II

Kim war nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Glück war, daß sein Vater an diesem Abend ganz besonders spät von der Arbeit nach Hause kam. Zwar verblieb ihm auf diese Weise noch eine kleine Gnadenfrist bis zu dem zu erwartenden Krach, aber auch diese Zeit war nicht gerade angenehm.

Dabei erinnerte er sich kaum mehr an das, was später im Krankenhaus geschehen war. Der Pfleger, der ihn aus dem Zimmer gezerrt hatte, hatte ihn reichlich unsanft ins Büro des Chefarztes gestoßen, und das einzige, woran er sich wirklich besann, war seine Mutter, die irgendwann völlig außer Atem aufgetaucht war und sich mit energischen Worten Gehör verschaffte und ihren Sohn erst einmal in Schutz genommen hatte - allerdings mit einem Blick auf Kim, der kommendes Unheil versprach, und den ihr Sohn nur zu gut kannte. Aber selbst das hatte ihn kaum gestört. Seine Gedanken waren unentwegt um die Gürtelschnalle des namenlosen Jungen gekreist, und das, was sie bedeutete. Wenn alles andere noch Zufall gewesen sein mochte - das nicht mehr. Es gab keinen Zweifel, der Junge war ein Steppenreiter aus Caivallon, der großen Grasebene im Herzen Märchenmonds - eines Landes, das es nach den Begriffen der meisten Menschen, die Kim kannte, gar nicht gab, und dessen Bewohner hier in dieser Welt nicht leben konnten.

Später, als sich Kim ein wenig beruhigt und wieder zu sich selbst gefunden hatte, erinnerte er sich, daß die große Aufregung schließlich den Chefarzt selbst aufmerksam gemacht hatte - und das war ein Glück gewesen. Professor Halserburg kannte die Familie Larssen recht gut, schließlich behandelte er Rebekka seit geraumer Zeit. Und es war einzig und allein seiner Fürsprache (und der von Kims Mutter, die mit wahren Engelszungen redete) zu verdanken gewesen, daß die Krankenhausverwaltung am Ende darauf verzichtet hatte, die Polizei zu rufen.

Kim verstand die ganze Aufregung nicht - was hatte er schon getan, außer ein Zimmer zu betreten, in dem er eigentlich nichts zu suchen hatte, und sich die Kleidung eines Jungen anzusehen?

Die Angestellten des Krankenhauses schienen das aber anders zu sehen. Ihre Gesichter standen auf Sturm, als es Kims Mutter endlich gelungen war, den Professor soweit zu beruhigen, daß er sie gehen ließ. Vor allem die Schwester mit der Brille, die ihm am Empfang die Auskunft gegeben hatte, blickte Kim voller unverhohlenem Zorn nach.

Zumindest ein Problem war gelöst gewesen, als sie endlich das Gelände der Universitätsklinik verließen - der Verkehrsstau hatte sich gelegt. Am Straßenrand stand ein offener roter Sportwagen mit zerknautschter Kühlerhaube und ein Stück entfernt ein Streifenwagen der Polizei mit laufendem Blaulicht, aber ausgeschalteter Sirene. Hier und da standen noch Passanten in kleinen Gruppen herum und diskutierten; meistens sehr aufgeregt. Kim verstand nur Wortfetzen. Aber aus dem wenigen, was er auffing, schloß er, daß noch irgend etwas passiert sein mußte, seit er ins Krankenhaus gelaufen war.

Doch auch das hatte ihn nicht die Bohne interessiert. Es war jetzt fast so geworden, wie Tante Birgit zuvor den fremden Jungen beschrieben hatte - als träume er. Kirns Gedanken kreisten wild, und er stellte sich immer und immer wieder die eine Frage: Was war in Märchenmondgeschehen? Was ging dort vor, daß er Themistokles' Gesicht im Spiegel sah und ein Steppenreiter aus Caivallon hier auftauchte? Während Tante Birgit den Wagen über die wie üblich verstopfte Rheinbrücke nach Hause gelenkt hatte, versuchte Kims Mutter, ein Gespräch zu beginnen - natürlich wollte sie wissen, was um alles in der Welt in ihn gefahren war. Was hatte sein seltsames Benehmen zu bedeuten? Und, und, und ...

Kim beantwortete keine ihrer Fragen. Was hätte er auch sagen sollen? Daß er einen Zauberer gesehen hatte und einen Jungen aus einer Welt, die nur in seinen Träumen existierte, wo er, Kim, auf dem Rücken eines Drachen geflogen war und gewaltige Schlachten geschlagen hatte? Lächerlich. Wenn er das erzählte, dann würde er sich schneller im Krankenhaus wiederfinden, als ihm lieb war - und zwar in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie.

Kims Blick hatte ein paarmal Rebekkas Gesicht gestreift, während er tapfer versuchte, so zu tun, als wäre er mit plötzlicher Taubheit geschlagen und könnte die Worte seiner Mutter gar nicht hören. Rebekka aber war seinem Blick ausgewichen. Von allen Menschen auf der Welt war sie die einzige, mit der er über sein Erlebnis sprechen konnte; schließlich waren sie damals zusammen in Märchenmond gewesen. Aber Becky war noch klein, und trotz ihres gemeinsam überstandenen Abenteuers war ihr Verhältnis zueinander so, wie es nun einmal meistens ist: nur allzu oft wie Hund und Katz. Davon ganz abgesehen - selbst wenn er mit Becky über Themistokles und den jungen Steppenreiter hätte reden wollen, wäre das im Auto unmöglich gewesen, unter den Augen (und vor allem Ohren!) seiner Mutter und seiner Tante! Er mußte warten, bis sie heimkamen und ungestört waren.

Daheim waren sie dann ziemlich rasch. Aber ungestört waren sie weniger.

Kim war der erste gewesen, der ausgestiegen war, kaum daß Tante Birgit den Wagen vor der Einfahrt geparkt hatte. Eilig hatte er die Tür aufgeschlossen und wollte sofort nach oben in sein Zimmer gehen. Aber seine Mutter hatte ihn mit scharfer Stimme zurückgerufen und auf den großen Eßzimmertisch gedeutet: der Ort, an dem traditionsgemäß im Hause Larssen alle Probleme besprochen, alle Konflikte geklärt und, falls notwendig, auch Urteilssprüche gefällt wurden. Kim hatte das sichere Gefühl, daß es heute eindeutig um ein Urteil gehen würde ...

Aber er hatte nicht widersprochen, sondern sich klaglos und mit steinernem Gesicht auf einen Stuhl sinken lassen. Hier saß er nun und harrte der Dinge, die da kamen. Nur einen kleinen Moment lang versuchte er, sich eine Ausrede für sein Verhalten zurechtzulegen, gab dieses Unterfangen aber gleich wieder auf. Was immer er sagen konnte, hätte zumindest genauso lächerlich geklungen wie die Wahrheit. Das zu erwartende Standgericht ließ noch eine Weile auf sich warten. Seine Mutter brachte Rebekka nach oben in ihr Zimmer, während sich Tante Birgit in die Küche verkrümelte und Kaffee aufsetzte. Dann und wann rauschte sie durch den Raum und warf ihrem Neffen unheilvolle Blicke zu. Der saß wie ein armer Sünder auf der Anklagebank und spielte nervös mit den Fingern. Schließlich kam Kims Mutter zurück und setzte sich. Tante Birgit klapperte mit einem Tablett herbei, darauf standen zwei Tassen Kaffee, eine Zuckerschale und ein Glas heißer Milch mit Honig (igitt!). Obwohl sich Kim allein beim Anblick schon der Magen herumdrehte, griff er nach dem Glas Milch und nahm einen Riesenschluck; nicht weil er etwa Durst hatte, sondern nur, um gutes Wetter bei seiner Tante zu machen, die eine Gesundheitsfanatikerin war - einen Fehler hatte eben jeder.

»Also?« begann seine Mutter das Gespräch.

»Also - was?« Kim stellte sich dumm, was ihm - zumindest, wenn man seiner Schwester Glauben schenkte - sowieso nicht sehr schwer fiel.

Der Gesichtsausdruck seiner Mutter verfinsterte sich. »Du weißt ganz genau, was ich meine«, sagte sie. »Was war los? Wieso bist du in dieses Zimmer eingebrochen?«

»Ich bin nicht eingebrochen«, verteidigte sich Kim empört. »Ich -«

»Schon gut«, unterbrach ihn seine Mutter. »Die Frau von der Krankenhausverwaltung hat jedenfalls genau dieses Wort benutzt.«

Kim blickte seine Mutter verblüfft an. Die Krankenschwester mit der Brille? Er hatte gar nicht mitbekommen, daß sie so starke Ausdrücke gebraucht hatte. Rein gar nichts hatte er mitbekommen, denn er war in Gedanken weit fort gewesen. Eine ganze Welt weit fort, um genau zu sein. »Wir wollen dir doch nichts«, fuhr seine Mutter fort. »Im Gegenteil - ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß du so etwas nicht grundlos machst. Schließlich bist du kein kleines Kind mehr, sondern schon halb erwachsen.«

»Und dieser Grund würde uns eben interessieren«, fügte seine Tante hinzu. Sie nippte an ihrem Kaffee. »Wenn deine Mutter den Professor nicht so gut gekannt hätte, dann hättet ihr jetzt jede Menge Ärger am Hals, ist dir das klar?« Kim nickte, während er Mühe hatte, ein hysterisches Auflachen zu unterdrücken. Jede Menge Ärger? Seine bedauernswerte Tante hatte ja keine Ahnung, wieviel Ärger er wahrscheinlich schon hatte.

»Was wolltest du von diesem Jungen?« bohrte Mutter weiter. »Der Pfleger, der dich überrascht hat, behauptet steif und fest, du hättest versucht, seine Sachen zu stehlen.«

»Blödsinn«, entfuhr es Kim.

Mutter nickte. »Genau das habe ich auch gesagt. Und der Professor hat mir geglaubt - Gott sei Dank. Wenn nicht, säßen wir jetzt vielleicht auf einer Polizeiwache. Trotzdem bleibt der Krankenpfleger dabei, daß du die Sachen in der Hand hattest, als er hereinkam. Stimmt das?«

Kim nickte widerstrebend. Außer dem Pfleger hatten ihn ungefähr ein halbes Dutzend anderer Leute mit dem Gürtel des Jungen in der Hand überrascht. Es hatte sehr wenig Sinn, das abzustreiten.

»Und warum?«

»Ich wollte sie mir ... ansehen«, sagte Kim ausweichend. »Ja, aber weshalb denn?«

»Ich ... weiß es nicht«, murmelte Kim. »Sie sahen so komisch aus. Und ich dachte, ich ... ich würde den Jungen kennen.«

Zwischen Tante Birgits Augenbrauen entstand eine steile, tief eingegrabene Falte, und auch seine Mutter sah ihn mit neu erwachendem Mißtrauen an. »Woher?«

»Gar nicht«, antwortete Kim hastig. »Ich habe mich getäuscht. Ich dachte eben, ich kenne ihn.«

»Und das fällt dir ein, zehn Minuten nachdem du ihn gesehen hast?« fragte seine Tante. »So plötzlich, daß du einfach aufspringst und wie von Hunden gehetzt losrast?« Sie wiegte den Kopf.

Nein, die einzige Ausrede, die Kim eingefallen war, konnte niemanden hier überzeugen.

»Also?« versuchte es seine Mutter noch einmal.

Diesmal blieb Kim sturnm, und nach einer Weile schien auch seine Mutter einzusehen, daß sie zumindest im Moment nicht weiterkommen würde, denn sie schüttelte mit einem tiefen Seufzer den Kopf, trank einen Schluck Kaffee und sagte mit einer entsprechenden Handbewegung: »Gut, lassen wir das für den Moment. Wir sind alle nervös. Geh auf dein Zimmer und warte dort. Vielleicht erzählst du deinem Vater mehr.«

So schnell, wie er gerade noch konnte, ohne zu rennen, ging Kim die Treppe hinauf, warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen. Sein Herz begann wieder zu hämmern. Es war, als spürte er den wirklichen Schrecken erst jetzt, als er endlich allein war. Statt sich zu beruhigen, begannen seine Hände wieder zu zittern, und er sah immer wieder das bleiche Gesicht des Jungen vor sich - und die goldfarbene Gürtelschnalle mit dem Wappen von Caivallon. Außerdem hatte der Krankenpfleger einen Dolch in der Hand gehabt, als er das Krankenzimmer verließ. Zweifellos die Waffe des Jungen. Dolch, Schwert und Bogen waren die traditionellen Waffen der Steppenreiter in Märchenmond.

Aber das ist unmöglich! versuchte Kim ein letztes Mal, der Stimme seiner Vernunft Gehör zu verleihen. Wenn dieser Junge hier war, dann bedeutete das, daß ... irgend etwas Unvorstellbares geschehen war.

Dann fiel ihm das Gesicht wieder ein, das er in der Scheibe gesehen hatte.

Kim war jetzt völlig sicher, daß es keine Einbildung gewesen war. Der Mann, den er gesehen hatte, war Themistokles gewesen, der Zauberer von Märchenmond. Sein Gesicht war nicht gütig gewesen, voller uraltem Wissen und Sanftheit wie sonst, sondern eine Maske des Entsetzens, das Antlitz eines Menschen, der etwas Schlimmeres gesehen hatte als den Tod. Ungleich Schlimmeres.

Etwas drückte gegen sein rechtes Bein. Kim runzelte die Stirn, griff in die Hosentasche und riß verblüfft die Augen auf, als er sah, was er da aus der Tasche zog.

Es war ein winziges rundes Stück Holz mit drei Löchern, kaum größer als Nadelstiche - die Flöte, die er unter den Habseligkeiten des Jungen gefunden hatte. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, sie eingesteckt zu haben - offensichtlich hatte er sie ganz instinktiv in der Tasche verschwinden lassen, als der Pfleger hereingestürmt war. Ein eiskalter Schauer überlief ihn. Unvorstellbar, wenn der Mann ihn durchsucht und die Flöte gefunden hätte! Kein Mensch hätte ihm dann noch geglaubt, daß er nicht in das Krankenzimmer gekommen war, um etwas zu stehlen! Schuldbewußt ließ Kim die Flöte wieder in der Tasche verschwinden, löste sich von seinem Platz, schloß die Tür ab, ging zum Bett und ließ sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen darauffallen. Ohne, daß er sich dagegen wehren konnte, kehrten seine Gedanken zurück in das Land der Träume.

Märchenmond ...

Es war so lange her, auch wenn es ihm manchmal vorkam, als wäre es erst gestern gewesen. Er hatte sich damit abgefunden, daß er wohl nie mehr in das Reich der Phantasie würde zurückkehren können. Natürlich war in ihm stets ein winziger, unwahrscheinlicher Hoffnungsschimmer gewesen, noch einmal den Weg dorthin zu finden, und oft hatte er davon geträumt. Aber im Grunde hatte er gewußt, daß das unmöglich war.

Jetzt schien es, als gäbe es einen Weg, nicht unbedingt für ihn, sondern umgekehrt für die Bewohner jener Welt hierher. Aus irgendeinem Grund hatte der junge Steppenreiter den Schritt in die Welt der Menschen getan, aber es schien, als hätte er einen furchtbaren Preis dafür bezahlt. Und aus dem gleichen Grund - den Kim nicht einmal zu erahnen vermochte, doch er war sicher, daß er schrecklich war - hatte Themistokles versucht, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Warum? Um ihn zu warnen?

Oder um ... seine Hilfe zu erbitten?

Themistokles war schon einmal hiergewesen, um Kim zu Hilfe zu rufen, auch wenn sich später herausgestellt hatte, daß es eher die Bewohner von Märchenmond waren, die Kim halfen, als umgekehrt. Auch damals war es Themistokles nicht leichtgefallen, Kim zu rufen, aber er hatte es geschafft mit seinen Zauberkräften, und er hatte Kim den Weg hinüber über die Schattenberge gewiesen, wo er - Der Gedanke elektrisierte Kim regelrecht.

Mit einem Satz sprang er vom Bett hoch und durchquerte das Zimmer. Seine Knie bebten vor Aufregung, als er vor dem kleinen Regal stehenblieb, auf dem er seine Science Fiction- und Fantasy-Schmöker sowie seine Modellsammlung untergebracht hatte. Säuberlich aufgereiht vor den zerlesenen Taschenbüchern standen das Modell einer fliegenden Untertasse (von Kim selbst aus zwei echten Untertassen, über deren Verbleib seine Mutter heute noch rätselte, zusammengebastelt), ein fünfzehn Zentimeter großer, goldener Drache aus Zinn, zwei Perry-Rhodan-Flugpanzer - und die Viper. Kims Hände zitterten so heftig, daß er das Modell fast fallen gelassen hätte, als er den Viper-Jäger von seiner durchsichtigen Plastikhalterung hob.

Das dreißig Zentimeter große, pfeilflügelige Modell war viel mehr als ein Spielzeug. Die Viper war das Schiff, in dem er in seiner Phantasie so oft gegen die Cylonen und die Maahks und Cantaro gekämpft hatte; in dem er in seinen Träumen die Tiefen der Galaxis erforscht und waghalsige Rettungsunternehmen von den Oberflächen sturmgepeitschter Höllenplaneten durchgeführt hatte.

Und es war das Schiff, das ihn nach Märchenmond gebracht hatte.

Lange Zeit stand Kim einfach da und blickte das Modellraumschiff an. Und während er das tat, reifte ein Entschluß in ihm. Er wußte, daß es völlig verrückt und praktisch aussichtslos war - aber er hatte keine Wahl. Themistokles und vielleicht ganz Märchenmond waren in Gefahr, das wußte er jetzt, und sie brauchten Hilfe. Kim war vielleicht der einzige Mensch auf dieser Welt, der ihnen helfen konnte. Er überzeugte sich davon, daß seine Zimmertür auch sicher verschlossen war, trug das Modell zum Bett zurück und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Decke. Seine Augen wurden schmal, und nach und nach erschienen feine Schweißperlen auf seiner Stirn, während er all seine Gedanken auf diesen einen Wunsch konzentrierte: wieder im Cockpit der Viper zu sitzen und noch einmal den Weg nach Märchenmond zu finden. Er konnte es. Er hatte es schon einmal getan, und es würde ihm wieder gelingen, wenn er es nur wirklich wollte.

Und während er so dasaß, schien es im Zimmer dunkler zu werden. Kim merkte es nicht einmal; es war, als schrumpfe die Welt auf einen winzigen hellen Fleck im Zentrum eines gewaltigen Meeres aus Dunkelheit, in dem es nur noch ihn und die Viper gab, und schließlich nur noch die Viper. Und dann war es ihm, als begänne das Raumschiff langsam zu wachsen ...

Es war dunkel rings um ihn herum, als Kim erwachte. Einzig ein umheimlicher, grünlicher Schimmer spendete etwas Licht. Wie ein düsterer Zauber hing er in der Luft und veränderte die Umrisse der Dinge auf eine sehr unangenehme, aber mit Worten kaum zu beschreibende Art. Etwas stach schmerzhaft durch Kims Hemd und bohrte sich tief in seine Brust. Sein Nacken und die Schultern taten so weh, daß Kim es im ersten Moment nicht einmal wagte, sich zu bewegen. Er hatte es geschafft! Das war sein erster Gedanke. Er war wieder da! Es war genau wie damals; zwar konnte sich Kim an den Flug diesmal nicht erinnern, aber er schien genau wie beim erstenmal mit der Viper über einem unwegsamen Teil des Landes abgestürzt zu sein, denn der weiche Boden unter ihm mußte der Sumpf jenseits des Schattengebirges sein. Und es war die Dunkelheit, die stets hier in diesen finsteren Wäldern herrschte, nur durchbrochen vom grünen und blauen Leuchten kalt verbrennenden Sumpfgases. Was Kim so schmerzhaft in die Brust stach, das waren zweifellos die Trümmer der Viper, die ihn auch diesmal wieder getreulich hierher gebracht hatte, ehe ihre Technik versagte - in einem Land, in dem Technik sowenig funktionierte wie Magie in der täglichen Welt.

Mit zusammengebissenen Zähnen, den Schmerz in Nacken und Schultern tapfer verbeißend, stemmte sich Kim in die Höhe, preßte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sah sich um, jeden Moment darauf gefaßt, die gigantische Gestalt eines schwarzen Ritters aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen. Diesmal war er vorbereitet. Er würde nicht noch einmal auf Baron Karts Tricks hereinfallen, oder auf Boraas' Lügen.

Doch aus der Dunkelheit tauchte weder ein schwarzer Ritter noch der finstere Boraas auf, und im Moment hatte Kim nichts anderes zu tun, als einfach dazusitzen und sich unbeschreiblich dämlich vorzukommen.

Die Umrisse der Bäume rings um ihn herum waren nichts anderes als seine Möbel, so wie die Dunkelheit des Schattenwaldes die seines eigenen Zimmers war. Statt auf sumpfigem Boden lag Kim auf dem Bett, und sein Nacken schmerzte, weil er in einer unmöglichen Haltung eingeschlafen war. Er mußte lange dagelegen sein, wie die Dunkelheit vor den Fenstern bewies. Und was das unheimliche Zauberlicht anging, so stammte es vom Monitor seines Home-Computers, der eingeschaltet war und die übliche grüne Leuchtschrift zeigte. Nur in einem Punkt hatte Kim recht gehabt: Das Stechen in seiner Brust kam tatsächlich von den Trümmern der Viper. Er war im Schlaf nach vorne gesunken und hatte das Plastikmodell mit seinem Körpergewicht zermalmt.

Lange saß Kim einfach da und starrte das an, was von dem kunstvoll zusammengebauten Modell übriggeblieben war - ein Haufen scharfkantiger Kunststoffteile, von denen der Lack abzuplatzen begann. Das Modell war nicht einfach nur zerbrochen - es war völlig zerstört, als wäre ein Riese darüber hinweggestampft und hätte mit dem Absatz darauf herumgetrampelt, damit auch ja kein Stück mehr ganz bliebe. Kims Augen füllten sich mit Tränen. Die Viper hatte ihn einst in jene fremde Welt gebracht, ihr Verlust schmerzte ihn wie der eines guten Freundes. Zitternd nahm er zwei der wenigen größeren Bruchstücke in die Hand und versuchte, sie im schwachen Schein des Computerbildschirmes zusammenzusetzen - was natürlich völlig unmöglich war. Neben den drei oder vier größeren Trümmern war das Modell in unzählige kleine Splitter zerborsten, die noch dazu in sich verbogen und verzogen waren. Selbst wenn Kim dazu in der Lage gewesen wäre (was er nicht war) - er würde Wochen, wenn nicht Monate brauchen, um aus diesem Chaos wieder etwas zu machen, was der ursprünglichen Viper auch nur ähnelte. Nach einer Weile stand er auf, zog die Nase hoch und fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht, um die Tränen fortzuwischen. Fast behutsam sammelte er die Plastikreste ein, trug sie zum Papierkorb - und trat dann wieder zurück. Nein - er brachte es einfach nicht fertig, das Wrack in den Müll zu werfen. Statt dessen legte er das, was von dem Modell übrig war, sorgsam auf seinen Schreibtisch und ging noch einmal zum Bett zurück, um auch die letzten Fitzelchen einzusammeln.

Das war schwierig, denn das Zimmer war fast vollständig dunkel, und der bleiche Schein des Monitors reichte allenfalls, Umrisse und Schemen zu erkennen. Deshalb ging Kim zurück zur Tür, streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus - und zögerte erneut.

Sein Blick glitt über den Schreibtisch und blieb auf dem Monitor des Commodore-Computers hängen. Seltsam - er konnte sich gar nicht erinnern, ihn eingeschaltet zu haben. Ja, er war jetzt fast sicher, es nicht getan zu haben. Sonderbar. Höchst sonderbar. Und ein bißchen beunruhigend. Kim dachte eine Weile angestrengt nach, verwarf dann aber den Gedanken, der ihm gekommen war. Ganz egal, was für Purzelbäume die Wirklichkeit heute zu schlagen schien - mit Märchenmond und dem Zauberer Themistokles hatte das unheimliche Verhalten seines Computers ganz bestimmt nichts zu tun. Im Land der Träume funktionierte nicht einmal ein Feuerzeug - geschweige denn ein Computer. Er betrachtete die flirnrnernde grüne Leuchtschrift auf dem Bildschirm noch ein paar Sekunden. Woran erinnerte ihn dieses Bild? Dann zuckte er mit den Schultern, schaltete das Gerät aus und machte Licht im Zimmer. Die weiße, schattenlose Neonhelligkeit vertrieb die dumpfe Furcht, die sich in Kims Seele eingenistet hatte. Er sah auf die Uhr - es war nach sieben. Sein Vater war wohl schon längst von der Arbeit zurück, und Kim wunderte sich, daß es nicht schon an der Tür geklopft hatte - als Auftakt zu dem Donnerwetter, das sein alter Herr machen würde, wenn er erfuhr, was sein Sohn in der Klinik getrieben hatte. Nachdenklich schaltete Kim das Licht wieder aus, öffnete die Tür und trat auf den Korridor hinaus.

Es war sehr still im Haus. Ganz leise hörte er die Stimmen seiner Eltern, die sich im Wohnzimmer unterhielten, untermalt vom Gebrabbel des Fernsehers. Sein Vater war also tatsächlich schon zu Hause.

Kim wappnete sich innerlich für die Auseinandersetzung, die ihm bevorstand. Er atmete tief und entschlossen ein, drehte sich dann aber auf dem Absatz herum, noch bevor er den ersten Schritt getan hatte.

Statt nach unten ins Wohnzimmer ging er den Flur weiter hinauf und blieb vor Rebekkas Zimmer stehen. Vielleicht konnte er noch vorher ungestört mit ihr sprechen. Er lauschte. Aus dem Zimmer drang nicht das kleinste Geräusch, aber das besagte nichts - seit die Kinder eigene Radios und Cassettenrecorder besaßen, hatte Vater eingesehen, daß sich der Einbau schalldichter Türen sehr positiv auf den Familienfrieden auswirkte.

Kim klopfte.

Keine Antwort.

Er klopfte abermals und etwas heftiger, wobei er gleichzeitig mit angehaltenem Atem ins Erdgeschoß hinunter lauschte, ob er damit nicht etwa seine Eltern alarmierte, bekam wieder keine Antwort und drückte schließlich behutsam die Klinke herunter.

Die Tür war nicht abgeschlossen - und Rebekka war nicht da. Auf dem aufgeschlagenen Bett saß nur Kelhim, der einäugige, zerrupfte Teddybär. Was seltsam war, denn Rebekka machte kaum einen Schritt ohne den Teddy; ja, sie nahm ihn manchmal sogar mit in die Badewanne. Wie in Kims Zimmer war es auch hier beinahe vollständig dunkel. Statt vom Bildschirm eines Computers kam das einzige Licht von der Beleuchtung in dem großen Terrarium, das auf einem niederen Schrank neben dem Fenster thronte; der unheimliche, blauweiße Schein verlieh den Dingen ein ebenso unwirkliches Aussehen wie vorhin das Computerlicht in Kims Zimmer.

Kim blieb einen Moment enttäuscht unter der Tür stehen und wandte sich dann dem Terrarium zu. Rebekka hatte das Ding samt seiner beiden kaltblütigen Bewohner - zwei nur handgroße rotgrüne Zwergen-Leguane - vergangenes Jahr zu Weihnachten bekommen, während sich Kim für den Computer entschieden hatte. Becky ließ keine Gelegenheit verstreichen, ihm zu versichern, wie blöde sie seinen Computer fand, und Kim hielt umgekehrt nicht mit seiner Ansicht hinterm Berg, für wie langweilig er die beiden Mini-Echsen hielt.

Aber jetzt faszinierte ihn plötzlich irgend etwas daran. Es war, als zöge das von kaltem bläulichem Licht erfüllte Glasbecken seinen Blick magisch an.

Er trat näher heran und ließ sich in die Hocke sinken. Eines der beiden Tiere (war es Rosi oder Rosa? Er hatte nie begriffen, wie seine Schwester die beiden Salamander auseinanderhielt - für ihn sahen sie absolut gleich aus) hatte sich wie üblich unter einem Stück Rinde verkrochen, so daß nur die Schwanzspitze zu sehen war. Das andere Tier war halb auf den kleinen Plastikbaum geklettert, der die rechte Hälfte des Terrariums einnahm.

Kim blinzelte verblüfft. Das Tier hing wirklich in einer komischen Haltung da. Es war ein Stück den Baum hinaufgeklettert, hatte sich aber gleichzeitig halb um den Stamm herumgewickelt und klammerte sich mit seinen winzigen Krallen an der Kunststoffoberfläche fest. Es sah fast aus wie eine Schlange, die sich um einen Stab gewunden hatte, mit halb geöffnetem Maul und starren, glitzernden Augen, die ihn durchdringend anzustarren schienen. Kim bezweifelte, daß das Tier begriff, was es da auf der anderen Seite der Glasscheibe sah; falls es ihn überhaupt sah. Trotzdem fröstelte ihn bei dem Anblick. Rasch stand er auf, verließ das Zimmer und ging ins Erdgeschoß hinunter.

Die Eltern saßen im Wohnzimmer und sprachen miteinander. Als Kim eintrat, unterbrachen sie ihr Gespräch. Vater blickte ihn einen Moment lang mit undeutbarem Ausdruck an, dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf einen freien Platz auf der Couch, und Kim setzte sich gehorsam. Sein Blick streifte den Femseher. Der Ton war fast ausgeschaltet, aber auf der großen Mattscheibe flimmerten die Bilder eines Science-fiction-Films: Gewaltige Raumschiffe rasten im Tiefflug über die Oberfläche eines öden, verbrannten Planeten, auf dem sich Männer und Frauen in zerfetzten Kleidern verzweifelt gegen die Angriffe eines riesigen Roboterheeres verteidigten. Der Film war nicht besonders gut gemacht, die Tricks waren mies. Kim hatte einen geübten Blick für so etwas. Trotzdem staunte er. Science-fiction- und Fantasy-Geschichten waren seine große Leidenschaft. Er hätte gewußt, wenn ein solcher Film angekündigt gewesen wäre. Seine Angewohnheit, immer als erster die Fernsehzeitschrift danach zu durchsuchen, hatte schon mehr als einmal zum Krach mit seinen Eltern geführt - vor allem, wenn er vergaß, die Zeitschrift zurückzugeben, oder erst, nachdem er alles, was ihn interessierte, herausgeschnitten hatte.

Sein Vater räusperte sich jetzt übertrieben, und Kim fuhr ein wenig schuldbewußt zusammen. Er riß seinen Blick von der Mattscheibe los. Aber nicht ganz. Aus dem Augenwinkel verfolgte er weiter die Handlung, die wirklich nicht besonders intelligent war - aber irgendwie spannend war sie doch, wie es schien.

»Wenn du deine Aufmerksamkeit gütigerweise vielleicht mir zuwenden würdest, wäre ich dir sehr dankbar, mein Sohn«, begann sein Vater.

Kim seufzte innerlich. Wenn Vater diesen Ton anschlug, dann war es wirklich ernst. Kim tat wenigstens so, als interessiere ihn die Handlung des Fernsehfilms nicht.

»Ja?« fragte er verlegen.

Der Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters wandelte sich von Sturm zu Orkan. »Spiel bitte nicht den Dummkopf, Junge«, sagte er streng. »Du weißt ganz genau, was ich von dir wissen will. Ich hätte dich schon vor einer Stunde gerufen, aber deine Mutter wollte nicht, daß ich dich wecke.«

Er legte eine Pause ein, um seine Worte besser wirken zu lassen, und Kim blinzelte rasch und - wie er hoffte - unauffällig zum Fernseher hinüber. Auf der Mattscheibe war jetzt die Großaufnahme eines der Roboter zu sehen. Das Ding war so primitiv gemacht, daß sich Kim einbildete, es selbst besser machen zu können. Das Gesicht war kein Maschinengesicht, sondern ähnelte einer jener furchteinflößenden Masken, wie sie Eishockey-Torwarte zu tragen pflegten. Nur ein Detail war wirklich gut: Hinter dem schmalen Schlitz im oberen Drittel der Maske waren keine Augen zu sehen, sondern eine flimmernde grüne Leuchtschrift. Der Anblick war sehr beunruhigend, denn obwohl Kim nicht wußte, weshalb, hatte er wieder das bestimmte Gefühl, daß ihn dieses Bild an etwas erinnerte. Etwas nicht sehr Angenehmes. »Also - was war heute nachmittag los?« fragte Vater, als er endlich begriff, daß er keine Antwort auf sein Schweigen bekommen würde.

»Ich weiß es nicht«, gestand Kim. »Ich hatte das Gefühl, diesen Jungen zu kennen. Ich ... ich mußte einfach hin, verstehst du?«

»Nein«, antwortete Vater. »Das verstehe ich nicht. Wieso mußtest du dorthin - wie ein Verrückter und ohne deiner Mutter auch nur ein Wort zu sagen?«

»Nun, ich...«

Das Läuten der Türglocke bewahrte Kim davor, eine weitere Ausrede stammeln zu müssen, die den Ärger seines Vaters wahrscheinlich noch geschürt hätte. Die Eltern tauschten einen überraschten Blick, der klarmachte, daß sie nicht mit Besuch gerechnet hatten. Dann zuckte Vater mit den Schultern, stand auf und ging mit raschen Schritten aus dem Zimmer.

Kim blickte ihm verwirrt nach, nutzte aber dann die Gelegenheit, dem Fernsehfilm weiter zu folgen. Die Roboter hatten inzwischen die menschlichen Verteidiger überrannt und setzten zum letzten Sturm auf deren Festung an: einen gewaltigen Turm aus blauem, vielfach unterteiltem Kristall, in den ihre Laserwaffen mehr und mehr häßliche Löcher hineinschmolzen.

Vater kam zurück, und nicht allein. In seiner Begleitung befanden sich ein Polizeibeamter in grüner Uniform - ein vielleicht fünfzigjähriger, grauhaariger Mann, dem man den Kriminalbeamten so deutlich ansah, als wäre sein Beruf in roten Lettern auf seine Stirn tätowiert - und der Professor aus dem Krankenhaus.

Kim starrte besonders den Arzt völlig verdattert - und mit einem geradezu explodierenden Gefühl des Unbehagens - an, ehe sein Vater mit einem übertriebenen Räuspern seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zog.

»Wir haben Besuch«, sagte er überflüssigerweise. »Professor Halserburg kennt ihr ja. Und das ist Hauptkommissar Gerber von der Kriminalpolizei«, fügte er mit einer erklärenden Geste auf den Grauhaarigen hinzu. Er tauschte einen schnellen, beruhigenden Blick mit Mutter, die beim Anblick des Polizisten um mehrere Grade blasser geworden war und stocksteif in ihrem Sessel saß, dann wandte er sich wieder Kim zu.

»Der Herr Kommissar hat ein paar Fragen an dich, mein Sohn.«

»An ... mich?« stotterte Kim. Völlig verständnislos starrte er den Kriminalbeamten an. »Aber ich habe doch gar nichts -«

»Nur keine Aufregung, mein Junge«, unterbrach ihn Gerber. Auf seinem Gesicht erschien ein freundliches, durch und durch echtes Lächeln, das in krassem Gegensatz zu seiner sonstigen Erscheinung stand. Ohne eine entsprechende Einladung abzuwarten, setzte er sich Kim gegenüber in den Sessel und fuhr fort: »Wir sind nicht hier, weil du etwas getan hast. Ich möchte dir nur ein paar Fragen stellen.«

»Fragen?« echote Kim. »Aber ich weiß doch gar nichts.«

»Nun, warten wir ab«, meinte Gerber lächelnd. Aber jetzt wirkte das Lächeln nicht mehr ganz echt. Kim hatte plötzlich das Gefühl, daß er sehr, sehr vorsichtig sein sollte, mit dem, was er sagte.

»Möchten Sie ... einen Kaffee?« warf seine Mutter unsicher ein. Es war ihr anzusehen, wie unwohl sie sich in ihrer Haut fühlte. Die Polizei im Haus! Der Blick, den sie Kim rasch zuwarf, sah nach mindestens einem Monat Stubenarrest aus. Professor Halserburg schüttelte ablehnend den Kopf, während Gerber nickte. »Gern - wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände bereitet, heißt das.«

»Keineswegs.« Mutter stand auf und verschwand mit raschen Schritten in der Küche, ließ die Tür aber offen, so daß sie jedes Wort mithören konnte. Auf dem Fernseher erschien wieder das Bild des Eishockey-Roboters. Sein grünes Leuchtauge schien Kim sehr aufmerksam anzublicken. »Du kannst dir sicher denken, warum wir hier sind, junger Mann«, nahm Gerber das unterbrochene Gespräch wieder auf.

Kim schluckte mühsam. Er wollte antworten, aber alles, was er zustande brachte, war ein mühsames Kopfschütteln. Der Kriminalbeamte deutete auf den Arzt. »Professor Halserburg hat uns erzählt, was heute nachmittag in der Universitätsklinik vorgefallen ist.«

»Ich habe nichts gestohlen«, verteidigte sich Kim. »Ich war nur im Zimmer, aber ich habe nichts -«

»Schon gut«, unterbrach ihn Gerber mit einer beruhigenden Geste. »Und selbst wenn, würde kaum die Kriminalpolizei deshalb hier auftauchen.«

»Warum sagen Sie nicht einfach, was Sie von meinem Sohn wollen«, mischte sich Kims Vater ein. Seine Stimme klang eine Spur schärfer, als es der Situation angemessen schien. Offensichtlich war auch er nervös.

Gerber wandte sich ihm zu und blickte ihn einen Augenblick lang schweigend an. »Nur eine Auskunft, mehr nicht«, antwortete er schließlich.

»Es geht um diesen Jungen, nicht wahr?« vermutete Vater. Er setzte sich ebenfalls, machte sich aber nicht einmal die Mühe, Halserburg oder dem uniformierten Polizisten einen Platz anzubieten.

Gerber nickte. »Unter anderem.«

»Unter anderem?« staunte Kims Vater.

Es war der Professor, der nun das Wort ergriff. »Es tut mir wirklich leid, wenn wir Ihnen oder Ihrem Sohn Unannehmlichkeiten bereiten«, sagte er. »Aber Kim ist vielleicht unsere einzige Möglichkeit, Antworten auf einige Fragen zu bekommen, die uns schon lange beschäftigen. Und auch die Polizei.« Er machte eine entsprechende Geste zu Gerber hin und fuhr, jetzt an Kim gewandt, fort: »Siehst du, Kim - dieser Junge, der dich so brennend interessierte, ist nicht der erste...«

»Nicht der erste was?« hakte Vater nach. Mutter erschien in der Küchentür und blickte Kim und den Professor mit einer Mischung aus Neugierde und Verblüffung an. Vom Fernseher her verfolgte das grüne Leuchtauge des Roboters die Szene.

»Nicht das erste Kind, das wir in diesem Zustand finden«, fuhr Halserburg fort. »Du hast ihn gesehen, Kim - ihm fehlt nichts. Körperlich, meine ich. Aber er ist völlig katatonisch.«

»Kata- was?« fragte Kim.

Der Professor lächelte flüchtig. »Völlig teilnahmslos«, erklärte er. »Laienhaft ausgedrückt. Er atmet, sein Herz schlägt, und er reagiert auf äußere Reize - Schmerz, Kälte, Hitze. Aber das ist auch alles. Wenn du ihn in eine Ecke stellen würdest, würde er einfach stehenbleiben, bis seine Beine unter ihm nachgeben.«

»Und was hat mein Sohn damit zu tun?« erkundigte sich der Vater.

»Dieser Junge ist nicht der erste, den wir in diesem Zustand finden«, ergänzte Gerber. »In den letzten Wochen haben wir allein in Düsseldorf fast ein Dutzend Kinder in diesem Zustand gefunden. Und das Sonderbare ist - niemand scheint sie zu vermissen. Sie haben keine Papiere bei sich, können nicht reden -«

»Und sie sind alle ein wenig sonderbar gekleidet«, fügte Professor Halserburg hinzu. »So wie der Junge heute nachmittag.«

»Dazu kommt, daß der Krankenwagenfahrer behauptet, der Junge wäre wie aus dem Nichts aufgetaucht.«

»Wie bitte?« fragte Vater.

Kommissar Gerber zuckte mit den Schultern. »Das waren seine Worte. Er behauptet, der Junge wäre plötzlich einfach dagewesen. Er kam nicht von irgendwo dahergerannt. Es fällt mir schwer, das zu glauben, aber der Mann ist bereit, es zu beschwören. Aber - wie gesagt - die Unfallursache ist nicht der Grund, aus dem wir hier sind. Uns geht es hauptsächlich darum, herauszufinden, wo diese Kinder herkommen. Wer sie sind - und was ihnen fehlt.«

»Sind sie denn krank?« fragte Kim - und hätte sich am liebsten gleich selbst auf die Zunge gebissen.

Halserburg zögerte einen Moment. »Das steht zu befürchten«, sagte er. »Ihnen fehlt nichts - auf den ersten Blick. Aber sie scheinen ... in einer Art Trance zu sein. Wir stehen vor einem Rätsel. Und sie werden natürlich immer schwächer. Einige müssen bereits künstlich ernährt werden, und ich weiß nicht, wie lange wir das können.«

»Wir müssen herausfinden, wo sie herkommen«, wiederholte Gerber. »Niemand kennt sie. Und bisher bist du der einzige Mensch, der etwas über sie zu wissen scheint.« Aber das war nicht alles, dachte Kim. Gerber und sein uniformierter Begleiter hatten vielleicht keine Ahnung davon, aber er las in den Augen des Professors, daß dieser keineswegs vergessen hatte, was damals mit Rebekka geschehen war. Ein eisiger Schauer überlief ihn.

»Es scheint ähnlich zu sein wie mit deiner Schwester damals«, sagte Halserburg, als hätte er Kims Gedanken gelesen. Seine Stimme wurde eindringlich. »Wenn du irgend etwas weißt, Kim, dann mußt du es uns sagen. Ganz gleich, was es ist - ich gebe dir mein Ehrenwort, daß alles unter uns bleibt.« Er tauschte einen fragenden Blick mit dem Kriminalbeamten. Gerber nickte.

»Aber ich... ich weiß doch nichts«, murmelte Kim. »Wirklich, ich ... ich habe mich getäuscht. Ich dachte, ich würde den Jungen kennen, aber das ... das ist nicht wahr, und -«

»Aber heute nachmittag ...«, unterbrach ihn Halserburg, »... du warst so bleich, als hättest du ein Gespenst gesehen. Vermutlich hast du gar nicht richtig mitbekommen, worüber deine Mutter und ich gesprochen haben. So verhält man sich nicht, wenn man nichts weiß.«

»Der Professor ist sicher, daß du diesen Jungen kennst«, fügte Gerber hinzu.

»Nein«, Kim blieb stur.

Der Kommissar blickte ihn durchdringend an, dann griff er unter seinen Mantel und zog eine durchsichtige Plastiktüte hervor. Darin eingerollt war ein schwerer Ledergürtel mit einer blitzenden Messingschnalle. »Das hattest du in der Hand, als man dich überraschte«, sagte er. »Möchtest du mir erklären, was es ist?«

»Ein Gürtel«, antwortete Kim.

In Gerbers Augen blitzte es auf, aber er beherrschte sich. »Das wissen wir«, antwortete er gepreßt. »Aber es ist ein sehr sonderbarer Gürtel, nicht? Ich habe so etwas noch nie gesehen - und unser Labor behauptet, daß das Messing von einer Reinheit ist, wie wir es gar nicht herstellen können.«

»Das stimmt«, antwortete Kim. »Es stammt auch nicht von dieser Welt.«

»Wie bitte?« entfuhr es Kommissar Gerber. Überrascht und neugierig beugte er sich vor. Der Roboter auf dem Fernsehschirm tat dasselbe. »Das mußt du mir schon erklären.«

»Der Junge«, sagte Kim mit fester Stimme. »Er kann gar keine Papiere bei sich haben. Er kommt aus einer anderen Welt, und dort gibt es so etwas nicht.«

»Was?« Gerbers Gesicht erstarrte.

»Es gibt ein Land, in dem Märchen wahr sind«, erzählte Kim. Es war das erste Mal, daß er darüber sprach. »Man kann es nur im Traum betreten, wissen Sie! Bisher war das jedenfalls so. Ich war einmal da, und meine Schwester auch, aber das ist lange her, und -«

»Das reicht!« unterbrach ihn Gerber. Er machte sich jetzt gar nicht mehr die Mühe, seinen Zorn zu verbergen. »Wenn du mich auf den Arm nehmen willst, junger Mann, dann mußt du dir schon etwas Besseres einfallen lassen. Warum erzählst du nicht gleich, der Junge käme vom Mars?« Er machte eine zornige Handbewegung. »Ich kann auch anders, wenn es sein muß.«

»Das glaube ich nicht«, sagte da der Vater kühl zum Kommissar.

Gerbers Kopf ruckte mit einer zornigen Bewegung herum. »Sie -«

»Sie«, unterbrach ihn Kims Vater kalt, »scheinen sich nicht ganz im klaren darüber zu sein, daß mein Sohn noch nicht strafmündig ist, Herr Kommissar. Ganz davon abgesehen, daß er nichts Verbotenes getan hat. Aber selbst wenn, haben Sie nicht das mindeste Recht, in diesem Ton mit ihm zu sprechen.«

Kommissar Gerber schluckte ein paarmal trocken. Er sah aus, als würde er jeden Moment in die Luft gehen wie ein überhitzter Dampfkessel. Aber dann stopfte er den Gürtel nur mit einer wütenden Bewegung wieder unter seinen Mantel und stand auf. »Wie Sie wollen«, sagte er. »Sie werden noch von mir hören. Und Ihr Sohn auch.«

»Bitte, meine Herren!« mischte sich Professor Halserburg ein. »Niemand hat etwas davon, wenn wir uns streiten.« Er seufzte, schüttelte ein paarmal den Kopf und wandte sich wieder an Kim.

»Wir wollen dir doch nichts Böses«, sagte er. »Es geht nur um diese Kinder. Sie sind krank. Vielleicht werden sie sterben. Willst du das?«

»Natürlich nicht«, antwortete Kim heftig. »Aber ich ... ich kann Ihnen nicht helfen. Selbst wenn ich wollte -«

»Du willst also nicht«, hakte Gerber nach.

»Unsinn«, sagte der Professor, nun auch in scharfem Ton. »Ich kenne den Jungen - glauben Sie wirklich, er würde uns nicht helfen, wenn er es könnte?«

»Ich glaube gar nichts«, antwortete Gerber zornig. »Das ist mein Beruf.«

Kims Mutter kam mit einem Tablett voller Kaffeetassen aus der Küche, aber Vater machte ein abwehrende Handbewegung. »Das ist nicht mehr nötig«, meinte er kalt. »Die Herren wollen gerade gehen.«

Kommissar Gerber funkelte ihn an, verbiß sich aber jede Antwort, und Professor Halserburg sah plötzlich sehr traurig aus. »Vielleicht überlegst du es dir noch, Kim«, sagte er und griff in die Manteltasche. »Ich gebe dir meine private Telefonnummer. Wenn du mir etwas zu sagen hast, ruf mich an. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß niemand etwas davon erfahren wird. Auch die Polizei nicht«, fügte er mit einem Seitenblick auf Gerber hinzu, der böse zurückstarrte.

»Ich bringe Sie zur Tür«, sagte Vater und stand auf. Er führte die Herren hinaus. Auch der Roboter auf dem Bildschirm wandte sich um und ging. Kim stand auf, setzte sich aber sofort wieder, als ihn ein Blick seiner Mutter traf. Auf dem Bildschirm tobte noch immer die Schlacht zwischen den Robotern und den Männern in der Kristallburg, aber Kim sah jetzt kaum noch hin. Diese Kinder sterben vielleicht, Kim, hatte Professor Halserburg gesagt. Wir wollen ihnen doch nur helfen!

Glaubten sie denn, er wollte das nicht?!

Und plötzlich spürte Kim Angst. Ganz entsetzliche Angst. Daß im Lande Märchenmond etwas Unvorstellbares geschehen war, war für ihn zur Gewißheit geworden. Er mußte dorthin, ganz egal, wie!

Draußen im Flur wurde die Tür geschlossen, dann kam sein Vater zurück. Sein Gesicht war unbewegt, aber seine Augen brannten vor mühsam unterdrücktem Zorn. »Zufrieden?« fragte er.

Kim sah ihn ratlos an.

»Du hast dir ja schon eine Menge geleistet, aber die Polizei hatten wir bisher noch nicht im Haus«, fuhr der Vater aufgebracht fort. »Was steht denn als Nächstes auf deinem Plan?«

»Bitte«, sagte Mutter. »Laß ihn in Ruhe. Du siehst doch, wie leid es ihm tut.«

»Sehe ich das?« Ärgerlich ging ihr Mann zum Tisch und zündete sich eine Zigarette an - und das war nun etwas, was er wirklich nur selten tat. »Ich sehe nur«, fuhr er hustend nach dem ersten Zug fort und wedelte heftig mit der Hand vor dem Gesicht, »daß sich unser Sohn jede Menge Ärger eingehandelt hat. Und uns dazu! Du hast diesen Kommissar doch gehört! Er glaubt ihm kein Wort! Und ich auch nicht«, fügte er mit einem finsteren Blick in Kims Richtung hinzu.

»Aber es ist so, wie ich sage«, verteidigte sich Kim. »Ich weiß nicht, wer dieser Junge ist!«

Sein Vater setzte zu einer wütenden Entgegnung an, besann sich dann aber im letzten Moment und nahm einen weiteren, von einem Hustenanfall gefolgten Zug aus seiner Zigarette. »Also gut«, meinte er, nachdem er wieder halbwegs zu Atem gekommen war. »Wie du meinst. Ich bin die Geheimniskrämerei leid. Geh in dein Zimmer, Sohn. Bis morgen früh hast du dir vielleicht überlegt, ob dein Verhalten klug ist.«

Kim blickte ihn traurig an, dann wandte er sich um und stürmte über die Treppe in sein Zimmer hinauf.

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