XVI

Es mußte lange nach Sonnenuntergang sein, und Kim hatte das Gefühl, jeden Moment zusammenbrechen zu müssen. Sein Rücken schmerzte unerträglich, und von dem anstrengenden unwirklichgrauen Licht hier unten taten seine Augen, ja sein ganzer Körper erbärmlich weh. So merkte er nicht einmal, daß Jarm, der noch immer die Führung innehatte, plötzlich stehenblieb und die Hand hob. Erst als Kim gegen den Zwerg prallte und ihn fast mit sich zu Boden riß, schreckte er hoch und unterdrückte im letzten Moment einen überraschten Ausruf, als der Zwerg den Zeigefinger über die Lippen legte und mit der anderen Hand wild herumgestikulierte.

»Was ist los?« flüsterte Priwinn hinter Kim.

Jarrns Gesten wurde hektischer. Ohne ein Wort zu sagen, deutete er auf die Gangbiegung, vor der er stehengeblieben war, und gab ihnen wortlos zu verstehen, sehr leise dorthin zu gehen.

Sie gehorchten. Und als sie vorsichtig die Köpfe um die Gangbiegung schoben, da begriffen sie auch, warum der Zwerg so erschrocken war.

Der Tunnel endete auf einer schmalen, steinernen Galerie, die sich hoch oben an der Wand einer gewaltigen Felsenhöhle entlangzog, um auf der anderen Seite in einem weiteren, runden Loch zu münden, das tiefer in die Erde hineinführte. Diese Galerie maß sicherlich an die fünfhundert Meter - und das war nur die Schmalseite des ungeheuerlichen Felsendomes, den sie erblickten. Darin herrschte das gleiche unheimliche, graue Licht, das auch die Tunnelwelt erfüllte, aber an seinem Boden brannten zudem zahllose gelbe und rote Feuer, und in einiger Entfernung spiegelte sich ihr flackernder Schein auf der Oberfläche eines unterirdischen Sees, nicht viel kleiner als der See des Tatzelwurms. Eine Anzahl kleiner Flöße bewegte sich auf dem stillen Wasser, und weit entfernt, nur noch als verschwommene Schatten zu erkennen, glaubte Kim die Umrisse eines jener schwarzen Buckelschiffe zu sehen, wie sie es auf dem Verschwundenen Fluß erblickt hatten.

Doch nicht nur auf dem See war Bewegung. Überall zwischen den Feuerstellen unter ihnen war Leben. Männer standen oder saßen in kleinen Gruppen herum, gingen Tätigkeiten nach, die Kim aus der großen Entfernung nicht erkennen konnte, trugen Lasten oder lagen einfach auf dem nackten Boden und schliefen. An einigen der größeren Feuer wurde emsig gearbeitet: Funken stoben auf, und das gedämpfte Klingen und Schlagen schwerer Hämmer drang zu ihnen herauf.

»Was ist das?« flüsterte Kim erschreckt, nachdem er sich mit Priwinn wieder in die Sicherheit des Stollens zurückgezogen hatte.

»Flußleute!« gab Jarrn leise zurück. »Ich wußte, daß es irgendwo eine Stadt unter der Erde gibt. Aber wir wußten bisher nicht, wo.«

»Eine Stadt?« wiederholte Kim zweifelnd. Danach hatte der düstere Felsendom nun gar nicht ausgesehen.

»Sie leben sicher in Höhlen«, vermutete Jarrn, »irgendwo in der Nähe.«

»Und wie kommen wir nun weiter, ohne gesehen zu werden?« fragte Priwinn düster. Jarrn zuckte nur mit den Schultern. Sein Blick glitt über die Gestalt des Steppenprinzen, dann über die Kims und schließlich sehr nachdenklich über die breiten Schultern des Riesen. »Meine Leute und ich könnten uns wohl vorbeischleichen ohne aufzufallen«, sagte er. »Aber ihr, und erst recht dieser große Tölpel da ...« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Wir müssen einen anderen Weg finden.«

Er überlegte einen Moment, dann wandte er sich um und deutete den Stollen hinab, den sie gekommen waren. »Es gibt ein paar Abzweigungen dort hinten. Vielleicht finden wir einen anderen Gang.«

Sie gingen bis zu der Abzweigung zurück, die Jarrn entdeckt hatte, und drangen in den Seitengang ein. Der Weg führte ein gutes Stück weit geradeaus und verwandelte sich dann in eine gefährlich abschüssige Rampe, über die sie mehr hinunterkollerten, als daß sie gingen. Schließlich gelangten sie in eine weitere Höhle; winzig gegen die, die sie vorhin gesehen hatten, aber immer noch groß genug, ein kleines Dorf aufzunehmen.

Und genau das befand sich auch darin.

Kim und die anderen blickten verblüfft auf die Ansammlung niedriger Hütten herab, die aus grobem Felsgestein erbaut waren. Die meisten hatten kein Dach, sondern bestanden nur aus einem oben offenen Geviert ohne Fenster, aber hier und da gab es auch große, zwei- und sogar dreistöckige Gebäude. Aus einigen drang der rote Schein von Feuer, und dazwischen sahen sie Flußleute, allerdings sehr viel weniger als in der großen Höhle, die sie vorhin gesehen hatten. Der Weg führte hier auch nicht völlig deckungslos an der Wand entlang. Jarrn deutete nach kurzem Suchen auf einen halbrunden Tunnel an der gegenüberliegenden Wand der Höhle. Mit etwas Glück konnten sie es schaffen, denn der Boden war mit einem Gewirr aus riesigen Felstrümmern und scharfkantigen Graten übersät, so daß selbst Gorg sich mühelos verstecken konnte.

Kim hätte sich gern dem Höhlendorf genähert, um es ein wenig genauer zu besehen, aber natürlich war die Gefahr, dabei entdeckt zu werden, viel zu groß. Trotzdem war Kim der letzte, der losging, als sie gebückt und in großem Abstand in das Felslabyrinth huschten. Und er blieb es auch, denn immer wieder hielt er an, und blickte über den Rand der Felsen zu den Häusern hinüber. Dann und wann trat eine Gestalt aus einer der Türen, und Kim betrachtete sie sehr aufmerksam. Was er über die große Entfernung hinweg erkennen konnte, war eigentlich nichts Besonderes: Männer und Frauen, in einfache, grobe Kleidung aus Leder oder Fell gehüllt, denn es war kalt hier unten. Kim sah sogar ein paar Kinder, die lärmend im Zentrum des dreifachen Kreises aus Häusern spielten. Hätte dieses Dorf auf der Oberfläche der Erde statt unter ihr gelegen, wäre überhaupt nichts Auffälliges daran gewesen. Was mochte es mit den Flußleuten nur auf sich haben, daß die Zwerge sie so sehr fürchteten?

Die anderen warteten bereits ungeduldig auf ihn, als Kim endlich den Eingang des Stollens erreichte. Vor allem Jarrn trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, aber auch Priwinn gestikulierte unwillig und gab ihm mit stummen Grimassen zu verstehen, daß er sich beeilen sollte. Kim schritt tatsächlich schneller aus, drehte aber im Gehen noch einmal den Kopf, sah zum Dorf zurück - und erstarrte mitten in der Bewegung.

Der Stollen, in dem Priwinn und die Zwerge auf ihn warteten, war nicht der einzige. Es gab eine ganze Anzahl unterschiedlich großer Ein- und Ausgänge in den Wänden der Höhle. Und aus einem dieser finsteren Löcher waren in diesem Moment zwei Flußleute getreten, die eine dritte, kleinere, heftig zappelnde und schreiende Gestalt zwischen sich herschleiften!

Kim blieb eine Sekunde lang reglos stehen, dann fuhr er auf der Stelle herum, rannte ein paar Schritte weit in die Höhle zurück und duckte sich hinter einen Fels. Er hörte, wie Priwinn hinter ihm erschrocken die Luft einsog, drehte sich aber nicht einmal zu dem Steppenreiter um, sondern spähte gebannt über den Rand seiner Deckung hinweg zu den Flußleuten hinüber.

Die kleine Gruppe war zu weit entfernt, als daß er Einzelheiten erkennen konnte. Aber er sah zumindest, daß es sich bei dem Gefangenen um einen sehr schlanken, kleinwüchsigen Mann handeln mußte - oder um ein Kind! Er zögerte nicht mehr länger. Hastig drehte er sich zu Priwinn herum, deutete tiefer in den Gang hinein, in dem er und die anderen hockten, und flüsterte: »Wartet hier auf mich!« Dann richtete er sich vorsichtig hinter seiner Deckung auf und huschte, geduckt von Fels zu Fels springend, weiter auf das Dorf, die beiden Flußleute und ihren Gefangenen zu.

Es war leichter, sich ihnen zu nähern, als Kim zu hoffen gewagt hatte. Das Dorf war auf einem kreisrunden, einge-ebneten Fleck genau in der Mitte der Höhle erbaut, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, das darunterliegende Gelände von Felsen und Geröll zu befreien, so daß es ausreichende Verstecke gab, bis er das erste Haus erreichte. Keuchend richtete sich Kim auf, sah sichernd nach rechts und links und schlich dann, den Rücken eng gegen die Wand gepreßt, an der Rückseite des Gebäudes weiter. Als er die Ecke erreichte, war er bereits den beiden Flußmännern bis auf wenige Schritte nahe gekommen. Sie hatten Kims Platz bereits passiert, so daß sie und die sich heftig windende Gestalt zwischen ihnen nur noch von hinten zu sehen waren. Und doch hatte Kim sich nicht getäuscht - es war ein Halbwüchsiger, den sie grob zwischen sich herzerrten. Kims Herz machten einen erschrockenen Sprung, als er sah, daß die zappelnde Gestalt dunkelblaues Blattwerk statt Haar auf dem Kopf trug. Der Knabe gehörte zu den Baumleuten - und der Gedanke, daß dieses friedfertige Volk etwas mit diesen berüchtigten Flußleuten zu schaffen haben sollte, war so absurd, daß Kim ihn nicht einmal erwog. Der Junge wehrte sich immer heftiger. Plötzlich gelang es ihm, eine Hand loszureißen, aber der zweite Flußmann hielt seine andere Hand mit eiserner Kraft fest. Blitzschnell griff der andere wieder zu, packte den Arm des Jungen und versetzte ihm eine so wuchtige Ohrfeige, daß dieser halb bewußtlos in seinem Griff zusammensackte. »Hör endlich auf zu zappeln!« sagte der Mann wütend. »Das nützt dir nichts.«

»Warum wehrst du dich?« meinte der andere. »Du wirst es gut haben, dort, wo du hinkommst. Wahrscheinlich besser als bei deinen eigenen Leuten.«

Der Junge mit dem blauen Blätterhaar reagierte nicht auf diese Worte, sondern wand sich nur noch stärker im Griff der beiden und begann nun auch mit den Beinen zu treten. Der Mann knurrte wütend und versetzte ihm einen weiteren, noch härteren Schlag, der dem Gefangenen nun endgültig das Bewußtsein raubte.

»Sei vorsichtig!« warnte sein Kamerad. »Er nützt uns nichts mehr, wenn er tot ist. Niemand gibt etwas für tote Kinder.«

Kim sah ihnen nach, bis sie in einem großen Gebäude verschwunden waren, dann zog er sich mit klopfendem Herzen wieder hinter die Hausecke zurück. Alles in Kim schrie danach, ihnen nachzustürzen und den Knaben zu befreien. Aber ein solcher Versuch hätte an Selbstmord gegrenzt. Die beiden waren viel zu stark für ihn, und er half dem Jungen nicht, wenn er sich selbst gefangennehmen ließ.

Plötzlich zitterten seine Hände vor Aufregung. Er hatte die Worte der Flußleute sehr deutlich gehört - und es gehörte wahrlich nicht viel Phantasie dazu, zu verstehen, was sie bedeuteten.

Hastig fuhr er herum - und blickte in das Gesicht des Steppenprinzen, das sich vor Zorn verdunkelt hatte.

»Bist du völlig von Sinnen?« flüsterte Priwinn wütend. »Willst du uns alle ans Messer liefern?«

Kim deutete heftig gestikulierend hinter sich. »Die Kinder!« sprudelte er hervor. »Sie sind hier, Priwinn! Die Flußleute haben sie -«

Priwinn sprang erschrocken vor und preßte ihm die Hand auf den Mund, denn Kim hatte vor lauter Aufregung so laut gesprochen, daß seine Worte weitum zu hören sein mußten. »Ruhig!« zischte er. »Wenn sie uns hören, ist alles vorbei!« Er sah den Freund einen Moment lang aufmerksam an, dann nahm er langsam die Hand von Kims Mund, hielt den Arm aber erhoben, um notfalls blitzschnell wieder zugreifen zu können.

Aber Kim hatte sich wieder halbwegs in der Gewalt. Noch immer hastig und die einzelnen Worte so schnell hervorsprudelnd, daß Priwinn Mühe hatte, sie zu verstehen, aber sehr leise, erzählte er ihm, was er eben beobachtet hatte. Priwinn hörte aufmerksam zu, und sein Gesicht verdunkelte sich bei jedem Wort, das Kim sprach. »Die Flußleute?« fragte er zweifelnd. »Das ist unmöglich. Sie können nicht alle diese Kinder -«

»Aber ich habe es doch gehört!« unterbrach ihn Kim. »Er hat deutlich gesagt: Er nützt uns nichts mehr, wenn er tot ist.«

Priwinn schwieg einige Sekunden. Ein sehr nachdenklicher, aber auch entschlossener Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit, und schließlich nickte er. »Gut. Versuchen wir herauszubekommen, was hier vorgeht.« Er sah sich wie suchend um und machte schließlich eine Kopfbewegung zurück zur Felswand. »Warte hier auf mich. Ich hole Gorg und die anderen.«

Ehe Kim ihn zurückhalten konnte, war er herumgefahren und zwischen den Felsen verschwunden.

Es verging überraschend wenig Zeit, bis er mit den anderen zurückkam. Und Kim war doppelt überrascht, als er nicht nur den Riesen, Sheera und Bröckchen in seiner Begleitung entdeckte, sondern auch die Zwerge. Jarrn polterte auch prompt los: »Bist du völlig übergeschnappt? Willst du, daß sie uns -«

Sheera fuhr herum und funkelte den Zwerg aus seinen gelben Katzenaugen an. Und Jarrn brach mitten im Wort ab. Kim hatte plötzlich eine ungefähre Ahnung davon, wie es Priwinn gelungen war, die Zwerge zum Mitkommen zu bewegen.

»Wo sind sie hin?« fragte Priwinn.

Kim, der die beiden Flußleute und ihren Gefangenen keinen Moment aus den Augen gelassen hatte, deutete auf ein wuchtiges Gebäude an der linken Seite des Platzes. Als eines der wenigen Bauwerke hier unten war es ein richtiges Haus - mit einem Dach, Fenstern und einer Tür. Und das Glück schien wirklich auf ihrer Seite zu sein, denn diese Tür befand sich nicht auf der dem Dorf zugewandten Wand des Hauses, sondern an der Seite, so daß sie mit einigem Geschick hineinkommen konnten, ohne entdeckt zu werden. Vorsichtig näherten sie sich dem Gebäude und hielten hinter den letzten Felsen an. Zwischen ihnen und der Tür lagen allerhöchstens noch fünf oder sechs Schritte, aber Kim begriff, daß seine Einschätzung ihrer Lage etwas zu optimistisch gewesen war - der große freie Platz zwischen den Häusern wimmelte von Männern, Frauen und Kindern. Und wenn sich auch nur einer von ihnen zufällig in ihre Richtung drehte, wahrend sie die freie Strecke überquerten, dann waren sie verloren.

»Das gefällt mir nicht«, knurrte Gorg. »Wer weiß, was da drinnen auf uns wartet.«

»Angst, du Riesenkerl?« stichelte Jarrn gehässig.

Gorg würdigte ihn nicht einmal einer Antwort, aber Priwinn blickte den Zwerg an und lächelte plötzlich. »Gorg hat völlig recht, weißt du?« sagte er in täuschend freundlichem Ton. Jarrn blickte irritiert zu ihm auf, und Priwinn fuhr im gleichen Tonfall fort: »Einer von uns sollte vorgehen und nachsehen, wie es dort drinnen aussieht. Am besten jemand, der klein ist und sich schnell bewegen kann.«

Jarrn wurde blaß. »Du glaubst doch nicht, daß ich -«

»Doch«, unterbrach ihn Priwinn ruhig. »Ganz genau das glaube ich.«

Der Zwerg setzte ein wütendes Gesicht auf, aber ehe er widersprechen konnte, löste sich ein winziger, schlanker Schatten aus dem Felsen und huschte schnurstracks auf die Tür zu. Sheera erreichte das Gebäude, ohne gesehen zu werden, verschwand im Schatten hinter der Tür und tauchte schon nach wenigen Augenblicken wieder auf. »Alles in Ordnung«, sagte der Kater, als er wieder zurück war. »Oben im Haus ist niemand, aber es gibt eine Treppe, die nach unten führt.«

»Ja«, knurrte Jarrn übellaunig. »Wahrscheinlich schnurstracks in den Kerker, ihr Narren.«

»Hoffentlich«, verbesserte ihn Kim. Nacheinander sah er Priwinn und den Riesen an. »Was meint ihr?«

»Wahrscheinlich wäre es klüger, von hier zu verschwinden und mit einer Armee wiederzukommen«, sagte Priwinn seufzend. »Aber bis dahin kann es zu spät sein.« Gorg sagte gar nichts. Er spähte einen Moment lang gebannt zu den Flußleuten hinüber, dann erhob er sich lautlos hinter dem Felsen und überwand die Entfernung zum Haus mit zwei gewaltigen Sätzen. Kim und die anderen hielten den Atem an, aber das Wunder geschah - niemand bemerkte den Riesen.

»Also los«, sagte Priwinn, an die Zwerge gewandt. »Ihr als nächste.«

»Wieso sollen wir unbedingt vor euch gehen?« beschwerte sich Jarrn.

»Damit ihr nicht vergeßt nachzukommen«, antwortete Priwinn spöttisch. »Es könnte ja immerhin sein, nicht wahr?« Jarrn bedachte ihn mit einem Blick, der einen Eisberg zum Schmelzen gebracht hätte, widersprach aber nicht, sondern gab seinen Begleitern einen Wink und folgte dem Riesen. Und obwohl Kim die Zwerge aufmerksam im Auge behielt, sah er sie doch kaum. Die winzigen Gestalten schienen selbst zu grauen Schatten zu werden, während sie den freien Platz vor dem Haus überquerten. Binnen weniger Augenblicke hatten sie die Tür erreicht und waren im Haus verschwunden.

Kim, Priwinn und die beiden Tiere bildeten den Abschluß. Kims Herz klopfte zum Zerspringen, als er sich durch die Tür warf und stehenblieb, und für eine halbe Minute rechnete er ernsthaft damit, hinter sich einen zornigen Aufschrei oder das Trappeln zahlreicher Füße zu hören. Doch nichts von alledem geschah. Sie hatten es geschafft. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Furcht sah er sich um. Das Innere des Gebäudes bestand aus einem einzigen, großen Raum, der völlig leer war, bis auf eine Anzahl in die Wände eingelassener, eiserner Ringe, an denen kurze Ketten hingen. Kim zog es vor, nicht über den Zweck dieser Ketten nachzudenken.

Gorg war mittlerweile vor einer schweren, hölzernen Klappe in der Mitte des Raumes niedergekniet und hatte sie mit einer Hand angehoben. Flackerndes rotes Licht drang von unten herauf, und als Kim hinter den Riesen trat, erblickte er die obersten Stufen einer in den Fels gehauenen Treppe, die sich in engen Windungen tiefer in die Erde hineindrehte. Gorg öffnete die Klappe vollends, ließ sie lautlos zu Boden gleiten und war der erste, der auf Zehenspitzen die Treppe hinunterzu schleichen begann, gefolgt von den Zwergen. Priwinn und Kim bildeten wieder den Abschluß. Die Treppe führte weit, sehr weit in die Tiefe und endete in einem kreisrunden Raum, von dem ein halbes Dutzend Türen abzweigten. Gorg legte das Ohr an eine dieser Türen, lauschte einen Moment und versuchte sie dann zu öffnen. Sie war verschlossen. Die Riese warf Priwinn einen fragenden Blick zu, ob er sie aufbrechen sollte, aber der Steppenprinz schüttelte nur den Kopf und deutete auf eine andere Tür. Gorg ging hin und lauschte auch hier. Diesmal hatte er Glück: Als er die roh aus Eisen geschmiedete Klinke herunterdrückte, schwang die Tür quietschend nach innen und gab den Blick auf einen scheinbar endlos langen, von flackerndem, düster-rotem Licht erfüllten Gang frei.

In die Wände dieses Ganges waren zahlreiche, vielleicht fünf mal fünf Schritte messende Kammern hineingemeißelt worden, die mit Gittern aus schweren, rostigen Eisenstäben verschlossen waren. Faulendes Stroh lag auf dem Boden, und in der Luft lag ein Gestank, der Kim im wahrsten Sinn des Wortes den Atem verschlug. Mit klopfendem Herzen bewegte er sich hinter Gorg in den Gang hinein. Sie gingen bis zu seinem Ende, und sie sahen in jede einzelne der gut vier oder fünf Dutzend Käfige, aber sie waren alle leer. Trotzdem war der Zweck eindeutig: Es war ein Kerker, der Zwerg hatte recht gehabt. Aber wo waren die Gefangenen? »Bist du sicher, daß du dich nicht verhört hast?« fragte Priwinn, als sie auch den zweiten, gleichartigen Gang untersuchten und noch immer niemanden gefunden hatten. »Ja«, antwortete Kim. »Und ich sah, daß sie ihn in dieses Haus gebracht haben. Er muß hier irgendwo sein.«

Sie untersuchten auch die drei übrigen Gänge, deren Türen nicht verschlossen waren, ohne auf mehr als leere Zellen zu stoßen. Als sie den letzten dieser Tunnel verlassen wollten, blieb Gorg plötzlich stehen, machte eine hastige Bewegung und schloß mit der anderen Hand die Tür bis auf einen schmalen Spalt.

Keine Sekunde zu früh! Draußen war das Klirren eines Schlüssels zu hören, dann wurde eine Tür geöffnet, und gleich darauf traten zwei hochgewachsene Gestalten in braunem Leder und Fell heraus. Als einer von ihnen an der nur angelehnten Tür vorüberging, erkannte Kim sein Gesicht. Es war einer der beiden Männer, die den Baumjungen hierhergebracht hatten.

Sie warteten, bis die Schritte der beiden auf der Treppe oben verklungen waren, ehe sie es wagten, ihr Versteck zu verlassen.

»Das war knapp«, meinte Priwinn. »Einen Moment später und ...«

»Ihr seid völlig verrückt«, maulte Jarrn. »Nichts wie weg hier, ehe sie uns entdecken. Ich habe keine Lust, diese Käfige von innen kennenzulernen.«

Kim schüttelte den Kopf und deutete auf die letzte verschlossene Tür. »Erst sehen wir nach, was dahinter ist«, sagte er. »Die beiden sind dort herausgekommen. Allein.« Der Zwerg plusterte sich auf, um zu protestieren, aber Gorg war schon an die Tür herangetreten, und diesmal machte er nicht viel Federlesen. Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung riß er die Tür kurzerhand aus Schloß und Angeln und stellte sie neben der Öffnung gegen die Wand. Dahinter lag ein weiterer, von düsterem Fackellicht erhellter Gang. Auch hier waren Dutzende von Zellen in die Wände gemeißelt - aber diese waren nicht leer! Gleich in der ersten Zelle erkannte Kim den blauen Baumjungen, und in der Kammer auf der gegenüberliegenden Seite hockte ein blasses, etwa zwölfjähriges Mädchen auf dem nassen Stroh und blickte ihnen aus angstvoll geweiteten Augen entgegen.

Und diese beiden waren nicht die einzigen. Kim entdeckte noch acht oder neun Gefangene - und es waren allesamt Kinder! Der älteste von ihnen mochte in Kims Alter sein, aber die meisten waren jünger, höchstens zehn Jahre alt. Fassungslos lief er von Zelle zu Zelle und rüttelte an den verschlossenen Gittern. Schließlich kehrte er zu dem blassen Mädchen zurück. Auf einen Wink Priwinns hin packte Gorg mit seinen gewaltigen Händen die rostigen Eisenstäbe und bog sie einfach auseinander, so daß sich Kim und der Steppenprinz hindurchquetschen konnten.

Das Mädchen blickte ihnen aus Augen entgegen, die dunkel vor Furcht waren, und als Priwinn die Hand nach ihr ausstreckte, da wich sie erschrocken zurück und drängte sich in die hinterste Ecke der kleinen Kammer.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Priwinn. »Wir sind hier, um dir zu helfen.«

Der Blick des Kindes wanderte unsicher zwischen ihnen hin und her, dann starrte es den Riesen an. Aber die Angst in seinen Augen blieb.

»Wir gehören nicht zu den Flußleuten«, sprach Kim eindringlich. »Wir werden euch befreien.«

Die Kleine antwortete immer noch nicht, sondern starrte ihn nur weiter an, und auf ihrem Gesicht war deutlich der Kampf abzulesen, der sich hinter ihrer Stirn abspielte. Sie hatte Kims Worte verstanden, aber sie glaubte ihm wohl nicht.

Priwinn wandte sich an Gorg. »Hol die anderen heraus«, sagte er. »Mach schnell.«

Dann drehte er sich wieder zu dem Mädchen herum und wiederholte: »Du mußt keine Angst haben. Wir sind Freunde.«

»Ihr gehört... nicht zu den Piraten?« fragte ihn das Mädchen zweifelnd.

»Bestimmt nicht«, versicherte Kim an Priwinns Stelle. »Wir sind hier, um euch zu helfen. Wo sind die anderen?« Das Mädchen blickte ihn verwirrt an. »Andere? Was für andere?«

Gorg hatte mittlerweile sämtliche Zellen aufgebrochen, und der Gang begann sich mit Kindern zu füllen; gut zwei Dutzend Jungen und Mädchen aus den verschiedensten Völkern Märchenmonds. Einige von ihnen befanden sich in einem erbärmlichen Zustand. Ihre Gesichter waren schmutzig und eingefallen, ihre Kleider hingen in Fetzen, und der Schrecken hatte tiefe Spuren in ihren Augen hinterlassen. Der Anblick gab Kim einen tiefen, schmerzhaften Stich.

»Warum tun sie das?« flüsterte er.

Priwinn lachte bitter. »Hast du vergessen, was du mir vorhin erzählt hast: Niemand gibt etwas für tote Kinder? Die Flußleute verkaufen sie! Wohl an Familien, die ihre Kinder verloren haben und damit nicht fertig werden. Leute wie Brobing und seine Frau. Du hast es doch selbst erlebt.« Kim schauderte bei der Erinnerung an den Schmerz, den er in den Augen der Bauersfrau gesehen hatte. Dann schüttelte er heftig den Kopf. »Das ist unmöglich«, sagte er. »Sie würde nie -«

»Einer anderen Mutter ihr Kind stehlen, um ihr eigenes zu ersetzen?« Priwinn seufzte traurig. »Doch, das würde sie, Kim«, sagte er. »Menschen tun furchtbare Dinge, wenn sie ihren Schmerz nicht mehr ertragen. Und es sind diese verdammten Flußpiraten, die ihren Schmerz ausnutzen, um sich daran zu bereichern. Sie verkaufen sie überall im Lande.«

»Woher willst du das wissen?« fragte Kim.

»Der Zwerg Jarrn hat es mir gesagt. Und in diesem Fall glaube ich ihm.«

Er wandte sich mit einem Ruck um und verließ die Zelle. Mit wenigen, knappen Worten versuchten sie, die Kinder zu beruhigen. Und zu Kims Erleichterung schienen die meisten auf Anhieb zu verstehen, worauf es jetzt ankam: sich so unauffällig wie möglich zu verhalten und genau zu tun, was ihre Retter von ihnen verlangten.

Nur wenige Augenblicke später befanden sie sich schon auf der Wendeltreppe und auf dem Weg nach oben. Kurz darauf versammelten sich alle in dem leeren Haus am Rande der Höhlenstadt. Kim ging zur Tür und blickte hinaus. Nichts hatte sich verändert. Der Platz zwischen den Gebäuden war noch immer belebt, nicht sehr, aber entschieden zuviel, als daß sie hoffen konnten, das Haus ungesehen zu verlassen. Sie waren jetzt immerhin zu einer großen Gruppe angewachsen.

»Jemand muß sie ablenken«, sagte Gorg.

»Und wie, Schlaukopf?« erkundigte sich Jarrn. Er warf ihnen böse Blicke zu. »Was für eine wahnsinnige Idee! Wir kommen hier nie wieder heraus!«

»Vielleicht doch«, meinte Gorg. »Ich ...« Er brach ab, biß sich nachdenklich auf die Unterlippe und blickte versonnen auf Jarrn und seine Begleiter herab. Dann streckte er mit einer blitzschnellen Bewegung den Arm aus, packte einen der Zwerge und stopfte ihn kurzerhand unter das Hemd. Der Zwerg begann zu keuchen und zu strampeln, verstummte aber erschrocken, als der Riese drohend die große Faust schüttelte. »Ich tue dir nichts«, herrschte ihn Gorg grob an. »Aber ich brauche dich.«

Er deutete auf den Platz hinaus. »Ich werde hinausgehen und ein bißchen für Unordnung sorgen«, sagte er. »Das dürfte euch allen Gelegenheit geben, zu verschwinden. Aber ich finde den Weg hinaus nicht allein.«

Und ehe ihn noch einer daran hindern konnte, war er herumgefahren, trat aus der Tür und schlich, den Zwerg unter dem Hemd, gebückt bis zum nächsten Haus, dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. Er brüllte, daß Kim glaubte, den Boden unter den Füßen wackeln zu hören, warf die Arme in die Höhe und stürmte auf den Platz hinaus. Wäre eine Bombe zwischen den Leuten dort eingeschlagen, hätte die Wirkung kaum größer sein können. Sie erstarrten vor Schrecken, als sie den brüllenden Giganten auf sich zurennen sahen - und dann brach in der unterirdischen Stadt eine unbeschreibliche Panik aus. Männer, Frauen und Kinder rannten schreiend und kopflos in verschiedenen Richtungen davon. Einige wenige versuchten, sich dem Riesen in den Weg zu stellen und ihn aufzuhalten, aber Gorg rannte sie einfach über den Haufen. Einem Mann, der plötzlich ein Schwert zog, entrang er die Waffe und warf sie in hohem Bogen davon, dann packte er seinen Besitzer und schleuderte ihn hinterher.

»Schnell jetzt!« rief Priwinn. »Raus hier!«

Hintereinander verließen sie das Haus. Die Zwerge bildeten die Spitze und führten die Kinder durch das Labyrinth von Felsen und Trümmern auf den Stollen zu, der aus der Höhle herausführte. Auch diesmal bildete Kim den Abschluß, und wieder blieb er kurz stehen und blickte zum Dorf zurück.

Im Zentrum des Platzes war ein unbeschreibliches Durcheinander entstanden. Mehr und mehr Flußmänner hatten sich nun dem Riesen entgegengestellt, und Gorg schien nach dem Anprall von so vielen Angreifern zu Boden gegangen zu sein; Kim konnte ihn jedenfalls zwischen den wirbelnden Körpern nicht mehr erkennen. Besorgt fragte er sich, ob der Riese seine Kräfte diesmal nicht vielleicht überschätzt hatte.

Da packte der Prinz ihn an der Schulter und zog Kim grob mit sich. »Komm schon!« rief er. »Gorg wird nichts geschehen! Er kann auf sich aufpassen.«

Kim war da nicht ganz so sicher, aber Priwinn zog ihn einfach mit sich, bis sie den Stollen erreicht hatten, in dem die anderen warteten. Die Kinder hatten sich angstvoll hinter dem Eingang zusammengedrängt, und die Zwerge standen ein Stück abseits und bangten um ihren Kameraden, der bei Gorg war. Nur Jarrn redete mit leiser, unangenehmer Stimme auf das blasse Mädchen ein.

»Laß sie in Ruhe, Zwerg!« sagte Priwinn.

Aber Jarrn ließ nicht locker. »Sie muß mir sagen, wo unsere Brüder sind! Auch sie sind Gefangene der Flußleute!«

»Was würde das nützen?« antwortete Priwinn. »Wir können ihnen nicht beistehen, selbst wenn wir wollten.« In den Augen des Zwerges flammte es zornig auf. Anklagend deutete er auf die befreiten Kinder.

»Es ist unmöglich, Zwerg!« beharrte Priwinn und deutete hinter sich. »Gorg wird sie nicht allzulange ablenken können. Und wenn sie merken, daß ihre Gefangenen nicht mehr da sind, dann werden sie überall nach uns suchen.« Da trat Kim mit einem raschen Schritt dazwischen und sagte: »Jarrn hat recht.«

Der Steppenprinz blickte ihn ungläubig an. »Wie? Du willst ihm helfen? Hast du denn vergessen, daß es noch keine zwei Tage her ist, als er uns allensamt an den Kragen wollte?«

»Nein«, entgegnete Kim. »Aber Jarrn hat trotzdem recht. Er hat uns den Rückweg gezeigt. Deshalb müssen wir ihm helfen.«

Priwinn schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ich gehe mit ihnen«, beharrte Kim. »Allein - du brauchst nicht mitzukommen. Führe du die anderen hinaus und warte dann auf mich.«

Er wandte sich an Jarrn und sah in durchdringend an. »Nur du und ich«, sagte er. »Die anderen können gehen. Einverstanden?«

Jarrn musterte ihn eine Weile nachdenklich, dann nickte er. »Einverstanden«, sagte er. »Meine Brüder werden die anderen sicher nach oben begleiten.«

Zumindest in einem Punkt hatte sich Kim getäuscht: Es gelang Gorg, die Flußleute länger abzulenken als erwartet. Nachdem Priwinn mit den Kindern und den übrigen fünf Zwergen in dem Stollen verschwunden war, schlichen Jarrn und Kim den Weg zurück, den sie gekommen waren. Bald erreichten sie wieder die steinerne Galerie hoch über der Höhle. Aber das Bild hatte sich nunmehr verändert: Von der gemächlichen Ruhe, die am Ufer des unterirdischen Sees geherrscht hatte, war nichts mehr geblieben. Dutzende von Männern hasteten wild hin und her, und viele liefen auf die Stollen zu, die überall in die Höhlenwand mündeten. Kim hörte aufgeregte Schreie und Rufe, und vom jenseitigen Rand der Höhle näherte sich eine ganze Abteilung bewaffneter Flußleute im Laufschritt.

»Das sind verdammt viele«, flüsterte er. »Hoffentlich hat Gorg Glück.«

Jarrn knurrte nur etwas vor sich hin. Behutsam ließ er sich auf Hände und Knie herabsinken, kroch ein Stück weit auf die steinerne Galerie hinaus und spähte nach unten. Kim zögerte kurz, dann folgte er ihm auf die gleiche Weise. Bei der Aufregung, die im Augenblick unter ihnen in der großen Höhle herrschte, bestand kaum die Gefahr, daß sie entdeckt wurden.

»Dort hinten!« Jarrns dürrer Zeigefinger deutete auf ein torgroßes Loch in der Höhlenwand, hinter dem düsterroter Feuerschein flackerte. »Die Kleine hat gesagt, meine Brüder sind dort.«

Kims Blick glitt nachdenklich durch den Felsendom. Er korrigierte seine Schätzung, was die Anzahl der Flußleute anging, noch einmal nach oben. Unter ihnen mußten sich Weit über hundert Männer aufhalten. »Wie kommen wir dorthin?« flüsterte er.

Jarrn deutete auf eine Stelle an der Wand, gute hundert Meter von ihnen entfernt. »Es sieht aus, als könnte man hinunterklettern«, sagte er. »Aber das schaffe ich nicht. Du mußt mich tragen.«

Kim seufzte. Das hatte er befürchtet. Aber er sah ein, daß der andere recht hatte. Die Zwerge waren zwar Höhlenbewohner, und ihre Erfahrung war bisher allen zugute gekommen, aber die Wände hier waren einfach zu hoch für sie. Ein Wunder, daß sie sich nicht schon längst die Hälse oder zumindest einige Knochen gebrochen hatten.

Auf Händen und Knien kriechend, legten sie den Weg bis zu der Stelle zurück, die Jarrn entdeckt hatte. Tatsächlich war die Felswand hier nicht ganz so steil, zahllose Sprünge und Risse durchzogen sie, so daß es wahrscheinlich nicht besonders schwierig sein würde, hinunterzuklettern. Fürs erste, dachte Kim besorgt. Denn es gab an die hundert Gründe, die dagegen sprachen; hochgewachsene, breitschultrige Gründe mit Schwertern in Händen und grimmigen Ausdrücken auf den Gesichtern.

Kim ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die Höhle schweifen, raffte all seinen Mut zusammen und gab Jarrn mit einem Zeichen zu verstehen, daß er sich an ihm festhalten sollte. Die dürren Hände des Zwerges krallten sich in sein Hemd und seine Schultern, und Kim begann mit zusammengebissenen Zähnen den Abstieg. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen, obwohl einige der Flußleute auf ihrem Weg nur wenige Meter unter ihnen vorbeiliefen. Nach wenigen Augenblicken hatten sie wieder festen Boden erreicht und duckten sich keuchend hinter einen Felsbrocken.

»Das war nicht schlecht«, lobte Jarrn. »Zumindest für einen Bengel wie dich.«

Kim blickte ihn böse an. »Wenn wir hier heraus sind«, versprach er, »dann bring ich dir Manieren bei, kleiner Mann.« Jarrn streckte ihm die Zunge heraus, grinste und wurde übergangslos wieder ernst. »Und wie kommen wir dort hinüber, ohne entdeckt zu werden?« Er deutete auf den von rotem Licht erhellten Höhleneingang in der Seitenwand des Felsendomes.

Kims Blick blieb einen Moment daran haften und tastete dann wieder durch die Höhle. Obwohl die meisten Flußleute den Felsendom verlassen hatten, hielten sich noch genug von ihnen am Seeufer auf; entschieden zu viele für Kims Geschmack. »Die Frage ist vielmehr: Wie kommen wir nachher wieder heraus?« sagte er, »zusammen mit deinen Freunden. - Wie viele Zwerge sind denn gefangen?«

»Wie soll ich das wissen?« gab Jarrn unfreundlich zurück. »Vielleicht nur eine Handvoll, vielleicht gar Hunderte.«

Kim erschrak. »Hunderte? Wir können unmöglich Hunderte von Gefangenen befreien!«

»Ach nein?« Jarrn blitzte ihn böse an. »Aber Hunderte von deinen Leuten hätten wir schon befreien können, wie?« Plötzlich fuhr er erschrocken zusammen, und eine halbe Sekunde später gewahrte auch Kim hinter sich eine Bewegung und fuhr herum.

Doch es war kein Flußmann. Kim atmete auf. Vor dem grauen Fels zeichnete sich ein winziger, stacheliger Umriß ab, und kurz darauf ließ sich eine piepsende Stimme vernehmen: »Wenn ihr beide noch ein bißchen lauter streitet, dann könnt ihr genausogut auch aufstehen und den Flußleuten Hallo sagen. Man hört euch noch auf der anderen Seite des Gebirges.«

»Bröckchen!« rief Kim erleichtert. Dann runzelte er die Stirn. »Was tust du hier? Du solltest bei den anderen bleiben.«

»Keine Lust«, piepste Bröckchen und mit einem Blick in Jarrns Richtung fügte es hinzu: »Außerdem gefallen mir diese Zwerge nicht. Der da ist wenigstens allein, aber die anderen sind zu fünft.«

»Was ist mit Gorg?« fragte Kim hastig, ehe Jarrn auffahren konnte.

»Mach dir keine Sorgen um ihn. Er hat ein Dutzend Männer verdroschen und jetzt spielt er Fangen mit dem Rest.«

»Ich hoffe, er unterschätzt sie nicht«, meinte Kim ernst, aber Bröckchen machte eine Bewegung, die wohl Kopfschütteln sein sollte, und kicherte: »Kaum. Du solltest sehen, wie er sie durch die Gegend hetzt. Aber das heißt nicht, daß wir alle Zeit der Welt gepachtet haben. Habt ihr schon einen Plan?« Sein Blick wanderte von einem zum anderen, und dann seufzte es, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ach ja, ich sehe schon, ihr habt keinen. Warum frage ich überhaupt?«

»Wenn du so schlau bist«, schnappte Jarrn, »dann sag du uns doch, was wir tun sollen.«

»Pffff«, machte Bröckchen, richtete sich auf die Hinterpfoten auf und blinzelte aus seinen quellenden Augen zu der Höhle hinüber, in der die Zwerge gefangengehalten wurden. »Wartet hier«, sagte es. »Ich werde nachschauen, wie es dort aussieht.«

Lautlos und fast unsichtbar mit den Schatten verschmelzend, trippelte es aus dem Versteck hervor und huschte durch die Höhle, ohne daß es jemand sah. Und schon nach wenigen Augenblicken erreichte es das steinerne Rund und verschwand darin. Kim sah dem kleinen Freund besorgt nach. Erst nach einer geraumen Weile erschien Bröckchen wieder und huschte ebenso ungesehen wieder zu ihnen zurück.

»Nun?« fragte Jarrn ungeduldig.

»Deine Brüder sind da«, antwortete Bröckchen. »Zwei oder drei Dutzend, so genau konnte ich das nicht sehen.«

»Und wie viele Wächter?« erkundigte sich Kim.

»Keine. Nein, wirklich keine. Nur die Zwerge. Sie arbeiten wie die Besessenen.«

»Und niemand bewacht sie?« Kim konnte es nicht glauben. »Sie sind angekettet«, erklärte Bröckchen. »Selbst wenn sie wollten, könnten sie nicht fliehen.«

Kim sah sich unschlüssig um. Die Aufregung in der großen Höhle hatte sich ein wenig gelegt. Mehr als die Hälfte der Flußleute war verschwunden, und die zurückgebliebenen standen in kleinen Gruppen herum und diskutierten aufgeregt. Mit etwas Glück würden sie den Höhleneingang erreichen können, ohne gesehen zu werden.

»Also los«, murmelte Jarrn. »Früher oder später werden sie aufhören, diesen großen Tölpel zu jagen. Eine bessere Chance bekommen wir nicht mehr.«

Mit klopfendem Herzen trat Kim hinter seiner Deckung hervor und ging schnell, aber ohne zu rennen auf den Höhleneingang zu. Seine Kleidung unterschied sich nicht sehr von jener der Flußleute, und er war hochgewachsen für sein Alter. Auf einen flüchtigen Blick mochte er als einer der ihren durchgehen. Nur wenn er anfing zu laufen, dann würde er unweigerlich Aufmerksamkeit erregen.

Er starb fast vor Angst, ehe sie den Höhleneingang erreichten. Es kostete ihn große Kraft, nicht über die Schulter zu den Flußleuten zurückzublicken, die am Seeufer standen. Ein paarmal hörte er ein verdächtiges Geräusch oder sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln, die ihn davon zu überzeugen schien, daß ihr gewagtes Spiel nunmehr endgültig zu Ende war.

Doch sie hatten auch diesmal Glück. Völlig unbemerkt erreichten sie den angestrebten Höhleneingang und traten hindurch. Und wieder blieb Kim überrascht stehen und sah sich um.

Diese Höhle war sehr viel größer, als er vermutet hatte - regelrecht eine Halle mit niedriger Decke, die von zahllosen schwarzen Säulen aus Granit und erstarrter Lava getragen wurde. Dazwischen brannten unzählige flackernde Feuer, und wie Bröckchen gesagt hatte, standen an die drei Dutzend Zwerge an den Essen und Feuerstellen. Sie schmiedeten und hämmerten, was das Zeug hielt. Der Raum hallte wider vom Dröhnen der schweren Hämmer, Funken stoben auf, und die Hitze war fast unerträglich. Weißglühendes Eisen lief zischend in Formen aus Sand oder ließ Wasser verdampfen, wenn es zum Abkühlen hineingestoßen wurde. »Diese verdammten Hunde!« murmelte Jarrn. Seine Stimme zitterte. Und Kim konnte ihn verstehen, als er sich die Gefangenen etwas genauer besah.

Kein Zwerg, den er bisher zu Gesicht bekommen hatte, war besonders ansehnlich oder adrett gewesen oder hatte sonst einen anziehenden Eindruck gemacht. Aber das hier war eine Versammlung von Jammergestalten, es schien verwunderlich, daß sie überhaupt noch auf den Beinen standen und die schweren Schmiedehämmer schwingen konnten. Die meisten waren nackt bis auf einen schmuddeligen Lendenschurz und so ausgemergelt, daß sie wie Skelette wirkten, über die jemand zerschundene, schmutzstarrende Haut gezogen hatte. Ihre ausgezehrten kleinen Körper glänzten vor Schweiß. Um das rechte Fußgelenk jedes einzelnen schlang sich ein Ring aus schwarzem Eisen; eine lange Kette verband diese Ringe miteinander und verschwand irgendwo im Hintergrund der Halle in der Wand.

Kim riß sich mühsam zusammen und gab Jarrn einen Wink. »Schnell jetzt, ehe jemand kommt.«

Sie gingen rasch weiter. Bisher hatten sie unter dem Höhleneingang gestanden und waren von innen wohl höchstens als Schatten zu erkennen gewesen. Aber nun traten sie ins flackernde rote Licht der zahllosen Feuer hinein. Und als die Unglücklichen sie sahen, da ließen sie einer nach dem anderen ihre Werkzeuge sinken und starrten sie entgeistert an. Keiner von ihnen sprach ein Wort, und auf den Gesichtern, die Kim im Flackerlicht erkennen konnte, breitete sich eine Mischung aus Überraschung und Schrecken aus. Schließlich legte einer der Zwerge seinen Hammer aus der Hand und trat auf sie zu, soweit es die Kette an seinem Bein erlaubte. »Jarrn?« fragte er zweifelnd. »Bist du das?« Jarrn machte eine unwillige Handbewegung. »Keinen Laut jetzt«, sagte er. »Wo sind die Wachen?«

»Es gibt keine Wachen«, antwortete der Zwerg. »Die Flußleute kommen ab und zu, um neues Material zu bringen oder die Arbeit zu kontrollieren. Da ist nur der Aufseher, aber der schläft die meiste Zeit.«

»Gut«, sagte Jarrn. »Das macht die Sache leichter.« Er sah sich um, als suche er etwas Bestimmtes. »Wer hat den Schlüssel?«

»Der Aufseher«, antwortete der andere, während er mit einer Geste zur Rückwand der Schmiede wies. »Seine Kammer ist dort hinten.«

»Dann werden wir ihm mal einen kleinen Besuch abstatten«, beschied Jarrn entschlossen. »Ihr anderen arbeitet weiter, als wäre nichts geschehen. Die Piraten dürfen nicht merken, was vorgeht, sonst leiste ich euch gleich Gesellschaft.«

Er wollte schon losgehen, aber Kim hielt ihn an der Schulter zurück. »Was soll das?«

»Wir brauchen den Schlüssel für die Kette«, sagte Jarrn, während er seine Hand abstreifte.

»Aber wieso denn?« wunderte sich Kim. Er deutete auf die schweren Hämmer und Werkzeuge in den Händen der Zwerge. »Hier sind doch Werkzeuge genug, um sie aufzubrechen.«

Jarrn zog eine Grimasse und lachte verächtlich. »Was bist du nur für ein Narr«, sagte er. »Diese Kette stammt aus unseren Schmieden in den östlichen Bergen. Kein Werkzeug dieser Welt vermag sie zu zerbrechen.«

Sie durchquerten die Halle, während die Zwerge rings um sie herum wieder eifrig zu hämmern und schlagen anfingen. Ein kleines Stück neben dem Loch in der Wand, in dem die Kette verschwand, fanden sie eine Tür aus schweren, eisenbeschlagenen Bohlen. Kim öffnete sie behutsam einen Spaltbreit und lugte hindurch. Dahinter lag, von einem Becken voller glühender Kohlen nur schwach erhellt, eine kleine Kammer mit einem groben Schreibtisch samt dem dazu gehörigen Stuhl und einem niedrigen, strohgedeckten Bett. Auf dem Stroh lag eine zusammengerollte Gestalt und schnarchte laut: der Aufseher, von dem der Gefangene gesprochen hatte.

Unendlich vorsichtig öffnete Kim die Tür weiter, bedeutete Jarrn mit Gesten, leise zu sein, und schlich auf Zehenspitzen in den Raum hinein.

Gebannt sah er sich um. Die Kette endete direkt über dem Bett des Schlafenden, wo sie mit einem gewaltigen Vorhängeschloß an einem eisernen Ring befestigt war. Den dazu passenden, ebenso übergroßen Schlüssel trug der Wächter am Gürtel.

Kim näherte sich dem Lager, blieb mit klopfendem Herzen stehen und betrachtete eingehend das Gesicht des schlafenden Mannes.

Es war bärtig und breit und sehr grob, der Mund stand halb offen und zeigte, daß der Mann in tiefem Schlaf lag. Trotzdem zitterten Kims Hände, als er sie nach dem Gürtel des Mannes ausstreckte, um den Schlüssel davon zu lösen. Jarrn hielt ihn mit einer blitzschnellen Bewegung zurück. »Laß das!« flüsterte er. »Das kann ich besser.« Und das konnte er tatsächlich. Blitzschnell und behende wie ein Taschendieb löste er den Schlüssel vom Gürtel des Mannes, trat grinsend zurück und streckte die Arme nach dem Schloß aus. Er war zu klein, um es zu erreichen, und so schlang Kim die Arme um seine Hüften und hob ihn hoch. Ebenso lautlos wie der Zwerg den Schlüssel an sich genommen hatte, drehte er ihn nun im Schloß herum und öffnete es.

Aber damit hörte ihr Glück auf.

Das Schloß sprang mit einem Klirren auf, und die schwere Kette fiel so wuchtig auf den Leib des Aufsehers herab, daß diesem sogar die Luft für einen überraschten Schrei wegblieb. Kim und der Zwerg standen wie gelähmt da und starrten in die plötzlich aufgerissenen Augen des Aufsehers. Dann schleuderte der Mann die Kette beiseite und sprang in der gleichen Bewegung vom Bett hoch.

Kim machte einen entsetzten Hüpfer zurück, als der Aufseher nach ihm griff. Es gelang ihm, den zupressenden Händen auszuweichen, aber er verlor das Gleichgewicht, stolperte ein paar ungeschickte Schritte zurück und fiel schließlich rücklings über den Stuhl. Noch während er stürzte, sah Kim, wie Jarrn auf der Stelle herumfuhr und mit einem gewaltigen Satz aus der Tür verschwand.

Aber es blieb keine Zeit, über den Verrat des Zwerges auch nur eine Sekunde nachzudenken. Der Aufseher packte Kim an Kragen und Hosenbund und riß ihn grob in die Höhe. »Wer bist du?« schrie er Kim an. »Was tust du hier?« Es schienen keine Fragen der Art zu sein, auf die er eine Antwort erwartete, denn er schüttelte Kim bei diesen Worten so sehr, daß dieser gar nichts hätte sagen können, selbst wenn er gewollt hätte. Aber plötzlich hörte der Mann auf, Kim hin- und herzuwirbeln, und seine Augen weiteten sich. Einen Herzschlag lang starrte er ihm ins Gesicht, dann fuhr er wie elektrisiert herum und blickte den Ring und das offenstehende Vorhängeschloß an, als begriffe er erst jetzt wirklich, was geschehen war.

»Verrat!« brüllte er. »Die Gefangenen!«

Schon bewegte sich das Ende der Kette wie der Schwanz einer eisernen Schlange. Rasselnd glitt es vom Bett herunter und bewegte sich auf das Loch in der Wand zu. Der Aufseher schrie abermals zornig auf und stürzte darauf zu, ließ Kim dabei jedoch nicht los. Er verfehlte sein Ziel. Den Bruchteil einer Sekunde ehe er es erreichte, verschwand die Kette in der Wand, und aus der Schmiede draußen erscholl ein triumphierender Jubel.

»Verrat!« schrie der Wächter noch einmal. Wütend richtete er sich auf, starrte Kim an und hob die Hand, als wolle er ihn schlagen. Doch er führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern bog Kim nur grob den Arm auf den Rücken, so daß dieser vor Schmerz aufstöhnte und sich krümmte, und zog mit der anderen Hand ein Schwert aus dem Gürtel. Wenigstens versuchte er es. Denn plötzlich landete eine schwarze, zappelnde Gestalt in seinem Nacken, krallte sich mit einer Hand in seinem Gesicht fest und begann mit der anderen, darauf einzuschlagen, wobei sie mit schriller Stimme Flüche und Verwünschungen ausstieß.

Der Mann taumelte, prallte ungeschickt gegen den Tisch und versuchte, den Angreifer abzuschütteln, aber mit einemmal waren überall kleine, dürre Gestalten: gleich mehrere stürzten sich gleichzeitig auf den Aufseher und rangen ihn durch ihre bloße Überzahl zu Boden, obwohl sich dieser mit aller Kraft wehrte. Schon war er mit Fetzen aus seiner eigenen Kleidung gefesselt und geknebelt. Alles ging so schnell, daß ihm nicht einmal Zeit für einen letzten Schrei blieb.

Kim richtete sich taumelnd auf und rieb sich den schmerzenden Arm. »Danke«, murmelte er, als er jetzt Jarrn unter den Zwergen erkannte. »Das war knapp.«

»Du hättest dich eben nicht erwischen lassen sollen, Dummkopf«, antwortete Jarrn vorlaut wie immer.

Diesmal aber lächelte Kim. »Und ich habe schon gedacht, du würdest mich einfach zurücklassen.«

Jarrn schürzte die Lippen. »Damit er dich niederschlägt und anschließend den ganzen Berg zusammenbrüllt?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Und außerdem sind wir jetzt quitt«, brummte er eher zu sich selbst als an Kim gewandt. Kim zog es vor, nicht weiter über die Bedeutung dieser Worte nachzudenken, und wandte sich statt dessen zur Tür, um zum Ausgang der Schmiede zurückzukehren.

»Wo willst du hin?« rief ihm Jarrn nach.

Kim deutete zur anderen Seite der Halle. »Ich hatte nicht vor, hierzubleiben«, sagte er.

»Wir auch nicht, stell dir vor«, höhnte Jarrn. »Aber dort kommen wir nicht hinaus. Draußen wimmelt es von Flußleuten.«

»Ach ja?«, erwiderte Kim ärgerlich. »Sollen wir hier solange warten, bis es ihnen zu langweilig wird und sie heimgehen?«

Da streckte ihm Jarm die Zunge heraus, ließ ihn dann einfach stehen und wandte sich heftig gestikulierend an seine Brüder. »Die Hälfte von euch arbeitet weiter!« befahl er. »Macht ordentlich Lärm, damit sie denken, in der Schmiede wäre alles beim alten. Einer hält Wache. Die anderen kommen zu mir.«

Die Zwerge gehorchten, und zwar so widerspruchslos und rasch, daß Kim sich doch sehr wunderte. Er hatte es noch nicht erlebt, daß ein Zwerg etwas tat, ohne zu maulen oder eine gehässige Bemerkung anzubringen. Aber gut die Hälfte der zerlumpten Gestalten trat nun sogleich an die Feuer und begann, einen Lärm zu vollführen, daß der ganze Berg widerzuhallen schien. Die anderen drängten sich zu Kims Verblüffung in die kleine Kammer des Aufsehers hinein - und begannen mit Hämmern und Spitzhacken auf die Rückwand des Raumes einzuschlagen.

Kim staunte nicht schlecht, als er sah, mit welcher Geschwindigkeit sie sich in den Fels hineingruben. Obwohl keine der ausgemergelten Gestalten so aussah, als könne sie noch ohne Mühe einen Laib Brot heben, geschweige denn eines der schweren Werkzeuge schwingen, zerbröckelte der Granit unter ihren Hieben wie mürbes Holz. Binnen weniger Augenblicke entstand ein knapp meterhoher, kreisrunder Tunnel, in den die Zwerge mit Windeseile hineinhackten.

Jarrn amüsierte sich königlich, als er Kims fassungslosen Gesichtsausdruck sah. Aber er enthielt sich jeden Kommentars und brüllte statt dessen abwechselnd die Zwerge in der Schmiede und die im Tunnel an, um sie mit schriller Stimme anzutreiben.

Kim beobachtete fassungslos, wie der Tunnel in immer größerer Geschwindigkeit in den Berg hineinwuchs. Schon waren die Zwerge, die ihn vorantrieben, nicht mehr zu sehen, und ihr Hämmern und Schlagen klang immer gedämpfter, bis es schließlich zu einem kaum noch wahrnehmbaren Klopfen wurde. Da erscholl in der Schmiede ein erschrockener Aufschrei, und kaum eine Sekunde später stürzte ein Zwerg in die Kammer und stieß atemlos hervor: »Sie kommen! Die Flußleute haben etwas gemerkt!« Auch die anderen Zwerge stürmten nacheinander herein, mit Hämmern, Hacken und sogar Waffen ausgerüstet, die sie eben erst selbst geschmiedet hatten. Und ob Kim wollte oder nicht - er wurde einfach von der Flut kleiner, zerlumpter Gestalten mit in den Tunnel hineingerissen. Der Gang war so niedrig, daß er nicht einmal gebückt laufen, sondern nur auf Händen und Knien kriechen konnte. Und die Zwerge, die hinter ihm hereindrängten, schubsten und stießen ihn so sehr, so daß er mehr als einmal das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinstürzte, während die Nachkommenden einfach über ihn hinwegrannten. Schon hörte er ein wütendes Gebrüll am Ende des Stollens hinter sich. Und als Kim den Blick wandte, sah er einen breiten, schwarzen Schatten, der vergeblich versuchte, sich in den winzigen Gang hineinzuquetschen.

Da stießen seine tastenden Hände auf Widerstand. Vor Kim stand eine massive Felswand. Kims Herz begann mit einem erschrockenen Schlag noch schneller zu hämmern, ehe er begriff, daß er nicht das Ende des Tunnels, sondern nur eine rechtwinklige Abzweigung erreicht hatte, die die Zwerge, aus welchem Grund auch immer, geschaffen hatten. Keuchend quetschte er sich durch den schmalen Spalt, richtete sich wieder auf, soweit er konnte, und kroch ein Stück weiter.

Nicht einmal eine Sekunde später prallte etwas mit einem metallischen Klappern hinter ihm gegen den Fels und zerbrach. Und als Kim den Kopf wandte, erblickte er in dem bißchen Licht, das noch vom Tunnelende hereinfiel, die abgebrochene Spitze eines Pfeiles. Ein zorniger Ruf erscholl, dann erkannte Kim einen breitschultrigen Schatten, der sich hastig in den engen Tunnel hineinzuquetschen versuchte - allerdings mit dem Ergebnis, daß er nach einem knappen Meter hoffnungslos steckenblieb und jetzt weder vor noch zurück konnte. Jetzt war Kim sehr froh, daß die Tunnel der Zwerge so niedrig waren...

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