IV

Kim war weiter in die Richtung gewandert, in die Lizard ihn den ganzen Tag über getragen hatte, und von der er ziemlich willkürlich bestimmte, daß sie Süden sei (später sollte er herausfinden, daß sie es wirklich war, und zwar aus dem einzigen Grund, weil er wollte, daß sie es war). Schließlich war er so müde geworden, daß er sich auf einem Flecken halbwegs trockenen Bodens ausstreckte und auf der Stelle einschlief. Als Kim die Augen aufschlug, war es dunkel geworden, und zum erstenmal, seit er die Grenzen nach Märchenmond überschritten hatte, war es tatsächlich Nacht. Der Himmel war schwarz und nicht von diesem düsteren, wattigen Grau, das an das Licht einer Straßenlaterne erinnerte, die weit entfernt im Nebel brannte und einem das Gefühl gab, nicht mehr richtig atmen zu können. Obwohl aus dem Sumpf immer noch große Gasblasen aufstiegen, die unangenehme Gerüche entließen, trug der Wind doch einen Hauch angenehmer Kühle heran.

Kim war nicht von selbst erwacht, sondern eine Berührung hatte ihn geweckt.

Er setzte sich mit einem Ruck auf und sah sich um. Im allerersten Moment erkannte er rein gar nichts, so tief und absolut war die Finsternis, die ihn umgab. Fast wünschte sich Kim das graue Nebellicht der Echsenwelt zurück. Aber dann gewöhnten sich seine Augen an das blasse Sternenlicht, und er sah schattenhafte Umrisse.

Allerdings war Kim nicht sicher, ob es so gut war, etwas zu erkennen ... Kim war tatsächlich von jemandem wachgerüttelt worden. Und dieser jemand hockte noch immer neben Kims rechtem Bein und betrachtete abwechselnd ihn und den Turnschuh an seinem Fuß.

Kim mußte sich beherrschen, um nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. Das Wesen, das an seinem Zeh geknabbert hatte, war nur so groß wie eine Katze, aber nicht annähernd so niedlich. Genauer gesagt, war es die häßlichste Kreatur, die Kim jemals zu Gesicht bekommen hatte: klein und rauh und von einer undefinierbaren Farbe, die irgendwo zwischen Schleimgrün und Matschbraun schwankte. Obwohl sein Körper dort, wo er nicht aus Stacheln und Widerhaken und rasiermesserscharfen Krallen bestand, über und über mit Schuppen bedeckt war, schimmerte er feucht und klebrig, und der Gestank, den das Wesen verbreitete, nahm einem schier den Atem. Seine übergroßen Triefaugen musterten Kim tückisch. Und aus dem offenstehenden Maul, in dem eine Reihe kleiner, aber nadelspitzer Zähne blinkte, tropfte Speichel auf den Boden. Es musterte Kim von oben bis unten - mit einem Blick, als überlegte es, wo es zuerst hineinbeißen sollte.

»Hai... lo«, sagte Kim stockend. Vorsichtig setzte er sich auf, bekämpfte tapfer seinen Widerwillen und zwang sich sogar zu einem Lächeln.

»Wer bist du denn?«

Das kleine Scheusal sabberte heftig, antwortete aber nicht. Kim schluckte ein paarmal, um das Gefühl der Übelkeit, das der Anblick dieser Gestalt in ihm auslöste, nicht zu übermächtig werden zu lassen, setzte sich ganz auf und zog die Knie an den Körper. In den trüben Augen des kleinen Ekels machte sich ein Ausdruck von Enttäuschung breit, als der Turnschuh zurückgezogen wurde, aber es rührte sich noch immer nicht.

Kim versuchte es noch einmal. »Verstehst du mich?« fragte er. »Ich meine - verstehst du, was ich sage? Nein? Komm mal her.« Obwohl ihm allein der Anblick des Tieres den Magen herumdrehte, beugte er sich vor und streckte die Hand aus. Schließlich konnte das Wesen nichts für sein Aussehen. Wahrscheinlich war Kim in seinen Augen auch nicht wesentlich hübscher, allenfalls appetitlicher, und das im wortwörtlichsten Sinn. Kim wußte, daß man nicht unbedingt vom Äußeren eines Lebewesens auf seinen Charakter schließen sollte.

Nicht unbedingt und nicht immer. Aber manchmal eben doch.

Das kleine Monster blickte ihn einen Moment lang aus einem Auge an, richtete den Blick des anderen auf seine ausgestreckte Hand und schnupperte schließlich an seinem Zeigefinger wie ein Hund, der Witterung aufnahm.

Dann biß es herzhaft hinein.

»Iaaaa!« brüllte Kim, sprang mit einem Satz auf die Füße und riß den Arm zurück. Klein-Ekel hatte sich allerdings in seinen Finger verbissen und dachte nicht daran, loszulassen. Kim schrie vor Schmerz und Wut, hüpfte wie von Sinnen abwechselnd auf dem rechten und auf dem linken Bein herum und schwenkte den Arm wild hin und her, ohne daß das Tier seinen Biß lockerte.

»Mistvieh!« schrie Kim. »Aua! Laß sofort los!«

Aber das Tier dachte nicht daran - ganz im Gegenteil. Jetzt begann es auch noch mit allen vier Klauen seine Hand zu bearbeiten und wickelte den langen Schwanz, der mit scharfen, spitzen Stacheln übersät war, um Kims Unterarm, um mehr Halt zu haben. Kim kreischte, ließ den Arm wie einen Dreschflegel vor dem Gesicht in der Luft wirbeln - und schaffte es endlich, das kleine Monstrum abzuschütteln. Mit einem pfeifenden Laut flog es durch die Luft und landete meterweit entfernt in einem Busch. Nur um sofort auf seinen winzigen Beinchen wieder heranzuwieseln.

Eine Sekunde lang starrte Kim das Tier aus ungläubig aufgerissenen Augen an, hin und her gerissen zwischen Zorn und Verblüffung über die Dreistigkeit dieses lebenden Nadelkissens, das einen Gegner von Kims Größe angreifen wollte. Dann war das Tier heran und biß Kim so heftig in den Zeh, daß er den Schmerz durch den Turnschuh spürte und mit einem abermaligen Schrei zurückprallte. Ohne nachzudenken, gab er dem Tier einen Tritt, der es hilflos davonkollern ließ, dabei verlor er selbst das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Hosenboden.

Aber als das Tier erneut heranstürmte, war er vorbereitet. Kim ballte die Faust und spannte die Muskeln zu einem Hieb, der es auf der Stelle zermalmen mußte.

Als spüre es die Gefahr, brach das Monster im letzten Moment seinen Angriff ab und legte den Kopf schräg. Seine Augen blitzten tückisch, aber auch sehr vorsichtig.

»Komm nur her!« sagte Kim. »Auf einen wie dich habe ich gerade gewartet.«

Klein-Ekel gab einen unangenehmen, zischelnden Laut von sich und sabberte wieder. Seine winzigen Krallen gruben sich in den sumpfigen Boden.

»Was willst du?« fragte Kim herausfordernd. »Komm nur her und hol dir eine Tracht Prügel, oder hau ab!« Er griff nach einem Stein.

»Hunger!« sagte das Tier.

Kim riß die Augen auf. »Wie?«

»Hunger«, wiederholte das Mini-Monster. »Du bist groß - und ich hab einen großen Hunger.«

Kim schluckte, starrte auf das stachelige Wesen zu seinen Füßen herab und dann auf seinen Zeigefinger. Die winzigen Zähne des Biestes hatten eine doppelte Reihe nadelspitzer, blutender Pünktchen in seiner Haut hinterlassen. Und die Wunden brannten, als hätte jemand Salz hineingerieben.

»Nur ein Stück!« bettelte das Tier. Es schniefte hörbar, sagte noch einmal mit weinerlicher Stimme: »Hunger!«, während sich seine Augen tatsächlich mit Tränen füllten. »Mich kann man nicht essen«, erklärte Kim hastig und schob seinen blutenden Finger in den Mund. »Ich schmecke scheußlich!«

»Du lügst«, behauptete das Nadelkissen-Tier.

»Ach?« fragte Kim lauernd. »Wieso?«

»Du ißt dich doch selbst!«

Kim blinzelte, nahm verblüfft den Finger wieder aus dem Mund und mußte plötzlich lachen. Das Tier fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und kroch wieder ein Stückchen näher, wobei es Kims rechtes Hosenbein vom Knie bis zur Tasche vollsabberte.

»He!« protestierte Kim. »Paß doch auf, was du da tust!« Er versuchte das Wesen zur Seite zu schieben, zog die Hand aber im letzten Moment wieder zurück, als er es in seinen Augen gierig aufblitzen sah.

»Jetzt hör mir mal zu«, begann er. »Ich habe was dagegen, aufgegessen zu werden, kapiert?«

»Nicht ganz aufessen«, versicherte Klein-Ekel. »Nur ein Stück. Ein ganz kleines.« Seine Augen erinnerten plötzlich an die eines hilflosen Rehkitzes, das einen Menschen um ein Stück Zucker anbettelt. »Nur einen Finger«, bettelte es, »Oder einen halben?«

»Nein!« rief Kim, der sich zwischen Lachen und Zorn hin und her gerissen fühlte. »Nicht einmal einen Viertel! Nicht einmal den Fingernagel, ist das klar?«

Kim stand auf und ballte die rechte Hand zur Faust, denn der Finger schmerzte noch immer höllisch.

»Dann vielleicht einen Zeh?« fragte das Tierchen hoffnungsvoll. Kim wollte wütend werden - aber wieder konnte er nicht anders: er platzte einfach heraus und begann schallend zu lachen, bis er keine Luft mehr bekam. Noch immer kichernd und glucksend ließ er sich vor dem Tierchen in die Hocke sinken und betrachtete es kopfschüttelnd, während er sich mit der linken Hand die Tränen aus den Augen wischte. »Hast du was?« fragte das Tier. »Warum schreist du so?«

»Ich schreie nicht«, versicherte ihm Kim. »Das hört sich nur so an... Wer bist du überhaupt?«

»Ich?« Das Tierchen schien einen Moment lang ernsthaft über den Sinn dieser Frage nachzudenken. »Ich«, sagte es schließlich. »Ich bin ich. Wer soll ich denn sonst sein?«

»Geschieht mir recht«, murmelte Kim. »Blöde Fragen kriegen blöde Antworten, nicht wahr?« Er seufzte. »Mein Name ist jedenfalls Kim. Vielleicht hast du ja schon einmal von mir gehört?« fügte er hoffnungsvoll hinzu.

»Nein«, antwortete sein Gegenüber. »Und gekostet habe ich dich auch noch nicht. Ich könnte mich an den Geschmack erinnern. Bestimmt.«

»Ja, bestimmt«, pflichtete ihm Kim bei und erhob sich wieder. »Ich muß jetzt gehen. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.« Und damit wandte er sich um und ging mit raschen Schritten davon. Noch herrschte tiefe Nacht, aber Kim war überhaupt nicht mehr müde. Außerdem hätte er sowieso nicht mehr schlafen können - nicht in einer Gegend, in der man damit rechnen mußte, stückweise aufgegessen zu werden, wenn man nicht aufpaßte.

Den Weg durch den nachtdunklen Sumpf zu finden, erwies sich als schwieriger, als Kim gedacht hatte. Immer wieder stolperte er über eine Wurzel, die er in der Dunkelheit nicht rechtzeitig sah, trat in jäh aufklaffende Sumpflöcher und knallte zweimal mit der Stirn gegen einen Baumstamm, der scheinbar aus dem Nichts vor ihm auftauchte. Sein Mut sank. Und ein Blick in den Himmel machte ihm klar, daß mit dem Tagesanbruch noch lange nicht zu rechnen war. Überhaupt kam ihm die Landschaft, durch die er wanderte oder eigentlich stolperte, immer unheimlicher vor. Der Sumpf dehnte sich, soweit das Auge reichte, die Bäume und das Buschwerk wirkten allesamt irgendwie krank und verkrüppelt. Aber was hatte Kim erwartet? Das hier mochte ein Teil von Märchenmond sein, aber es war das Land der Schuppentiere. Eigentlich sollte er froh sein, daß sich seine Schwester Rebekka ein Terrarium und Leguane gewünscht hatte und nicht etwa eine langbeinige, pelzige Spinne - oder gar Fische ...

Als Kim sich nach einer Welle zufällig umdrehte, sah er einen winzigen Schatten, der mit lautlosen Bewegungen hinter ihm herhuschte. Mit einem Ruck blieb Kim stehen und runzelte verärgert die Stirn, als er in ein Paar trüber, viel zu groß geratener Glubschaugen blickte, die er nun schon kannte.

»Was soll das?« fragte er verärgert. »Wieso läufst du mir nach?«

»Hunger«, bettelte das kleine Tier störrisch. Kim seufzte. Das Scheusal blickte ihn treuherzig an. »Vielleicht ein Ohr?«

»Nein!« brüllte Kim, so laut er nur konnte. Wütend trat er auf das Tier zu, besann sich aber im letzten Moment. »Warte mal«, sagte er. »Du hast großen Hunger, sagst du?«

Das Tierchen nickte heftig und huschte auf ihn zu.

»Hör zu«, sagte Kim. »Hier sind doch überall Seen und Tümpel, nicht wahr? Ich bin sicher, daß es darin Fische gibt. Magst du Fisch?«

»Klar.«

»Und du kennst dich hier in der Gegend aus?« fragte Kim.

»Freilich.«

»Dann mache ich dir einen Vorschlag«, sagte Kim. »Sobald es hell ist, fange ich einen großen, saftigen Fisch für dich, das verspreche ich dir.«

»Einen großen? Nur für mich?«

»Ganz allein für dich«, versicherte Kim. »Ich will nicht eine Schuppe davon abhaben. Dafür zeigst du mir jetzt den Weg hier heraus. Ich suche ... meinesgleichen. Verstehst du?«

»Solche wie dich?« wiederholte das Monsterchen.

»Genau«, antwortete Kim. »Wesen wie mich, die sich nicht fressen lassen wollen. Weißt du, wo ich sie finden kann?«

»Sicher. Ist nicht einmal mehr weit. Aber erst den Fisch.« Kim seufzte. »Können wir nicht warten, bis es hell ist?« fragte er. »Ich meine - du scheinst im Dunkeln ja ausgezeichnet zu sehen, ich leider nicht.«

»Das habe ich gemerkt«, antwortete das Tier. »Du bist gerade fast ins Loch eines Schnappers gefallen.«

Kim verzichtete vorsichtshalber darauf, zu fragen, was ein Schnapper war. Die Antwort hätte ihm bestimmt nicht gefallen. »Also abgemacht?« fragte er. »Ich besorge dir den Fisch, sobald es Tag ist, und du zeigst mir den Weg hier heraus.«

»Abgemacht«, nieste das Tier.

Kim richtete sich wieder auf, bevor er aber weiterging, wandte er sich noch einmal an seinen Begleiter. »Wenn wir schon zusammen wandern, dann brauchst du einen Namen«, sagte er. »Wie soll ich dich nennen?«

Das kleine Stacheltier blickte ihn verstört an, und Kim begriff. »Okay, okay«, sagte er hastig. »Ich denke mir einen aus.« Plötzlich grinste er über das ganze Gesicht. »Du bist häßlich wie die Nacht, weißt du das eigentlich? Ich denke, ich werde dich Bröckchen nennen.«

»Bröckchen?«

»Das ist die Koseform von Kotzbrocken. Paßt irgendwie zu dir. Einverstanden?« antwortete Kim kichernd.

Das Tier überlegte kurz, nickte dann und kroch eifrig mit kleinen trippelnden Schritten über Kims Füße hinweg, wobei es seine Turnschuhe bis zu den Knöcheln mit grünem Schleim vollschmierte.

Kim machte sich schon das erste Licht der Dämmerung zunutze, um aus einigen ausgerissenen Gräsern und dünnen Zweigen eine provisorische Angelschnur zu flechten. Das war leichter gesagt als getan, aber Kim war geschickt, und nach einigem Herumprobieren brachte er eine etwa drei Meter lange, geflochtene Schnur zustande, die ihm für sein Vorhaben geeignet schien; schließlich hatte er nicht vor, einen Walfisch zu fangen, sondern nur etwas, das ausreichte, seinen gefräßigen Begleiter satt zu kriegen. Ein wenig mehr Schwierigkeiten bereitete ihm der Angelhaken, aber er behalf sich schließlich, indem er seinen Gürtel auseinandernahm und die Schnalle an einem Stein umbog. Er schliff sie so scharf, wie er konnte. Bröckchen saß die ganze Zeit daneben und beobachtete ihn aus seinen hervorquellenden Augen, sagte aber nichts mehr - wofür ihm Kim dankbar war. Einer der Gründe, warum er schon jetzt damit begonnen hatte, eine Angebrute zu bauen, war der, daß er mittlerweile selbst hungrig war. Der andere - und viel gewichtigere - Grund aber war, daß das kleine Ekel während der vergangenen Stunden nicht aufgehört hatte, ihm zu versichern, wie hungrig es war, und fortgefahren war, ihn um ein Ohr, einen Finger oder einen Zeh anzubetteln. Kim war am Ende seiner Geduld, und wer weiß, was er womöglich noch dafür gegeben hätte, nur damit dieses elende Plappermaul endlich die Klappe hielt.

Aber soweit kam es nicht. Sein vierbeiniger Gefährte führte ihn zu einem kleinen, aber offensichtlich sehr tiefen Tümpel, und Kim hatte seine selbstgebastelte Angel kaum ausgeworfen, als auch schon ein silberner Schemen dicht unter der Oberfläche des schlammigen Wassers heranschoß und so heftig an der Leine riß, daß Kim um ein Haar kopfüber in den Tümpel gestürzt wäre.

Trotzdem hielt er die Leine eisern fest, und zu seiner Verwunderung hielt sie sogar, obwohl er einen sehr großen Fisch erwischt zu haben schien. Das Wasser sprudelte und schäumte am Ende der Angelschnur, während sich sein Fang verbissen zur Wehr setzte. Und mehr als einmal glaubte Kim, daß seine Kräfte versagten und er wieder loslassen müßte. Bröckchen flitzte während der ganzen Zeit unentwegt aufgeregt vor ihm hin und her, fuhr sich gierig mit der Zunge über die pickeligen Lippen und besprenkelte Kim mit Geifer und grünem Schleim. Schließlich wurde es ruhig am Angelhaken. Keuchend vor Anstrengung zog Kim den Fang aus dem Wasser. Es war wirklich ein riesiger Fisch - fast so lang wie sein Arm und sicherlich fünfzehn Pfund schwer, und seine Augen schienen Kim vorwurfsvoll und verwirrt anzublicken. Vielleicht, dachte Kim mit einem Gefühl von Betroffenheit, war das die erste Angelrute gewesen, die es in dieser Welt hier gab.

Er verscheuchte den Gedanken, zog den Fisch mit einer letzten Anstrengung ans Ufer und hob einen Stein auf, als das Tier heftig mit Schwanz und Flossen zu schlagen begann. »Was tust du da?« erkundigte sich Bröckchen. »Ich erlöse ihn von seinen Leiden«, antwortete Kim. »Das macht man als Angler so. Oder soll ich warten, bis er qualvoll an Land erstickt ist?«

Bröckchen antwortete nicht, sah ihm aber aufmerksam zu, während Kim tat, was er tun mußte, um sich schließlich schwer atmend und mit einem leichten Gefühl von Übelkeit im Magen wieder aufzurichten. Er war mit seinem Vater schon oft Angeln gewesen, aber diese unangenehme Arbeit hatte er immer ihm überlassen.

»Du hast ihn erschlagen«, meinte Bröckchen vorwurfsvoll - was ihn aber nicht davon abhielt, gleich darauf das Maul aufzureißen und ein gewaltiges Stück aus dem Fisch herauszubeißen.

»Du wolltest ihn doch, oder?« erwiderte Kim gereizt. »Aber doch nicht ganz!« antwortete Bröckchen mit vollem Maul. »Ein Stück hätte gereicht.« Er schluckte, biß ein weiteres Stück aus der Flanke des Fisches und sah Kim mit schräggehaltenem Kopf an. »Hättest du mich auch erschlagen, gestern abend?« fragte er. Kim war ein bißchen verlegen. »Warum ... fragst du das?« fragte er.

Bröckchen deutete auf den Stein, den Kim wieder fallen gelassen hatte. »Du hattest auch einen Stein in der Hand.«

»Das... das war doch etwas ganz anderes«, stotterte Kim. »Wieso?«

»Nun, ich ...« Kim suchte einen Moment vergeblich nach den richtigen Worten. »Das ... das war ... du bist so häßlich, und da bin ich erschrocken.«

»Ah«, sagte Bröckchen und biß wieder in den Fisch. Kim staunte nicht schlecht. Der Fisch war ungefähr dreimal so lang wie das kleine Stachelmonstrum, aber Bröckchen hatte schon ein gutes Stück davon vertilgt.

»Ich verstehe. Du erschlägst häßliche Tiere.«

»Nein«, antwortete Kim. »So ... so meinte ich das nicht. Es ... es war, bevor ich wußte, daß du sprechen kannst.«

»Du meinst - wenn ich nichts gesagt hätte, dann hättest du mich erschlagen?«

Kim seufzte. Er begann sich immer unwohler zu fühlen. »Nicht doch«, murmelte er. »Ich meine ... ich ... also ...« Mit einem Male kam er sich ganz klein und schäbig vor. Dieses winzige Etwas hatte ihn tatsächlich aus der Fassung gebracht.

Nicht nur, um das Thema zu wechseln, fragte er: »Gibst du mir ein Stück von deinem Fisch?« Ihm fiel ein, wie hungrig er war.

Bröckchen stellte alle Stacheln auf, duckte sich wie eine angreifende Katze und funkelte Kim an. »Du hast gesagt, ich kann ihn ganz allein für mich haben!« keifte es.

Kim seufzte. »Nun, ich hab ja nur gefragt. Der Fisch ist doch so groß!«

»Und?« entgegnete Bröckchen. »Gesagt ist gesagt!«

»Ist ja gut«, winkte Kim ab. »Ich mache dir einen Vorschlag - iß dich satt, und ich nehme mir, war übrig bleibt - einverstanden?«

Bröckchen grunzte eine Antwort, die Kim nicht verstand, und grub sich schmatzend und schlingend tiefer in den Fisch hinein. Kim stand eine Weile kopfschüttelnd und leicht angewidert dabei, dann drehte er sich um und entfernte sich ein paar Schritte, um das nicht mehr ansehen zu müssen. Die Ohren konnte er leider nicht verschließen - Bröckchen schmatzte wie eine ganze Schweinefamilie. Langsam ging Kim um den kleinen See und sah sich dabei um. Es wurde jetzt zunehmend lichter - in das Grau der Dämmerung mischte sich die erste Helligkeit, und der Sumpf sah schon nicht mehr ganz so bedrohlich aus wie in der Nacht. Hier und da entdeckte Kim sogar einige wilde Blumen zwischen den farblosen Moorgewächsen, und weit entfernt glaubte er einen Strich aus richtigem Grün auf dem Horizont zu erkennen. Offensichtlich hatte Bröckchen wirklich Wort gehalten und ihn zu den Grenzen des unheimlichen Moorlandes geführt.

Er fragte sich, in welchem Teil von Märchenmond er wohl war. Das Land war groß - sehr, sehr groß. Wenn er Pech hatte, konnte er wochenlang wandern, bis er die gläserne Burg Gorywynn endlich erreichte - falls sie überhaupt sein Ziel war.

Kim wurde schmerzhaft bewußt, wie wenig er im Grunde eigentlich wußte - er hatte Themistokles' Gesicht im Spiegel gesehen, und einen Jungen gefunden, der die Kleidung und das Wappen der Steppenreiter trug. Und das war auch schon alles. Er wußte nicht, was in Märchenmond geschehen war, und warum er hier war.

Aber das würde er auch nicht herausfinden, indem er hier herumstand und sich den Kopf zerbrach. Er hatte gar keine andere Wahl, als weiterzugehen und den Weg nach Gorywynn zu suchen. Vielleicht würde er auch später auf einen zuverlässigeren Führer treffen.

Er wartete, bis er sicher war, daß Bröckchen sich satt gegessen hatte, dann ging er wieder zurück - und riß ungläubig die Augen auf.

Das kleine Scheusal hockte da, wo er es zurückgelassen hatte - aber der Fisch war verschwunden! An seiner Stelle lag nur noch ein unterarmlanges, säuberlich bis auf das Mark abgenagtes Rückgrat, aus dem Hunderte von nadeldünnen, gebogenen Gräten wuchsen!

»Das darf doch nicht wahr sein!« entfuhr es Kim.

Bröckchen grinste ihn an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und rülpste lautstark.

Kim starrte fassungslos abwechselnd das Tier und den abgenagten Fisch an. »Du ... du willst mir doch nicht erzählen, daß du ... daß du den ganz allein aufgegessen hast!« keuchte er ungläubig.

»Doch«, antwortete Bröckchen. »Er hat gut geschmeckt ...« Es sah Kim mit schräggehaltenem Kopf an. »Tut mir leid, daß nichts für dich übriggeblieben ist. Aber ich dachte mir, wenn er schon tot ist, kann ich ihn auch ganz auffressen. Wenn du willst, können wir jetzt weitergehen.«

»Sicher«, murmelte Kim, während er immer noch wie betäubt dastand. »Ganz ... wie du meinst.«

»Na, dann komm.« Bröckchen machte einen Schritt, blieb plötzlich wieder stehen und musterte das Fischskelett nachdenklich. »Eigentlich zu schade zum Liegenlassen«, sagte es - und verschlang mit einem einzigen Biß auch noch das, was von dem Fisch übriggeblieben war.

Sie wanderten eine weitere halbe Stunde auf den Streifen von Grün am Horizont zu. Über dem Sumpf ging die Sonne auf, aber hier unten wurde es nicht richtig hell. Die niedrigen, aber dichtstehenden Bäume schluckten den größten Teil des Sonnenlichtes, und was ihnen entging, das verschlang der Nebel, der mit dem ersten Licht des neuen Tages aus dem Boden zu steigen begann. Der Nebel war feucht und legte sich wie ein klebriger Film auf die Haut, aber er vermochte Kims Zuversicht nicht mehr zu brechen - sie näherten sich eindeutig der Grenze des Sumpflandes. Bröckchen ging die meiste Zeit voraus, lief aber auch manchmal neben Kim her oder fiel ein paar Schritte zurück, und je länger Kim das kleine Tier betrachtete, desto weniger abstoßend fand er es. Natürlich, es war und blieb häßlich - aber Kim begann sich zu fragen, wieso er anfangs solchen Ekel bei seinem Anblick verspürt hatte.

Jetzt erreichten sie den Rand des Sumpfes, und Bröckchen blieb stehen. Der Blick seiner hervorquellenden Augen richtete sich auf die sonnenbeschienene, sanft gewellte Wiese, die sich vor ihnen erstreckte, nur hier und da von ein paar Bäumen oder Büschen unterbrochen. In einer Entfernung von drei oder vier Kilometern erblickte Kim den Rand eines weiteren Waldes - aber eines ganz anderen Waldes, als jener des Sumpfgebietes war.

»Da wären wir«, sagte Bröckchen. Es blickte unsicher in den Himmel, ehe es sich wieder Kim zuwandte. »Wenn du deinesgleichen suchst, geh einfach geradeaus.« Der Kleine zögerte einen Moment. »Das mit dem Fisch war gut«, sagte es schließlich. »Glaubst du, daß du das noch mal kannst?«

»Warum nicht?«

»Ich könnte dich noch ein Stück führen«, fuhr Bröckchen fort. »Dein Weg ist ziemlich weit. Du könntest dich verirren. Oder kennst du dich zufällig hier aus?«

Kim unterdrückte ein Grinsen.

»Nein«, gestand er. »Ich könnte schon einen Führer gebrauchen - falls dieser Führer mit meiner Bezahlung einverstanden ist.«

»Ein Fisch pro Tag?«

»Abzüglich dem, was ich davon esse.«

Bröckchen schien enttäuscht, und Kim beeilte sich, hinzuzufügen: »Ich bin ein schwacher Esser, mein Ehrenwort. Ich esse kaum so viel, wie ich selbst wiege.«

»Bestimmt?« vergewisserte sich Bröckchen.

»Bestimmt«, antwortete Kim. »Meistens sogar sehr viel weniger.« Er wußte selbst nicht genau warum - aber plötzlich wünschte er sich, daß das kleine Tierchen ihn weiter begleitete; es spielte keine Rolle mehr für ihn, ob es häßlich war. »Na gut«, meinte Bröckchen, nachdem es eine Welle nachgedacht hatte. »Warte hier einen Moment.« Und damit wandte es sich herum und verschwand mit wieselflinken Schritten hinter einem Busch.

Es blieb ziemlich lange fort, so lange, daß Kim sich all-, mählich fragte, ob es sich vielleicht einen bösen Scherz zum Abschied erlaubt hatte und ihn einfach hier zurückließ. Er wartete noch eine ganze Weile, dann ging er mit entschlossenen Schritten auf den Busch zu.

Aber kaum hatte er die halbe Entfernung überwunden, teilten sich die dürren Zweige, und ein rot- und orange- und gelbgestreiftes wunderhübsches Wesen trat hervor.

Kim riß verblüfft Mund und Augen auf. Was da vor ihm stand, das war das schönste Tier, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es war nicht größer als Bröckchen, aber wo das Stacheltier aus nadelspitzen Stacheln und schleimigen Schuppen bestanden hatte, da trug dieses Wesen ein prächtiges Federkleid. Samtweiche Pfoten und ein langer, buschiger Schweif wie der einer Perserkatze waren unter den rauschenden Federn verborgen, die seinen Körper wie ein flaumiger Mantel umgaben, und ein Paar großer, weicher Rehaugen blickte aus dem hübschen Gesichtchen zu Kim empor, das ihn sofort in seinen Bann schlug. In seiner wogenden Federstola sah es aus wie einer jener prachtvollen Rotfeuerfische, wie sie Kim einmal in einem Film gesehen hatte.

»Wer ... wer bist du denn?« murmelte Kim, während er sich mit einem Lächeln in die Hocke sinken ließ und dem prachtvollen Geschöpf die Hand entgegenstreckte.

Das Tierchen blickte ihn eine Sekunde lang fast spöttisch an - und biß ihm herzhaft in den Finger. »Eigentlich habe ich ja keinen Hunger mehr«, sagte es, »aber ein kleiner Nachschlag paßt immer.«

Kim sprang mit einem verblüfften Ausruf auf die Füße, steckte den blutenden Finger in den Mund und starrte das Geschöpf mit großen Augen an. »Br... öckchen?« stammelte er.

»Es ist ein dämlicher Name - aber meinetwegen können wir dabeibleiben. Irgendwie paßt er zu dir.«

»Aber das ... wie kann das sein ... ich ... ich meine ...«

»Daß ich häßlich wie die Nacht bin, ich weiß«, sagte Bröckchen. »Stimmt. Aber die Nacht ist vorbei, oder?«

»Umpf«, machte Kim - was angesichts dessen, was da hinter seiner Stirn vorging, sogar noch verhältnismäßig intelligent war.

»Genau«, sagte Bröckchen. »Und jetzt komm. Der Weg ist weit, und ich glaube, ein gewisser Fisch wartet auf uns.« Es dauerte lange, sehr lange, bis Kim sich beruhigt und an die erstaunliche Verwandlung des Stacheltieres gewöhnt hatte - und er versuchte erst gar nicht, sie etwa zu verstehen. Er hatte einst in diesem Land schon phantastischere Dinge erlebt - aber wenige, die überraschender gekommen waren. Sie brachen auf und machten sich an die Überquerung des Graslandes. Der Wald, den Kim gesehen hatte, war weiter entfernt als vermutet, denn sie marschierten gute zwei Stunden, ehe sie seinen Rand endlich erreichten. Bröckchen wuselte die ganze Zeit vor ihm her, wobei seine samtweichen Katzenpfoten nicht den mindesten Laut verursachten. Mehr als einmal verschwand es im hohen Gras, um wie ein hüpfender kunterbunter Federball plötzlich wieder aufzutauchen. Dazwischen redeten sie über dies und das - Bröckchen erkundigte sich neugierig, wer Kim war, und woher er kam, und Kim antwortete geduldig. Er stellte selbst die eine oder andere Frage, bekam aber nur wenige Antworten. Wie es schien, war der Federball bisher nie aus seiner Heimat, dem Sumpfland, herausgekommen. Trotzdem wußte er, daß Kims Ziel im Süden lag - also in der Richtung, in die sie sich bewegten.

Als sie den Waldrand erreichten, legten sie eine Rast ein. Kim war rechtschaffen müde, und nachdem Bröckchen (angesichts seiner wundersamen Verwandlung wirklich ein blöder Name, aber Kim war zu müde, um sich einen neuen auszudenken) hoch und heilig versprochen hatte, erstens Wache zu halten und zweitens darauf zu verzichten, sich ein verspätetes Frühstück aus Kim herauszubeißen, streckte sich der Junge im Schatten eines Baumes aus und schlief fast auf der Stelle ein.

Als Kim erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Er hatte fast den halben Tag verschlafen, fühlte sich aber so frisch und ausgeruht, daß sein Ärger darüber im Nu verflog. Nachdem er seinen Durst an einem klaren Bach gestillt hatte, den sie in der Nähe fanden (man fand in Märchenmond immer eine Quelle, wenn man durstig war), marschierten sie weiter.

Der Wald erwies sich als nicht sehr tief. Schon bald lichtete sich das Unterholz, und die Stämme der uralten Bäume standen nicht mehr so dicht, so daß sie besser vorankamen. Der Boden jedoch begann unebener zu werden - zwischen dem saftigen Moos erschienen immer öfter harte graue Felsen, und ein paarmal mußte Kim klettern oder große Umwege nehmen, meistens dann, wenn er nicht auf Bröckchens Warnung hörte, sondern meinte, mit seiner Körpergröße die Hindernisse überwinden zu können, die für den Winzling unübersteigbar waren.

Endlich erreichten sie den Waldrand, und jetzt sah Kim auch, warum das Gehen immer schwieriger geworden war: der Wald säumte wie ein natürlich gewachsener Schutzwall die Krone einer felsigen Steilwand, die weit unter ihnen in die Tiefe stürzte. An ihrem Fußende begann ein sanft gewelltes Hügelland mit Feldern und Wiesen, kleinen Waldstücken - aber auch den hellen Flecken von Dörfern und vereinzelter Häuser und Gehöfte.

Nun, das Herabklettern würde mühsam genug werden - und doch jubelte Kim innerlich. Dörfer und Höfe - das bedeutete, er würde endlich jemanden fragen können, was in Märchenmond vorgefallen war! Und warum Themistokles ihn um Hilfe gerufen hatte!

»Und jetzt?« fragte Bröckchen.

Kim seufzte tief und deutete ergeben auf die Steilwand zu ihren Füßen. »Wir müssen klettern«, sagte er. »Aber keine Angst - wir werden es schon irgendwie schaffen. Wenn du willst, trage ich dich.«

»Prima«, sagte Bröckchen und hüpfte gleich mit einem Satz auf Kims Schultern. Die Berührung war so sanft, daß Kim sie kaum spürte, nur das Federkleid kitzelte seine Wange.

»Wir könnten auch die Brücke nehmen«, schlug Bröckchen vor.

»Welche Brücke?«

Eine schmale Samtpfote deutete an Kims Nase vorbei nach links. »Die da, du Blindfisch.«

Kim lachte leise. Bröckchens Charakter schien sich nicht so grundlegend geändert zu haben wie sein Aussehen. Kim blickte gehorsam in die angegebene Richtung. Und tatsächlich - weit entfernt sah er etwas wie ein filigranes Gespinst, das sich an der Wand emporrankte, dünn wie Spinnweben, aber entschieden zu eckig, um natürlichen Ursprungs zu sein. Anscheinend war er nicht der erste, der hier heraufgekommen war. Jemand hatte etwas wie eine riesige Feuerleiter an der Wand errichtet. Der Weg dorthin schien ziemlich weit, aber Kim zog es vor, ein paar Kilometer zu laufen, statt dieselbe Strecke an einer fast senkrechten Wand herabzuklettern. Den bunten Federwuschel auf der Schulter, machte er sich auf den Weg.

Die Sonne hatte ihren Höhepunkt längst überschritten, als sie die Leiter erreichten, und Kim begann einzusehen, daß er wohl eine weitere Nacht unter freiem Himmel verbringen mußte. Seine Kräfte ließen bereits nach. Und er konnte von Glück sagen, wenn er noch vor Einbruch der Dunkelheit den Fuß der Steilwand erreichte. Selbst das Federgewicht Bröckchens begann sich allmählich unangenehm auf seiner Schulter bemerkbar zu machen; aber der Knirps dachte natürlich nicht daran, freiwillig abzusteigen. Kim kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als er sich der sonderbaren Konstruktion näherte, die tatsächlich wie eine Feuerleiter an der Felswand hing. Allein ihre Größe verblüffte, ja erschreckte ihn sogar. Sie war wahrlich gigantisch. Die einzelnen Stufen waren zwar von üblicher Höhe, aber so breit, daß mindestens zwanzig Männer nebeneinander darauf gehen konnten. Sie bestand ganz aus uraltem, verrostetem Eisen, das an manchen Stellen schon Löcher aufwies; hier und da schien eine Stufe ganz zu fehlen, und der Wind, der beständig an der Felswand blies, trug rote Staubfahnen aus Rost mit sich. Kim fragte sich vergeblich, welchem Zweck diese absonderliche Konstruktion dienen mochte. Und warum man sich die Mühe gemacht hatte, sie zu erbauen, wenn man sie dann verfallen ließ.

Kim zögerte eine ganze Weile, ehe er den Fuß auf die oberste Stufe setzte; dann trat er vorsichtig auf die erste Sprosse, jeden Moment darauf gefaßt, daß das Ganze unter seinem Körpergewicht zusammenbrach, um sich dann blitzschnell zurückzuwerfen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Treppe wankte nicht einmal. Der einzige, der wankte, war Kim, als er vollends hinaustrat und ihn der Wind nunmehr mit ungeminderter Wucht traf. Er streckte den Arm aus und hielt sich am Geländer fest. Ein Teil des rostigen Eisens zerbröckelte unter seinen Fingern, aber er fand trotzdem Halt. Bröckchen kreischte, als der Wind sein Federkleid traf und es aufplusterte. Fast wurde es von Kims Schulter heruntergeweht. Verzweifelt klammerte es sich an Kims Haar fest, aber seine weichen Pfötchen hatten ja keine Krallen mehr. Wie eine zu groß geratene Flaumfeder nahm es der Wind auf, und es wäre unweigerlich in die Tiefe gestürzt, hätte Kim nicht blitzschnell mit der freien Hand zugegriffen und es festgehalten. »Puh«, sagte Kim. »Das war knapp.«

»Allerdings«, keuchte Bröckchen. Seine Stimme war plötzlich piepsig und schrill geworden, und Kim konnte fühlen, wie sein kleiner Körper unter dem Flaumkleid wie Espenlaub zitterte.

Ganz vorsichtig, die linke Hand stets am rostigen Eisen des Geländers und immer erst einen Fuß ganz aufsetzend und nach festem Stand suchend, ehe er den anderen hob, bewegte sich Kim die Treppe hinunter.

Es war eine lebensgefährliche Kletterpartie. Die Leiter befand sich tatsächlich in einem sehr schlechten Zustand. Nur zuoft mußte Kim einen großen Schritt über Stufen hinwegmachen, die so durchgerostet waren, daß sie nur noch aus papierdünnen, rostroten Gittern zu bestehen schienen; oder gar ganz verschwunden waren. Einmal kamen sie an eine Stelle, an der sich ein ganzer Teil der Treppe in roten Staub aufgelöst hatte, so daß unter ihnen nichts mehr war als ein gewaltiger, gähnender Abgrund. Kim überwand ihn, indem er sich am Rand mit zusammengebissenen Zähnen und angstvoll geschlossenen Augen auf dem rostigen Geländer entlanghangelte. Er schaffte es. Aber hinterher fühlte er sich so erschöpft, daß er sich erst einmal niederlassen und nach Atem ringen mußte, als er endlich wieder eine Sprosse erreicht hatte. Als sie sich schließlich dem Fuß der Treppe näherten, hatte die Sonne bereits den letzten Abschnitt ihrer Tageswanderung begonnen. Die Schatten wurden länger, und von Süden her wehte ein kühler Wind, der Kim sehr willkommen war, denn er war am ganzen Körper in Schweiß gebadet. Bröckchen hatte sein Teil dazu beigetragen, denn nachdem der kleine Federbusch zum zweitenmal fast von Kims Schulter heruntergeblasen worden wäre, hatte er es kurzerhand unter sein Hemd gestopft. Zwar spürte Kim sein Gewicht kaum, aber die flauschigen Federn hatten ihn schwitzen gemacht.

Plötzlich blieb Kim stehen, richtete sich auf und blickte scharf aus zusammengepreßten Augen nach unten.

»Was ist los?« piepste Bröckchen und steckte neugierig die Schnauze aus Kims Hemd, so daß die roten Federn hinter seinem Köpfchen Kim unter dem Kinn kitzelten.

»Ich... weiß nicht genau«, sagte Kim zögernd. »Ich glaube, da unten steht jemand.«

Auch sein flauschiger Begleiter sah jetzt nach unten, und Kim spürte am neuerlichen Kitzeln der Flaumfedern, daß Bröckchen nickte.

»Tatsächlich«, piepste es. »Aber irgendwie ... ist er komisch.«

»Wieso?« Kim hatte längst begriffen, daß Bröckchens Augen viel schärfer als die seinen waren.

»Weiß nicht«, antwortete das Federwesen. »Komisch eben. Sei lieber vorsichtig.«

Das war nun eine Auskunft, die Kim nicht besonders weiterhalf - aber er beschloß, trotzdem auf Bröckchens Warnung zu hören und auf der Hut zu sein.

Er stieg langsam weiter hinab und rutschte schließlich in die Mitte einer Sprosse. Hier unten, fast am Boden, war der Wind nicht mehr so stark, daß er sich unentwegt festhalten mußte. Dabei behielt er die Gestalt, die er aus der Höhe herab entdeckt hatte, ununterbrochen im Auge.

Es schien sich um einen Mann zu handeln; einen sehr hochgewachsenen, breitschultrigen Mann, der dunkle Kleidung trug. Er stand völlig reglos da und hatte ihnen den Rücken zugewandt. Er bewegte sich auch nicht, als die beiden immer näher kamen und er eigentlich Kims Schritte hätte hören müssen. Der Mann stand einfach da, reglos, den rechten Arm halb erhoben und wie nach einem unsichtbaren Halt ausgestreckt. Zur Vorsicht kam in Kim nun Furcht hinzu. Obwohl sie dem Mann jetzt ganz nahe waren, konnte Kim ihn nicht richtig erkennen, denn das Licht der Sonne verlor rasch an Kraft, und hier unten am Fuße der gewaltigen Felsmauer hatte bereits die Dämmerung Einzug gehalten. Der Körper dort erhob sich nur noch wie ein schwarzer Umriß vor einem nicht wesentlich helleren Hintergrund. Aber er wirkte zu groß. Zu massig.

Bröckchen räusperte sich unter seinem Hemd. »Kim?«

»Ja?« Kim ließ die unheimliche Gestalt nicht aus den Augen. »Es wird dunkel«, sagte Bröckchen.

»Ich weiß«, antwortete Kim.

»Nun ja, ich dachte, es wäre dir lieber, wenn ich ... wenn ich nicht unter deinem Hemd bin, wenn ich ...«

Bröckchen sprach nicht weiter, aber Kim hatte es plötzlich sehr eilig, den Federball unter seinem Hemd hervorzuzerren und neben sich auf die Treppenstufe zu setzen. »Danke«, sagte dieser. Dann konzentrierte sich Kim wieder auf die Schattengestalt. Der Mann hatte sich immer noch nicht gerührt, obwohl er schon hätte taub sein müssen, um ihre Stimmen nicht zu hören, wenn ihm schon das Dröhnen von Kims Schritten auf dem widerhallenden Eisen der Treppe entgangen war. Und Kim war auch plötzlich gar nicht mehr so sicher, daß es überhaupt ein Mann war ... Vorsichtig trat er von der letzten Stufe der Treppe herunter, umging die Gestalt in respektvollem Bogen und näherte sich ihr von der Seite.

Seltsam! Es war eine riesige, sicherlich zwei Meter große und breitschultrige Gestalt, die ganz aus rostigem, zernarbtem Eisen bestand. Ihre rechte Hand war schlank und hatte dünne, überaus gelenkig wirkende Finger, die in einer zupackenden Geste erstarrt waren; die linke stellte eine fürchterliche Eisenkralle dar, wie eine Baggerschaufel, nur kleiner, wenn auch wahrscheinlich nicht sonderlich schwächer.

Kims Herz begann plötzlich wieder wie rasend zu hämmern, als ihm schlagartig einfiel, wo er eine solche Gestalt schon einmal gesehen hatte ...

Trotzdem ging er vorsichtig weiter. Jeden Moment darauf gefaßt, die eiserne Gestalt herumfahren zu sehen. Sprungbereit, um sofort die Flucht zu ergreifen, umkreiste Kim den unbeweglichen Riesen, bis er sein Gesicht sehen konnte.

Besser gesagt: die Stelle, wo sein Gesicht sein sollte ... Kim atmete auf. Was er sah, glich dem Roboter, der ihn im Haus seiner Eltern angegriffen hatte. Aber wo bei jenem die furchteinflößende Eishockey-Torwartmaske mit dem grünen Leuchtauge gewesen war, da gähnte bei dieser Gestalt ein rundes Loch, durch das man direkt in seinen Schädel hineinblicken konnte. Und der war vollkommen leer. Kim konnte das rostzerfressene Eisen seines Hinterkopfes erkennen.

»Was ist das?« fragte Bröckchen. Seine Stimme hatte sich ein wenig verändert.

»Ich ... bin nicht sicher«, meinte Kim stockend. »Ich dachte, ich hätte jemanden wie ihn schon einmal gesehen. Aber jetzt...« Er zuckte mit den Schultern, ließ den Satz unvollendet und näherte sich - noch immer sehr vorsichtig, aber jetzt schon weniger ängstlich - dem eisernen Mann. Behutsam stellte er sich auf die Zehenspitzen, warf einen letzten sichernden Blick auf die reglos herabhängende Schaufelhand des Riesen und lugte dann zu seinem Schädel hinauf.

Ein Schatten sprang ihn an, zerkratzte ihm das Gesicht und stob keifend und flügelschlagend davon. Kim schrie auf. Er taumelte zurück und fand erst im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder. Verblüfft blickte er auf. Ein kleiner schwarzer Vogel schwang sich hoch in die Luft und begann schimpfend über Kim zu kreisen. Noch vorsichtiger stellte sich Kim zum zweitenmal auf die Zehenspitzen und blickte zu dem gewaltigen Eisenkopf hoch.

Ja, der Schädel war leer. Mehr noch, aus der Tiefe der metallenen Rüstung drang ein wehleidiges Piepsen und Fiepen, und darüber am Himmel schrie wütend der Vogel - offensichtlich hatte er die leere Höhle des Körpers dazu benutzt, sein Nest hineinzubauen. Jetzt bangte er um seine Jungen.

»Das ist seltsam«, murmelte Kim, während er wieder von der Gestalt zurücktrat.

»Was ist seltsam?«

»Dieses Ding.« Kim deutete auf den eisernen Riesen. »Es ist völlig leer.«

»Vielleicht hat ihn jemand aufgefressen«, vermutete Bröckchen. »Und die Schale stehenlassen? Sie sieht ziemlich hart aus.«

Kim lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Kaum«, sagte er. »An dem, was da drin war, würdest du dir die Zähne ausbeißen.« Er schüttelte den Kopf, trat ein paar Schritte zurück und sah sich nachdenklich um. Erst jetzt fiel ihm auf, im welch sonderbarer Haltung die leere Hülle dastand. Ihr rechter, halb erhobener Arm schien mit ausgestreckten Fingern nach Süden zu deuten - oder waren sie gar nicht ausgestreckt? Eigentlich, überlegte Kim, waren sie eher gespreizt, als wären sie erstarrt, während sie zupackten. Aber was hatte der Riese packen wollen? Etwas, das ihn angriff? Oder das ganze weite Land, das sich vor ihnen ausdehnte? Kim schauderte bei dem Gedanken. Er sah sich weiter um.

Nach einer Welle entdeckte er einen zweiten, reglosen Schatten, der nicht einmal sehr weit entfernt dastand. Ein weiterer Roboter. Auch er war hohl wie der erste, aber in nicht annähernd so gutem Zustand. Sein Körper wies zahllose, ausgefranste Löcher und gewaltige Dellen auf, ein Arm fehlte, und jemand schien seinen Hohlkopf genommen und damit Fußball gespielt zu haben, denn er lag meterweit entfernt und war vollkommen eingedellt. Und auch dieser war nicht der letzte.

Nachdem sie erst einmal richtig angefangen hatten zu suchen, fanden Bröckchen und Kim fast ein Dutzend der gewaltigen, rostzerfressenen Gestalten, die in der Nähe der Treppe herumstanden und -lagen, zum Teil fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört, manche fast unbeschädigt, aber leer und tot. Und das war noch nicht alles. Zwischen den Gestalten lagen Unmassen von Trümmern auf dem Boden - verbogene Eisenstangen, rostige Zahnräder, die jedes größer waren als Kim selbst, Teile von geheimnisvollen Maschinen, deren Funktionen Kim nicht erkennen konnte. Oder einfach zernarbte, kantige Brocken von braunroter Farbe, die bei der leisesten Berührung zu Staub zerkrümelten. Es war, als bewegten sie sich über einen gewaltigen Schrottplatz, der schon vor Jahrhunderten verlassen worden war. Unheimlich, dachte Kim fröstelnd. Er war jetzt froh, daß es immer schneller dunkelte und sie fort mußten. Sie wanderten in Richtung Süden und konnten so dem Tageslicht wenigstens noch eine halbe Stunde folgen.

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