VII

Eigentlich hatte er vorgehabt, sich nach Süden zu wenden, zum Fluß hin und zur Stadt, von der Brobing gesprochen hatte. Aber das Gelände wurde zunehmend schwieriger, und als sich die erste Erregung legte, da wurde Kim sehr rasch klar, daß Jarrn, falls er überlebt hatte, ihn dort sicherlich zuallererst suchen würde. Dazu kam, daß Sternenstaub nach einer Weile anfing, zu humpeln.

Zuerst merkte Kim es kaum; allenfalls, daß die Schritte des prachtvollen Hengstes ein wenig langsamer wurden und dabei etwas von ihrer Geschmeidigkeit verloren. Doch bald fiel Kim auf, daß Sternenstaub den rechten Vorderlauf nur noch zögernd aufsetzte und ganz rasch wieder hob, als hätte er Schmerzen.

Besorgt, daß sich der Hengst bei seinem Angriff auf Brokk womöglich verletzt haben könnte, hielt Kim an, kletterte aus dem Sattel und beugte sich vor. Trotz des Mondes, der sich jetzt gerundet hatte, war es sehr dunkel, und er konnte zumindest auf den ersten Blick keine Verletzung erkennen. Aber plötzlich zog Sternenstaub mit einem erschrockenen Wiehern das Bein zurück, und als Kim ein zweites Mal und sehr viel vorsichtiger Zugriff, da spürte auch er ein plötzliches Brennen und sah einen Blutstropfen auf seinem Finger schimmern, als er die Hand erschrocken zurückzog.

Sehr vorsichtig griff er noch einmal nach dem Lauf des Pferdes, das nervös mit dem Schwanz peitschte und Kim aus großen, klugen Augen ansah, doch ohne sich zu regen, als spüre es genau, daß man ihm nicht weh tun wollte. Dicht unter dem Knie steckte ein fingerlanger, nadelspitzer Stachel im empfindlichen Fleisch des Tieres.

Kim zog ihn heraus, warf ihn angewidert davon und suchte das Bein des Pferdes sorgfältig nach weiteren Stacheln ab, fand aber keine. Dafür fand Kim etwas anderes.


Als er, halbwegs unter dem Bauch des Pferdes liegend, den Kopf hob, blickte er in ein kleines, abscheuliches Antlitz. Es war Bröckchen, das sich offenbar im letzten Moment an den Sattelgurt geklammert und daran bis jetzt festgehalten hatte. Kein Wunder, daß Sternenstaub kaum noch laufen konnte. Es war ungefähr so, als hätte ihm jemand ein großes Nadelkissen unter den Bauch geschnallt!

»Komm sofort da runter!« befahl Kim scharf.

Bröckchen folgte - aber so, daß es einfach seinen Halt losließ. Es wäre Kim geradewegs ins Gesicht gefallen, hätte dieser sich nicht im letzten Moment zur Seite geworfen. »Was ist?« fragte Bröckchen, noch bevor sich Kim schimpfend und fluchend wieder in die Höhe gearbeitet hatte. Kim funkelte es an und setzte zu einer geharnischten Entgegnung an, besann sich aber dann eines Besseren und beließ es bei einem ärgerlichen Blick. Wortlos streckte er die Hand nach dem Sattelknauf aus, nahm sie jedoch wieder zurück und zog erst einmal alle Riemen und Schnallen des Sattels fester.

»Komm schon«, sagte er nur.

Bröckchen sprang mit einem Satz in Sternenstaubs Nacken, wo es sich wie zuvor im Stall in seine Mähne krallte. Kim zögerte. Vielleicht hatte sich Jarrn aufgerappelt und war schon hinter ihnen her. - Aber Kim wollte sich jetzt keine weiteren Sorgen mehr machen. Er würde mit diesem Knirps fertig werden. Und Brokk konnte zum Glück nicht schnell genug laufen, um sie einzuholen, selbst wenn Sternenstaub nun langsamer ritt. Vielleicht sollten sie doch in die Stadt, um sich dort mit Proviant und allem Nötigen einzudecken - und vor allem den Weg nach Gorywynn zu erfragen?

Doch als Kim losreiten wollte, meinte Bröckchen: »Die Richtung würde ich dir nicht empfehlen.«

»Und wieso nicht?« fragte Kim mißtrauisch.

»Weil du dann geradewegs in die Höhle des Bären reiten würdest.«

Kim blickte Bröckchen erschrocken an. »Kelhims Höhle? Sie ist hier?«

»Nicht hier«, verbesserte ihn Bröckchen. »Aber in dieser Richtung. Siehst du den Wald da vorne? Reite nur hinein, und in einer Stunde lädt dich dein alter Freund zum Essen ein. Als Hauptmahlzeit.«

»Du warst da?« vergewisserte sich Kim. »Du weißt, wo Kelhims Höhle ist?«

»Der Gestank ist nun wirklich nicht zu überriechen.« Bröckchen schüttelte sich.

Kim überlegte einen Moment. Dann fragte er noch einmal: »Bist du ganz sicher, daß du die Höhle findest?«

»Bin ich«, antwortete Bröckchen. Mißtrauisch fügte es hinzu: »Aber du willst doch nicht etwa dorthin?«

»Kelhim und ich sind alte Freunde«, meinte Kim nachdenklich.

»Das habe ich gesehen! Er hätte dich um ein Haar aufgefressen.«

»Ich weiß«, seufzte Kim. »Trotzdem. Ich... ich bin sicher, er ... er hat mich nur nicht erkannt. Er würde mir nie etwas tun.«

»Ha!« keifte Bröckchen. »Vielleicht würde er dich in einem Stück fressen, das stimmt.«

»Er hat mich nur nicht erkannt«, beharrte Kim. »Ich bin sicher, er ... er wird sich erinnern.«

»So - sicher bist du«, spöttelte Bröckchen. »Sicher genug, um dein Leben darauf zu verwetten?«

Kim blickte seinen kleinen Reisegefährten an. Er antwortete nicht. Aber nach einer Welle drehte er Sternenstaub herum und ritt los - haargenau in die Richtung, vor der ihn sein stacheliger Führer gewarnt hatte ...

Sie brauchten sehr viel länger, als Bröckchen vorausgesagt hatte, was sicherlich daran lag, daß Sternenstaub in dem dichten Unterholz nicht halb so rasch voran kam, wie es dem kleinen Stacheltier möglich gewesen war. Bröckchen lamentierte und keifte ununterbrochen und versuchte, Kim von seinem Vorhaben abzubringen. Aber schließlich schien es zu begreifen, daß Kims Entschluß unverrückbar feststand, und verfiel in beleidigtes Schmollen.

Als sie die Behausung des Bären schließlich fanden, da war es im Wald ringsum fast so dunkel wie unter der Erde. Die Höhle befand sich auf einer Lichtung, die tief im Herzen des Waldes lag, und so versteckt, daß Kim geradewegs daran vorbeigeritten wäre, hätte Bröckchen ihm nicht widerwillig den Weg gewiesen. Die Kronen der uralten Bäume vereinigten sich über ihren Köpfen zu einem undurchdringlichen Blätterdach, durch das kaum ein Mondstrahl fiel. Kim sah nichts als schwarze Schatten um sich. Und viel mehr war auch die Höhle nicht. Es war keine Felsenhöhle wie jene, in der Kim den Bären Kelhim das erste Mal getroffen hatte, sondern einfach nur ein Loch, das schräg in die Erde hineinführte.

»Na?« knurrte Bröckchen. »Zufrieden?«

Kim lauschte. Er hörte nichts außer dem leisen Rauschen des Waldes und seinen eigenen, hämmernden Herzschlägen. Es war unheimlich still.

»Er scheint nicht da zu sein«, murmelte Kim.

»Oh, das wird sich bald ändern«, antwortete Bröckchen giftig. »Schneller, als dir lieb ist.«

Kim stieg aus dem Sattel, ohne auf Bröckchens Gezeter zu achten, und näherte sich vorsichtig der großen Grube. Als er näher kam, verspürte er einen leichten Aasgeruch, der stärker wurde, je weiter sich Kim der Höhle näherte. Es roch wie in einem Raubtierstall. Was, wenn Kelhim ihn auch diesmal nicht erkannte?

Kim verscheuchte den Gedanken, sah sich noch einmal sichernd nach allen Seiten um und begann dann, vorsichtig in die Tiefe zu klettern.

Auch der letzte Lichtschimmer blieb hinter ihm zurück, während er sich auf allen vieren meterweit in die Tiefe arbeitete. Solange, bis der abschüssige Boden wieder eben wurde. Die Dunkelheit war jetzt vollkommen, und der Gestank wahrhaft atemberaubend.

Bund und mit ausgestreckten Armen tastete Kim sich vorwärts - stolperte prompt und schlug der Länge nach hin. Als er sich fluchend und schimpfend wieder in die Höhe arbeitete, stieß seine Hand gegen ein Stück Holz. Im ersten Moment zog er sie erschrocken zurück, aber dann griff er noch einmal zu und spürte, daß es nichts anderes als eine Pechfackel war, die er da gefunden hatte. Erstaunt - und erleichtert bei der Vorstellung, nicht mehr hilflos herumtappen zu müssen, kramte er in den Taschen der Jacke, die ihm Brobing gegeben hatte, und fand, wonach er suchte: zwei Feuersteine, die man in diesem Land wie selbstverständlich stets bei sich trug.

Wenig später vertrieb der flackernde rote Schein von Flammen die übelriechende Schwärze in der Grube. Und bald fand Kim auch eine Erklärung für seinen Fund. Der Besitzer - oder vielmehr das, was noch von ihm übrig war - lag nicht weit entfernt: ein Skelett, und es war nicht das einzige. Kim schauderte, als er die Fackel hoch über den Kopf hob und sich langsam um seine Achse drehte. Eine Unzahl von Knochen, Schädeln und Skeletten lagen hier herum, und längst nicht alle gehörten Tieren. Der Anschein schien Brobing recht zu geben, als er behauptet hatte, daß Kelhim zu einem mörderischen Raubtier geworden war. Es war Irrsinn, hierher zu kommen.

Aber es war zu spät für solche Reue. Kim hatte seine Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, als er ein trippelndes Schleifen hörte und Bröckchen wie ein winziges Stachelschwein im Licht seiner Fackel auftauchte.

»Er kommt!« kreischte es. »Der Bär! Rette dich! Versteck dich irgendwo, du Narr!«

Verstecken? Kim überlegte verzweifelt. Wo denn? Die Höhle war zwar groß, aber bis auf die abgenagten Knochen vollkommen leer. Einen Moment lang erwog er ernsthaft, sich unter einem dieser Knochenhaufen zu verbergen, besann sich aber sofort wieder. Kelhim würde ihn augenblicklich wittern, das war sicher.

Und außerdem war er nicht hierher gekommen, um sich zu verstecken, sondern um mit Kelhim zu reden.

Tapfer wandte sich Kim um und hob die Fackel etwas höher, während er den Höhleneingang im Auge behielt. Er mußte nicht lange waren. Trotz seiner enormen Körpergröße bewegte sich Kelhim lautlos wie eine Katze. Sein Schatten erfüllte das helle Rund des Eingangs, lange, bevor der Bär selbst darin erschien. Kim konnte ihn tatsächlich riechen.

Abermals schauderte er. Ihm war niemals aufgefallen, daß Kelhim unangenehm roch - aber das riesige, zottige Etwas, das plötzlich im Höhleneingang erschien, stank ganz eindeutig nach Wildnis - und Tod.

Für Sekunden, die Kim wie Ewigkeiten vorkamen, stand der Bär einfach da und starrte ihn aus seinem böse funkelnden Auge an, mißtrauisch, vielleicht auch verblüfft über den winzigen Menschen, der es gewagt hatte, in sein Reich einzudringen. Auch Kim stand da und blickte ihn an. Und das schreckliche Wissen, einen tödlichen Fehler begangen zu haben, wuchs in ihm. Er war jetzt verrückt vor Angst. Aber er rührte sich nicht.

Auch nicht, als Kelhim endlich aus seiner Starre erwachte und sich langsam auf Kim zuzubewegen begann. Sein Blick glitt mißtrauisch durch die Höhle, und er schnüffelte wie ein Hund, der Witterung aufnahm. Vielleicht fürchtete er einen Hinterhalt. Mit einem einzigen Sprung und einem einzigen Prankenhieb hätte der Bär Kim erreichen können, um ihn auf der Stelle zu töten, aber er kam nur mit ganz kleinen, vorsichtigen Bewegungen näher.

Kim hob das Licht ein wenig höher, so daß sein Schein fast die ganze Höhle erfüllte. Die Schatten schienen einen wirren Tanz ringsherum aufzuführen, so sehr zitterte Kims Hand, die die Fackel hielt. Trotzdem wich er keinen Schritt zurück, als Kelhim auf ihn zutrottete.

Schließlich war es der Bär, der stehenblieb. Und wider besseres Wissen schien es Kim, als sei ein verblüffter Ausdruck auf Kelhims einäugigem Gesicht zu erkennen, während er das bibbernde Menschenkind vor sich betrachtete. Für seine empfindliche Bärennase roch es wahrscheinlich nach Angst wie eine ganze Schafsherde, die einen Wolf erblickt hatte, aber keine Anstalten machte, zu fliehen. »Hal-1-l-lo, Kelhim«, stotterte Kim. Seine Stimme klang ihm fremd in den Ohren, so sehr zitterte sie. »F-f-f-f-reust d-d-du d-dich, mich w-w-wiederzusehen?«

Kelhim starrte ihn weiter an, dann brüllte er auf, daß die ganze Höhle erbebte. Erde und kleine Steinchen rieselten von den Wänden.

»Ich bin es, Kelhim!« rief Kim verzweifelt. »Erinnere dich! Du kennst mich! Wir sind doch Freunde!«

Kelhim richtete sich auf die Hinterläufe auf, bleckte die gräßlichen Zähne und klappte zehn Krallen aus seinen Vordertatzen heraus, die jede einzeln die Abmessung eines kleinen Dolches hatten. Mit einem einzigen, wiegenden Schritt kam er näher.

Alles in Kim schrie danach, zurückzuweichen, aber er beherrschte seine Angst und blickte Kelhim tapfer ins Auge - und tatsächlich: Der Bär zögerte noch einmal. Etwas wie Verwirrung erschien in seinem Blick und dann ein sonderbarer Ausdruck: Trauer, Schmerz und ein Funken Erinnerung, aber auch unbezähmbare Wut.

»Kelhim!« flehte Kim. »Besinne dich! Wir sind Freunde! Weißt du nicht mehr: die Schlacht um Gorywynn. Unsere Reise auf Rangarigs Rücken!«

Kelhims Knurren wurde tiefer, kehliger. Der Bär wankte. Es sah aus, als erleide er unsagbare Schmerzen.

Und wirklich. Kim sah, wie das Tier einen verbissenen Kampf mit etwas in sich ausfocht, das wohl die ganze Zeit über dagewesen, aber vergessen war, tief, tief vergraben unter den Instinkten des Raubtieres.

»Bitte, Kelhim!« flehte er. »Erinnere dich. Wir -«

Das Raubtier gewann. Kim hatte nicht einmal Zeit, Schrecken zu empfinden, da schlug Kelhims Pranke zu und schleuderte ihn quer durch die Höhle bis an die rückwärtige Wand, wo er keuchend liegenblieb. Die Fackel wurde Kims Hand entrissen und segelte in hohem Bogen davon, erlosch aber nicht.

»Kelhim!« stammelte Kim. »Bitte nicht! Wir sind doch Freunde!«

Kelhim knurrte, ließ sich wieder auf alle viere nieder und kam mit gebleckten Zähnen näher.

»Nein!« kreischte Kim und hob schützend die Hände über den Kopf. »Kelhim! Bitte!«

Plötzlich blieb das Untier stehen, denn vor dem Höhleneingang waren zwei weitere Schatten erschienen, ein winziger und ein gewaltiger, und eine meckernde Stimme höhnte: »B-b-b-bitte n-n-nicht, Kelhim. Wir sind doch F-f-f-freunde!«

Kelhim drehte mit einem zornigen Knurren den Kopf, während draußen jemand mit trippelnden Schritten näher kam und fortfuhr, Kims Stimme spöttisch nachzuäffen: »Er wird dich f-f-f-fressen, dein F-f-f-freund, du Narr. Da bin ich ja gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um das Beste nicht zu verpassen, w-wie?« Der Zwerg kicherte wie irre und begann abwechselnd auf dem rechten und dem linken Bein zu hüpfen, wobei er vor lauter Vergnügen auf die Schenkel schlug: Jarrn!

Kelhims Blick wanderte unschlüssig zwischen Kim und dem geifernden Zwerg hin und her, und Kim konnte sehen, wie es hinter seiner zottigen Stirn arbeitete. Dann drehte der Bär sich schwerfällig zu Jarrn herum und richtete sich abermals auf die Hinterbeine auf.

Jarrn hörte auf, sich wie Rumpelstilzchen zu gebärden. Er machte eine knappe Handbewegung, und hinter ihm trat Brokk in die Höhle, die Eisenklaue drohend geöffnet. »Bleib bloß stehen, du zu groß geratener Teddybär!« sagte der Zwerg böse. »Nimm den da.« Er deutete auf Kim. »Das dürfte reichen, deinen Hunger zu stillen. Oder überlaß ihn mir. Ich habe noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen.«

»Kelhim!« wimmerte Kim. »Hilf nur!«

Und was seine Appelle an ihre alte Freundschaft nicht vollbracht hatten - sein geflüsterter Hilferuf tat es. Kelhim starrte ihn an, dann fuhr er herum und warf sich mit einem ungeheuerlichen Brüllen auf den Eisenmann.

Was nun folgte, das kam Kim selbst später, wenn er daran zurückdachte, wie ein Alptraum vor. Die beiden Giganten prallten mit unbeschreiblicher Wucht aufeinander, daß die ganze Höhle erzitterte. Kelhim brüllte und schrie, während seine gewaltigen Pranken auf Kopf und Schultern des stählernen Riesen herunterkrachten. So gewaltig waren seine Schläge, daß der eiserne Riese wankte. Dieser selbst kämpfte schweigend und lautlos, doch seine Hiebe waren nicht minder wuchtig. Immer wieder traf Brokks grauenhafte Baggerhand den Bären, und man konnte sehen, wie Kelhims Kräfte allmählich nachzulassen begannen. Denn im Gegensatz zu ihm kannte sein eiserner Gegner weder Erschöpfung noch Schmerz - und so gewaltig Kelhims Kräfte auch waren, sie reichten nicht aus, die zollstarken Eisenplatten zu zerbrechen, aus denen Brokks Körper gemacht war.

Endlos, wie es schien, schlugen die beiden schwarzen Giganten aufeinander ein. Die Höhle wankte. Nahe des Eingangs brach ein ganzes Stück der Decke herunter und überschüttete Brokk mit Erdreich und Felstrümmern, ohne ihm aber etwas anhaben zu können. Am Ende begann schließlich der Bär zurückzuweichen.

Kelhim taumelte. Mehrere seiner Krallen waren abgebrochen, seine Pfoten und die Schnauze bluteten, und er knurrte voller Schmerz. Er erzitterte immer heftiger unter den Hieben der stählernen Klaue, die Brokk auf ihn herunterprasseln ließ.

»Kelhim ...« flüsterte Kim. Plötzlich begriff er, daß der Bär besiegt war - und daß der Eisenmann nicht aufhören würde, auf ihn einzuschlagen, bis sein Gegner tot am Boden lag. Kirns Augen füllten sich mit Tränen.

Jarrn begann schrill zu kichern. »Da siehst du, wieviel Angst ich vor dir habe, Teddybärchen!« kreischte er. »Keiner stellt sich mir in den Weg, ohne mit dem Leben dafür zu zahlen. Keiner!« Er hüpfte vor Vergnügen auf der Stelle und deutete mit dem dürren Zeigefinger wie mit einem. Dolch auf Kim. »Und du kommst als nächster dran! Aber für dich denke ich mir was Besonderes aus, du widerwärtiger Kerl!«

»Das mag sein«, sagte Kim leise. »Falls du genug Zeit hast.«

Und damit sprang er warnungslos vor und packte den Zwerg.

Jarrn war nicht ganz so unvorbereitet wie bei Kims Angriff kürzlich auf dem Hof - aber immer noch überrascht genug. Er versuchte, einen Dolch unter dem Mantel hervorzuziehen, aber Kim schnitt ihm die Bewegung ab und verpaßte ihm einen Tritt, der ihn zurückschleuderte und ihm die Waffe aus der Hand prellte. Aus den Augenwinkeln sah Kim, wie Brokk von seinem Opfer abließ und jäh herumfuhr. Aber noch ehe der Eisenmann die Bewegung auch nur halb zu Ende gebracht hatte, hatte Kim den Zwerg schon wieder erreicht, ihn auf die Füße gezerrt und ihm seinen eigenen Dolch an die Kehle gesetzt.

»Ruf Brokk zurück!« zischte Kim.

Er sprach nicht sehr laut, aber vielleicht war es gerade das, was Jarrn klarmachte, wie ernst er seine Drohung meinte. Der Zwerg schluckte und bog den Kopf in den Nacken, so weit er konnte, aber Kims Messerspitze folgte der Bewegung unerbittlich. Jarrn begann zu schielen, als er versuchte, die Klinge im Auge zu behalten.

»Zurück!« schnarrte er. »Brokk! Laß ihn!«

Knapp hinter Kim stoppte der Eisenmann. Seine mörderische Klaue war bereits zum Zupacken geöffnet gewesen. »Schick ihn raus!« forderte Kim. »Er soll rausgehen! Brokk soll weggehen - zurück zu Brobings Hof!«

»Du -«

Kim half seinem Befehl mit einem Druck des Dolches nach, der Jarrns dünnen Hals ritzte, und der Zwerg hatte es plötzlich sehr eilig, mit krächzender Stimme zu rufen: »Du hast gehört, was er gesagt hat, Brokk! Geh zurück zu dem Bauernpack! Warte da auf mich!«

Der Boden unter Kims Füßen begann zu zittern, als sich der eiserne Koloß gehorsam umwandte und die Höhle verließ. Nach einigen Sekunden hörte Kim, wie er sich berstend und splitternd seinen Weg durch das Unterholz bahnte.

Langsam zog er die Messerklinge von Jarrns Hals fort, ohne den Zwerg aber loszulassen.

Obwohl sich Jarrn lautstark zu wehren begann, packte ihn Kim, riß einen Streifen von seinem Umhang und wickelte ihn mit dem Rest des Kleidungsstückes ein, bis der Zwerg einem schwarzen Geschenkpaket glich. Den abgerissenen Streifen benutzte Kim, um einen sicheren Knoten darumzubinden. Dann ließ er das Paket achtlos neben dem Eingang zu Boden fallen und eilte zu Kelhim zurück.

Was er sah, brach ihm schier das Herz.

Kelhim war zu Boden gestürzt. Seine Brust hob und senkte sich in rasenden, schnellen Stößen, und sein ganzes Gesicht war voller Blut. Sein einzelnes Auge blickte trübe, und aus seinem Brustkorb drang ein tiefes, mühsames Grollen und Rasseln, das Kim deutlicher als alles andere sagte, wie schwer verletzt der riesige Bär war.

»Kelhim«, flüsterte er. »Kelhim, was ... was ist mit dir?« Kelhim antwortete nicht, aber sein Blick suchte den Kims, und trotz des Schmerzes und der abgrundtiefen Verzweiflung darin sah Kim, daß er jetzt keinem wilden Tier mehr gegenüberstand. Kelhim war wieder zu dem geworden, was er einst gewesen war.

Aber um welchen Preis!

»Kelhim!« flüsterte Kim noch einmal, selbst der Verzweiflung nahe. »Was hast du?«

»Kim?« murmelte da der Bär. »Bist... du ... das?«

»Ja.« Kim ließ sich langsam neben dem mächtigen Schädel des Bären auf die Knie fallen und streckte die Hand nach seiner Schnauze aus. Seine Augen füllten sich mit Tränen, gegen die er jetzt nicht mehr kämpfte. Er wußte, daß Kelhim sterben würde. Brokks Schläge hatten etwas in seinem Körper zerbrochen. »Ja«, sagte Kim noch einmal. »Ich bin es, Kelhim.«

»Kim«, murmelte der Bär. Er versuchte sich zu bewegen, aber seine Kräfte reichten nicht mehr. »Du bist gekommen. Gut.«

»Sprich nicht«, sagte Kim schluchzend. »Schone deine Kräfte, Kelhim. Es wird alles wieder gut.« Seine Stimme brach. Er konnte nicht weitersprechen.

»Gut«, wiederholte Kelhim. Sein Blick begann sich zu verschleiern, und plötzlich ging sein Atem nur noch ganz, ganz langsam und mühevoll. »Geh nach ... Gorywynn«, flüsterte der Bär. »Du mußt... Themistokles befreien.«

»Befreien?« Kim fuhr auf. »Ist Themistokles denn gefangen?«

»Themistokles ...«, stöhnte Kelhim. »Geh und ... Themistokles ... Zwerge ... die ... die Kin ... der.«

Seine Stimme wurde immer schwächer. Kim verstand nur noch Wortfetzen.

»Warte!« rief er verzweifelt. »Bitte, Kelhim - du darfst nicht sterben!«

»Geh«, murmelte Kelhim mit letzter Kraft. »Die Zwerge ... geh nach ... noch ... ein ... Geh ... und ... Rette Märchenmond, kleiner Held ... Du kannst es.«

Und damit starb er, den mächtigen Schädel in Kims Armen, ohne noch ein einziges weiteres Wort zu sagen.

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