen hat. Er ist ganz und gar fort. Nicht wahr?« Er warf Ista einen auffordernden Blick zu.

»Vollkommen.« Und ein Großteil von Goram mit ihm, wie es schien. Ista fragte sich, ob er früher tatsächlich ein Diener gewesen war — oder mehr.

»Hamavik …«, murmelte Illvin. »Wie aufschlussreich. Sowohl Goram wie auch Prinzessin Umerue waren zur selben Zeit an diesem Ort. Kann dieser … Schaden an Goram Seele etwas mit Umerues Dämon zu tun haben?«

Es war verlockend, da einen Zusammenhang zu sehen, andererseits … »Cattis Dämon fühlte sich nicht so an, als hätte er sich an Kriegern gütlich getan. Er fühlte sich an … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Zu weiblich. Wir können noch einmal versuchen, ihn zu befragen.«

Ista fiel auf, dass Liss sehr beunruhigt aussah. Erblickte sie in Gorams schlaffem, furchtsamem, verwirrtem Gesicht das zukünftige Schicksal von Foix? Wo war der Junge? Ista war noch nicht so verzweifelt, dass sie gebetet hätte, angesichts der Gefühle, die sie Gebeten gegenüber empfand. Aber so weit konnte es durchaus noch kommen, wenn diese schreckliche Ungewissheit noch viel länger anhielt.

Ista fuhr fort: »Dy Cabon sagte mir, dass Dämonen normalerweise überaus selten sind. Während der letzten paar Jahre allerdings nicht. Die Kirche hatte seit den Tagen König Fonsas keinen derartigen Ausbruch mehr erlebt — seit fünfzig Jahren. Ich kann mir nicht vorstellen, welch ein Riss in der Hölle des Bastards die Dämonen in solcher Zahl in die Welt sickern lässt, doch allmählich sehe ich da einen Zusammenhang.«

»Seit Fonsas Tagen.« Illvins Stimme wurde wieder undeutlich. »Seltsam.«

»Eure Zeit ist beinahe vorüber«, merkte Ista an und beobachtete das weiße Band, das immer dicker wurde, mit Missfallen. »Ich kann Euch ein wenig mehr zuteilen.«

»Aber Ihr hattet gesagt, Arhys würde dann verfaulen«, wandte Illvin ein. »Hochsommer. Können nicht zulassen … Stücke von ihm in seine Suppe fallen, nicht …?« Seine Stimme verklang. In einem Anfall von Verzweiflung raffte er sich noch einmal auf. »Nein! Es muss eine andere Möglichkeit geben! Wir müssen einen anderen Weg finden! Majestät … kommt Ihr wieder …?«

»Ja«, sagte sie.

Auf diese Versicherung hin löste er den Griff um den Rand der Tagesdecke und ließ sich zurückfallen. Sein Gesicht versank ein weiteres Mal in wächserne Regungslosigkeit.


Ista blieb an diesem Tag wieder in ihren Gemächern und setzte die neuen Briefe an Cardegoss auf. Als die Sonne versunken war, schritt sie so rastlos über den gepflasterten Innenhof, dass selbst Liss schließlich von ihrer Seite wich, auf einer Bank Platz nahm und zusah, wie Ista im Kreis herumlief. Zur Mitte des nächsten Vormittages war sie bereits so weit, dass sie in Gedanken ein weiteres scharfes Schreiben an den Herzog von Tolnoxo verfasste, obwohl der erste Brief ihn noch gar nicht erreicht haben konnte, geschweige denn, dass der Herzog daraufhin etwas hätte unternehmen können.

Auf den Treppen draußen wurden rasche Schritte laut. Ista blickte von ihrer angekauten Schreibfeder auf und sah Liss’ Zopf am Fenstergitter vorüberfliegen. Mit hämmernden Schritten rannte das Mädchen durch das Vorzimmer und steckte den Kopf durch die Tür.

»Majestät«, verkündete sie atemlos. »Da geschieht irgendwas! Lord Arhys ist mit mehreren Bewaffneten ausgeritten — ich wollte zum Nordturm und sehen, ob ich etwas erkennen kann.«

Ista erhob sich so hastig, dass sie beinahe über den Stuhl gestolpert wäre. »Ich komme mit.«

Hinter einem Armbrustschützen im grau-goldenen Wappenrock von Porifors stiegen sie die steinerne Wendeltreppe zu dem Aussichtspunkt hinauf. Dann begaben die drei sich dann an die nordwestliche Kante und spähten über die Zinnen hinweg.

Auf dieser Seite der Burg, gegenüber dem Steilhang zum Flusstal, befand die Landschaft sich auf annähernd gleicher Höhe mit dem Hügelgrat. Eine Straße, grau vor getrocknetem Staub, wand sich von hier aus nach Osten durch das regenarme, sonnige Umland.

»Das ist die Straße von Oby«, stieß Liss hervor.

Zwei Reiter galoppierten in der Ferne über den Weg, doch selbst von hier aus konnte Ista erkennen, dass einer der beiden stämmig war; der andere war dick und massig. Er trug ein braunes Gewand, unter dem ab und an weißer Stoff hervorblitzte. Deutlich war die unbeholfene Gangart eines Pferdes zu erkennen, das versuchte, trotz der auf und ab hüpfenden Körpermassen von Hochwürden dy Cabon einen Galopp durchzuhalten.

Ein kleines Stück hinter den beiden Reitern folgte ein Dutzend weitere Männer. Eine Eskorte? Nein. Die grünen Wappenröcke von Jokona, hier, unter dem missbilligendem Blick von Porifors selbst? Ista schnappte nach Luft. Die Verfolger der beiden Reiter machten allmählich Boden gut.

Begleitet vom Flüstern leichter Schuhe und dem Rauschen von Seide erschien Lady Cattilara auf dem Söller und ging zu den Zinnen. »Arhys … bei den fünf Göttern, oh, möge der Wintervater dich schützen …«

Ista folgte ihrem Blick. Unterhalb von Porifors führte Arhys auf seinem gescheckten Grauen eine Schar Berittener an, die Hals über Kopf die Straße entlangstürmten. Den schwächeren Pferden fiel es schwer, den langen Schritten des Grauen zu folgen. Liss bekundete leise ihre Bewunderung, was die raumgreifenden Sprünge des Tieres betraf.

Cattilara hielt den Atem an. Ihre Augen waren groß vor Furcht und Sorge. Sie stöhnte unterdrückt.

»Was denn?«, flüsterte Ista ihr zu. »Immerhin könnt Ihr kaum befürchten, dass jemand ihn umbringt.«

Cattilara warf ihr einen bösen Blick zu, schob eine Schulter vor und wandte sich wieder der Straße zu.

Dy Cabons überladenes Ross kam nur langsam voran und fiel allmählich zurück. Der andere Reiter — ja, es war ganz sicher Foix dy Gura — zügelte derweil sein Tier und winkte dem Geistlichen, weiterzureiten. Foix’ Pferd tänzelte und kämpfte gegen die Zügel an. Foix hielt es mit der Linken und fasste nach seinem Schwertgriff. Er stellte sich in den Steigbügeln auf und blickte seinen Verfolgern entgegen.

Nein, Foix!, dachte Ista hilflos. Foix’ Schwertarm war stark, doch er verfügte nicht über das einzigartige Geschick, das Lord Arhys auszeichnete. Er mochte vielleicht mit ein, zwei Feinden fertig werden, vielleicht sogar einen dritten niederstrecken — dann aber würden die anderen ihn überwältigen. Er hatte die Retter noch nicht herannahen sehen, da sie außerhalb seines Blickfelds durch eine Senke ritten. Foix würde sein Leben sinnlos für den Geistlichen opfern …

Er löste die Rechte vom Schwertgriff, krümmte die Finger und öffnete sie wieder. Steif streckte er den Arm aus. Ein schwacher, violetter Lichtstrahl schien von seiner Handfläche auszugehen. Cattilara schnappte überrascht nach Luft. Liss reagierte nicht; sie war offensichtlich blind für dieses Licht.

Das vorderste Pferd in der herannahenden Kavalkade stolperte und ging der Länge nach zu Boden. Der Reiter wurde aus dem Sattel geschleudert. Zwei weitere Tiere stürzten über das erste, ehe sie anhalten konnten. Einige Pferde bäumten sich auf, scheuten oder brachen zur Seite aus. Foix wendete sein Tier und galoppierte hinter dy Cabon her.

Foix hat immer noch seinen kleinen Bären dabei. Und anscheinend hat er ihm das Tanzen beigebracht. Besorgt schürzte Ista die Lippen, als sie über die Folgen nachdachte.

Andere Sorgen waren allerdings dringlicher. Dy Cabon erreichte das Ende des Anstiegs und die Mulde in der Straße, wo er mit Arhys zusammentraf. Das schaumbedeckte braune Pferd des Geistlichen kam taumelnd zum Stehen, umwirbelt von Straßenstaub. Der gescheckte Graue stellte sich neben ihm auf die Hinterhufe. Wilde Gesten, zeigende Finger. Arhys reckte den Arm in die Höhe, und seine Schar versammelte sich um ihn. Weitere Gesten. Leise Befehle, die der Wind nur undeutlich bis zu der hohen, fernen Warte trug, wo Ista besorgt wartete. Schwerter wurden gezogen, Bögen gespannt, Lanzen gesenkt. Der Trupp schwärmte aus und nahm hinter der Kuppe Aufstellung.

Dy Cabons erschöpftes Pferd stolperte weiter in unsicherem Schritt auf Porifors zu, doch der Geistliche drehte seinen massigen Leib im Sattel und beobachtete über die Schulter, wie Foix über die Anhöhe ritt. Beim Anblick der bewaffneten Schar schreckte Foix kurz zurück, doch ein Winken von Arhys und wildere, ausladendere Gesten von dy Cabon beruhigten ihn offensichtlich. Er trieb sein Pferd weiter voran, sprach kurz mit Arhys, wendete und zog sein Schwert.

Ein atemloser Moment der Ruhe. Ista hörte das Blut in ihren Ohren pochen, und das Zwitschern eines Vogels in den Sträuchern, ein helles, fließendes Trällern, als wäre heute ein ganz normaler und friedlicher Morgen. Arhys stieß das Schwert in die Luft und ließ es hinabsausen, und seine Schar stürmte voran.

Die Krieger aus Porifors erklommen den Hügel und stürzten sich auf den Trupp aus Jokona, so schnell, dass die vordersten ihrer Feinde keine Zeit mehr fanden, sich herumzuwerfen und das Weite zu suchen. Die Spitzen der beiden Züge waren augenblicklich in einen Nahkampf verwickelt. Die Jokoner weiter hinten rissen ihre Pferde herum und sprengten davon, so schnell sie konnten, doch einige waren nicht schnell genug für die Armbrustbolzen. Ein Reiter im grünen Wappenrock kippte aus dem Sattel. Vom Turm aus war die Entfernung für einen Schuss jedoch zu groß, sodass der Schütze, der mit Ista auf der Plattform stand, seine Waffe nicht einsetzen konnte. Er fluchte über seine Hilflosigkeit; dann blickte er zur Königin hinüber und murmelte eine Entschuldigung. Mit einer Geste gewährte Ista ihm die königliche Vergebung, klammerte sich an den warmen, rauen Stein und lehnte sich blinzelnd ins Licht.

Arhys’ Schwert tanzte in der Sonne, ein schimmernder, verwischter Umriss. Sein gescheckter Grauer war in einer Masse auskeilender, schrill schreiender Pferde eingeklemmt. Einem Krieger aus Jokona gelang es, seine Lanze zu befreien. Er führte sie über den Kopf seines eigenen Reittieres hinweg und stieß sie ungeschickt mit der Rückhand über die Kruppe des Pferdes, mit dessen Reiter Arhys sich gerade einen Schwertkampf lieferte. Arhys zuckte zur Seite. Cattilara schrie auf, als die Lanze zurückgerissen wurde und einen Schleier von Blut hinter sich herzog.

»Mein Herr ist getroffen!«, rief der Armbrustschütze und beugte sich genauso angespannt wie die Frauen nach vorn. »Er hebt den Schwertarm! Den Göttern sei Dank.«

Die Reiter lösten sich voneinander, und der Schwertkämpfer aus Jokona wankte im Sattel. Der Lanzenträger erkannte eine Lücke und galoppierte hindurch, um seinen flüchtenden Kameraden zu folgen. Tief beugte er sich über den Hals seines Pferdes. Ein Armbrustbolzen zischte über seinen Kopf und spornte seine Flucht weiter an.

Verflucht, diese Speerspitze hatte in Arhys’ Schulter ein Ziel gefunden. Ista hatte gesehen, wie die Erschütterung beim Aufprall die Hand des Jokoners zurückgestoßen und ihm beinahe den Schaft aus den Händen geprellt hatte. Und doch führte Arhys sein Schwert ungehindert weiter. Heftig sog Ista den Atem ein, wirbelte herum und hielt auf die Treppen zu.

»Liss, komm mit.«

»Aber Majestät, wollt Ihr nicht sehen, wie es ausgeht?«

»Komm!«

Ista wartete nicht ab, ob das Mädchen ihr folgte. Sie hob die fliederfarbenen Röcke an und eilte die enge, dunkle Steintreppe den Turm hinunter. In ihrer Hast wäre sie beinahe gestolpert, sodass sie sich an die Außenwand und die breitere Seite der Stufen hielt, ohne langsamer zu werden.

Durch die Tür, über einen weiteren Innenhof, durch den Torbogen und in den gepflasterten Hof. Die Treppen hinauf. Ihr Füße pochten über die Galerie. Sie riss die geschnitzte Tür zu Illvins Gemach auf.

Goram kauerte an Lord Illvins rechter Seite. Er ächzte voller Furcht. Illvins Leinentunika war aufgerissen und halb heruntergezogen. Der Knecht blickte über die Schulter zu Ista und rief: »Herrin, Hilfe!«

Als sie näher kam, erkannte Ista, dass seine Hände gegen Illvins Schulter gepresst und blutverschmiert waren. Der Ärmel der Tunika war rot getränkt. Ista durchstöberte den Raum, bis sie ein Tuch fand, das sich zu einer Wundauflage falten ließ. Sie reichte es mit der sauberen Seite nach außen an Goram weiter. Der riss seine Hände eben lange genug weg, um danach zu greifen, und drückte das Tuch dann auf die gezackte Wunde an Illvins Schulter.

»Ich war’s nicht! Ich war’s nicht!«, rief Goram ihr mit wirrem Blick zu. »Es war einfach da

»Ja, Goram. Ich weiß. Es ist gut«, beruhigte Ista ihn. »Du machst das sehr gut.« Beinahe war sie in Versuchung, die Leine aus weißem Feuer wieder abzubinden und die hässliche Wunde an ihren rechtmäßigen Besitzer zurückzuschicken. Aber jetzt war sicher nicht der richtige Augenblick, um Arhys besinnungslos aus dem Sattel fallen zu lassen. Illvins geschlossene, gräuliche Augenlider bewegten sich nicht, zuckten nicht und waren auch nicht vor Schmerzen zusammengepresst. In diesem gefühllosen Zustand konnte man ihn wenigstens ungestört behandeln, die Verletzung mit Salzlake ausspülen, eine Nadel durch seine Haut stechen. Benommen fragte sich Ista, ob die Naht bleiben würden, wenn der Dämon ihn an diesem Mittag aufwachen ließ und die Wunde, die sie zusammenhielt, zu seinem Bruder zurückkehrte.

Die Tür schwang auf. Endlich traf Liss ein.

»Liss, lauf sofort los und such eine Frau, die sich mit Verletzungen auskennt. Die Künste der Mutter sollten in dieser Gegend gut bekannt sein. Lass die Frau Seife mitbringen, und Salben und Nadeln. Außerdem einen Diener, um Wasser herbeizuschaffen.«

»Was? Warum?« Neugierig trat sie näher.

»Lord Illvin ist schlimm verwundet.«

In diesem Augenblick sah Liss das Blut und stieß den Atem aus. »Ja, Majestät. Aber … wie kann …«

»Du hast den Speerstoß gesehen.«

»Oh.« Sie riss die Augen auf; dann wandte sie sich um und lief los.

Goram warf einen kurzen Blick unter die Wundauflage und drückte sie dann wieder fest auf. Ista schaute ihm über die Schulter. Der Stich ging nicht so tief, wie sie zunächst befürchtet hatte. Schon ließ der träge Strom des Blutes nach. »Gut, Goram. Drück weiter.«

»Ja, Herrin.«

Ista wartete und trat von einem Fuß auf den anderen, bis von der Galerie her wieder Stimmen erklangen. Liss öffnete und ließ eine Frau in einer Schürze ein, die einen Korb bei sich trug. Sie geleitete die Frau in den Raum. Ein Dienstbote kam hinterher.

»Lord Illvin …«, begann Ista und warf Goram einen Blick zu, »… ist aus dem Bett gefallen und hat sich die Schulter gestoßen.« Woran? Istas Einfallsreichtum ließ sie im Stich. Rasch redete sie weiter: »Kümmert euch um ihn und verbindet ihn. Helft Goram, hier sauber zu machen. Und redet nicht darüber, außer mit mir, Lord Arhys und Lady Cattilara.«

Die Krieger aus Porifors, soweit sie nicht hinter den Jokonern hergeritten waren, geleiteten vielleicht genau in diesem Moment ihre neuen Gäste durch die Tore. Ista hielt auf die Tür zu. »Liss, komm mit.«

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