XXV

Die Sonne war aufgegangen, als er zurückkehrte. Die Katakomben - das hatte Kim jetzt begriffen - gehörten zur Welt der Zwerge, wo die Zeit anderen Gesetzen gehorchte. Die Eingangshalle des Schlosses war leer, und auch auf dem Hof traf Kim niemanden. Ein unheimliches Schweigen hatte sich über Gorywynn gebreitet, und obwohl sich über den Türmen und Mauern ein wolkenloser Himmel spannte, zitterte Kim vor Kälte am ganzen Leib. Er fühlte sich müde, so müde und kraftlos wie niemals zuvor. Der Rückweg war lang und mühsam gewesen, doch die Schwäche in seinen Gliedern kam nicht von dieser Anstrengung. Die Erschöpfung lag tiefer. Vielleicht zum erstenmal im Leben hatte er begriffen, was Mutlosigkeit bedeutete; was es hieß, in einer Situation zu sein, aus der es keinen Ausweg mehr gab, in der jede Entscheidung falsch war, und in der sich alles, was er tat, gegen ihn wendete. Sie hatten verloren. Sie hatten einen Kampf gefochten, den sie von Anfang an nicht hatten gewinnen können. Tief in seinem Innersten hatte Kim dies wohl die ganze Zeit über gespürt, denn er fühlte zwar ein lähmendes Entsetzen und eine mit Worten kaum noch zu beschreibende Furcht, aber überrascht war er nicht.

Kim schlug den Weg zum Stadttor ein. Da fiel ihm abermals die fast unheimliche Stille auf, die über Gorywynn lag wie eine unsichtbare Decke, die jeden Laut und alles Leben erstickte. Wohl kaum jemand in dieser Stadt hatte in der vergangenen Nacht viel Ruhe oder gar Schlaf gefunden, so daß schwerlich zu erwarten war, einen Morgen ganz wie sonst zu erleben. Aber es war schlichtweg niemand in den Straßen. Alles war wie leergefegt, selbst die Häuser schienen verlassen. Hinter keinem Fenster rührte sich etwas, keine Tür stand offen, es war auch nicht das geringste Geräusch zu hören, und für einige Augenblicke kam es Kim so vor, als sei er der letzte Überlebende in Gorywynn, möglicherweise in ganz Märchenmond. Vielleicht hatten sie sich alle verwandelt, waren alle zu dem geworden, das schon lange nach ihren Seelen griff: Eisen.

Jetzt näherte sich Kim dem Stadttor, und nun endlich sah er sie - Steppenreiter, Waldläufer und auch Baumleute. Es waren ausnahmslos Krieger, die dem Tor zuströmten, hinter dem Kim eine gewaltige, brodelnde Menge erkennen konnte. Er hörte ein dumpfes Raunen, wie das Geräusch ferner, schwerer Meeresbrandung, und manchmal einen krächzenden Schrei, den der Tatzelwurm oder auch Rangarig ausstoßen mochten. Trotzdem war es zu ruhig. Die Hufschläge der Pferde klangen gedämpft und unnatürlich leise, selbst das Geräusch des Windes, das sich sonst an den Türmen und Zinnen Gorywynns brach wie an den Saiten einer gläsernen Harfe, war verstummt. Es war, dachte Kim schaudernd, als hielte die ganze Welt den Atem an.

Und als er durch das Tor schritt, da sah er, was draußen geschehen war.

Wo am Abend zuvor die Schlacht zwischen Priwinns Heer und den Flußleuten getobt hatte, da zog sich nun eine gewaltige, hundertfach gestaffelte Reihe von Reitern und Fußtruppen dahin: Priwinns Armee, verstärkt durch Tausende und Tausende anderer, die aus allen Teilen des Landes herbeigeströmt waren, um dem neuen König von Caivallon in seiner letzten Schlacht beizustehen - überragt von den gewaltigen Umrissen der beiden Drachen. Die zwei Ungeheuer kreisten knurrend über ihnen und zuckten mit den Flügeln, als könnten sie es kaum noch erwarten, sich auf den verhaßten Feind zu werfen.

Aber Kims Herz schien vor Schreck einen Schlag zu überspringen, als er die gewaltige Masse der feindlichen Armee erblickte. Kaum einen Steinwurf von Priwinns Heer entfernt hatte sie Aufstellung genommen, um zum Sturm auf Gorywynn anzusetzen.

Es waren die Reste der geschlagenen Flußleute, die Priwinns Männern am vergangenen Abend entkommen waren, aber nicht nur sie; längst nicht nur sie. Zwischen den in Leder und Eisen gehüllten Gestalten erblickte Kim zahllose kleinere Schatten, die zerfetzte schwarze Capes trugen, Schwerter schwangen, die kaum länger als ein Dolch waren. Und mit den Zwergen waren die Eisenmänner gekommen. Es waren Tausende, unübersehbar, eine gewaltige, schwarzglitzernde Masse, so weit das Auge reichte. Auf jeden, der sich um Priwinn und die beiden Drachen geschart hatte, kam mindestens einer. Einer für jedes Kind, das aus dem Haus seiner Eltern verschwunden war. Einer für jede Träne, die ein Vater und eine Mutter vergossen hatten. Märchenmonds Kinder waren zurückgekehrt, um den Preis für ihr Schicksal von ihren Eltern einzufordern.

Vielleicht war es ein grausames Schicksal, wahrscheinlich aber nur Zufall, daß der Kampf im gleichen Augenblick entbrannte, in dem Kim aus dem Tor hervortrat. Es gab kein Signal, kein Zeichen. Von einer Sekunde auf die andere erwachten die beiden gewaltigen Heere aus der Ruhe, in der sie bisher verharrt waren, und stürmten aufeinander los. Das unheimliche Schweigen wurde vom Schreien aus unzähligen Kehlen zerrissen. Und einen Augenblick später prallten die Heere fürchterlich und dumpf aufeinander. Die Drachen schwangen sich in einer einzigen, gleichzeitigen Bewegung hoch in die Luft und stürzten sich mit Klauen und Zähnen auf das feindliche Heer. Obwohl dieses an Zahl und vor allem an Kampfkraft sicherlich überlegen war, waren es doch zuerst Priwinns Reiter, die die Angreifer zurücktrieben, und sei es nur durch die pure Wucht ihres ungestümen Vordringens.

Kim schrie entsetzt auf und rannte los. Kaum hundert Schritte von Priwinns Armee entfernt, hatte er das Gefühl, sich kaum von der Stelle zu bewegen. Es vergingen nur Augenblicke, bis er die ersten Männer erreichte, aber es waren Augenblicke, in denen die Schlacht mit ganzer Härte entbrannt war. Auf beiden Seiten gab es bereits Verwundete und Tote, und Kim wußte, daß jeder Tropfen Blut, der vergossen wurde, alles nur schlimmer machen würde, daß jeder einzelne, den Priwinn und seine Männer niederstreckten, ihren Gegner stärken, jeder Sieg, den sie errangen, ihren eigenen Untergang besiegeln mußte. Verzweifelt schrie er immer wieder Priwinns Namen, aber Kims Stimme ging im Tosen der Schlacht unter. Er hatte das Heer kaum erreicht, da steckte er auch schon hoffnungslos zwischen Dutzenden von Männern und Pferden fest. Zwar erkannten die Reiter seine schwarze Rüstung und versuchten auszuweichen, aber das Gedränge war einfach zu groß. Immer wieder rief Kim nach Priwinn, aber vergeblich. Schließlich zerrte er in seiner Verzweiflung einfach einen der Männer vom Pferd herunter und sprang in den Sattel, um auf diese Weise schneller voranzukommen.

Obwohl gerade erst entbrannt, tobte die Schlacht bereits mit voller Härte. Die Luft war so von Staub und Rauch erfüllt, daß Kim kaum sehen konnte, was sich wenige Meter vor ihm abspielte. Der Boden zitterte unter dem mächtigen Zusammenprall der Armeen, und die Männer kämpften mit der Entschlossenheit jener, die wußten, daß nur der Sieg oder der sichere Tod sie erwartete.

»Priwinn!« schrie Kim, so laut er konnte. »Wo bist du?« Er rief es fünf- oder sechsmal, und er rechnete kaum noch damit, Antwort zu erhalten. Aber plötzlich tauchte eine riesige, breitschultrige Gestalt aus dem Staub auf, und einen Augenblick später erschien neben dem Riesen auch der Steppenkönig, schon jetzt erschöpft und aus zwei kleinen Wunden an Stirn und Schulter blutend, aber mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf dem Gesicht. »Kirn!« rief Priwinn erleichtert. »Endlich! Wo bist du gewesen?« Er machte eine hastige Geste, als Kim antworten wollte, und fuhr gleich fort: »Das ist jetzt auch egal. Zu mir! Reite an meiner Seite. Wenn meine Männer dich sehen, werden sie neuen Mut fassen! Wir können es schaffen!« Kim sagte etwas, aber seine Stimme ging einfach in dem dumpfen Krachen und Bersten um ihn unter. Die Verteidiger Gorywynns wankten und begannen zurückzuweichen, denn die Flußmänner hatten nur die Spitze des feindlichen Heeres gebildet, und hinter ihnen stampfte wie eine Lawine aus Stahl und Gewalt die Front der Eisenmänner heran! Es vergingen nur Sekunden, bis Kim sein Pferd so dicht an das Priwinns herangelenkt hatte, um sich verständlich machen zu können, und doch fielen in dieser kurzen Zeit Dutzende Männer.

Die Eisenmänner waren unbewaffnet, aber sie fegten mit ihren fürchterlichen Armen einfach alles zu Boden oder trampelten nieder, was nicht rasch genug davonlaufen konnte. Doch auch die Steppenreiter verteidigten sich nach Kräften - nicht nur Gorg und die beiden Drachen waren den Eisenmännern gewachsen, auch alle anderen waren in nicht geringer Zahl mit Waffen ausgerüstet, die die eisernen Giganten sehr wohl zu verletzen imstande waren: Schwerter und Dolche aus Zwergenstahl, die sie von Gefangenen erbeutet oder aus den Schmieden und Erzgruben des kleinen Volkes gestohlen hatten. Manchmal warfen sie sich zu zehnt oder mehr auf einen der stählernen Kolosse und rangen ihn trotz seiner überlegenen Kräfte durch ihre pure Überzahl nieder, obwohl diese verzweifelten Angriffe einen furchtbaren Tribut verlangten.

»Hört auf!« schrie Kim. »Priwinn! Ruf sie zurück! Ihr dürft nicht gegen sie kämpfen!«

Priwinn starrte ihn an, als zweifle er an seinem Verstand. »Was sagst du da?«

»Ihr dürft es nicht tun!« wiederholte Kim. »Es ... es sind die Kinder!«

Priwinns Augen weiteten sich, und auch auf Gorgs Gesicht erschien ein Ausdruck von Fassungslosigkeit, dann, eine Sekunde später, von abgrundtiefem Entsetzen.

»Was sagst du da?« murmelte Priwinn noch einmal.

»Die Eisenmänner«, sagte Kim, »sie sind die verschwundenen Kinder, Priwinn - sie sind verwandelt, verstehst du?«

Langsam ließ der Steppenkönig sein Schwert sinken. Seine Augen waren dunkel vor Schrecken und aufgerissen, so stark, daß er nicht einmal blinzelte. Und für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht, als litte er unerträgliche Schmerzen. »Du ... du lügst«, stammelte er. »Das ... das kann nicht sein!«

Aber das sagte er nicht, weil er Kim nicht glaubte. So wie der Riese Gorg hatte er im gleichen Moment, als er die Worte gehört hatte, begriffen, daß Kim die Wahrheit sprach. Noch einmal vergingen Sekunden, in denen er einfach im Sattel hockte und Kim ansah, dann drehte er sich langsam um, mit einer Bewegung, die wie erzwungen und unter unsäglichen Mühen wirkte, gab er das Zeichen zum Rückzug. »Hört auf!« schrie er. »Rührt die Eisenmänner nicht an!« Die Männer in seiner unmittelbaren Nähe ließen tatsächlich die Waffen sinken und blickten ihren König verwirrt an, aber der Rest hatte den Befehl wahrscheinlich gar nicht vernommen. Wohin Kim auch blickte, tobte der Kampf mit unveränderter Härte weiter. Ihr Heer wurde Schritt für Schritt zurückgetrieben. Aber auch die Flußleute mit den Eisenmännern mußten schreckliche Verluste hinnehmen. Nur die Zwerge beteiligten sich nicht wirklich an dem Kampf, sondern flitzten mit erstaunlicher Behendigkeit zwischen den stampfenden Beinen der eisernen Giganten hin und her und wichen jeder Konfrontation aus.

»Zurück!« schrie Priwinn noch einmal. »Hört auf! Ich befehle es euch!«

Aber auch diesmal gehorchte nur eine Handvoll Männer. Der Rest wurde nun so rasch, wie sie vorhin vorgedrungen waren, von den Flußleuten und ihren stählernen Kampfgefährten zurückgetrieben. Mehr und mehr von Priwinns Männern fielen unter den Schwertern und Speeren der Flußpiraten. Aber Kim sah auch noch etwas anderes - wo die Eisenmänner nicht angegriffen wurden und sich wehren mußten, da töteten sie die Angreifer nicht, sondern beschränkten sich darauf, sie mit ihren fürchterlichen Klauen zu packen und festzuhalten.

»Hört auf!« schrie nun auch Kim, so laut er konnte.

»Kämpft nicht gegen sie! Es sind eure Kinder!«

Und was Priwinns Befehl nicht vermocht hatte - diese Worte bewirkten es. Plötzlich ließen mehr und mehr Kämpfer ihre Waffen sinken und zügelten ihre Pferde. Anstelle von Haß und Zorn erschien auf ihren Gesichtern ein Ausdruck ungläubigen Schreckens, als sie die näherrückende Armee der eisernen Kolosse ansahen. Doch nicht nur sie vergaßen für einen Moment den Kampf. Kim sah, daß auch eine große Anzahl von Flußleuten vor Schrecken einfach erstarrte, und für Augenblicke schien die gewaltige Schlacht einfach eingefroren, als wäre jeder Mann in der Haltung, in der er gerade dastand, erstarrt. »Es sind eure Kinder!« rief Kim noch einmal. »Kämpft nicht gegen sie!«

Seine Stimme, so laut sie auch war, drang nicht sehr weit, aber mit einem Male nahmen die Männer den Ruf auf, und die Botschaft verbreitete sich in Windeseile. Krieger, die eben noch mit einem Eisenmann gerungen hatten, zogen sich wieder zurück. Männer, die ihre Schwerter und Dolche zum Stoß erhoben hatten, senkten die Arme. Und selbst die beiden Drachen, die bisher mit der Wut entfesselter Dämonen unter den Eisenmännem getobt hatten, schwangen sich plötzlich wieder hoch in die Luft und begannen, über den Platz zu kreisen.

»Zurück!« schrie Priwinn mit weit schallender Stimme. »Wir ziehen uns nach Gorywynn zurück!«

Die Krieger gehorchten. Aber was als geordneter Rückzug gedacht war, das wurde schon nach Augenblicken zu einer kopflosen Flucht. Die Flußleute überwanden ihre Überraschung schnell, und die Eisenmänner hielten erst gar nicht in ihrem Vormarsch inne, sondern stampften mit der Unaufhaltsamkeit von Maschinen weiter. Viele der vor Schrecken wie gelähmt dastehenden Steppenreiter wurden einfach niedergetrampelt, ehe sich das gewaltige Heer herumgedreht hatte und auf die Stadt zurückzubewegen begann. Auch Kim, Priwinn und selbst Gorg wurden einfach mitgerissen, und während sie sich dem Tor näherten, kam Kim die grausame Ironie dieser Situation zu Bewußtsein - am Abend zuvor war es Kim gewesen, dessen Erscheinen das Kriegsglück zu Priwinns Gunsten gewendet und seine Männer zum Sieg geführt hatte. Und nun brachte er ihnen die Niederlage. Da sich die Eisenmänner nicht so schnell bewegen konnten, fielen sie ein Stück weit zurück. Die Flußleute setzten den Fliehenden zwar weiter nach, wagten es aber nicht, ohne ihre stählernen Kampfgefährten das Heer direkt anzugreifen, denn sie waren ihm seit der Niederlage von gestern abend an Zahl hoffnungslos unterlegen. Trotzdem kam es vor dem Stadttor zu Kämpfen zwischen ihnen und den Steppenreitern, denn das Tor war einfach nicht breit genug, die zahllosen Männer rasch passieren zu lassen.

Kim, Priwinn und Gorg gehörten zu den letzten, die sich in die Stadt zurückzogen. Vor allem der Riese mit seinen übermenschlichen Kräften und auch Kim, der von der schwarzen Zauberrüstung geschützt und nahezu unverwundbar war, hielten die Angreifer auf Distanz, bis sich auch die letzten Männer in den Schutz der Wälle zurückgezogen hatten. Aber es war kaum geschehen, da war auch die Front der Eisenmänner heran, und nun wichen auch Gorg und Kim fluchtartig zurück.

Was folgte, war Chaos; ein Vorgeschmack des Weltuntergangs, wie ihn sich die schlimmste Phantasie nicht schrecklicher hätte ausdenken können. Die Eisenmänner stürmten durch das Tor, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, und mit ihnen drängten die Flußmänner herein, um für die Niederlage vom vergangenen Tag Rache zu nehmen. Und ganz wie diese am gestrigen Abend, waren es nun Priwinns Krieger, die sich Schritt für Schritt weiter in die Stadt zurückzogen und in ihren verwinkelten Gassen Schutz und Unterschlupf suchten, ohne ihn zu finden. Die Eisenmänner drangen in jedes Haus vor, durchsuchten jede Straße, jeden Winkel, jeden Hof, und wo sie einen der Verteidiger fanden, da packten sie ihn und hielten ihn mit unbezwingbarer Kraft fest.

Schritt für Schritt wurden auch Kim und die anderen weiter zurückgedrängt, und ihre Zahl nahm weiter und weiter ab. Schließlich standen sie vor den Burgtoren, keine Eroberer mehr, sondern Geschlagene, die auf den letzten Ansturm warteten.

»Und jetzt?« fragte Priwinn. Sein Atem ging schnell. Er war in Schweiß gebadet, und auf seinen Zügen lag ein Ausdruck vollkommener Mutlosigkeit. Beinahe flehend starrte er Kim an.

»Was jetzt, Kim? Wozu das alles noch?«

Kim sah sich verzweifelt um. Sie waren vielleicht noch hundert, der Rest des gewaltigen Heeres, das aufgebrochen war, um Märchenmond zu retten. Und sie waren von einer zehnfachen Übermacht eingekreist, die unaufhaltsam vorrückte. Er antwortete nicht, und Priwinn hatte wohl auch keine Antwort erwartet, denn er sprang plötzlich aus dem Sattel und stürmte in den Palast hinein. Nach kurzem Zögern folgten ihm Kim und auch Gorg, während sich das kleine Häufchen Verlorener, das noch bei ihnen war, vor dem Tor zusammenrottete, um ihnen eine letzte Gnadenfrist zu verschaffen. Kim warf im Laufen einen Blick über die Schulter zurück und sah, daß die Männer sich nicht mehr wehrten. Sie zogen ihre Waffen nur noch, wenn sie von einem Krieger angegriffen wurden. Den Eisenmännern warfen sie sich mit leeren Händen entgegen und ließen sich widerstandslos packen und forttragen. Es war nur das, was die stählernen Kolosse noch einen Augenblick aufhielt. Priwinn hatte mittlerweile die Treppe erreicht und rannte mit weit ausgreifenden Schritten hinauf. Kim und der Riese folgten ihm, aber der junge Steppenreiter lief so schnell, daß sie Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Und sie hatten noch nicht die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht, als sie unter sich das Stampfen schwerer, eiserner Schritte hörten, und dann die triumphierenden Schreie der Flußpiraten, die mit den Eisenmännern ins Haus stürmten. Kims Kräfte drohten zu versagen, als sie die Turmkammer erreichten. Mit letzter Mühe schleppte er sich durch den Raum und sank neben Themistokles' Bett auf die Knie. Priwinn, der schon vor ihm hereingekommen war, hatte Themistokles an den Schultern gepackt und rüttelte ihn wild.

»Themistokles!« schrie er. »Wach auf! Ich flehe dich an, wach auf!«

Auch Sheera und Bröckchen, die auf dem Bett des Magiers hockten, bemühten sich nach Kräften, ihn aufzuwecken.

Aber der alte Mann rührte sich nicht. Priwinn schüttelte ihn verzweifelt, so daß sein Kopf hin- und herrollte und sich sein Gesicht wie unter Schmerzen verzog. Aber seine Augen blieben geschlossen, und Kim wußte, daß er auch nicht erwachen würde. Vielleicht nie mehr.

Schließlich hob er den Arm und drückte Priwinns Hand mit sanfter Gewalt beiseite. »Laß ihn«, sagte er leise. »Er kann uns nicht mehr helfen.«

Priwinn fuhr herum und hob die Faust, als wollte er ihn schlagen. Sein Gesicht verzerrte sich, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Aber der Zorn, den Kim darin sah, galt nicht ihm, und es waren Tränen der Hilflosigkeit, nicht der Wut.

»Es ist vorbei«, murmelte Kim. Müde stand er auf und warf einen letzten, langen Blick auf den schlafenden Zauberer herab. Dann zog er das Schwert aus der Scheide. Er legte es auf den Tisch zurück, von dem er es mitten in der Nacht genommen hatte; in dem Traum, der kein Traum gewesen war.

»Das war sehr klug von dir, mein Junge.«

Kim drehte sich ohne Hast zur Tür herum und sah den Mann an, der gesprochen hatte. Er war groß und hatte ein dunkles, von einem kurzgeschnittenen, schwarzen Bart beherrschtes Gesicht. Er trug die Kleidung der Flußleute, aber um seine Stirn lag ein silberner Reif, so daß Kim annahm, daß er wohl König oder Heerführer war, oder vielleicht beides. Seine Augen waren hart, aber nicht so grausam, wie Kim es befürchtet hatte, und sein Gesicht war das eines starken, aber nicht gnadenlosen Mannes.

»Und Ihr, König Priwinn«, fuhr der Fremde fort, »solltet Euch ein Beispiel an Eurem Freund nehmen und die Waffe senken. Es ist vorbei.«

Priwinn starrte den Mann wortlos an, dann begannen seine Lippen zu zittern, und seine Hand schloß sich so fest um den Griff des Schwertes, daß das Blut aus seiner Haut wich. »Niemals!« sagte er leise. »Ihr habt vielleicht gewonnen, aber ich ergebe mich nicht. Eher sterbe ich!«

Und damit riß er das Schwert in die Höhe und stürzte sich auf den Fremden.

Mit einer blitzschnellen Bewegung trat Gorg dazwischen, riß Priwinn zurück und entrang ihm das Schwert. Er warf die Klinge mit solcher Macht gegen die Wand, daß sie zerbrach, dann setzte er den Freund beinahe sanft wieder zu Boden und schüttelte den Kopf. »Laß es gut sein, Priwinn«, sagte er leise. »Er hat recht. Es ist vorbei. Dein Tod nützt niemandem etwas.«

Priwinns Augen füllten sich abermals mit Tränen. Mit einem Schrei riß er sich los, fuhr herum und begann, mit beiden Fäusten auf die Brust des Riesen einzuhämmern. Gorg wehrte sich nicht, sondern stand einfach da und blickte traurig auf ihn herab. Nach einigen Augenblicken hörte Priwinn auf, auf ihn einzuschlagen. Mit hängenden Schultern und schluchzend wich er zurück.

»Dann tötet mich«, sagte er. »Tut, was Ihr wollt.«

»Wir wollen nicht Euren Tod, König Priwinn«, sagte der andere. Er lächelte auf eine sonderbar milde, verzeihende Art. »Das war es nie, was wir wollten. Wir wollten nur das Leben führen, das uns gefällt. Erst als Ihr versucht habt, uns Eure Art von Glück aufzuzwingen, da haben wir zur Waffe gegriffen.«

Er trat einen Schritt weiter in das Zimmer hinein und zugleich zur Seite, um einem Eisenmann Platz zu machen, dann beugte er sich über Themistokles' Lager und blickte nachdenklich auf den alten Mann herab. »Das also ist Themistokles. Ich habe viel von ihm gehört.«

»Er stirbt«, sagte Kim leise.

»Das tut mir leid«, antwortete der König der Flußleute. Und so wie er es sagte, klang es ehrlich. »Aber er war ein alter Mann«, fuhr er fort. »Und er hat ein langes Leben gelebt, viel länger als jeder von uns. Seine Zeit ist vorbei. Der Zauber vergeht, und mit ihm vergehen die Zauberer.«

»Und Männern wie dir wird die Zukunft gehören, wie?« sagte Priwinn bitter.

»Vielleicht«, antwortete der Flußkönig. »Es wird sich zeigen.«

Kim trat ans Fenster, blickte hinaus und sagte leise und ohne sich herumzudrehen: »Ihr werdet keine Zukunft haben.«

Er konnte hören, wie alle erstaunt aufsahen, und fuhr im gleichen, leisen Tonfall und noch immer ohne hinzusehen fort: »Seht hinaus, dann wißt Dir, was von Eurer Zukunft übriggeblieben ist. Ihr habt sie verkauft, für ein bißchen mehr Bequemlichkeit und Wohlstand.«

Priwinn schwieg, aber der Flußmann sagte: »Du bist verbittert, Junge. Ich habe von dir gehört. Ich weiß, wer du bist. Glaube mir, ich verstehe, wie du dich fühlst. Du hast diese Welt einmal gerettet, und du hast gedacht, du könntest es wieder tun. Aber du täuschst dich. Du kannst vielleicht den stärksten Feind besiegen. Aber du kannst nicht den Lauf der Welt aufhalten.«

Kim drehte sich nun doch herum. Im gleichen Moment, in dem er es tat, betrat ein Eisenmann den Raum, und dicht dahinter der Zwergenkönig Jarrn, als hätte er nur auf diesen Augenblick gewartet. Vielleicht hatte er draußen gestanden und gelauscht.

»Ihr glaubt mir nicht?« fragte Kim müde. Er deutete auf den Zwerg. »Dann fragt ihn.«

Der Flußmann wandte stirnrunzelnd den Kopf, und auch Priwinn blickte auf den Zwergenkönig herab. Jarrn sah von einem zum anderen und blinzelte dann zu Kim hinauf. »Was meinst du damit?« fragte er harmlos.

»Gib dir keine Mühe«, sagte Kim. »Ich kenne das Geheimnis. Ich habe gesehen, was mit Peer passiert ist.«

»Was soll das bedeuten, Zwerg?« fragte der Flußmann mißtrauisch.

Jarrn zuckte schnippisch mit den Achseln. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon er redet«, antwortete er patzig. »Er spinnt! Glaubt ihm kein Wort.«

»Die Eisenmänner«, sagte Kim. »Ihr alle habt geglaubt, daß die Zwerge sie herstellen, daß sie sie mit magischen Kräften aus Erz schmieden, wie all ihre Waffen und Gerätschaften. Aber das stimmt nicht.« Er wandte sich mit einer auffordernden Geste an Jarrn. »Das ist doch wahr, nicht?«

»Nun ja«, knurrte Jarrn widerwillig. »Wie man es nimmt.«

»Sprich nicht in Rätseln, Zwerg!« sagte der Flußmann scharf. Jarrn funkelte ihn an. »Fängst du schon wieder an, dich aufzuspielen, Drecksack? Wir haben einen Vertrag, wenn ich mich recht besinne. Vielleicht könntest du ihn diesmal ausnahmsweise halten.«

»Das ist keine Antwort«, sagte der Flußmann ungerührt. Plötzlich runzelte er die Stirn, als wäre ihm gerade in diesem Moment etwas eingefallen, und er wandte sich an Kim. »Was hast du damit gemeint, als du vorhin sagtest: Es sind die Kinder?«

Kim schwieg eine Weile, während Jarrn begann, mit den Füßen zu scharren und plötzlich etwas ungeheuer Interessantes darauf zu entdecken. »Ihr habt zuvor von der Zukunft gesprochen«, hob Kim schließlich an, »und wem sie wohl gehört. Doch Ihr habt eines vergessen: Eure Kinder sind die Zukunft, Eure Kinder und Eure Welt. Ihr habt beides verspielt. Wer immer diese Schlacht und auch den Krieg gewinnen mag, er wird sich nicht lange am Sieg erfreuen können.«

»Er redet im Fieber!« keifte Jarrn. »Glaubt ihm kein Wort!« Aber der Flußmann forderte Kim mit einer Geste auf, weiterzusprechen. Er war sehr blaß geworden.

»Erinnert Ihr Euch, was Ihr gerade selbst gesagt habt?« fuhr Kim fort. »Ihr habt zur Waffe gegriffen, weil Ihr ein Leben führen wollt, wie es Euch gefällt. Priwinns Weg war falsch, aber der Eure ist nicht richtiger. Ihr habt gesiegt, aber für wen? Dies ist das Land des Zaubers und der Märchen, und wenn beides erlischt, dann wird auch Märchenmond erlöschen. Ihr habt eure Kinder geopfert und eure Welt.«

»Das ist ... Unsinn«, widersprach jetzt der Flußmann, aber seine Stimme klang unsicher. »Du redest schon so wie dieser Narr aus Caivallon hier, der alles haßt, was die Zwerge tun, und alle, die mit ihnen Handel treiben. Wir wollten diesen Krieg nicht. Was wir wollten, war nur ein besseres Leben, für uns und unsere Kinder.«

»Aber euer Weg ist falsch«, beharrte Kim ruhig. »Ihr tötet eure Welt, um ein wenig besser leben zu können. Ihr verbraucht, was für Generationen nach euch gedacht war, und ihr zerstört, wo andere leben sollten, die noch gar nicht geboren sind. Deshalb sind viele Kinder gegangen. Ihr glaubt, eine bessere Welt erschaffen zu können? Ihr baut eine Welt voller ... Dinge, die euch das Leben erleichtern. Breite Straßen aus Eisen, auf denen eure Wagen schneller fahren, Flüsse, die so fließen, wie ihr es wollt, Maschinen, die eure Arbeit tun.«

»Und was ist falsch daran?« krähte Jarrn.

»Nichts«, sagte Kim, »solange ihr anderen dabei keinen Schaden zufügt. Nicht solange ihr nicht mehr nehmt, als ihr selber gebt. Aber das habt ihr getan. Eure Herzen sind hart wie das Eisen eurer Maschinen geworden. Ihr denkt an Wohlstand, und habt dabei das einzige verloren, was ihr wirklich hattet - eure Zukunft. Wo sind eure Kinder?« Er deutete hinter sich auf das Fenster. »Seht hinaus. Dort sind sie, und viele andere haben Märchenmond verlassen. Sie alle sind der Preis, den ihr für euren Wohlstand bezahlt.«

»Ist das wahr?« fragte der Flußkönig, an Jarrn gewandt. Der Zwerg scharrte wieder angelegentlich mit den Füßen, aber nach einer Welle zuckte er widerwillig mit den Schultern. »Es war nicht meine Idee«, murrte er.

Das Gesicht des Flußmannes verdüsterte sich, aber Kim hielt ihn mit einer Geste zurück. »Laß ihn«, meinte er. »Er sagt die Wahrheit.«

Kim lächelte, als Jarrn den Kopf hob und ihn ungläubig ansah. »Das Volk der Zwerge trägt keine Schuld«, schloß er. »Keine Schuld?« schrie Priwinn. »Sie sind es, die die Eisenmänner machen, und du sagst, sie tragen keine Schuld?«

»Du verstehst immer noch nicht«, murmelte Kim traurig. »Nicht die Zwerge sind es, die die Eisenmänner erschaffen haben. Ihr selbst habt sie erschaffen, und mit ihnen die Zwerge. Ihr wart es, die die Zwerge gerufen haben, nicht umgekehrt. Themistokles hat es uns selbst gesagt - erinnerst du dich nicht? Das Volk der Zwerge entstand erst, als es gebraucht wurde. Von euch. Von all denen unter euch, die sie gerufen haben. Die Zwerge sind so, wie ihr sie erschaffen habt.«

Lange Zeit war es sehr still in dem Gemach. Schließlich ließ sich Priwinn auf einen Stuhl sinken und verbarg mit einem tiefen Seufzer das Gesicht zwischen den Händen. »Dann ist alles aus«, stöhnte er. »Dann war unser Kampf vergebens. Dann gibt es keine Rettung mehr für uns.« Plötzlich spürte Kim etwas Seltsames. Es war, als bewege sich etwas Unsichtbares durch den Raum, ein Hauch von körperloser Wärme, etwas wie ein letztes, flüchtiges Streifen des alten Zaubers, der diese gläserne Burg und die Stadt um sie einmal erfüllt hatte. Und im gleichen Moment schlug Themistokles auf seinem Lager die Augen auf.

Kim wollte zu ihm eilen, aber als ihn Themistokles' Blick traf, da führte er die Bewegung nicht zu Ende.

»Themistokles!« rief Priwinn und sprang auf. Auch der König der Flußleute drehte sich überrascht um und sah den Zauberer an, mit einem Blick, in dem keine Spur von Feindseligkeit lag, sondern Respekt und so etwas wie Ehrfurcht, wenn auch eher derart, wie man sie einem Feind entgegenbringen mochte.

»Der Junge hat recht«, sagte Themistokles plötzlich. Und obwohl er nach wie vor alt und schwach und müde aussah, war es jetzt wieder seine weise Stimme, als sei all das Wissen seines jahrtausendewährenden Lebens zu ihm zurückgekehrt. »Er sagt die Wahrheit, Priwinn«, sprach der Zauberer. »Ihr habt den falschen Weg gewählt. Niemand vermag das Schicksal mit einer Waffe zu besiegen. Und auch Ihr, König des Flußvolkes«, fuhr er, an den Flußmann gewandt, fort, »seid den falschen Weg gegangen. Ihr tötet die Welt, von der Ihr lebt, und dafür wird sie Euch töten. Ihr habt die Kraft der Träume verloren, und damit Eure Zukunft. Denn was ist die Zukunft anderes als unsere Träume? Was sind wir, wenn nicht die Träume derer, die vor uns waren? Ihr seid blind, und Ihr habt nicht begriffen, was Ihr tatet. Manche unserer Kinder haben es gespürt und sind geflohen, in andere Welten. Doch sie werden dort nicht leben können. Und die, die blieben, zahlten den Preis für die Sünden ihrer Väter. Ihr habt den Krieg gewonnen, Märchenmond gehört Euch. Niemand ist mehr da, der es Euch streitig machen könnte. Doch sagt mir - was ist ein Sieg wert, wenn niemand da ist, dem man ihn schenken kann? Die Zukunft dieser Welt wird nicht Euch gehören, sondern allenfalls Euren Maschinen. Aber Maschinen haben keine Träume.«

Der Flußmann schwieg. Ein Ausdruck tiefer Betroffenheit machte sich auf seinen Zügen breit, und plötzlich drehte er sich um und blickte den Eisenmann neben sich an. Der stählerne Koloß erwiderte seinen Blick aus seinem grünglühenden Augenschlitz, und es war Kim, als redeten die Blicke der beiden ungleichen Wesen miteinander.

»Dann ist es so, wie der Steppenreiter sagt?« flüsterte der Flußmann. »Dann ist alles verloren? Dann haben wir keine Zukunft mehr?«

»Nicht auf dem Weg, auf dem Ihr seid«, antwortete Themistokles. »Nicht, solange Ihr nicht begreift, daß man einer Welt nicht mehr nehmen kann, als man ihr gibt und nach dieser Einsicht lebt.«

Wieder war es für lange Zeit still im Raum. Niemand regte sich, ja, niemand schien zu atmen; es war, als wäre die Zeit selbst stehengeblieben. Und dann, ganz langsam, wandte sich der König des Flußvolkes um, zog sein Schwert aus dem Gürtel und legte es neben Kims Waffe auf den kleinen Tisch. Und nach einigen weiteren Augenblicken stand auch König Priwinn auf, bückte sich nach dem abgebrochenen Griff seiner eigenen Klinge und legte ihn zu den beiden anderen.

Kim sah auf, und er erblickte im Gesicht des Flußmannes, dieses mächtigen, starken Königs, der einen solchen Krieg gewonnen hatte, nichts als Trauer und die Bitte um Vergebung. Und die winzige, verzweifelte Hoffnung, daß es noch nicht zu spät sei.

Das war es auch nicht. Denn als sich der Flußmann herumdrehte und den Eisenmann ansah, da war es, als strömte plötzlich goldener Sonnenschein durch das Fenster ins Zimmer, ein schimmernder, milder Strahl, der die Eisengestalt einhüllte und in unsagbar helles Licht tauchte. Der eiserne Koloß gerann zu einem Schatten. Für kurze Zeit stand er da ohne wirklich erkennbare Umrisse.

Und eben dort, wo gerade noch der Eisenmann gewesen war, erschien die Gestalt eines vielleicht zwölfjährigen, dunkelhaarigen Jungen in der aus Leder und Eisen gefertigten Kleidung der Flußleute.

Der Flußkönig schrie auf, warf sich mit einem Satz nach vorn und schloß seinen Sohn in die Arme, und fast im gleichen Augenblick erscholl draußen auf dem Flur ein zweiter und dritter Schrei, und Kim wußte, daß dort ähnliches geschah. Und er dachte, wie es sich bald überall wiederholen würde, hier in der Burg, unten auf dem Burghof, in der Stadt, überall im Land, wo die Menschen begreifen würden, welch fürchterlichen Preis sie um ein Haar für eine Illusion bezahlt hätten, und jetzt ihre verloren geglaubten Kinder wieder in die Arme schlössen.

Als sich Kim wieder zu Themistokles herumdrehte, da war dieser plötzlich kein sterbender Greis mehr, sondern der majestätische, gütige Zauberer, den er kannte, ein Mann mit einem alten und doch zeitlosen Gesicht, mit langem weißem Haar und einem wallenden Bart und Augen, die die Ewigkeit geschaut und begriffen hatten, wie klein und bedeutungslos alles war, was die Menschen taten. Und wie groß trotzdem die Verantwortung, die sie für jede einzelne dieser Taten trugen.

An seinem letzten Tag in Gorywynn - Kim hatte gespürt, daß es so war, als er an diesem Morgen die Augen aufschlug - stand er mit Themistokles, Peer und Bröckchen auf dem gläsernen Balkon des Palastes und blickte auf die Stadt hinab. Kim empfand eine leichte Trauer, aber keine Verbitterung, wußte er doch, daß er Märchenmond zwar verlassen, auf keinen Fall aber verlieren würde. Viel Zeit war vergangen seit jenem Tag, der das Schicksal dieser verzauberten Welt noch einmal zum Guten gewendet hatte, und viel war geschehen seither. Die Flußleute und die anderen Völker Märchenmonds hatten begonnen, wenn schon nicht in Freundschaft, so doch in einem gutnachbarlichen Verhältnis miteinander zu leben, und bald hatten sie begriffen, daß dies für alle von Vorteil war.

Fast überall im Lande waren die Eisenmänner verschwunden und die meisten der vermißten Kinder zu ihren Familien zurückgekehrt. Zu Kims - und noch viel mehr Themistokles' - großer Trauer nicht alle. Auf manchem Gehöft, in manchem Dorf und mancher Stadt sah man auch jetzt noch einen der Roboter Arbeiten verrichten, denn die Herzen mancher Menschen waren so hart geworden, daß sie nicht mehr anders konnten. Aber es wurden weniger, mit jedem Tag, und wie Themistokles versichert hatte, kam nicht ein einziger mehr dazu.

Kim und Priwinn hatten die Zeit genutzt, gemeinsam ihre Freunde überall im Land zu besuchen und sich mit ihnen an ihrer zurückgewonnenen Zukunft zu erfreuen. Kim hatte Peer wiedergesehen und auch eine Weile auf Caivallon verbracht, der Festung der Steppenreiter, über die Priwinn nun als König herrschte; kein Junge mehr, der niemals alterte, sondern ein junger Mann, der Kims Freund war und dies auch bleiben würde. Er hatte Brobing und Jara besucht und ihnen schweren Herzens Sternenstaub zurückgebracht. Er sollte Torum gehören, und Torum war jetzt wieder da. Allen blieb noch genug zu tun. Die Wunden, die die Bewohner Märchenmonds ihrer eigenen Welt geschlagen hatten, waren groß und würden nicht von selbst verheilen. Sie zu beseitigen würde ungleich mehr Mühe und Kraft kosten, als die Zerstörung gekostet hatte. Und doch wußte Kim, daß es gelingen würde. Jetzt, wo es wieder eine Zukunft gab, hatten die Völker Märchenmonds auch wieder etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Vielleicht würden sie aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, so daß nie wieder eine Zeit anbrechen mochte, in der eiserne Pferde die Felder pflügten und die Kinder verschwanden, weil die Träume verlorengingen und die Herzen zu Stein wurden.

Als Kim zu spüren begann, daß sich sein Aufenthalt auf Märchenmond dem Ende zuneigte, da hatte er Priwinn gebeten, ihn nach Gorywynn zu begleiten, damit er sich von Themistokles verabschieden konnte. Und der neue König von Caivallon hatte seine Geschäfte einem Stellvertreter übertragen, um den Freund zu begleiten. Doch zu Kims Überraschung hatte sie kein Pferd und kein Floß erwartet, sondern Rangarig, der goldene Drache, der wieder zu sich selbst gefunden hatte (ebenso übrigens wie der Tatzelwurm, der nun wieder in seinem See im Norden hockte und Gift und Galle spuckte, wenn man sich ihm näherte). Auf den Schwingen des riesigen Zauberwesens waren sie hierhergeflogen, und nun stand Kim zum letztenmal hoch über den Türmen Gorywynns und blickte auf die Häuser und Mauern aus Glas und gefangenem Licht herab. Sie hatten über dies und das geredet, aber sowohl Themistokles als auch Priwinn schienen zu ahnen, was vorging, denn Trauer und Schwermut erfaßte sie. So standen sie einfach in vertrautem Schweigen nebeneinander, während der Kater Sheera unruhig um ihre Beine strich. Einzig Bröckchen war vorlaut wie immer und maulte, daß er hungrig sei - was Kim durchaus verstehen konnte. Die letzte Mahlzeit lag gut zwei Stunden zurück, und seines Wissens nach hatte Bröckchen dabei nicht einmal ein ganzes Wildschwein verputzt. Der arme Kerl mußte vor Hunger beinahe sterben.

»Wirst du wiederkommen?« fragte Priwinn plötzlich. Kim zuckte nur mit den Schultern. »Ich hoffe es«, sagte er. Und dann hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung hinzufügen: »Aber vielleicht sollte ich das gar nicht.«

»Wieso?« Priwinn sah verwundert auf.

»Nun, ich war immer nur hier, wenn... etwas Schlimmes geschah«, meinte Kim stockend.

»Wie kommt es, daß ich stets nur dann in die Welt der Phantasie reise, wenn sie in Gefahr schwebt?«

Priwinn sah betroffen aus, aber Themistokles lächelte und schüttelte sanft den Kopf. »Es ist nun einmal die Art der Menschen, daß sie das, was sie besitzen, erst dann wirklich schätzen, wenn sie es zu verlieren drohen. Aber die Welt der Phantasie ist immer da. Sie ist in euch, so wie ihr in dieser Welt seid. Ihr merkt es nur nicht.«

Kim dachte eine Weile über diese Worte nach, und schließlich glaubte er zu verstehen, was Themistokles meinte.

Lächelnd wandte er sich um und ging in das angrenzende Zimmer zurück. Es war die Turmkammer, in der sie zuletzt mit dem König der Flußleute zusammengetroffen waren. Die drei Schwerter lagen noch immer dort auf dem Tisch, wo sie sie hingelegt hatten, unberührt. Und sie würden unberührt bleiben, die beiden gekreuzten unversehrten Schwerter, und die zerbrochene Klinge, als ein Symbol, daß die Waffe keine Lösung war und keine Feindschaft so groß, daß man sie nicht überwinden konnte. Kim dachte ein wenig traurig an Jarrn, den Zwergenkönig. Mit den Eisenmännern waren auch die Zwerge verschwunden, und es tat ihm ein wenig leid um das kleine, kecke Volk, das von allen nur angefeindet worden war. Vielleicht gab es sie noch irgendwo und kamen sie eines Tages wieder, um andere, nützliche Dinge zu schmieden, Dinge, die halfen, ohne anderen zu schaden. Kim drehte sich herum, um Themistokles danach zu fragen, aber da waren die Wand, der gläserne Balkon und der Himmel über Gorywynn verschwunden, und an ihrer Stelle fand er sich in einem winzigen Zimmer wieder. Durch die Streifen einer halb heruntergelassenen Jalousie fiel wenig graues Licht herein.

Erschrocken fuhr er herum - und stieß unsanft an einen Gegenstand, der unter seinem Anprall hörbar knirschte und klirrte. Kim streckte schützend die Hand aus, da fühlte er kaltes, glattes Glas.

Einen Augenblick später rumorte es neben ihm, und dann wurde eine kleine Lampe angeknipst. Das verschlafene Gesicht seiner Schwester Rebekka hob sich aus den Kissen und blinzelte zu ihm auf. »Was willst du?« maulte Becky. »Laß mich schlafen. Was tust du überhaupt hier?« Sie schloß die Augen und schlief wieder ein, ehe Kim noch antworten konnte - was er aber ganz bestimmt nicht getan hätte.

Er war wieder zu Hause. Und verwirrt stellte er fest, daß er genau dort stand, wo alles begonnen hatte - im Zimmer seiner Schwester, direkt neben dem Terrarium, durch das zwei winzige, rot-grün gemusterte Miniatureidechsen hin-und herflitzten, aufgescheucht durch den unsanften Stoß, den Kim versehentlich ihrer Behausung versetzt hatte. Seltsam - er spürte überhaupt keine Enttäuschung. Es erschien ihm selbst unglaublich, aber alles, was er empfand, war bloß eine ganz leise Wehmut. Vielleicht war es wirklich so, wie Themistokles gesagt hatte: Märchenmond war immer in ihm, so wie er in gewisser Weise immer dort war. Vorsichtig, um Rebekka nicht noch einmal zu wecken, ging Kim zur Tür, öffnete sie, und trat auf den Korridor hinaus. Die Nacht war beinahe vorüber. Im Treppenhaus hatte sich bereits das graue Licht der Dämmerung breitgemacht, und aus dem Erdgeschoß hörte er die gedämpften Stimmen der Eltern. Kim wollte in sein Zimmer zurückgehen, begriff aber dann, daß er jetzt doch nicht mehr schlafen konnte, und wandte sich schließlich zur Treppe.

Als er halb im Erdgeschoß angekommen war, vernahm er, daß sein Vater mit jemandem am Telefon sprach. Als Kim ins Wohnzimmer trat, hängte er eben den Hörer ein. Er staunte nicht wenig, als er seinen Sohn zu dieser ungewohnt frühen Stunde - und dazu noch komplett angezogen - erblickte. Aber er sagte nichts dazu, sondern tauschte nur einen überraschten Blick mit Kims Mutter und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf das Telefon.

»Weißt du, wer das war?« sagte er.

Kim hatte eine ungefähre Ahnung, aber er schüttelte den Kopf und spielte den Unwissenden.

»Es war die Polizei.« Das Gesicht von Kims Vater verdüsterte sich, er dachte wohl an die Szene vom vergangenen Abend. Aber seine Stimme klang eher erstaunt als zornig, während er fortfuhr: »Der Kommissar wollte heute nachmittag noch einmal kommen, um dir ein paar Fragen zu stellen.«

»Aber worüber denn?« fragte Kim. »Ist denn etwas passiert?«

Sein Vater zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, das wissen sie selbst nicht so genau. Aber es scheint so, als wäre der Junge aus dem Krankenhaus verschwunden. Kommissar Gerber war der Meinung, du könntest ihm irgend etwas dazu sagen. Aber das kannst du natürlich nicht, oder?«

»Natürlich nicht«, beeilte sich Kim zu versichern.

»Genau das habe ich ihm auch gesagt«, sagte der Vater - wobei er ihn mit einem prüfenden Blick maß. »Ich habe ihm erklärt, daß du ihm nichts mehr zu sagen hast und er nur seine Zeit verschwendet. Ich denke, er hat es begriffen. Auf jeden Fall wird er uns nicht weiter belästigen. Aber komisch ist die Sache schon«, fügte er fast lauernd hinzu, als Kim erleichtert aufatmete. »Du erinnerst dich, was der Professor erzählt hat? Daß sie mehrere dieser Kinder aufgegriffen haben, ohne Gedächtnis und scheinbar ohne Sprache?« Kim nickte. Worauf wollte sein Vater hinaus?

»Nun«, fuhr der Vater mit einem abermaligen Achselzucken (und einem noch immer prüfenden Blick in Kims Gesicht) fort, während er sich an den Tisch setzte, »es scheint, als wären sie alle verschwunden. Spurlos.«

»Seltsam«, meinte Kim, »aber was habe ich damit zu tun?«

»Eben«, antwortete sein Vater. »Na ja«, er seufzte. »Sie werden früher oder später schon eine Erklärung finden.« Das wiederum glaubte Kim ganz und gar nicht, aber er hütete sich, das laut auszusprechen. Statt dessen setzte er sich auf den freien Stuhl zwischen seinen Vater und seine Mutter, griff nach dem Milchglas, das schon für ihn bereitstand, und sagte leise und mit einem Lächeln, dessen wahre Bedeutung nur er selbst verstand: »Sicher - wenn sie genug Phantasie dazu haben.«

Sein Vater sah ihn erstaunt an, aber er schwieg. Es war, als spürte er, daß in seinem Sohn etwas vorging, über das sie nicht miteinander reden konnten - und auch nicht brauchten. Es gab Dinge, die mußte man nicht aussprechen. Sonderbar, Kim konnte direkt fühlen, wie der Ärger seines Vaters jetzt einer Mischung aus Verwunderung und einer Art von Verstehen Platz machte, das keinerlei Erklärung benötigte. Sollte doch ein Teil dieses wunderbaren Landes Märchenmond auch in ihm, in Kims Mutter, ja, selbst in diesem unangenehmen Kommissar sein? Vielleicht irgendwo in jedem Menschen?

Das Geräusch eines Lastwagens, der dicht neben dem Haus hielt, drang in Kims Gedanken. Er sah auf und tauschte einen überraschten Blick mit seinen Eltern.

»Die neuen Nachbarn«, sagte seine Mutter. »Du weißt doch - das Haus nebenan ist verkauft worden. - Die Familie zieht heute ein.«

Kim drängte es plötzlich, hinauszugehen und sich die Leute anzusehen, die künftig nebenan wohnen würden. Er sah seinen Vater an, der wie zur Antwort stumm mit dem Kopf nickte, und ging mit raschen Schritten hinaus.

Trotz der noch frühen Stunde war es bereits warm. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, und es war, als läge etwas Fröhliches, Erleichtertes in der Luft. Fast als wäre ein Schatten vom Himmel gezogen worden, der gar nicht sichtbar, aber doch deutlich dagewesen war.

Kim verscheuchte diesen Gedanken und besah sich den riesigen Lastwagen, der nur wenige Meter entfernt stand. Zwei Möbelpacker in blauen Overalls waren eben dabei, die großen Türen an seinem Heck zu öffnen. Sonst war niemand zu sehen. Da bog ein zerschrammter Mercedes um die Ecke und hielt hinter dem Möbelwagen. Ein Mann und eine Frau stiegen aus und begannen mit den Möbelpackern zu reden. Kim schenkte ihnen nur einen flüchtigen Blick. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf den dunkelhaarigen, schlanken Jungen gerichtet, der nun aus dem Wagen stieg. Der Junge war in Kims Alter, aber ein gutes Stück größer, und obwohl Kim überzeugt war, ihn noch nie zuvor im Leben gesehen zu haben, schien es ihm doch, als wären sie uralte Freunde. Seltsam.

Noch seltsamer war - dem Jungen schien es genauso zu gehen, denn er hielt plötzlich inne und blickte Kim mit gerunzelter Stirn an.

Schließlich überwand sich Kim und ging langsam auf den Jungen zu. Es fiel ihm schwer, den anderen anzureden. »Hallo«, sagte er schließlich.

»Hallo«, gab der Junge zurück. »Kennen wir uns?«

»Ich ... glaube nicht«, sagte Kim stockend. »Ihr seid die neuen Nachbarn, nicht wahr?«

Der Junge nickte. »Ja. Wie heißt du?«

»Kim. Und du?«

Der Junge starrte ihn verblüfft an, so als hätte er etwas äußerst Erstaunliches gehört. »Ich heiße Peter«, sagte er dann. Er trat einen Schritt zurück, um einem noch kleineren, ebenfalls schwarzhaarigen Jungen Platz zu machen, der jetzt hinter ihm aus dem Wagen kletterte. »Und das ist mein Bruder Jan«, fügte er hinzu und grinste. »Ein Widerling, aber sonst ganz nett.«

Jan stieg schnaubend aus dem Wagen. Er drehte sich einmal im Kreis, um sich in aller Ruhe umzusehen. Kim bemerkte erst jetzt, daß er das Ende einer Leine in den schmutzigen Fingern hielt und schluckte, als er sah, was am Ende dieser Leine auf krummen Beinen hinter Jan hergewatschelt kam. Falls das ein Hund sein sollte, dann war es bestimmt das häßlichste Exemplar, das Kim jemals zu Gesicht bekommen hatte. Jedenfalls dachte Kim, daß es ein Hund war. Ganz sicher war er nicht.

»Ich sehe schon, du findest Jans Köter genauso hübsch wie ich.« Peter lachte leise. »Aber die beiden hängen aneinander wie Kletten. Und irgendwie passen sie gut zueinander, oder?«

Kim antwortete nicht. Er blickte gebannt auf den kleinen Hund, der jetzt auf ihn loswatschelte. Erbeschnüffelte interessiert Kims Turnschuhe und zupfte dann an Kims Hosenbein. Winselnd blickte er dabei zu Kim hoch, während sein Speichel die Hose bekleckerte, und in seinen Augen stand deutlich: Hunger!

Kim war viel zu verblüfft, um sich auch nur zu rühren. Erst als er die Nässe spürte, sprang er rasch zurück.

Jan grinste hämisch. »Hallo, Blödmann«, sagte er.


Загрузка...