IX

Die zweite und noch sehr viel größere Überraschung des Tages sollte Kim später erleben, als das Fest weit fortgeschritten war und die Baumleute mit ihren Wettkämpfen begannen. Vorderhand jedoch mußte Kim sich in einer sportlichen Disziplin üben, die daheim ganz bestimmt niemals bei den Olympischen Spielen auftauchen würde, sich aber bei den Baumleuten großer Beliebtheit zu erfreuen schien: Treppensteigen.

Oak führte sie zurück zum Stamm des Baumes, wo sie auf die gewundene Treppe hinaustraten und sich scheinbar endlos weiter nach oben quälten. Bröckchen wurde es bald zuviel, so daß es sich wie üblich mit einem Satz auf Kims Schultern schwang. Kim selbst hingegen mußte sich leider auf die eigenen Beine verlassen. Nach einer Weile wurden seine Schritte schleppender, und er fiel merklich hinter Oak zurück, der sich mit geradezu verblüffender Leichtigkeit die Stufen hinaufbewegte. Die wenigen Stunden Schlaf, die Kim gehabt hatte, hatten ihn zwar erfrischt, aber er war noch nicht wieder ganz zu Kräften gekommen.

»Es ist nicht mehr weit.« Oak deutete nach oben, als sei das eine Beruhigung. »Noch vier Äste.«

Kim ächzte. Vier Äste - und sie hatten noch nicht einmal die halbe Strecke zum ersten zurückgelegt! Er würde niemals dort hinaufkommen!

Oak grinste breit. »Nur keine Sorge«, sagte er, als hätte er Kims Gedanken erraten - oder sie auf seinem Gesicht abgelesen, was wahrscheinlicher war. »Das letzte Stück des Weges brauchen wir nicht zu laufen.«

Kim rätselte, was das nun zu bedeuten hatte, fand aber keine Antwort, und so ergab er sich in sein Schicksal. Er schleppte sich hinter Oak die nicht enden wollende Treppe hinauf, bis er das Gefühl hatte, seine Beine müßten mittlerweile so kurz geworden sein, daß sie direkt unter seinen Schultergelenken herauswuchsen.

Sie erreichten den ersten Ast, und Kim erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine weitere, und wie es schien noch viel größere Baumstadt. Es folgten weitere zahllose Stufen, und dann blieb Oak plötzlich stehen. Hin und wieder waren sie an gewaltigen Höhlungen vorbeigekommen, die ins Innere des titanischen Baumes führten. Auch jetzt hatten sie wieder einen dieser Eingänge erreicht. Oak machte eine einladende Geste, und Kim folgte ihm.

Die Höhle war kleiner, als er geglaubt hatte - ein Quadrat von gerade fünf mal fünf Schritten, dessen Boden sonderbarerweise von einem hüfthohen Geländer umgeben war. Oak beschied mit knappen Worten, die Wände nicht zu berühren, dann streckte er den Arm aus und zog kräftig an einem aus Pflanzenfasern geflochtenen Seil, das in der Mitte herabhing - genauer gesagt, irgendwo aus der schier endlosen Schwärze über ihnen kam, denn der Raum hatte zwar einen Fußboden, aber sichtlich keine Decke.

Einen Augenblick später schrie Kim überrascht auf, als ein spürbarer Ruck durch den Boden ging. Und plötzlich war der Eingang verschwunden, und die Wände rasten nur so an ihnen vorbei in die Tiefe. Die Höhle war ein Aufzugschacht!

»Gut, nicht?« grinste Oak, während er sich sichtlich an Kims Überraschung weidete. »Bald werden wir den Schacht durch den ganzen Baum getrieben haben, und dann kommen wir viel rascher voran. Wir planen sogar einen noch größeren Aufzug.«

»Das ist... phantastisch«, meinte Kim zögernd. Aber er fand es nicht phantastisch. Ganz im Gegenteil. Warum beunruhigte ihn dieser Aufzug?

»Wie funktioniert er?«

»Ganz einfach«, erklärte Oak mit hörbarem Stolz. »Die Plattform hängt an Seilen. Soll sie in die Höhe gehoben werden, lassen wir von oben ein Gegengewicht fallen.«

»Aha.« Etwas an dieser Erklärung ängstigte Kim.

»Es ist wirklich bequem«, fuhr Oak fort, der nun einmal ins Reden gekommen war. »Und ganz nebenbei - es waren die Eisenmänner, die ihn gebaut haben.«

Kim sah ihn fragend an. Sein ungutes Gefühl verstärkte sich.

»Ohne sie wäre es unmöglich gewesen«, sagte Oak.

»Kannst du dir vorstellen, wieviel Arbeit es ist, den Schacht aus dem Baum herauszuschneiden?«

Das konnte Kim nicht, und er wollte es auch nicht. Mißtrauisch fragte er: »Macht es dem Baum nichts aus?«

»Was?«

»Wenn ihr Löcher hineinschneidet.«

Oak lachte. »Wo denkst du hin! Er ist so groß, daß er es nicht einmal spüren würde, wenn wir hundert Schächte in seinen Stamm grüben. Das hier ist kein Bäumchen, wie du es kennst, Kim. Nein, nein - keine Sorge.«

Aber Kim machte sich Sorgen - obgleich er keinen Grund sah, an Oaks Ausführungen zu zweifeln. Trotzdem - irgend etwas stimmte hier nicht.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Ab und zu huschte ein Eingang an ihnen vorüber, während der Aufzug noch lange und unbeirrt seinen Weg nach oben fortsetzte, bis er endlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Kim blinzelte in das ungewohnt helle Licht, als er aus dem Lift heraustrat. Zum erstenmal sah er die Sonne. Auch hier spannte sich ein grünes Blätterdach vor dem Himmel, aber es war nicht mehr so undurchdringlich wie unten - hier und da war ein Flecken aus hellem Blau zu erkennen.

Auf dem Ast, auf den sie hinaustraten, herrschte ein reges Treiben. Gelächter und fröhliche Stimmen schallten ihnen entgegen, es schienen gleich Tausende von Baumleuten hier zu sein. Auf kleinen, eigens dafür vorbereiteten Flecken des Astes brannten Feuer, über denen Früchte gebraten wurden; Krüge machten die Runde, und ein wenig entfernt sah Kim ein buntes, mit allerlei Fahnen und Wimpeln geschmücktes Zelt, um das sich eine große Anzahl verschiedenfarbiger Baumleute drängelte.

»Kommt«, rief Oak in aufgeräumter Stimmung. »Ich stelle euch ein paar Freunde vor.«

Beinahe widerwillig folgten ihm Kim und Bröckchen. Ihr Gastgeber stürzte sich kopfüber ins Gewühl, und nach einer Weile sah sich Kim voller Unbehagen im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Oak schien unzählige Freunde zu haben, nicht ein paar, denn er sprach nahezu jeden an, und sie alle begrüßten Kim und seinen bunten Begleiter. Und ob Kim wollte oder nicht - nach einer Welle steckte ihn die fröhliche, ausgelassene Stimmung an, und es war noch keine halbe Stunde vergangen, da hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung mit seinen neuen Bekannten lachen. Bröckchen, das rasch herausgefunden hatte, daß die gebratenen Früchte für jedermann da waren, wuselte von Feuer zu Feuer und gab sein Bestes, die Ernte des ganzen Baumes an einem Abend aufzufuttern. Wenn Kim sah, mit welcher Hingabe sein bunter Freund mampfte, dann standen seine Aussichten, es zu schaffen, nicht einmal schlecht.

Vielleicht hätte Kim die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht sogar völlig vergessen, wäre nicht nach einer Weile ein Wermutstropfen in seine ausgelassene Stimmung gefallen. Kim stand nichts Böses ahnend mit Oak und einigen seiner Freunde zusammen und knabberte an einer gegrillten Frucht, die ganz vorzüglich schmeckte, als ihm plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes der Bissen im Halse steckenblieb.

»Was hast du?« fragte Oak besorgt.

Kim antwortete nicht, aber als Oaks Blick dem seinen folgte, begriff er schon: Nicht weit von ihnen entfernt, erhoben sich die kantigen Schultern von gleich acht oder zehn Eisenmännern über die Köpfe der Menge.

»Nun, mach dir keine Sorgen«, sagte Oak in ungeduldigem Tonfall. »Ich habe dir gesagt, sie sind unsere Helfer.«

»Was ... was tun sie hier?« fragte Kim stockend.

»Das frage ich mich auch«, fügte einer der Baumleute - ein noch sehr junger Mann, dessen Blätter eine blaßgelbe Färbung hatten - hinzu.

Oak schenkte ihm einen bösen Blick, sagte aber nichts dazu, sondern wandte sich wieder an Kim. »Sie werden an dem Wettlauf heute Abend teilnehmen.«

»Eisenmänner?« fragte Kim überrascht.

»Das ist lächerlich«, meinte der gelbe Blättermann. »Und es ist eine Beleidigung für uns alle.«

»Ach, sei doch still«, fuhr ihn Oak an.

Und ein anderer, wie Oak im grünen Blätterkleid, bestätigte ihn: »Reg dich nicht auf. Er ist ein Gelber - was erwartest du?«

»Ich jedenfalls helfe nicht mit, unseren Baum zu zerstören«, gab der Gelbe zornig zurück.

Kim folgte dem entbrennenden Streit mit wachsender Verwirrung. Er hätte es gar nicht für möglich gehalten, daß die Baumleute in der Lage waren, sich zu zanken.

»Ich bitte euch!« fiel Oak jetzt beschwörend ein. »Wir wollen ein Fest feiern und nicht streiten. Also halte dich zurück, Tarrn. Und du, Limb -« Er wandte sich an den Gelben. »- Wenn du wirklich so wenig von den Eisenmännern hältst, warum läufst du dann nicht mit und besiegst sie?« Limb schürzte zornig die Lippen. »Ich trete nicht gegen ein ... Ding an, das nicht einmal eine Seele hat.«

Tarrn seufzte tief. »Das ist wieder mal typisch«, sagte er, wobei sich eine Spur von Harne in seine Stimme schlich. »Wenn es nach euch Gelben ginge, müßten wir sogar die Häuser abreißen und wieder nackt auf den Ästen leben, wie unsere Vorfahren, wie?«

»Was war so schlecht daran?« fragte Limb herausfordernd. Er funkelte sein Gegenüber an, dann wandte er sich an Kim. »Sag du es, Junge. Ist es etwa richtig, wenn wir unsere eigene Welt zerstören?«

»Aber das tun wir nicht«, protestierte Tarrn.

»Es ist genug!« Oak warf dem Gelben einen strengen Blick zu. »Ich dulde es nicht, daß meine Gäste in euren albernen Streit hineingezogen werden.«

Limbs Augen funkelten zornig, aber er hielt sich zurück und sagte nichts mehr. Nach einer weiteren Sekunde drehte er sich herum und verschwand mit raschen Schritten im Gedränge.

Tarrn blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Gelbe!« sagte er abfällig. »Die reinsten Chaoten.«

»Genug jetzt«, mahnte Oak.

»Pah!« Tarrn blies die Backen auf. »Als ob ein paar Eisenmänner unsere Welt gefährdeten! Was ist schlecht daran, keine Treppen mehr steigen zu müssen und in größeren Häusern zu leben?«

»Ich sagte, es reicht«, wiederholte Oak streng. Dann zwang er sich zu einem Lächeln. »Gehen wir. Sehen wir uns die Vorbereitungen des Rennens an. Es beginnt ja bald.« Kim interessierte sich im Grunde überhaupt nicht mehr für den Wettkampf. Viel lieber wollte er mit Limb sprechen, hatte er doch das Gefühl, hier einen Verbündeten gefunden zu haben. Trotzdem folgte er Oak höflich, als sie sich auf das große, wimpelgeschmückte Zelt in der Mitte des Astes zubewegten.

Während sie durch die Menge eilten, die drängelte und schubste, fiel Kim auf, daß auch Leute darunter waren, die Kleider trugen wie er selbst, und deren Haar kein Blattwerk war. Offensichtlich hatte das Fest Besucher von überallher angelockt, nicht nur aus der Baumwelt. Die Baumleute selbst schienen zudem nicht ganz so kunterbunt durcheinandergemischt zu sein, wie es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Es gab gelbe, grüne, rote, blaue, violette und weiße Baumleute, und wenn man ganz genau hinsah, dann konnte man erkennen, daß die einzelnen Farben sich zu Gruppen zusammengefunden hatten, und nur hier und da standen ein paar Baumleute zwischen solchen, deren Farbe sich von ihrer eigenen unterschied.

Auf Kims Frage gab Oak bereitwillig Auskunft. »Es sind verschiedene Stämme«, sagte er. »Aber die Farbe hat nichts zu sagen - nicht viel, jedenfalls. Außer vielleicht die Blauen - von denen solltest du dich fernhalten. Es ist ein eingebildetes Volk, das ganz oben in den Wipfeln lebt. Sie halten sich für etwas Besseres, weil sie dem Himmel näher sind.«

Und auch das hinterließ einen unguten Nachgeschmack bei Kim. Allmählich begann er zu begreifen, was hier vorging. Und wenn es so war, wie er glaubte, dann erschreckte es ihn zutiefst.

Vorerst jedoch kam er nicht dazu, Oak weitere Fragen zu stellen, denn sie hatten das Festzelt erreicht. Es war ein riesiges Zelt, dessen Taue mit großen stählernen Haken tief in das Holz des Astes getrieben worden waren, und das sicherlich Platz für zwei-, wenn nicht dreihundert Personen bot. Kim fiel auf, daß das hintere Drittel mit einem Tau abgesperrt worden war und sich dort nur eine Handvoll Leute aufhielt, obwohl der Rest des Zeltes vor Besuchern schier aus den Nähten platzte.

»Was ist dort los?« erkundigte sich Kim.

»Das sind die Teilnehmer des Wettlaufs«, antwortete Oak. »Er beginnt bald. Warte - ich hebe dich hoch, damit du besser sehen kannst.« Und ehe Kim dagegen protestieren konnte, hatte Oak ihn in die Höhe gestemmt und wie ein Kind auf seine mächtigen Schultern gesetzt.

Natürlich hatte Kim aus der Höhe heraus einen sehr viel besseren Überblick. Er sah jetzt, daß sich außer den acht Eisenmännern, die er schon zuvor erblickt hatte, noch jeweils fünf oder sechs Baumleute von jeweils der gleichen Farbe in dem abgesperrten Bereich des Zeltes eingefunden hatten, dazu noch eine Anzahl auswärtiger Läufer - warum auch nicht? Schließlich hatte Oak auch Kim eingeladen, mitzulaufen.

Und dann sah er ihn - den schwarzen Ritter!

Im allerersten Moment fiel er kaum auf - einfach eine dunkle Gestalt zwischen den farbenfrohen Blätterkleidern. Aber dann bewegte er sich, und Kim sah, daß der Mann - er war schlank und nicht viel größer als Kim - tatsächlich eine schwarze Rüstung trug. Nicht irgendeine Rüstung, sondern ein verbeulter, fleckiger Harnisch mit wulstigem Helm und gepanzerten Arm- und Beinteilen, in einer Farbe, die eigentlich kein Schwarz mehr war, sondern eher aussah, als sauge sie alles Licht und Farbe auf, die das Metall berührten. Es war eine Rüstung der gleichen Art, wie Kim selbst sie einst getragen hatte - damals, als die schwarzen Ritter Morgons dem Lande Märchenmond und seinen Bewohnern um ein Haar den Untergang gebracht hätten! Aber sie waren doch vernichtet worden! Wie konnten sie jetzt wieder auftauchen, um...

»Laß mich runter!« Kim zappelte ungeduldig. »Schnell, Oak!«

Oak gehorchte verblüfft, und Kims Füße hatten kaum den Boden berührt, da riß er sich schon los und versuchte, sich seinen Weg durch die Menge nach vorne zu erkämpfen. Er mußte diesen Fremden genauer sehen. Er mußte sich selbst davon überzeugen, daß ihn seine Augen nicht über die Entfernung hinweg getäuscht hatten. Wenn die Schrecken Morgons wieder aus der Vergangenheit auferstanden waren, dann war Märchenmond in noch größerer Gefahr, als Kim geahnt hatte!

Er schaffte es nicht. Die Schaulustigen standen dicht an dicht, und Kim hatte das Seil noch nicht einmal ganz erreicht, als plötzlich ein lauter Knall erscholl und sich die gesamte Rückwand des Zeltes teilte. Unter dem gewaltigen Johlen und Schreien der Menge schössen die Wettläufer hinaus.

Kim stolperte weiter, duckte sich unter dem Seil hindurch - und fegte hinterher! Ein Mann mit weißen Blättern wollte ihn zurückhalten, wobei er unentwegt etwas wie ›Anmeldung‹ rief, aber Kim entwischte ihm mit einer flinken Bewegung und schritt schneller aus, um das Feld der Läufer einzuholen. Das matte Schwarz der Rüstung, dem sein besonderes Interesse galt, bewegte sich irgendwo zwischen den anderen Läufern. Trotz des Zentnergewichtes seiner Kleidung legte der Mann ein überraschend scharfes Tempo vor.

Kim sah bald ein, daß er sich kräftig verschätzt hatte. Er hatte alle Mühe, nicht zu weit hinter den Läufern zurückzufallen; gar nicht daran zu denken, sie etwa einzuholen. Selbst die Eisenmänner liefen fast so schnell wie Kim, wenngleich sie allmählich hinter den anderen zurückzufallen begannen. Aber das besagte nichts. Kim wußte nur zu gut, daß die rostroten Giganten keinerlei Erschöpfung kannten.

»Heda!« piepste plötzlich eine Stimme hinter Kim. »Wo willst du hin?«

Kim warf im Laufen einen Blick über die Schulter zurück und erkannte Bröckchen, das wieselflink hinter ihm herwuselte. »Du kannst mich doch nicht allein zurücklassen!«

»Keine Zeit!« schrie Kim atemlos. »Warte hier auf mich!« Aber Bröckchen gefiel das eindeutig nicht - es beschleunigte, stieß sich ab und landete wieder auf seinem Stammplatz: Kims Schulter.

Allmählich näherten sich die ersten Läufer dem gewaltigen Baumstamm, wo sie leichtfüßig die Treppe hinaufzurennen begannen. Kim folgte ihnen in immer größer werdendem Abstand und nicht halb so leichtfüßig, sondern keuchend und japsend und in Schweiß gebadet. Noch ehe er die ersten Stufen hinter sich gebracht hatte, war er so erschöpft, daß er am liebsten auf der Stelle niedergesunken wäre. Aber das durfte er nicht. Ein schwarzer Ritter aus Morgon - unvorstellbar! Kim mußte ihn einholen.

Keuchend erreichte er die Abzweigung zum nächsthöheren Ast. Ein Teil der Läufer war bereits außer Sicht gekommen. Hier gab es keine Stadt mehr; der Ast wucherte mit seinen baumgroßen Nebentrieben und Zweigen ungestört, so daß eine Art Wald auf dem Riesenbaum entstanden war, und manche Läufer waren bereits darin verschwunden. Die Eisenmänner - aber auch der schwarze Ritter - waren nunmehr deutlich zurückgefallen und bildeten - von Kim einmal abgesehen - den Schluß des Feldes. Vielleicht begann er das Gewicht seiner Rüstung allmählich doch zu spüren. Aber je länger Kim hinter ihm herlief, desto weniger glaubhaft erschien ihm diese Erklärung. Die Schritte des Schwarzen schienen nicht etwa weniger geschmeidig oder unsicher - er wurde nur einfach immer langsamer; fast als fiele er absichtlich ein Stück hinter die anderen zurück. Schließlich waren selbst die Eisenmänner eine gute Strecke vor ihm, und der Abstand zwischen ihm und Kim schmolz ebenfalls.

Dann blieb der Ritter plötzlich stehen. Und auch Kim hielt ein und huschte hinter einen niedrigen Strauch. Gerade noch im richtigen Moment, denn der Fremde sah sich rasch und verstohlen nach allen Seiten um und wich dann fast im rechten Winkel von seiner bisherigen Richtung ab. »He!« pfiff Bröckchen überrascht. »Was tut er da?«

»Keine Ahnung«, gestand Kim. »Aber wir finden es heraus.« Rasch und so leise er konnte, folgte er dem anderen und drang an derselben Stelle ins Unterholz ein, wie dieser zuvor.

Der Wald wurde so dicht, daß Kim wahrscheinlich kaum noch von der Stelle gekommen wäre, hätte er nicht dem Pfad folgen können, den der schwarze Ritter in das Unterholz gebrochen hatte - und dann stand er plötzlich vor einem jäh aufklaffenden Abgrund. Kim hatte den Rand des Astes erreicht. Unter ihm war nichts mehr als leere Luft - und die Oberfläche des nächsten Astes, gute zwei oder drei Flugminuten entfernt, Luftlinie und senkrecht. Einen halben Schritt mehr, und Kim wäre in die Tiefe gestürzt. Hastig wich er ein Stück zurück und sah sich mit klopfendem Herzen um. Wo war der Fremde?

Erst nach erheblichem Suchen entdeckte ihn Kim - in einer Richtung, in der er ihn am allerwenigsten vermutet hätte: gerade unter sich. Die schwarzeiserne Gestalt kletterte langsam, aber mit großem Geschick eben an einem mit zahllosen Knoten versehenen Tau hinab, das am Ast befestigt war.

»Der Kerl bescheißt!« keifte Bröckchen aufgebracht. »Der nimmt eine Abkürzung!«

Dieser Gedanke erschien Kim eher abwegig. Ein derartiger Betrug wäre einfach zu plump gewesen - und völlig sinnlos dazu, denn von Oak hatte er erfahren, daß es in diesem Rennen um nichts anderes ging, als zu gewinnen. Es gab keinen anderen Preis für den Gewinner als den Sieg. Aber vielleicht hatte sich der Schwarze ja gar nicht von den anderen getrennt, um sich den Sieg zu erschwindeln ... Vorsichtig ließ sich Kim auf die Knie herabsinken und beugte sich vor, so daß er den Ritter im Auge behalten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Er wartete, bis die winzige Gestalt darunter den nächsten Ast erreicht hatte, dann raffte Kim all seinen Mut zusammen, drehte sich herum - und begann Hand über Hand ebenfalls an dem Knotenstrick in die Tiefe zu klettern. Bröckchen begann zu kreischen und Kim immer unflätiger zu beschimpfen, aber der kletterte unbeirrt weiter.

Es war mühsam, am Seil hinabzuklettern, aber doch leichter, als Kim erwartet hatte. Seine Arme und Beine fühlten sich an wie überdehnte Gummibänder, als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, und er blieb einen Moment stehen, um wieder zu Kräften zu kommen. Trotzdem fühlte er sich nicht halb so erschöpft, wie er es nach dieser Anstrengung eigentlich hätte sein müssen. Er sah sich um. Von dem schwarzen Ritter war keine Spur mehr zu sehen. Kein Wunder, denn die Oberfläche dieses Astes war noch verwilderter als die oben. Die ›Bäume‹ standen hier so dicht, daß an vielen Stellen überhaupt kein Durchkommen mehr zu sein schien, und auf dem Boden lag eine dicke Schicht aus abgestorbenem Blattwerk und Humus. Es fiel Kim immer schwerer, sich daran zu erinnern, daß er sich auf dem Ast eines riesigen Baumes halb auf dem Weg zum Himmel befand, und nicht auf festem Boden.

Nach einer Weile fand er aber, wonach er Ausschau gehalten hatte: Schwere Metallstiefel hatten Spuren im weichen Boden hinterlassen. Er folgte ihnen.

Obwohl mit der Kletterpartie eine Menge Zeit verlorengegangen war, holte Kim den Fremden bald ein. Dieser hatte sich nicht sehr weit entfernt und hockte in nur wenigen hundert Schritten Entfernung hinter einem Busch, um gebannt auf den schmalen Weg hinauszustarren, der sich vor ihm durch das Dickicht wand. Kim blieb überrascht stehen, und es dauerte eine Welle, bis ihm einfiel, schleunigst zurückzuweichen und sich zu verstecken. Ein heißer Schrecken stieg in ihm auf. Wäre der schwarze Ritter nicht ganz und gar auf den Weg vor sich konzentriert gewesen, dann hätte er Kim gewiß bemerkt.

Vorsichtig lugte Kim über den Rand seiner Deckung und über die Schultern des Mannes vor ihm hinweg ebenfalls auf den Weg hinaus. Zuerst fiel ihm gar nichts Besonderes auf - allenfalls, daß sich auf der anderen Seite des Pfades ein besonders wuchtiger Auswuchs des Astes befand, der wie ein gewaltiger Felsbrocken aussah, so zerschrunden und verwittert war seine Oberfläche. Der Weg wand sich in einer engen Kehre darum und verschwand auf der anderen Seite wieder im Dickicht.

Dann hörte er Lärm, zuerst nur ganz leise, dann aber rasch näher kommend und immer lauter - das Trappeln zahlreicher, schneller Schritte und keuchende Atemzüge. Es waren die ersten Läufer, die ankamen.

Aber warum, überlegte Kim verblüfft, hatte sich der Mann solche Mühe gemacht, den Weg abzukürzen, wenn er die anderen jetzt an sich vorbeirennen ließ? Es war unverständlich. Und tatsächlich duckte sich der schwarze Ritter nur noch tiefer hinter seinen Busch, statt sich unauffällig an die Spitze des Feldes zu begeben - was er zweifellos gekonnt hätte, denn aus dem dichten Pulk von Menschen war mittlerweile eine weit auseinandergezogene Kette geworden, in der manchmal große Lücken klafften. Aber der Ritter wartete geduldig, bis auch die letzten an seinem Versteck vorübergelaufen waren.

Fast die letzten.

Denn ein gutes Stück hinter dem Feld der Wettläufer stampften die Eisenmänner heran, kein bißchen schneller als vorhin, aber auch nicht langsamer. Kim sah, wie sich der Ritter spannte. Steckte er etwa mit ihnen und damit mit den Zwergen unter einer Decke? Denkbar war es schon, bei einer Kreatur aus Morgen, dem Reich der Schatten und des Bösen.

Aber der Ritter ließ auch die eckigen Kolosse an seinem Versteck vorüberstampfen, ohne sich zu rühren. Nur seine Hand kroch zum Gürtel und schmiegte sich um den Griff des gewaltigen Schwertes, das darin steckte.

Und eben als der erste Eisenmann um die Ecke des Baumfelsens auf der anderen Seite des Weges laufen wollte, geschah etwas Erstaunliches: Hinter der Kante des großen Holzbrockens wuchs plötzlich ein zweiter Baum hervor - aber auf sehr ungewöhnliche Weise, fand Kim. Er wuchs erstaunlich rasch, ja er schnellte vielmehr plötzlich heraus und stand waagrecht hinter dem Brocken hervor und noch dazu verkehrt herum, mit der abgestorbenen Wurzel zuoberst.

Der Eisenmann, von seinem eigenen Schwung vorwärts gerissen, krachte in vollem Lauf vor das so plötzlich aufgetauchte Hindernis. Ein ungeheures Dröhnen zerriß die Stille des Waldes, und plötzlich flog der eiserne Schädel in hohem Bogen davon, während der Torso noch ein Stück weitertorkelte, ehe er haltlos zu Boden krachte.

Kim blickte mit aufgesperrtem Mund und Augen auf das unglaubliche Bild. Der seltsame Baum beschrieb einen Halbkreis und krachte mit fürchterlicher Gewalt auf den Schädel eines zweiten Eisenmannes herab, um ihn wie eine leere Konservendose zu zerstampfen, und plötzlich hielten drei der verbliebenen vier Eisenmänner im Laufen inne, blieben scheinbar hilflos stehen - und warfen sich dann wie ein Mann vor, um hinter der Ecke des Baumfelsen zu verschwinden. Kim hörte ein zorniges Brüllen, und dann hob ein Getöse an, als hätte jemand einen ganzen Lastwagen voller Eisenschrott umgeworfen und trampelte darauf herum.

Auch der sechste und letzte Eisenmann wollte seinen Kameraden folgen, aber in diesem Moment erhob sich der Schwarze in einer fließenden Bewegung aus seiner Deckung und trat auf den Weg hinaus. Und obwohl er dabei ganz leise war, hatte ihn der Eisenmann wohl irgendwie gehört, denn er fuhr mitten in der Bewegung herum und hob die Arme in die Höhe.

Der Ritter zog sein Schwert, machte einen Ausfall und schlug zu. Kim beobachtete fassungslos, wie die Klinge auf die schmale rechte Hand des Eisenmannes traf und das Metall zerteilte, als schneide sie Papier.

Der Eisenmann prallte zurück, hob seinen Armstumpf und betrachtete ihn eine Sekunde lang aus seinem unheimlichen grünen Auge, als könne er nicht fassen, was er sah. Dann wandte er sich wieder seinem Gegner zu, der neben ihm wie eine halbe Portion wirkte, und drosch warnungslos mit der kräftigen, linken Hand auf ihn ein.

Der Schwarze wich mit einer blitzartigen Bewegung aus, tauchte unter der niedersausenden Klaue hindurch und brachte einen geraden Stich an, der das Schwert mehr als zur Hälfte in die Brust des Eisenmannes verschwinden ließ, diesen aber nicht weiter zu beeindrucken schien, denn seine Baggerschaufelhand schnappte im gleichen Moment zu. Sie traf den Ritter nicht, aber sie streifte seine Schulter, und schon diese flüchtige Bewegung reichte aus, ihm das Schwert aus der Hand zu prellen. Die Waffe sauste durch die Luft und bohrte sich so exakt vor Kims Füßen in den Boden, als wäre sie absichtlich dorthin geflogen.

Der Ritter taumelte. Es gelang ihm, einem weiteren Hieb der Baggerhand auszuweichen, aber er verlor dadurch vollends das Gleichgewicht und stürzte schwer nach hinten. Mit einem einzigen Schritt setzte ihm der Eisenmann nach und beugte sich über ihn.

Und Kim erwachte endlich aus seiner Erstarrung.

Fast ohne sein Zutun bewegte sich seine Hand, packte den Griff und zog das Schwert aus dem Boden. Und im gleichen Moment, in dem er es berührte, geschah etwas Seltsames: Es war, als fließe eine unsichtbare Kraft aus dem schwarzen Metall der Klinge in Kims Körper. Das Schwert war schwer, sicherlich einen halben Zentner, und normalerweise hätte Kim zwei Hände gebraucht, um es überhaupt zu heben. Jetzt spürte er das Gewicht kaum. Ja, mehr noch - das Schwert paßte sich so seiner Hand an, als wäre es keine Waffe, sondern eine natürliche Verlängerung seines Armes. Und es war auch eigentlich nicht Kim selbst, der das Schwert in die Höhe hob und sich mit einem Schrei auf den Eisenmann warf, sondern vielmehr die Waffe, die Kim mit sich zog.

Der Eisenmann bemerkte die neue Gefahr erst im letzten Moment, und seine Reaktion kam zu spät. Er hob den Kopf und starrte Kim aus seinem grünbösen Auge an, aber fast im gleichen Sekundenbruchteil traf die Klinge seinen kantigen Schädel und schlug ihn von den Schultern. Kim spürte keinerlei Widerstand, als der Stahl durch die dicken Eisenplatten schnitt.

Der eiserne Koloß erstarrte. Zuerst stand er reglos, in grotesk vorgebeugter Haltung da, dann begann er zu wanken und kippte schließlich krachend nach vorne. Der Ritter konnte sich gerade noch zur Seite werfen, um nicht von dem zusammenbrechenden Roboter erschlagen zu werden.

Kim ließ das Schwert sinken und bückte sich, um zu sehen, wie es um den Fremden stand. Der Ritter rappelte sich mit klirrender Rüstung auf - und entriß Kim das Schwert. Kim fand nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen, da war der andere schon hochgesprungen und hetzte mit weit ausgreifenden Schritten in die Richtung, aus der noch immer Kampflärm drang. Kim folgte ihm.

Als er um die Ecke bog, bot sich ihm ein erstaunlicher Anblick: In Stücke gehauen lagen die Überreste von drei Eisenmännern auf dem Boden herum, und eben als sich der schwarze Ritter in den Kampf stürzen wollte, wurde auch der dritte plötzlich von der gewaltigen Baumwurzel, die vorhin so rasch gewachsen war, getroffen und zermalmt. Jetzt erst sah Kim, was es eigentlich war - das Ende eines ausgerissenen Baumes, den irgend jemand als Keule benutzte. Und dieser Jemand hatte, wie sich herausstellte, auch die entsprechende Größe dazu. Vor ihnen, in Schweiß gebadet und noch immer kampflustig mit seinem ungewöhnlichen Knüppel wedelnd, stand ein Riese, gut doppelt so groß wie der Ritter, mit schwarzem Haar und Muskeln, die sich wie knotige Taue unter seiner sonnengebräunten Haut wölbten. Und einem Gesicht, das - »Gorg!« flüsterte Kim fassungslos.

Der Kopf des Riesen ruckte herum. Zwischen seinen Augenbrauen entstand eine ärgerliche Falte - und dann erschien auch auf seinem Gesicht ein fassungsloser Ausdruck. »Kim?« murmelte er. »Du ... das ... das bist wirklich ... du? Aber ...« Plötzlich ließ er seine Keule fallen, war mit einem Satz bei Kim und riß ihn in die Höhe. Es war tatsächlich Gorg; Gorg, der gutmütige Riese, der so gerne den Feigling und Dummkopf spielte (und weder das eine noch das andere war!) und der Kim schon einmal auf einer gefahrvollen Reise durch das Land Märchenmond begleitet hatte. Kim jubelte und lachte laut vor Freude, und Gorg seinerseits hörte nicht auf, ihn wild im Kreis zu wirbeln und dabei immer wieder seinen Namen zu brüllen.

Endlich beruhigte sich Kim und versuchte mit wenig Erfolg, sich aus Gorgs gewaltigen Pranken zu befreien. »Laß mich los, Grobian«, lachte er. »Du zerdrückst mich ja!« Gorg setzte ihn behutsam ab, beruhigte sich aber keineswegs. »Du bist es!« sagte er immer und immer wieder. Er konnte es einfach nicht fassen. »Wir haben alle so gehofft, daß du kommst, aber keiner hat gewagt, daran zu glauben! Nun bist du da. Jetzt wird alles gut.« Er wedelte aufgeregt zu dem schwarzen Ritter hin. »Sieh, wer da ist!« sagte er. »Sieh doch nur!«

Der schwarze Ritter kam mit langsamen Schritten näher. Er hatte sein Schwert wieder eingesteckt und die ganze Zeit über reglos zugesehen, während Gorg und Kim sich ihrer Wiedersehensfreude hingaben. Und obwohl das schwarze Visier des Helmes noch immer heruntergeklappt war, spürte Kim, daß sich dahinter ebenfalls Überraschung verbarg. »Ich weiß«, murmelte der Ritter. »Ich ... ich habe ihn auch schon erkannt. Aber ...«

Diese Stimme! dachte Kim. Sie klang verzerrt aus dem eisernen Helm, aber Kim erkannte sie!

»Du?« flüsterte er.

»Ja«, antwortete Priwinn, der Steppenprinz von Caivallon, während er seinen Helm abnahm.

Und dann lagen auch sie einer in den Armen des anderen und schlugen einander auf die Schultern und lachten, bis sie beide nicht mehr konnten und keuchend nach Luft ringen mußten.

»Wo kommt ihr her?« fragte Kim atemlos. »Was tut ihr hier, und -«

»Eines nach dem anderen«, unterbrach ihn Priwinn. Seine Augen strahlten, während er Kim ansah. Der junge Prinz hatte sich kaum verändert in all der Zeit, die vergangen war: Er war noch immer schlank und dunkelhaarig und hatte ein edles Gesicht, das fast schon das eines Mannes war, aber seine jugendhafte Fröhlichkeit wahrscheinlich nie verlieren würde. Nur in seinen Augen, fand Kim, war etwas, das damals nicht dagewesen war. Eine Verbitterung, die nicht zu dem jugendlichen Aussehen des Prinzen passen wollte.

Aber sie kamen nicht dazu, zu erzählen, denn plötzlich hörten sie Schritte, und schon teilte sich das Unterholz hinter ihnen, und eine in blaßgelbe Blätter gehüllte Gestalt trat heraus.

»Seid ihr von Sinnen, einen solchen Lärm zu veranstalten?« fauchte Limb. »Man hört euch ja noch zwei Äste weiter. Ihr -«

Er verstummte mitten im Wort, als sein Blick Kim erfaßte. Seine Augen wurden schmal. »Was macht er hier?« fragte er mißtrauisch. »Ich hab ihn vorher mit Oak getroffen.« Gorg hob beruhigend die Hand. »Keine Sorge«, sagte er. »Er ist unser Freund.«

»Du kannst ihm vertrauen«, fügte Priwinn hinzu. »Ebenso wie mir und Gorg.«

Limb zögerte. Das Mißtrauen in seinem Blick erlosch nicht völlig. Aber dann sah er die zertrümmerten Eisenmänner, und ein zufriedener Ausdruck breitete sich auf seinen Zügen aus. »Ehr habt sie erwischt«, meinte er. »Gut.«

»Hast du daran gezweifelt?« fragte Gorg leicht beleidigt. »Es sind nur fünf«, zählte Limb, ohne auf seine Frage zu antworten.

»Der andere liegt dort auf dem Weg«, erklärte Priwinn. Er deutete auf Kim. »Unser Freund hat ihn erschlagen.«

»In Ordnung. Aber wir sollten jetzt machen, daß wir wegkommen. Wenn uns jemand sieht, ist alles aus. Oak ist ohnehin schon unruhig geworden, als dieser junge Narr da einfach hinter euch hergestürzt ist.« Er ging davon, hielt aber am Waldrand noch einmal an. »Wir treffen uns in der neuen Stadt! Beeilt euch.« Und damit war er verschwunden.

»Was bedeutet das?« wunderte sich Kim.

Priwim winkte ab. »Limb hat recht - wir können nicht hierbleiben. Es ist zu gefährlich. Du kommst doch mit uns?« Seine Frage - die eigentlich eine Feststellung war - galt Kim. Dieser nickte fast automatisch, sah sich aber dann suchend um. Wo war Bröckchen? Kim erinnerte sich, daß es von seiner Schulter gesprungen war, als er sich auf den Eisenmann stürzte, aber seither hatte er den Federwusch nicht mehr gesehen.

»Was suchst du?« fragte Gorg.

»Ich vermisse jemanden«, antwortete Kim. »Einen Freund.«

»Einen Freund? Wie sieht er aus?«

»Oh, du wirst ihn schon erkennen, wenn du ihn siehst«, antwortete Kim. »Wartet einen Moment. Es kann nicht lange dauern.« Ohne Gorgs Antwort abzuwarten, trat er wieder auf den Weg hinaus und rief ein paarmal nach Bröckchen. Tatsächlich trippelte der gelbrote Federwusel nach einigen Augenblicken hinter einem Busch hervor. »Ist alles vorbei?« druckste er kleinlaut.

Kim lächelte. »Ja. Komm schon, du Feigling.«

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Bröckchen und sprang dabei gehorsam auf Kims Schulter hinauf. »Wer sind die beiden?«

»Das erkläre ich dir später«, antwortete Kim. »Wir müssen fort.«

Aber er hielt noch einmal inne und ließ sich neben einem zerstörten Eisenmann auf die Knie sinken. Nachdenklich streckte er die Hand nach seinem abgeschlagenen Kopf aus und drehte ihn herum.

Der Kopf war vollkommen leer.

Und so war auch der Rest des rostroten Titanen: nichts als eine leere, eiserne Hülle. Kim war verwirrt. Er wußte nicht, was er erwartet hatte, vielleicht ein kompliziertes System aus Zahnrädern und Hebeln, irgendeine Art von Mechanik, irgend etwas eben - aber nichts? Was hielt die Eisenmänner in Bewegung und ließ sie arbeiten?

»Unheimlich, nicht?« sagte eine Stimme über ihm.

Kim blickte erschrocken auf und sah in Priwinns Gesicht. Der Prinz der Steppenreiter war lautlos näher gekommen und blickte wie Kirn auf den Eisenmartn herab. Aber auf seinem Gesicht zeigte sich weniger Verwirrung als Zorn - ja, Haß.

»Ich verstehe das nicht«, murmelte Kim. »Was hält sie am Leben?«

»Magie«, antwortete Priwinn, und nun klang seine Stimme wirklich haßerfüllt.

»Zauberei des Zwergenvolkes in den östlichen Bergen. Aber jetzt müssen wir weg hier. Ich erkläre dir alles, sobald wir in Sicherheit sind.«

Für die nächste Stunde jedenfalls kam Kim nicht dazu, seinen Freunden auch nur eine einzige der unzähligen Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge brannten. Die beiden legten ein erstaunliches Tempo vor, während sie quer durch den Astdschungel und später (was auch sonst?) wieder die Treppe hinaufeilten. Kims Beine fühlten sich bald so schwach wie Pudding an, und auch Priwinns Kräfte erlahmten sichtlich. Schließlich wurde es Gorg zuviel - er setzte sich die beiden kurzerhand auf die Schultern und rannte, jetzt immer sieben oder manchmal auch zehn Stufen auf einmal nehmend, weiter die Treppe hinauf.

Trotz der Eile begann es bereits zu dämmern, bis sie sich dem eigentlichen Wipfel des Baumes näherten. Hier oben schien noch die Sonne, aber die Schatten waren bereits länger geworden, und in das Licht hatte sich eine Spur von Grau gemischt. Unten auf dem Boden, der endlos entfernt zu sein schien, mußte die Nacht längst hereingebrochen sein. Kim staunte nicht schlecht über das, was sie auf den obersten und merklich dünneren der gewaltigen Äste erwartete: Vor ihnen erhob sich eine Stadt, die mit Abstand die größte und prachtvollste war, die Kim bisher auf dem Baum zu Gesicht bekommen hatte. Die Häuser waren höher und weitläufiger und in einem weitaus aufwendigeren, wenn auch nicht unbedingt hübscheren Stil erbaut. Als sie näher kamen, da sah Kim, daß sich die Stadt nicht nur auf diesem einen Ast erstreckte, sondern sich wie ein Spinnennetz auf einem gewaltigen Geflecht aus Balken und Streben weit ins Leere hinausgeschoben hatte und da und dort schon die benachbarten Äste erreicht hatte.

Und er bemerkte auch, daß sie ausgestorben war. Nirgends rührte sich etwas. Nirgends brannte ein Licht. Man hörte keinen Laut.

»Sie ist noch nicht fertig«, erklärte Priwinn. »Es wohnt noch niemand hier. Falls überhaupt einer jemals hier einziehen wird, heißt das.«

Kim sah ihn verwundert an, aber Priwinn gebot ihm mit einer Geste, zu schweigen, sah sich rasch und aufmerksam nach allen Seiten um und huschte dann mit schnellen Schritten auf eines der leerstehenden Gebäude zu. Kim und Bröckchen folgten ihm, während Gorg sich in einem Schatten aufstellte, um Wache zu halten, wie er sagte. Die Wahrheit war wohl eher, vermutete Kim, daß das Haus einfach zu klein für ihn war. Gorg hatte einige Übung darin, sich den Schädel an zu niedrigen Decken und Türen einzurennen.

»Treffen wir uns hier mit deinem Freund?« fragte Kim, als sie das Gebäude betreten hatten.

»Limb?« Priwinn schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mein Freund«, sagte er, »nur unser Verbündeter. Setz dich - wir haben eine Menge zu besprechen.«

Kim gehorchte, aber erst nach einigem Zögern und mit einem unguten Gefühl. Dieses Haus gefiel ihm 'nicht. Und etwas an der Art, in der Priwinn gesprochen hatte, auch nicht. Als sie am Tisch Platz genommen hatten, erschien ein gewaltiger Schatten vor einem der Fenster, und Gorgs breit-flächiges Gesicht lugte zu ihnen herein. Priwinn nickte ihm flüchtig zu, dann wandte er sich an Kim.

»Ich kann es immer noch nicht fassen, daß du wieder da bist«, sagte er. »Ich habe es so gehofft. Wir alle haben auf dich gewartet.«

»Auf mich?« wunderte sich Kim.

»Nicht nur Gorg und ich«, bestätigte Priwinn. »Ganz Märchenmond hat um deine Rückkehr gefleht - wenigstens die, die noch nicht verdorben sind«, schränkte er ein. »Wie meinst du das?«

Bevor Priwinrt antworten konnte, tauchte plötzlich ein schlanker Schatten aus einer Ecke des Raumes auf und näherte sich ihnen. Bröckchen pfiff erschrocken und kroch so dicht an Kims Hals heran, wie es nur konnte. Der Schatten kam näher und wurde zu einem pechschwarzen, riesengroßen Kater, der Kim und seinen papageienbunten kleinen Freund aus glühenden Augen betrachtete.

»Hallo«, sagte Kim erfreut. »Wer bist du denn?«

»Die Frage könnte ich zurückgeben«, knurrte der Kater. »Schließlich bist du in mein Haus gekommen, und nicht umgekehrt.«

Kim ächzte, während Priwinn hinter vorgehaltener Hand leise in sich hineinlachte.

»Er versteht mich«, entfuhr es Kim.

»Natürlich«, maulte der Kater. »Was hast du gedacht?« Priwinn platzte nun doch vor Lachen heraus. »Sheera macht sich gerne einen Spaß daraus, die Leute zu verblüffen«, sagte er. »Aber er ist ein netter Kerl - wenn auch seine Manieren manchmal etwas zu wünschen übriglassen«, fügte er mit einem tadelnden Seitenblick auf den Kater hinzu. »Manieren? Was heißt hier Manieren?« ereiferte sich Sheera. »Bin ich etwa hier reingekommen, ohne anzuklopfen und habe mich ungefragt in anderer Leute Haus breitgemacht, oder der da? Nicht mal vorgestellt hat er sich.«

»Mein Name ist Kim«, sagte Kim hastig. Er machte eine Kopfbewegung auf seine Schulter herab. »Und das ist ... Bröckchen.«

»Bröckchen, so«, knurrte Sheera. »Winzling würde besser passen. Wieso ist er so kunterbunt?«

»Wieso bist du so schwarz, du Flegel?« gab Bröckchen ärgerlich zurück. »Und was ist das überhaupt für ein Benehmen, Gäste so anzufahren?«

»Gäste? Ha!« Sheera hob eine Pfote und ließ fünf rasiermesserscharfe Krallen hervorschnellen. »Paß bloß auf, du Großmaul, daß ich dir nicht zeige, was ich mit uneingeladenen Landstreichern mache, die in mein Haus kommen.«

»Na, dann komm doch, komm doch!« keifte Bröckchen und begann kampflustig auf Kims Schulter auf und ab zu trippeln.

Sheeras Augen wurden zu schmalen, gelben Schlitzen. »Du fühlst dich wohl sehr sicher da oben, wie?« knurrte er. »Hört auf, ihr beiden«, sagte Priwinn streng.

Aber Bröckchen und der Kater waren nicht mehr zu bremsen.

»Wenn du glaubst, daß ich Angst vor dir habe, dann täuscht du dich, du schwarzes Ungeheuer!« - »So?« knurrte Sheera. »Dann komm runter da. Wir gehen vor die Tür und machen uns dort den Rest aus!«

»Nun ja ...«, murmelte Bröckchen. »Theoretisch gerne.«

»Und praktisch?«

»Ich schlage mich nicht mit gemeinem Pack«, tönte es von oben.

Und: »Gemeines Pack?« kreischte es von unten.

»Aber bitte, wenn du darauf bestehst, dann ...«, sagte Bröckchen mutig.

»Also los«, knurrte Sheera und klappte kampfbereit sämtliche Krallen aus seinen Pfoten.

»Nicht jetzt«, antwortete Bröckchen verschmitzt. »Ich erwarte dich unmittelbar nach Sonnenuntergang.«

»Wie du meinst«, sagte Sheera und machte einen Buckel. »Also, das würde ich mir überlegen«, warf Kim ein.

»Bröckchen ist -«

»Schluß jetzt«, unterbrach ihn Priwinn ungeduldig.

»Verschwinde, Sheera. Und dein kleiner Freund da«, fügte er in Kims Richtung gewandt hinzu, »sollte lieber sein vorlautes Mundwerk im Zaum halten. Mit Sheera ist nicht zu spaßen.« Er machte eine ärgerliche Geste. »Ich denke, wir haben Wichtigeres zu besprechen.«

Da war Kim mit ihm einer Meinung. Trotzdem blickte er dem Kater verblüfft nach, als dieser mit stolz erhobenem Haupt aus dem Haus spazierte.

»Woher hast du ihn?« fragte er.

»Sheera?« Priwinn lächelte, aber er wirkte dabei ein bißchen traurig. »Er ist mir zugelaufen, vor einem Jahr. Oder ich ihm, ganz wie man will.«

Kim blickte dem Kater sinnend nach.

»Früher einmal gab es viele Tiere, die sprachen«, sagte Priwinn düster. »Aber das ist lange her. Ich habe seit Ewigkeiten keine mehr getroffen, außer Sheera. Manchmal glaube ich, daß er der letzte seiner Art ist.«

»Was ist geschehen?« fragte Kim leise.

Priwinn seufzte. »Wenn ich das wüßte«, sagte er. »Etwas ... geschieht in Märchenmond. Etwas Schreckliches.« Er sah Kim so erwartungsvoll an wie schon einmal der Bauer Brobing. »Ich... ich hatte gehofft, daß du mir diese Frage beantworten kannst.«

Aber das konnte Kim noch immer nicht, so gerne er es auch getan hätte.

Und so begann er zu erzählen, wie er hierher gekommen war und was er bisher erlebt hatte. Priwinn hörte schweigend zu, ohne auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen, und vieles von dem, was er hörte, schien in zu erschüttern. Sogar als Kim mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, herrschte noch eine Weile bedrücktes Schweigen.

»Kelhim tot?« murmelte Priwinn schließlich. »Das ... das ist schlimm.«

Kim blickte flüchtig zum Fenster. Gorg hatte das Gesicht abgewandt, aber seine Schultern zuckten, als kämpfe der Riese mit den Tränen.

»Und doch gibt mir das Anlaß zur Hoffnung«, fuhr Priwinn plötzlich fort.

Kim sah erstaunt auf, doch schon sprach der Prinz weiter.

»Er kann nicht vollständig zum wilden Tier geworden sein, nach dem, was du erzählt hast, denn am Ende ist Kelhim wieder er selbst geworden. Das heißt, daß noch nicht alle Hoffnung verloren ist.«

»Hoffnung worauf?« wollte Kim wissen.

»Daß alles ... wieder so wird, wie es einmal war«, antwortete Priwinn stockend. »Märchenmond hat sich verändert, Kim. Und es verändert sich weiter, immer schneller und schlimmer.« Der Steppenprinz nickte ernst wie zur Bestätigung seiner Worte. »Nimm die Baumleute. Sie sind das friedlichste Volk, das es in unserer Welt gibt. Und doch haben selbst sie sich bereits verändert. Es war einmal ein Volk, das viel Freude am Leben hatte, das gern lachte und endlose Feste feierte. Heute ...« Er rang einen Moment mit sich. »Du hast Limb erlebt. Und die anderen auch, auf dem Fest. Dieser Baum war früher eine große Gemeinschaft, die niemanden danach fragte, wer er war oder wie er aussah. Noch vor einigen Jahren wußte man hier gar nicht, was das Wort Streit bedeutet. Heute leben die einzelnen Stämme in getrennten Städten. Die Blauen verachten die Grünen, die Grünen machen sich über die Gelben lustig, die Gelben hassen die Weißen und so fort. Und dabei merken sie nicht einmal, was mit ihnen geschieht.«

»Einige offensichtlich schon«, wandte Kim ein.

»Du meinst Limb und die anderen Gelben?« Priwinn schüttelte traurig den Kopf. »Oh nein, das täuscht. Sicher, sie haben recht, daß die Eisenmänner dem Baum schaden. Aber sie kennen kein Maß in ihren Zielen ...«

»Jemand kommt«, unterbrach ihn Gorg vom Fenster her. »Limb?«

»Ja«, antwortete der Riese nach einigen Augenblicken. »Er scheint es ziemlich eilig zu haben.«

Priwinn und Kim blickten erwartungsvoll zur Tür, und tatsächlich kam Limb, der Gelbe, schon wenig später hereingestürmt, vollkommen außer Atem und in Schweiß gebadet. »Ihr müßt fort«, rief er sogleich. »Ihr seid verraten worden. Wir alle sind verraten worden. Sie haben die zerschlagenen Eisenmänner gefunden und wissen, was geschehen ist.«

»Himmel!« schrie Priwinn und stand mit einem Satz auf. »Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Limb, der noch immer nach Luft rang. Er war wohl die ganze Strecke bis hier herauf gerannt. »Und es kommt noch schlimmer: Sie wissen, daß wir uns in der neuen Stadt verborgen halten und sind auf dem Weg hierher. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Und ich muß fort, ich muß die anderen warnen.« Plötzlich ballte er die Fäuste. »Ich hätte gute Lust, diese ganze verdammte Stadt in Brand zu stecken.«

»Aber warum denn?« wunderte sich Kim.

Limb starrte ihn zornig an. »Das fragst du? Weil der Preis dafür viel zu hoch ist. Sieh dich doch bloß um!«

Das tat Kim denn auch. Aber ihm fiel nichts Besonderes auf - außer vielleicht, daß das Haus viel größer und sorgfältiger verarbeitet war als bei Oak unten auf dem ersten Ast. »Du siehst nichts?« schrie Limb aufgebracht. »Dann schau her!«

Und damit riß er den Stuhl, auf dem Priwinn gerade noch gesessen hatte, heftig in die Höhe und schmetterte ihn mit aller Kraft auf den Tisch herab.

Tisch und Stuhl zerbrachen, und da wurde Kim klar, was der gelbe Blättermann meinte.

Diese Möbel waren nicht natürlich aus dem Baum gewachsen wie in Oaks Haus. Sie bestanden aus einzelnen gehobelten und kunstvoll verarbeiteten Brettern. Wie alles andere auch hier in diesem Zimmer, dem ganzen Haus, ja, der ganzen Stadt.

»Sie schneiden das Holz aus dem Herzen des Baumes heraus!« sagte Limb. »Was Jahrhunderte gebraucht hat, zu wachsen, wird binnen kurzem nun zerschnitten und zerstört. Und nur, weil das Alte nicht mehr genügt.«

»Aber es sind doch nur ein paar Bretter«, warf Kim vorsichtig ein.

»Nein!« widersprach Limb. »Es sind nicht ein paar Bretter, es ist der Anfang vom Ende. Wer soll hier noch leben, wenn einmal nichts mehr vom Herzen dieses Baumes übriggeblieben ist?«

»Aber wächst es denn nicht nach?«

»Nun, wenn überhaupt, dann so langsam, daß es für uns keine Bedeutung hat. Dieser Baum ist alt, Kim, unendlich alt. Und es gibt nur diesen einen, unser Volk kann nirgendwo anders leben, ist er einmal verbraucht.«

Er brach ab, und Kim sagte nichts mehr, obwohl ihm noch viel auf der Zunge lag.

»Wir sollten jetzt gehen«, mahnte Priwinn in das unbehagliche Schweigen hinein. »Wenn sie dich finden, wirst du eine Menge unangenehmer Fragen beantworten müssen.«

»Sie werden mich nicht finden«, sagte Limb trotzig.

»Aber ihr drei solltet euch auf den Weg nach Gorywynn machen, dort sprecht mit Themistokles, dem Zauberer. Vielleicht hilft das, diese Narren hier zur Einsicht zu bringen. Also geht.«

Priwinn und Kim verließen das Haus, und Gorg schloß sich ihnen draußen an. Kim wollte sich nach links wenden zur Treppe hin, aber Prinz Priwinn schüttelte den Kopf. »Das hätte wenig Sinn«, sagte er. »Wir würden ihnen genau in die Arme laufen. Wir nehmen besser einen anderen Weg.«

Plötzlich lächelte Priwinn wieder. »Paß nur auf.«

Er legte den Kopf in den Nacken, formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und stieß einen hohen, trällernden Laut aus.

Für ein paar Augenblicke war es still. Aber dann hörte Kim ein mächtiges Rauschen, und als er den Kopf hob, sah er, wie aus der sinkenden Sonne heraus ein gewaltiger goldener Schemen auf den Baum herabstieß.

Plötzlich ging alles sehr schnell. Ein riesiger goldener Drache landete dicht neben ihnen auf dem Ast. Priwinn und Gorg kletterten rasch in seinen Nacken. Aber noch bevor Kim auch nur seiner freudigen Überraschung Ausdruck verleihen konnte, hatte Gorg ihn samt seinem kleinen Freund kurzerhand in die Höhe gehoben und vor sich hingesetzt. Im nächsten Moment schwang sich der Drache Rangarig auch schon mit einem mächtigen Flügelschlagen in die Luft und schwenkte nach Süden.

Während Rangarigs goldschimmernde Schwingen sie über das Land trugen, geschah etwas, von dem Kim zwar schon gehört, es aber noch nie selbst erlebt hatte: Sie holten den Tag ein. Der Drache flog schneller, als sich die Sonne bewegte, und so genoß Kim zum erstenmal das seltene Schauspiel, den lodernden roten Feuerball wieder über den Horizont in die Höhe klettern zu sehen, noch ehe er vollends versunken war. Natürlich nicht sehr weit - Rangarig war zwar ein gewaltiges Wesen mit schier unerschöpflichen Kräften, aber er war so dahingerast, daß er jetzt an Höhe zu verlieren begann und nach einem Landeplatz Ausschau hielt.

Sie fanden einen Flecken, der ihnen sicher schien: ein kahles Felsplateau mit nur wenigen kümmerlichen Büschen und Moos. Es fiel an allen Seiten nahezu lotrecht Hunderte von Metern weit ab. Nichts, was keine Flügel hatte oder klettern konnte wie eine Spinne, würde sie hier oben erreichen.

Der Drache setzte sanft wie ein fallendes Blatt auf dieser natürlichen Burg auf, und sie kletterten nacheinander von seinem Rücken. Kims Beine zitterten. Gorg hatte ihn zwar festgehalten, aber der Flug des Drachen war so pfeilschnell gewesen, daß Kim sich trotzdem mit aller Macht an einen der hornigen Auswüchse geklammert hatte, die hinter Rangarigs Schädel hervorwuchsen. Kims Gesicht brannte vom Wind, und seine schmerzenden Augen tränten. Und doch eilte Kim, kaum hatten seine Füße festen Boden berührt, um den Drachen herum, sprang mit einem Satz über seinen langen geschuppten Schwanz und rannte nach vorne, um Rangarig ins Gesicht blicken zu können. Der Drache kam ihm viel größer vor als beim letztenmal, und im Licht der Sonne, die nun zum zweitenmal an diesem Abend sank, schimmerten Rangarigs handgroße Schuppen eher wie sprödes Kupfer denn wie Gold. Seine Augen - jedes einzelne davon war größer als Kims ganzer Kopf - blickten ausdruckslos auf Kim herab, und sein Atem ging rasselnd und schwer. Der rasende Flug hatte den Drachen doch sehr erschöpft.

Eine Weile stand Kim einfach da, mit weit in den Nacken gelegtem Kopf und blickte in das riesige Drachengesicht hinauf. Er suchte vergeblich nach Worten. Seine Freude, Rangarig wiederzusehen, war ebenso groß gewesen wie vorhin, als er Prinz Priwinn und den Riesen Gorg getroffen hatte. Aber seit Rangarig auf dem Baum gelandet war, war einige Zeit vergangen - und außerdem spürte Kim, daß mit dem Drachen etwas nicht stimmte.

»Rangarig«, sprach er ihn schließlich an. »Wie geht es dir?« Er kam sich ein wenig albem bei diesen Worten vor, aber sie waren das einzige, was er herausbrachte. Und zum erstenmal, seit er dieses machtvolle Wesen kannte, empfand er es als furchteinflößend.

»Gut«, knurrte Rangarig - und das war für den Drachen, dessen Geschwätzigkeit überall im Lande regelrecht berüchtigt war, nun wirklich eine ungewöhnliche Antwort. Was war mit Rangarig los? Kim hatte nicht unbedingt erwartet, daß der Drache vor Freude dreimal in die Luft sprang. Aber daß er so gar kein Zeichen gab?

»Es ist... lange her, daß wir uns gesehen haben«, sagte Kim unsicher.

»Für dich vielleicht«, brummte Rangarig. »Wir Drachen rechnen in anderen Zeiträumen.« Und in einem Ton gelangweilter Höflichkeit fügte er hinzu: »Wie ist es dir ergangen - inzwischen?«

»Auch gut«, murmelte Kim verlegen. Er fing einen Blick von Priwinn auf und begriff, daß der junge Steppenprinz ihm etwas sagen wollte. »Wir reden später weiter, ja?« Rangarig wandte gleichgültig den mächtigen Kopf und bettete die Schnauze auf die übereinandergelegten Vordertatzen. »Meinetwegen.«

Kim war erleichtert, als er sich von dem Drachen entfernen konnte. »Was ist denn los mit ihm?« wandte er sich verwundert an Priwinn.

Priwinn legte rasch den Zeigefinger über die Lippen und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Sie gingen fast bis ans andere Ende des Felsplateaus, um sicher zu sein, daß Rangarig außer Hörweite war.

»Was ist los?« fragte Kim noch einmal. »Wieso ist er so abwesend? Habe ich ihm irgend etwas getan?«

»Nein«, antwortete Prinz Priwinn hastig und wieder mit diesem sonderbar schmerzlichen Lächeln. »Es liegt nicht an dir. Er hat sich ... verändert. Aber er ist nicht immer so, keine Angst. Wahrscheinlich wirst du morgen früh alle Hände voll zu tun haben, damit er dich vor lauter Freude nicht abküßt.«

Kim blieb ernst. »Was ist geschehen?«

»Dasselbe, was in ganz Märchenmond geschieht«, antwortete Priwinn bitter. »Hast du Kelhim vergessen? Rangarig ist launisch geworden. Manchmal ist er so mürrisch wie ein alter Mann. Manchmal beginne ich ihn fast zu fürchten. Das ist es, Kim, was ich meine: Unsere Welt stirbt.«

»Unsinn!« widersprach Kim, aber das Wort kam zu schnell und zu heftig, um auch nur ihn selbst zu überzeugen. »Natürlich wird sie weiterbestehen«, meinte Priwinn. »Aber es wird nicht mehr die Welt sein, wie du sie einst gekannt hast. Ihre Bewohner werden böse und hart. Keiner gönnt dem anderen mehr etwas. Freunde werden zu Feinden und Nachbarn zu Fremden.«

»So wie Harkran, dein Vater, und der Tümpelkönig?« fragte Kim.

Priwinn fuhr zusammen wie unter einem Schlag. Seine Lippen wurden schmal, und Kim bedauerte seine ungeschickten Worte sofort wieder.

»Entschuldige.«

Priwinn winkte ab. »Du hast recht«, sagte er niedergeschlagen. »Man hat dir also davon erzählt.«

»Ja, aber ich konnte es nicht glauben«, antwortete Kim. »Nun«, erwiderte der Steppenprinz, »es ist wahr. Wie vieles andere auch, das ebenso schlimm ist.«

»Was ist bloß geschehen?« fragte Kim verzweifelt. »Ist Morgen wieder auferstanden?«

»Nein. So einfach ist es nicht. Es ist kein Feind, der uns von außen bedroht, Kim. Es ist viel schlimmer.« Er seufzte tief und schwieg eine Weile. »Es ist, als... als würden wir zu eigenen Feinden«, sagte er schließlich.

Ein unbehagliches Schweigen kehrte ein, und es hätte wohl noch eine Weile gedauert, wäre nicht plötzlich ein schwarzer buckliger Schatten aus der Dämmerung aufgetaucht, der aus gelbleuchtenden Augen zu Kim hinaufsah. Genauer gesagt, zu dem orange-roten Federbüschel, das noch immer auf seiner Schulter saß.

»He, Angeber!« knurrte Sheera. »Hast wohl gedacht, du könntest dich aus dem Staub machen, wie?«

Bröckchen blickte den schwarzen Kater verblüfft an - auch Kim schüttelte überrascht den Kopf. Er hatte gar nicht gemerkt, daß Sheera sich ebenfalls auf Rangarigs Rücken geschwungen hatte.

»Nun ja ...«, begann Bröckchen, wurde aber sofort wieder von Sheera unterbrochen: »So leicht ist das nicht. Wir haben eine Verabredung - schon wieder vergessen?«

»Ich dachte, du legst keinen Wert darauf!« Bröckchen hatte jetzt zu seiner gewohnten, patzigen Art zurückgefunden.

Sheera keuchte vor Verblüffung und machte einen Buckel. »Bursche!« grollte er. »Komm da runter! Jetzt reicht's!«

»Warte«, erwiderte Bröckchen gelassen. »Nach Sonnenuntergang war ausgemacht.« Er sprang mit einem Satz von Kims Schulter, sah sich rasch um und deutete dann mit der Pfote auf einen der wenigen Büsche, die auf dem kahlen Plateau wuchsen. »Ich erwarte dich dort, sobald es dunkel geworden ist. Wenn du Verstärkung mitbringen willst, dann frag doch den Drachen, ob er dir hilft.«

Sheera sperrte über diese neuerliche Unverschämtheit Maul und Augen auf und beherrschte sich sichtlich nur noch mit Mühe.

Bröckchen trippelte wortlos davon.

Während Sheera mit gesträubtem Buckel ungeduldig darauf wartete, daß die Sonne endgültig hinter dem Horizont versank, setzte sich Kim mit untergeschlagenen Beinen auf den harten Boden, und nach einigen Augenblicken tat es ihm Priwinn gleich. Kurz darauf gesellte sich auch Gorg zu ihnen, der bisher in der Nähe des Drachen gewartet hatte. Priwinn warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Er schläft«, antwortete der Riese. »Ich glaube, heute ist es nicht so schlimm.«

Der letzte rote Streifen Sonnenlicht erlosch, und im gleichen Moment schoß Sheera los und krachte wie ein schwarzer Blitz in den Busch hinein, hinter dem Bröckchen verschwunden war. Man hörte nur das Krachen und Bersten zerbrechender Zweige, und dann erscholl ein schrilles, entsetztes Kreischen. Priwinn sah fragend auf, und Gorg runzelte die breite Stirn.

»Er hat Bröckchen gefunden«, sagte Kim beiläufig.

Auch Priwinn schien jetzt zu der Auffassung zu gelangen, daß die beiden Kampfhähne keinerlei Unterstützung brauchten, denn er nahm übergangslos das Gespräch wieder auf.

»Der Junge im Krankenhaus, von dem du mir erzählt hast«, begann er. »Kannst du ihn beschreiben? Wie sah er aus?«

Kim überlegte angestrengt. Er glaubte, das Gesicht des Jungen vor sich zu sehen - aber wie sollte er ihn beschreiben? »Wie ein Junge eben«, sagte er hilflos.

Hinter dem Busch hob ein wütendes Schreien und Keifen an, und die Äste begannen zu zittern.

»Er war etwas größer als du - aber jünger, glaube ich. Er war sehr blaß und hatte dunkles Haar.« Priwinn war sichtlich enttäuscht. Die Schreie hinter dem Busch wurden lauter, und er warf einen besorgten Blick dorthin, ehe er antwortete: »Das nützt nicht viel, Kim. Die meisten Steppenreiter haben dunkles Haar.«

»Meinst du jemanden Bestimmten?« fragte Kim. Priwinn nickte, und Kim fügte mitfühlend hinzu: »Ein Freund?«

»Ja«, antwortete der Prinz nach einer kurzen Pause. »Ein Freund.«

Kim dachte an Jara und Brobing, auch sie hatten einen schmerzlichen Verlust zu verkraften.

Plötzlich fiel ihm etwas auf, an das er noch gar nicht gedacht hatte. Verblüfft sah er Priwinn an. »Als ich das letzte Mal hier war, da war Jaras Kind noch so klein«, sagte er stirnrunzelnd.

»Und jetzt war Torum beinahe in meinem Alter. Wie kann das angehen?«

»Du weißt doch, daß die Zeit hier in Märchenmond anderen Gesetzen gehorcht als bei euch?« erinnerte ihn Priwinn.

»Aber du, Priwinn, bist keinen Tag älter geworden!«

Priwinn lächelte milde. »Natürlich nicht«, erklärte er. »Schon vergessen? Ich werde nicht älter, solange mein Vater Harkran lebt und über Caivallon herrscht. Erst wenn der alte König stirbt, wächst der Prinz zum Mann heran, um seinen Platz auf dem Thron einzunehmen.«

»Und auch du weißt nicht mehr über die verschwundenen Kinder als Brobing und Jara?« Es fiel Kim schwer, das zu glauben.

»Nein«, sagte Gorg an Priwinns Stelle.

»Aber in drei Tagen sind wir in Gorywynn. Dann wird uns Themistokles Rede und Antwort stehen.«

Schon die ganze Zeit über hatte der Busch gezittert, als rissen unsichtbare Fäuste an seinen Wurzeln, und manchmal stoben schwarze Fellbüschel hinter ihm in die Höhe, es regnete abgebrochene Stacheln und etwas, das an schmierige rote Federn erinnerte.

Jetzt hörte der Lärm urplötzlich auf, und alle Blicke wandten sich besorgt dem dornigen Gestrüpp zu. Einige Sekunden vergingen, dann teilten sich die Äste, und zwei reichlich zerrupfte Gestalten traten hervor.

Bröckchen in seiner Nachtgestalt humpelte sichtbar.

Zahlreiche seiner Stacheln waren geknickt, und der Rest war durcheinandergewirbelt, als wäre der Sturm hineingefahren. Eines seiner ohnehin quellenden Augen war dick angeschwollen und begann sich zu schließen.

Sheera sah nicht viel besser aus. Auch der Kater humpelte. Sein ehemals glänzendes glattes Fell war völlig zerzaust, und seine Schnauze sah aus, als hätte er versucht, einen Kaktus zu küssen.

»Was ist denn das?!« stöhnte Priwinn und deutete auf das häßliche Etwas, das neben dem Kater dahergetorkelt kam.

»Bröckchen«, sagte Kim ganz harmlos. »Ich gebe zu, sein Nachthemd gefällt mir auch nicht. Aber wie du siehst, war es ihm recht nützlich.«

»Ein ... ein Wertier?« staunte Gorg. »Es verwandelt sich. Warum hast du das nicht gesagt?«

Bröckchen schwieg eine Welle genüßlich. »Dann wäre mir eine prachtvolle Prügelei entgangen«, meinte es dann. »Und mir auch«, fügte Sheera hinzu, der sichtlich Mühe hatte, sich noch auf den Beinen zu halten. »Aber warte nur bis zum nächstenmal...«

Und plötzlich begannen die beiden herzhaft und schallend zu lachen, während die anderen nur noch verblüfft dreinschauten. Dann fielen sich die zwei gegenseitig in die Arme - was aber Sheera nicht sehr gut bekam, denn er zog sich mit einem erschrockenen Quietschen wieder zurück und schielte auf den weiteren Stachel, der in seiner Schnauze steckte. Nur, daß es auf einen mehr nicht ankam ... Bröckchen kicherte und gähnte herzhaft. »Und jetzt eine Kleinigkeit zur Stärkung.« Es sah sich suchend um. Schließlich blieb sein Blick auf Rangarigs zusammengerollter Gestalt hängen.

»Nein«, sagte Kim streng, als Bröckchen sich mit der Zunge über die pickeligen Lippen fuhr und vor lauter Gier zu sabbern begann.

Bröckchen wirkte enttäuscht. Aber er sagte nichts, sondern trollte sich zusammen mit Sheera, bis die beiden, unentwegt kichernd, in der Dunkelheit verschwanden.

»Du bist wirklich gut«, sagte Gorg kopfschüttelnd.

»Warum hast du uns nicht gesagt, daß du mit einem Wertier unterwegs bist?«

»Ich wußte bis jetzt nicht einmal, was das ist«, verteidigte sich Kim. »Es tut mir leid.«

»Du mußt dich nicht entschuldigen«, sagte Priwinn. Er blickte in die Richtung, in der Sheera und Bröckchen verschwunden waren. »Ich bin froh, daß es sie noch gibt.«

»Nun, das wird nicht mehr lange so sein«, schloß der Riese grollend.

Sie brachen am nächsten Morgen auf, noch bevor die Sonne auch nur halb über den Horizont gestiegen war; und Priwinns Prophezeiung, was Rangarigs Benehmen anging, stellte sich als nur zu wahr heraus: Es war, als erinnere sich der goldene Drache gar nicht mehr an seine groben Manieren vom vergangenen Tag, und seine Wiedersehensfreude war so überschäumend, daß Kim mehr als einmal allen Ernstes befürchtete, zwischen den gewaltigen Pranken des Drachen zerquetscht zu werden, so heftig drückte Rangarig ihn an sich. Und als sie endlich aufstiegen, da tollte Rangarig vor lauter Übermut so herum, daß seine Gäste schon fürchteten, abgeworfen zu werden - er schlug Kapriolen, ging ein paarmal spielerisch in einen so mörderischen Sturzflug herunter, daß selbst Gorg vor Angst aufschrie, und überschlug sich ein paarmal hintereinander in der Luft, bis Priwinn ihn mit scharfer Stimme zur Ordnung mahnte.

Was den Morgen anging, so war es genau umgekehrt wie am vergangenen Abend - statt in den Tag hinein, flogen sie mit der Nacht, so daß die Dämmerung der Frühe endlos schien. Kim fror erbärmlich, denn obgleich Gorg sich ganz nach vorne gesetzt hatte, um die anderen mit seinen riesigen Schultern vor dem eisigen Fahrtwind zu schützen, war die Kälte der Nacht noch groß. Als Rangarig schließlich wieder an Höhe verlor, um einen Landeplatz für die erste Rast zu suchen, war alles Gefühl aus Kims Gliedern gewichen. Er kam sich vor wie ein Eisblock. Seine Hände und Füße waren so taub, daß der Riese ihn von Rangarigs Rücken herunterheben mußte, denn allein hätte er es nicht mehr geschafft. Auch Bröckchen bibberte unter Kims Hemd. Als die lange Nacht dann endlich doch zu Ende ging, gewannen die Strahlen der Sonne jedoch rasch an Kraft, und sie spürten, wie die grausame Kälte allmählich verging und im gleichen Maße das Leben in ihre Körper zurückkehrte. Sie waren diesmal auf einem Berg gelandet, und es gab genug trockenes Holz, außerdem hatte Kim ja immer noch Brobings Feuersteine. Also schlug er vor, ein Feuer zu machen. Aber der Steppenprinz winkte ab und meinte kurz angebunden, es lohne sich nicht, dann drehte er sich um und wollte Kim einfach stehenlassen, aber der streckte rasch die Hand aus und hielt ihn fast mit Gewalt zurück.

»Das ist doch Unsinn«, sagte er. »Warum willst du nicht, daß wir ein Feuer machen?«

Priwinn maß ihn mit einem rätselhaften, unfreundlichen Blick und versuchte sich loszureißen, Kim jedoch hielt ihn eisern fest.

»Und wieso rasten wir immer an so einsamen Orten?« fuhr er fort und deutete auf das schroffe Gelände rundum. »Frag doch Rangarig«, gab Priwinn unwillig zurück. »Ich frage aber dich«, erwiderte Kim. »Priwinn - du verheimlichst mir etwas, nicht wahr? Dieser Berg ist ebenso unwegsam wie das Felsplateau gestern. Und du willst nicht einmal Feuer machen. Wovor versteckt ihr euch?«

Priwinn antwortete nicht, aber Kim, einmal in Fahrt gekommen, stellte nun endlich die Frage, die ihn bewegte, seit er den Prinzen wiedergetroffen hatte. »Was tust du überhaupt hier, Priwinn? Wieso bist du nicht in Caivallon, bei deinem Vater? Und wieso trägst du diese Rüstung?«

»Sie ist sehr nützlich«, antwortete Priwinn, wobei er die erste Frage geschickt überging. »Du solltest das besser wissen als ich. Du hast sie lange genug getragen.«

Kim sah noch einmal und genauer hin - endlich begriff er. Erstaunt riß er die Augen auf.

»Du siehst richtig«, sagte Priwinn. »Es ist die Rüstung, die du getragen hast, als du uns im Kampf gegen Boraas' Heer angeführt hast. Wir haben sie aufbewahrt, um uns immer an jene schrecklichen Tage zu erinnern. Und ich glaube auch, ein bißchen zu deiner Ehre.« Plötzlich lächelte er. »Wenn du willst, gebe ich sie dir zurück. Immerhin gehört sie dir.«

Für einen Moment spürte Kim die Verlockung, Priwinns Angebot anzunehmen und sich wieder in das schwarze Eisen aus Morgon zu hüllen. Die Rüstung war mehr als eine Rüstung, zumindest für ihn. Er hatte die magische Macht gespürt, die dem Schwert innewohnte und die ihn unbesiegbar machen konnte. Ja - für einen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, die Rüstung anzulegen und zum zweitenmal an der Spitze eines Heeres in den Kampf zu reiten.

Aber in den Kampf gegen wen?

»Nein, danke«, sagte er nach einer Weile. »Behalte sie ruhig. Aber verrate mir, warum du sie überhaupt trägst. Und vor wem ihr auf der Flucht seid.«

»Vor niemandem«, antwortete Priwinn viel zu hastig, um überzeugend zu klingen. Und als er Kims zweifelnden Blick bemerkte, rettete er sich in ein verlegenes Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Ich würde es nicht unbedingt Flucht nennen«, meinte er. »Aber du hast recht - es ist besser für uns, wenn wir unentdeckt bleiben.«

»Aber was ist der Grund?« wollte Kim wissen.

Wieder dauerte es eine geraume Zeit, bis Priwinn antwortete: »Du erinnerst dich an Limb, den Gelben?«

»Wie könnte ich nicht«, sagte Kim. »Es ist doch noch nicht so lange her!«

»Dann weißt du auch; wie die anderen auf dem Baum auf ihn reagiert haben. Sie verachten ihn und seinesgleichen. Sie sind unerwünscht. Und ich bin sicher, wenn die anderen könnten, würden sie ihnen schaden.«

»Aber was hat das mit dir und Gorg zu tun?«

»Uns ergeht es genauso«, antwortete Priwinn. »Wir teilen Limbs Ansichten, und ich fürchte, wir teilen auch sein Schicksal.«

»Ich verstehe kein Wort.« Kim wurde allmählich ungeduldig. Priwinn zuckte mit den Schultern und blickte zu Boden. »Sagen wir - es hat sich herumgesprochen, daß Gorg und ich etwas gegen die Eisenmänner haben. Da hat man uns zu verstehen gegeben, daß wir nicht allzu gern gesehen sind, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Dich?« fragte er zweifelnd. »Den Prinzen von Caivallon?«

Priwinn seufzte: »Ich sagte bereits mehrmals - es hat sich einiges geändert.«

»Das kann man wohl sagen«, meinte Kim, drehte sich herum, um zu Rangarig und dem Riesen Gorg zurückzugehen. Die Reise erschien ihm plötzlich doppelt lang. Es wurde allmählich Zeit, daß er Themistokles wiedersah und von ihm Antworten auf die Fragen bekam, die ihm auf der Zunge brannten. Sehr viele Antworten auf sehr viele Fragen.

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