XXI

Die Gelegenheit zur Flucht kam wirklich, und sie kam schneller und aus einem ganz anderen Grund, als Kim gedacht hätte. Während der ersten Tage nach Jarrns Besuch versuchte er alles mögliche, um sich von seiner Kette zu befreien. Aber es war so, wie der Zwergenkönig damals in den Höhlen der Flußleute behauptet hatte: Die dünnen Glieder aus schwarzem Eisen waren unzerreißbar. Keine Kraft, kein Werkzeug, das er bei seiner Arbeit benützte und das er eines nach dem anderen ausprobierte, vermochte den Zwergenstahl auch nur anzukratzen. Selbst Bröckchens Zähne, denen sonst rein gar nichts widerstand, versagten vor diesem Zaubermetall.

Bröckchen machte sich aber auf eine andere Art nützlich. Es konnte sich frei in den Höhlen bewegen. Die Zwerge hatten nur ein einziges Mal versucht, es auch in Ketten zu legen, aber das kleine Wesen hatte so wütend um sich gebissen und gekratzt, daß niemand imstande war, es festzuhalten. Kim fragte sich bei dieser Gelegenheit, wie es Jarrns Häschern gelungen sein mochte, Bröckchen einzufangen, aber in diesem Punkt verweigerte sein stacheliger Gefährte stur jede Auskunft. Hingegen erwies er sich sonst als sehr hilfsbereit. Kim schickte ihn nach und nach in jeden Teil der riesigen unterirdischen Schmiede, in jede Höhle, jeden Gang, jede Kammer. Er ließ Bröckchen jede Felsspalte und jede Ritze untersuchen, immer auf der Suche nach einem möglichen Fluchtweg, doch alles schien aussichtslos. Inzwischen zeigte sich, daß allmählich auch die anderen Gefangenen Freundschaft mit dem Stacheltier schlössen, das hier, eingesperrt im ewigen Zwielicht der unterirdischen Zwergenwelt, immerfort in seiner häßlichen Nachtgestalt zu sehen war. Und so erfuhr Kim - wenn auch nur aus Bröckchens Berichten -, daß es einen Teil der Höhlen gab, den selbst die Zwerge mieden. Dort, wo das Erzgestein angeliefert und zerkleinert wurde, gab es am äußersten Ende einige Gänge, die die Zwerge niemals betraten; ja, tun die sie einen großen Bogen machten, wie es schien. Kim fand nicht heraus, was es damit auf sich hatte, denn Bröckchen weigerte sich beharrlich, dies zu erforschen. Es schauderte nur, und Kim sah die Angst in seinen Blicken, wenn sie über diesen Teil des Labyrinthes sprachen. Da ließ Kim davon ab, weiter den Freund zu bedrängen. Es mußte dort etwas sein, das selbst Bröckchen fürchtete - und das wollte schon etwas heißen!

Und doch war es genau dort, wo sie die Gelegenheit zur Flucht finden sollten.

Kim, Peer und ein halbes Dutzend anderer Jungen und Mädchen arbeiteten eines Tages mit großen Vorschlaghämmern und zerkleinerten die gewaltigen Erzbrocken zu handlichen Stücken. Diese wurden von einer riesigen Maschine - einem dreifach mannsgroßen Zahnrad mit messerscharfen stählernen Kanten - weiter zermahlen, bis sie die passende Größe zum Einschmelzen hatten. Die Kinder hatten diese Arbeit schon öfter getan - es war nahezu die schwerste, die für sie hier unten anfiel. Trotzdem war es jene Tätigkeit, die Kim noch am ehesten ertrug, denn er war dabei nicht an seinen Arbeitsplatz gefesselt, sondern durch eine lange, dünne Kette mit den anderen verbunden. Die Kette ließ ihnen allen hinreichend Bewegungsfreiheit, so daß sie einige Schritte gehen konnten. An diesem Tag verspürte er plötzlich einen so harten Ruck am Fuß, daß er um ein Haar aus dem Gleichgewicht geraten und hingestürzt wäre. Aber noch ehe er herumfahren konnte, hörte er einen spitzen, entsetzten Aufschrei hinter sich.

Als Kim sah, was geschehen war, da schrie auch er vor Schreck auf!

Einer der anderen Jungen war dem Zahnrad zu nahe gekommen, und seine Kette war unter die großen eisernen Zähne geraten. Das riesige Rad drehte sich mit der Unerbittlichkeit einer Maschine weiter, und die Kette samt dem daranhängenden Jungen - und hinter ihm auch dem nächsten! - verschwand langsam unter den mahlenden Zähnen des gewaltigen Apparates!

Kim ließ seinen Hammer fallen, griff mit beiden Händen nach der dünnen Kette und zerrte mit aller Kraft daran. Vor und hinter ihm taten Peer und die anderen Jungen dasselbe. Mit verzweifelter Anstrengung stemmten sie sich gegen den Boden, einige versuchten, an großen Erzbrocken Halt zu finden. Aber nichts nützte! Die Kette spannte sich und begann wie ein dünnes Messer in Kims Finger zu schneiden, aber er ließ nicht los, sondern zerrte im Gegenteil noch kräftiger daran. Trotzdem wurde die Kette mit den darangebundenen Gefangenen langsam weiter auf das riesige Rad zugezogen!

Kim beobachtete entsetzt, wie sich der zappelnde, schreiende Gefangene unaufhaltsam dem tödlichen Zahnrad näherte. Der Junge geriet in Panik, als er sah, was ihm drohte, und begann wie von Sinnen um sich zu schlagen, als könnte er sein Schicksal damit abwenden. Zwischen ihm und den mahlenden Zähnen waren jetzt noch zwei Meter, dann noch eineinhalb, dann noch einer und schließlich noch ein halber. Noch ein einziger Ruck der Maschine, und der Fuß des Jungen mußte unweigerlich unter seine Kanten geraten und abgerissen werden!

Gerade im allerletzten Moment kam das Rad plötzlich mit einem knirschenden Laut zum Stehen, die messerscharfe Eisenkante befand sich bloß eine halbe Handbreit vom Fuß des unglückseligen Jungen entfernt. Ein schimpfender Zwergenkopf erschien auf der anderen Seite der Maschine, erfaßte mit einem Blick, was geschehen war, und begann noch lauter zu fluchen, während er mit kleinen, trippelnden Schritten herbeieilte. Der Junge selbst schien gar nicht begriffen zu haben, daß er gerettet war, denn er schrie und tobte blindlings weiter, und als der Zwerg versuchte, sich ihm zu nähern, da schlug er auch nach ihm, so daß sich dieser mit einem hastigen Sprung wieder in Sicherheit bringen mußte.

»Helft mir!« schrie der Zwerg. »Haltet diesen Verrückten fest!«

Kim, Peer und zwei andere Jungen taten, was der Zwerg verlangte. Während sie mit aller Kraft Arme und Beine des Rasenden festhielten, dem die Angst wenigstens für den Moment den Verstand geraubt zu haben schien, kramte der Zwerg einen gewaltigen Schlüssel unter seinem Umhang hervor und löste den Fußring, an dem die Kette befestigt war. Hastig schleiften Kim und die anderen den Jungen ein Stück von dem gewaltigen Zahnrad weg und warteten, bis sich seine Panik ein wenig gelegt hatte, ehe sie es wagten, ihn wieder loszulassen.

Indessen keifte der Zwerg wutentbrannt weiter. »Ihr seid doch noch zu dämlich, um einen Hammer zu schwingen!« brüllte er. »Nun schaut euch an, was dieser Idiot angerichtet hat! Das wirft uns weit zurück! Dafür werdet ihr bezahlen, das verspreche ich. Heute abend gibt es nichts zu essen, und morgen auch nicht!«

Kim tauschte einen raschen Blick mit Peer, während der Zwerg mit beiden Händen, aber völlig ergebnislos, am Ende der Kette herumzerrte, die tief in die mahlende Mechanik des Zahnrades hineingeraten worden war. »Kaputt!« kreischte der Zwerg, der seine Umgebung völlig vergessen zu haben schien und nur von Wut über seine defekte Maschine erfüllt war.

Kim und Peer sahen sich nochmals vielsagend an. Es war, als hätten sie sich längst darüber verständigt, was in einem Augenblick wie diesem zu tun war. Unter den überraschten Blicken der anderen näherten sie sich vorsichtig dem schimpfenden Zwerg und nahmen hinter ihm Aufstellung. »Auch übermorgen gibt es nichts zu essen!« keifte der Zwerg weiter, während er mit aller Kraft an der dünnen Kette zerrte, die sich hoffnungslos im Räderwerk der riesigen Maschine verfangen hatte. »Und ihr werdet doppelte Schichten arbeiten müssen, um -«

Er verstummte mitten im Satz. Was auch kein Wunder war, denn Kim hatte ihn im Nacken und am Hosenboden ergriffen und in die Höhe gehoben, so daß ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Luft wegblieb, während Peer fast gemächlich um ihn herumging und den Schlüssel von seinem Gürtel löste.

Die Augen des Zwerges wurden groß vor Erstaunen. »Was tust du da?!« keuchte er. »Bist du von Sinnen? Das darfst du nicht!«

»Ich weiß«, sagte Peer lächelnd, ging in die Hocke und schloß den Ring an seinem rechten Fuß auf. Klirrend fiel die Kette zu Boden, und mit einem hörbar erleichterten Seufzen richtete sich der Junge wieder auf.

Der Zwerg holte tief Luft, um loszubrüllen, aber Kim legte ihm rasch die Hand über den Mund und erstickte seinen Schrei.

Peer öffnete auch Kims Kette und wandte sich dann um, um nacheinander auch die anderen loszuschließen. Bald konnten sich alle das erste Mal seit langem wieder ganz frei bewegen. Aber es schien, als sollte diese neugewonnene Freiheit nur Augenblicke dauern, denn so schnell und leise sie auch gewesen waren, ihr Angriff auf den Zwerg war nicht unbemerkt geblieben. Vom anderen Ende der Höhle erscholl ein schriller, wütender Aufschrei, und als Kim herumfuhr, sah er ein Dutzend Zwerge auf sich und die anderen zustürmen. In ihrer Begleitung befand sich ein riesiger Eisenmann, der zwar gemächlich einherging, mit seinen gewaltigen Beinen aber trotzdem rascher vorankam als die dahintrippelnden Zwerge.

»Lauft!« schrie Kim. »Weg - in verschiedene Richtungen, dann können sie uns nicht so leicht fangen.«

Nur einer der Jungen beherzigte seinen Rat und stürmte davon, die anderen blieben hinter Peer und ihm stehen. Zwei oder drei griffen sich die gewaltigen Hämmer, mit denen sie zuvor das Gestein zerkleinert hatten, und blickten den Zweigen und dem eisernen Koloß entschlossen entgegen.

»Wir kommen hier ohnehin nie mehr heraus«, sagte Peer. Ein grimmiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, während sich seine Hände um den Stiel des Vorschlaghammers schlössen, mit dem er sich bewaffnet hatte. »Aber sie sollen wenigstens noch eine Weile an uns denken.«

Auch Kim wollte sich nach einer Waffe bücken, ließ es dann aber. Er wußte, daß es völlig sinnlos war zu kämpfen. Selbst wenn sie diesen einen eisernen Mann überwanden, so gab es noch genug andere hier unten, mit denen sie unmöglich fertigwerden konnten. Es mußte einen anderen Weg geben. Aber es gab keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon waren die Zwerge und ihr eiserner Begleiter heran, und auf dem Platz vor dem verhängnisvollen Zahnrad entstand ein wildes Gerümmel. Die Zwerge stürzten sich auf ihre Gefangenen und versuchten, sie niederzuringen - wozu ihre Kräfte allerdings nicht reichten -, und die Jungen und Mädchen, deren Muskeln von der schweren Arbeit gestählt waren, wehrten sich mit verbissener Wut. Sie verteilten Ohrfeigen und Knüffe und Faustschläge und Tritte. Hätte der Eisenmann nicht eingegriffen, dann wäre es fast eine wunderschöne Prügelei geworden; eine von der Art, in der sich jeder nach Kräften wehrt, ohne den anderen indes wirklich zu verletzen.

Aber der eiserne Gigant war von tödlichem Ernst.

Seine gewaltige Baggerhand packte einen der Gefangenen und schleuderte ihn weit durch die Luft gegen einen Felsen, wo der Bub reglos und blutend liegenblieb. Einer der anderen Jungen schwang seinen Vorschlaghammer und brachte einen furchtbaren Schlag gegen die eiserne Brust an, aber der Koloß wankte nicht einmal, sondern fuhr mit erstaunlicher Geschwindigkeit herum, zerschmetterte mit einem einzigen Hieb den Hammer des Jungen und brach ihm den Arm. Mit einem schmerzhaften Wimmern sank sein Opfer auf die Knie herab und preßte seine rechte Hand gegen die Brust. Kims Gedanken überschlugen sich. Er wußte, daß die Zwerge ihnen nicht wirklich etwas zuleide tun würden - und sei es nur, weil sie wertvolle Gefangene waren, deren Arbeitskraft noch gebraucht wurde. Der eiserne Koloß jedoch kannte solche Hemmungen nicht. Seine Arme fuhren wie Dreschflegel unter die Kinder und streckten sie nieder. Seine stählerne Klaue schnappte wie eine große Bärenfalle auf und zu. Immer wieder wurde er von Hammerschlägen getroffen, was er freilich nicht einmal zu bemerken schien, denn er wütete mit verbissener, stummer Kraft weiter, und der eben erst begonnene Aufstand drohte so schnell zusammenzubrechen wie er angefangen hatte. Kim tauchte unter dem wirbelnden Arm des eisernen Riesen durch, bückte sich nach der Kette, die er gerade noch selbst um den Fuß getragen hatte, und hielt ihr Ende fest. Mit wilden Sprüngen nach rechts und links, um den tödlichen Hieben des Riesen zu entgehen, lief er im Kreis um den Eisenmann herum, dabei wickelte sich die Kette um die Beine des Riesen.

Der Gigant versuchte, Kim nachzusetzen, doch nicht einmal seine Kräfte reichten, die dünne Kette aus Zwergenstahl zu sprengen. Zum erstenmal wankte er und drohte zu stürzen, fing sich aber wieder. Einen Moment lang wirkte er unentschlossen. Der Blick seines grünleuchtenden Auges verharrte eine Weile auf Kim, wanderte dann an der dünnen Kette in seinen Händen entlang und senkte sich auf seine eigenen Beine. Schwerfällig beugte er sich vor, streckte die rechte, geschickte Hand aus und versuchte, den Knoten zu lösen, zu dem sich die Kette verworren hatte. Und zu Kims maßloser Überraschung schien es ihm tatsächlich zu gelingen!

Da zerrte Kim mit aller Kraft an dem stählernen Gliederband. Die Schlinge zog sich wieder um die säulendicken Beine zusammen, doch im gleichen Moment zuckte die linke Schaufelhand des Eisenmannes vor, packte die Kette und hielt sie mit unerbittlicher Kraft fest, so daß seine Rechte erneut damit beginnen konnte, seine Unterschenkel zu befreien.

Plötzlich hatte Kim einen Einfall. Hastig drehte er sich herum, winkte Peer zu sich heran und drückte ihm das Ende der Kette in die Hand. »Halte sie fest«, befahl er. »Zieh sie so straff, wie du kannst.«

Peer gehorchte, wenn sein Gesichtsausdruck auch verriet, daß er keine Ahnung hatte, wozu das gut sein sollte. Kim aber begann, mit weiten Sprüngen um das riesige Zahnrad herumzuhetzen, dorthin, wo der Zwerg zuerst aufgetaucht war.

Ein paar Gnome versuchten, ihm den Weg zu verstellen, doch Kim rannte sie einfach über den Haufen, umrundete das Zahnrad - und dann erblickte er, wonach er gesucht hatte!

Auf der anderen Seite der gewaltigen Maschine befand sich ein übergroßer Hebel in leuchtendem Rot!

Mit einem Satz war Kim dort, packte ihn mit beiden Händen und drückte ihn herunter. Ein dumpfes Grollen ging durch den Boden, und schon setzte sich das Rad langsam wieder in Bewegung!

Die Zwerge begannen wütend zu schreien und versuchten, Kim von dem Hebel wegzudrücken, um die Maschine wieder abzuschalten, aber die Entschlossenheit verlieh Kim für einen Moment fast übermenschliche Kräfte. Allein wehrte er den Angriff der aufgebrachten Knirpse ab, bis einige der anderen Jungen herbeigestürmt kamen und ihm halfen.

Die Zwerge stoben auseinander, denn die Kinder hatten zwar ihre Waffen fortgeworfen, nachdem sie deren Nutzlosigkeit im Kampf gegen den Eisenmann eingesehen hatten, aber der tiefsitzende Groll gegen die Zwerge gab ihnen auch so Kraft genug.

Als Kim hinter dem Zahnrad hervorgestürmt kam, hatte sich die Lage völlig verändert. Peer hatte die Kette losgelassen, und das mußte er auch, denn sie wurde jetzt nach und nach ins Innere der riesigen Maschine hineingezogen. Ein unangenehmes, mahlendes Knirschen erklang, als brächen große Stücke aus den eisernen Zähnen heraus. Und mit der Kette wurde auch der Eisenmann weitergezerrt!

Er wehrte sich mit aller Kraft. Seine Füße rissen Funken aus dem Boden, als er versuchte, sich gegen den Zug der Kette zu stemmen, und für einen Moment begann das ganze Rad zu zittern, als wolle es einfach auseinanderbrechen. Doch so gewaltig die Kräfte des Eisenmannes waren, sie reichten nicht aus. Langsam, aber unerbittlich wurde die Kette weitergezogen, immer näher rückte der Koloß, bis er schließlich in das Räderwerk der Maschine geriet. Ein fürchterliches Splittern und Krachen erklang, als zuerst die Füße, dann die Beine und schließlich der Leib der rostroten Gestalt unter den mahlenden Zähnen verschwanden. Noch einmal bäumte sich der Eisenmann auf, aber dann erschlafften seine Bewegungen.

Kim trat mit einem erleichterten Seufzer an den Reglosen heran.

Und in diesem Moment glomm das schmale grüne Auge noch einmal in kaltem Feuer auf. Die gewaltige Hand zuckte vor und schloß sich wie eine zuschnappende Falle um Kims Fuß.

Kim schrie vor Schreck und vor Schmerz. Er warf sich mit aller Kraft zurück, aber der Griff des Eisenmannes war unbarmherzig. Noch immer drehte sich das Rad, und noch immer zogen seine messerscharfen Zähne den Koloß langsam tiefer ins Innere der Maschine und zermalmten ihn gleichzeitig - aber nun wurde Kim mitgezerrt, so verzweifelt er sich auch wehrte!

Nur noch Kopf, Schultern und ein kleiner Teil der Brust des eisernen Riesen lugten aus der Maschine hervor, aber sein mörderischer Griff lockerte sich nicht. Kim krallte verzweifelt die Finger in den Boden und versuchte sich festzuhalten. Peer stürzte herbei und zerrte mit aller Gewalt an seinen Schultern, aber auch ihre vereinten Kräfte reichten nicht aus. Die rechte Schulter des Eisenmannes verschwand, dann sein Schädel. Bis nur noch sein linker Arm und daran die Hand, die Kims Fuß gepackt hielt, hervorsahen. Ihr Griff lockerte sich noch immer nicht. »Kim!« brüllte Peer mit überschnappender Stimme. »Tu etwas!«

Aber Kim konnte nichts tun. Unaufhaltsam wurde er weiter auf den mahlenden Schlund der Maschine zugezerrt. Nicht mehr lange, und er würde das Schicksal des Eisenmannes teilen und einfach zersägt werden!

Plötzlich tauchte eine winzige, in ein schmuddeliges schwarzes Cape gehüllte Gestalt neben ihm auf, stieß Peer grob zur Seite und bückte sich nach Kims Fuß. Kim konnte nicht erkennen, was sie tat - aber mit einem Mal war sein Bein frei, kaum eine Sekunde, ehe auch die Hand und die Finger des Eisenmannes in der Maschine verschwanden... Mit einem tiefen Seufzen richtete er sich auf und wich hastig ein paar Schritte von der riesigen Maschine zurück, die um ein Haar sein Grab geworden wäre. Sein kleiner Retter blickte ihn grinsend an - und trat ihm dann so heftig gegen das Schienbein, daß Kim mit einem Schmerzensschrei zurückprallte und auf einem Bein herumhüpfte.

Während Peer und einige der anderen Jungen mit Verblüffung zusahen, wie der Kleine hakenschlagend wieder verschwand, griff sich Kim den Schlüssel, den Peer immer noch in der Hand hielt, und rannte, um auch die anderen Gefangenen zu befreien. Niemand versuchte, ihn aufzuhalten. Die wenigen Zwerge, die dem Zorn ihrer Sklaven bisher entgangen waren, hatten sich fluchtartig in Sicherheit gebracht. Es dauerte nur kurz, bis sämtliche Kinder befreit waren und Kim den Schlüssel unter seinen Gürtel schob. Es waren mehr, als er erwartet hatte: zwanzig oder dreißig, die sich jetzt verwirrt um Peer und ihn scharten und sie erwartungsvoll anblickten.

»Und was jetzt?« fragte Peer schweratmend. Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Ausgang. »Wie sollen wir es schaffen? Sie werden über uns herfallen.«

Kim nickte niedergeschlagen. Auch er war sich darüber im klaren, daß ihr Sieg nur vorübergehend war. Selbst wenn es ihnen gelänge, auch alle anderen Gefangenen zu befreien - was ganz und gar nicht sicher war - kämen sie niemals hier heraus. Er hatte nicht vergessen, was Jarrn und auch Bröckchen über den Ausgang aus diesem Labyrinth gesagt hatten. Suchend sah er sich nach Bröckchen um. In dem Durcheinander hatte er es völlig aus den Augen verloren, und für einen Moment bekam er es mit der Angst zu tun, daß ihm etwas passiert war. Aber dann entdeckte er den kleinen Stachelball zwischen drei heulend auf dem Boden sitzenden Zwergen, die es nicht wagten, sich zu rühren, denn Bröckchen fauchte und zischte sie an, wenn sie auch nur mit der Wimper zuckten.

»Bröckchen!« sagte Kim scharf. »Laß den Unsinn. Komm her.«

Das Tierchen schien enttäuscht, denn es zögerte einen Moment, aber dann wandte es sich doch um und kam zu Kim zurück, wenn auch nicht, ohne einem der Zwerge noch eine gehörige Schramme quer über die Nase zu verpassen, als dieser die Gelegenheit nutzen und davonlaufen wollte. »Der Gang, von dem du erzählt hast«, sagte Kim. »Der, den selbst die Zwerge furchten - wo ist er?«

Bröckchen piepste nur angstvoll.

»Wir müssen hier irgendwie heraus«, drängelte Kim ungeduldig. »Bring uns hin. Schnell!«

»Aber ... aber ich weiß nicht, wohin er führt«, stammelte Bröckchen. »Vielleicht geht der Weg nur tiefer in die Erde hinein.«

»Dieses Risiko müssen wir eingehen«, meinte Kim. Er warf einen fragenden Blick in die Runde, und so groß die Angst auf den Gesichtern der anderen Kinder auch war, so war doch keiner dabei, in dessen Augen er nicht zugleich Entschlossenheit las. Sie konnten jetzt nicht mehr zurück. Und Kim spürte, daß jeder einzelne hier das ebenso wußte - lieber würden sie einem Ungewissen Schicksal oder gar dem Tod tief im Schoß der Erde entgegengehen als sich wieder in Ketten legen zu lassen.

»Nun gut«, murmelte Bröckchen schließlich vor sich hin. »Kommt mit.«

Er fuhr herum und flitzte so schnell zwischen den Gesteinsbrocken dahin, daß Kim und die anderen Mühe hatten, ihm zu folgen. Aber gleich darauf waren sie alle sehr froh, daß ihr Führer ein solches Tempo vorlegte, denn der Eingang der Höhle füllte sich jetzt unübersehbar mit schwarzen Capes, deren Ärmchen gewaltige Messer und Beile und Keulen schwangen und mit wütendem Geschrei hinter ihnen herhetzten. Eine ganze Armee von Zwergen, dachte Kim erschrocken - und dahinter stürmten nicht wenige Eisenmänner heran!

Es wurde dunkler, je weiter sie in den Hintergrund der Höhle vordrangen. Das ewige graue Licht der Zwergenwelt blieb, aber der flackernde Schein der Feuer, der die Werkstätten in einen niemals endenden Sonnenuntergang verwandelte, blieb hinter ihnen zurück. Kim warf ab und zu einen Blick über die Schulter und sah, daß der Abstand zwischen ihnen und ihren Verfolgern allmählich kleiner wurde. Vor allem die Eisenmänner rückten mit erschreckender Geschwindigkeit näher. Es waren tatsächlich sehr viele. Auf jeden der Flüchtenden mußte einer der eisernen Riesen kommen, wenn nicht gleich zwei.

Aber sie schafften es. Zwischen Kim, der zusammen mit Peer den Abschluß bildete, und den Eisenmännern lagen noch vierzig oder fünfzig Schritte, als er in der lichtlosen Dämmerung weit vorne einen gewaltigen, halbrunden Tunnel erblickte. Bröckchen tauchte mit einem schrillen Pfiff darin ein, und ohne zu zögern folgten ihm die anderen mit Peer und Kim als letzte.

Kim hatte den Tunnel kaum betreten, als er begriff, was Bröckchen gemeint hatte. Es war spürbar kälter hier drinnen als in den anderen Höhlen, und das graue Licht verlor an Intensität, so daß er selbst die unmittelbar vor ihm laufenden Kinder nur noch als Schatten wahrnehmen konnte. Ihre Schritte erzeugten unheimliche, lang widerhallende Echos an den steinernen Wänden, und irgendwo hier drinnen schien dieser Widerhall aufgefangen und in etwas anderes, Böses verwandelt zu werden, etwas, das in Kims Ohren wie ein meckerndes Hohngelächter klang.

Er versuchte, den Gedanken zu verscheuchen und warf abermals einen Blick zurück. Auch die Eisenmänner hatten den Tunnel mittlerweile erreicht. Aber sie betraten ihn nicht, sondern waren vor dem Eingang stehengeblieben; eine Reihe kantiger, schwarzer Schatten mit unheimlichen grünglühenden Augen, die die halbrunde Öffnung fast zur Gänze ausfüllten. Zwischen ihren gewaltigen Säulenbeinen drängten sich die Zwerge, ohne daß auch sie indes den Gang betraten. Es war, als gäbe es wenige Schritte hinter seinem Eingang eine unsichtbare Grenze, die weder die Zwerge noch ihre fürchterlichen Helfer überschreiten konnten.

Plötzlich rief eine Stimme, die so krächzendschrill und unangenehm war, daß Kim sie wohl nie wieder im Leben vergessen würde: »Bleibt stehen, ihr Narren! Ihr rennt in den Tod!«

Und tatsächlich lief Kim langsamer und blieb schließlich stehen, auch Peer und die anderen hielten an.

»Kommt zurück!« schrie die Stimme erneut mit voller Kraft. Und das Echo der Worte hallte verzerrt und böse zu ihnen zurück: Es war, als flüsterte eine gebrochene Stimme in einer Sprache, deren Bedeutung sie zwar nicht kannten, deren Sinn aber wohl verständlich war.

Kim verscheuchte diesen Gedanken und deutete mit einer Kopfbewegung in die graue Dunkelheit hinter ihnen. »Wir müssen weiter«, sagte er. »Das ist Jarrn. Wahrscheinlich heckt er irgendeine Gemeinheit aus.«

Tatsächlich setzten sich die Jungen und Mädchen wieder in Bewegung, aber sie liefen jetzt nicht mehr so schnell wie zuvor, und Kim bemerkte eine wachsende Unruhe, die sich in der Gruppe ausbreitete. Offensichtlich hatten die Worte Jarrns ihre Wirkung nicht verfehlt: Sie alle hatten Angst vor diesem gewaltigen, schnurgerade in den Berg hineinführenden Tunnel.

»Kommt zurück!« kreischte Jarrn nochmals, als er begriff, daß sie nicht auf ihn hörten und sich immer weiter entfernten. »Ich werde euch nicht bestrafen! Kommt... zurück ... ihr...«

Seine Stimme wurde leiser und verklang schließlich völlig, aber Kim hatte noch lange das Gefühl, ihr gebrochenes Echo zu hören.

Zeit und Raum waren auch in diesem unbekannten, düsteren Teil der Zwergenwelt nicht faßbar. Niemand vermochte zu sagen, wie lange sie unterwegs waren und welche Entfernung sie zurückgelegt hatten. So zählte Kim in Gedanken langsam bis tausend, bis er ein Zeichen gab, auf das hin die anderen anhielten.

Kim sah sich unbehaglich um. Die anderen Kinder drängten sich zusammen wie eine Herde verängstigter Tiere, die beieinander Schutz vor der Nacht suchen, und aller Blicke richteten sich erwartungsvoll auf ihn. Erst jetzt wurde er sich der Tatsache bewußt, daß er nicht nur den Anstoß zu diesem Ausbruch gegeben hatte, sondern daß die anderen wie selbstverständlich dachten, daß er stets wüßte, was als nächstes zu tun sei.

Schließlich rettete sich Kim in ein Achselzucken und setzte eine Miene auf, die um etliches zuversichtlicher war, als er sich in Wirklichkeit fühlte. »Ich glaube, wir sind sie erst einmal los«, sagte er. »Also gehen wir weiter. Es gibt ja nur eine Richtung.«

Peer sah ihn skeptisch an. Kim überlegte einen Moment angestrengt, dann fügte er etwas leiser hinzu: »Vielleicht hat Jarrn recht. Wer weiß, welche Gefahr hier auf uns lauert. Möglicherweise führt dieser Tunnel immer tiefer in die Erde hinein und hat keinen Ausgang. Wer also zurück möchte, der kann es tun. Ich werde ihn nicht aufhalten, und ich werde ihm auch nicht böse sein.«

Niemand rührte sich. Kim wartete noch etwas, dann sagte er noch einmal, und diesmal mit sehr lauter, kräftiger Stimme, so daß jeder seine Worte verstehen konnte: »Wer zurück will, der soll es jetzt tun. Ich bin sicher, daß Jarrn sein Wort hält und euch nicht bestraft.«

Nach einer Weile traten tatsächlich zwei Jungen und ein Mädchen vor. Kim sah die Furcht in ihren Augen und lächelte ihnen aufmunternd zu. »Geht nur«, meinte er. »Vielleicht seid ihr drei die einzigen von uns, die Verstand haben.« Er wartete, bis sie an ihm vorbeigegangen waren und in der grauen Dämmerung hinter ihnen verschwanden, dann wandte er sich noch einmal an die anderen: »Hört mir zu. Ich kann euch nichts versprechen. Ich weiß nicht einmal, wohin dieser Gang führt. Es ist gut möglich, daß wir uns hoffnungslos verirren, daß wir verhungern oder verdursten oder sonst-wie umkommen. Wenn ihr also trotzdem mitkommen wollt, so wißt, daß es um Leben und Tod geht. Also?«

Wieder verging einige Zeit, dann traten zwei weitere Jungen hervor und folgten den drei anderen mit raschen Schritten. Kim blickte noch einmal auffordernd in die Runde. Sie waren noch immer über vierzig, und der Gedanke, daß die Verantwortung für sie alle nun auf seinen Schultern lastete, ob Kim es wollte oder nicht, war alles andere als angenehm. Aber keiner von ihnen machte mehr Anstalten, zu den Zwergen zurückzukehren, und so ging Kim schließlich schweren Herzens weiter und marschierte an der Spitze des kleinen Häufchens Verlorener in die ewige Dämmerung unter der Erde hinein.

Endlos, wie es schien, wanderten sie im steten Zwielicht dahin. Da der graue Schein und die Gleichförmigkeit der Umgebung ihre Sinne narrte, ließ Kim seine Begleiter einen nach dem anderen langsam bis fünfhundert zählen, um wenigstens ein ungefähres Maß für das Verstreichen der Zeit zu haben. Als sie auf diese Weise bei zehntausend angelangt und mithin gute drei Stunden marschiert waren, da kamen sie das erste Mal an eine Abzweigung. Der Tunnel gabelte sich in einen nach rechts und einen nach links führenden Weg, wobei beide gleich groß und ganz rund geformt waren, so daß sie wie zwei riesige Rohre vor ihnen in den Berg hineinführten. Die Wahl, welche Abzweigung sie nehmen sollten, fiel ihnen leicht: Der rechte Tunnel führte fast in der gleichen Richtung wie bisher weiter in den Berg hinein, während der linke so steil nach oben abzweigte, daß auf dem spiegelglatten Boden ein Vorankommen zwar möglich gewesen wäre, aber übermäßig viel Kraft gekostet hätte. Kim entschied sich für den rechten Gang, und keiner der anderen protestierte. Aber sie wurden noch stiller und nachdenklicher, und Kim fühlte, wie die Furcht in ihrer aller Herzen noch mehr zunahm. Denn etwas an diesem Gang war anders als an jenem, den sie bisher gegangen waren. Das graue Licht war noch immer da, und es machte es noch immer unmöglich, weiter als zehn oder fünfzehn Schritte weit zu sehen; es schien, als wanderten sie durch ein endloses, nebliges Nichts, das gleich hinter ihnen alles löschte und mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sie sich vorwärtsbewegten, vor ihnen wuchs. Dieser Tunnel war größer. Seine Wände waren so glatt, als wären sie sorgsam poliert worden, und obwohl er sehr breit war, bewegten sie sich nach einer Weile nur noch im Gänsemarsch dahin, denn auf dem ansteigenden Boden des gerundeten Stollens fanden ihre Füße kaum Halt.

Sie legten eine Rast ein, die aber nicht sonderlich lang ausfiel, denn sie hatten weder zu essen noch zu trinken und auch kein Feuer, um sich zu wärmen. Da sie sich nicht bewegten, spürten sie die klamme Kälte des Tunnels doppelt bitter. Kaum jemand sprach, und selbst die wenigen, geflüsterten Unterhaltungen nahmen immer mehr ab, je tiefer sie in den Leib der Erde vordrangen. Nach einer Weile gelangten sie an eine weitere Abzweigung. Dann an noch eine. Und noch eine. Sie nahmen immer den rechten Weg, weil Peer ganz richtig meinte, auf diese Weise könnten sie sich nicht verirren, sollten sie aus irgendeinem Grunde umkehren müssen.

Gerade als Kim überlegte, daß es nun bald an der Zeit wäre, eine längere Rast einzulegen, damit sie ein wenig schlafen und neue Kräfte schöpfen konnten, blieb Peer, der neben ihm ging, abrupt stehen.

Auch Kim hielt an. »Was hast du?«

»Pst«, machte Peer, schloß die Augen und legte den Kopf schräg, um zu lauschen. Kim hielt den Atem an und lauschte ebenfalls, konnte aber nichts hören. Erst nach einer Weile öffnete Peer wieder die Augen und zuckte mit den Schultern. »Nichts«, sagte er mit einiger Verspätung auf Kims Frage. »Ich muß mich wohl getäuscht haben.«

Aber seine Stimme widerlegte seine Worte. Jetzt spürte auch Kim eine immer stärker werdende Unruhe. Der unheimliche Odem dieses Ortes war keinen Deut schwächer geworden, seit sie in ihn eingedrungen waren. Während sie sich mühsam durch die wie poliert wirkenden Stollen schleppten, gewöhnten sie sich ein wenig an das angstmachende Innere dieses Labyrinths - aber das war alles. Sie waren noch keine hundert Schritte weit gegangen, als Peer abermals stehenblieb, diesmal, um mit gerunzelter Stirn vor Kims Füße zu deuten.

Kim sah genauer hin. Vor ihm war ein dunkler Fleck auf dem Boden, nicht größer als ein Handteller, und eigentlich nur von seiner Umgebung zu unterscheiden, weil er glitzerte, als wäre er feucht. Und genau das war er auch, wie Kim feststellte, als er sich davor in die Hocke sinken ließ und vorsichtig die Hand ausstreckte. Bröckchen schnüffelte neugierig an dem Fleck und fuhr mit einem angeekelten Laut zurück. Kim verzog das Gesicht, als er die Fingerspitzen an die Nase rührte.

Das war kein Wasser, sondern eine Art durchsichtiger, klebriger und übelriechender Schleim.

Die Flecken häuften sich, je weiter sie gingen. Waren es zuerst nur vereinzelte, kleine Tropfen, so stießen sie bald auf ganze Lachen der stinkenden, klebrigen Flüssigkeit. Bald konnten sie nicht mehr ausweichen, denn jetzt war der Boden - aber auch die Wände und selbst die Decke - über und über mit diesem sonderbaren Schleim beschmiert. Als wäre hier etwas entlanggekrochen, dachte Kim schaudernd. Der Schleim erinnerte ihn an die Kriechspur einer gewaltigen Schnecke - aber was für eine Schnecke mußte das sein, die einen Tunnel zur Gänze ausfüllte, der so hoch wie acht aufeinanderstellende Männer war?

Sie hatten ein weiteres Mal bis zehntausend gezählt, und nicht nur Kims Kräfte neigten sich nun endgültig dem Ende entgegen. Der Gedanke, sich auf diesen klebrigen, beschmierten Boden zu legen, um zu schlafen, drehte ihm schier den Magen um. Doch in nicht allzu langer Zeit würde ihnen gar keine andere Wahl mehr bleiben, wollten sie nicht weitermarschieren, bis der Schwächste von ihnen einfach zusammenbrach. Und Kim war nicht einmal sicher, daß nicht er der erste sein würde. Jeder Schritt fiel ihm schon schwerer als der vorhergehende, und es kam ihm vor, als koste es ihn jede Kraft, die Füße aus der klebrigen Pampe zu ziehen, die den Boden bedeckte. Selbst Bröckchen war auf seine Schultern gekrabbelt, um nicht durch diesen Schleim hindurchkriechen zu müssen.

Plötzlich begann das Wertier aufgeregt zu schnüffeln. Kim verdrehte den Kopf, um Bröckchen ansehen zu können, und obwohl es nichts sagte, sondern nur erregt die Nase hin- und herdrehte und Witterung aufnahm, spürte Kim doch seine Angst.

»Was hast du?« fragte er.

»Da ... ist etwas«, sagte Bröckchen.

Bröckchen vollführte sein schüttelndes Achselzucken, wobei seine spitzen Stacheln Kim in Wange und Schläfe pieksten. »Es ... kommt näher.«

»Aus welcher Richtung?« rief Kim.

Bröckchen hob eine Pfote und deutete nach vorn. »Dorther.« Kim strengte seine Augen an, um in die Dunkelheit hineinzustarren, aber er sah nichts. Doch nach einer Weile beschlich ihn ein gräßliches Gefühl: Irgendwo in dieser grauen, wattigen Unendlichkeit vor ihnen ... war jetzt etwas. Groß und böse.

»Besser, wir machen kehrt«, sagte Kim. Sein Herz klopfte, und er hatte Mühe, sich seine Furcht nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Sie waren erst vor kurzem an einer der Abzweigungen vorbeigekommen, und Kim dachte, es war besser, einen Ort zu haben, an dem sie ausweichen konnten. Keiner der anderen widersprach, und so wandten sie sich um und gingen - sehr viel schneller als sie gekommen waren - den Weg zurück. So lange, bis Bröckchen abermals auf Kims Schulter zusammenfuhr und mit piepsender, aber sehr klarer Stimme sagte: »Besser, ihr beeilt euch!«

Mehr war nicht nötig. Mit einemmal schien alle Müdigkeit und Erschöpfung vergessen zu sein. Sie rannten los, so schnell sie konnten.

Schon spürte Kim, daß etwas hinter ihnen aus der Dunkelheit herankroch, immer näher. Er widerstand der Versuchung, den Kopf zu drehen, sondern konzentrierte sich darauf, so rasch wie möglich zu laufen.

Dann hörten sie es: Der Boden unter ihren Füßen begann sacht zu zittern, und aus dem Stein rings um sie herum drang ein tiefes, vibrierendes Grollen und Knirschen, als wälze sich eine ungeheuerliche Masse hinter ihnen heran, vielmehr als bewege sich der ganze Berg.

»Schneller!« schrie Kim.

Aus ihrem Lauf wurde panische Flucht. Kim und Peer fielen einige Schritte zurück, um einen der langsameren Jungen an den Armen zu packen und mit sich zu zerren, dabei warf Kim fast unabsichtlich einen Blick hinter sich. Und was er sah, das ließ sein Herz fast aussetzen, dann aber um so schneller jagen, schmerzhaft und mit der Wucht eines außer Kontrolle geratenen Hammerwerkes. Die Dunkelheit hinter ihnen schien zu brodelndem Leben erwacht zu sein. Eine ungeheure, scheinbar formlose Masse wälzte sich da heran, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, in zwei gewaltige, rotglühende, böse Augen zu blicken.

Er sah kein zweites Mal hin, sondern griff so schnell aus, daß selbst Peer Mühe hatte, mitzukommen. Den Jungen schleiften sie einfach zwischen sich. Trotzdem schafften sie es nur im allerletzten Moment. Die Abzweigung, die Kim gesehen hatte, tauchte jäh aus der grauen Dämmerung vor ihnen auf, und Kim fand gerade noch Zeit, sich mit einem gewaltigen Satz hineinzuwerfen und dabei Peer und den Jungen einfach mitzureißen, da schien eine ganze Lawine hinter ihnen vorbeizudonnern. Die gewaltige Masse füllte den Tunnel zur Gänze aus und ließ den ganzen Berg erbeben.

Kim stürzte, ließ endlich die Hand des Jungen los und rollte herum. Mit klopfendem Herzen sah er auf.

Wo die Tunnelöffnung gewesen war, da befand sich jetzt eine zuckende, brodelnde, weiche, schwarze Wand, die mit rasender Geschwindigkeit vorbeidonnerte. Was immer es war, was da vorbeijagte, es mußte von großer Ausdehnung sein. Kim spürte eine Woge erstickenden, süßlichen Gestanks, wie ihn auch die schleimigen Pfützen verströmt hatten, nur tausendmal stärker jetzt und bedrohlicher. Hastig kroch er weiter von der Tunnelöffnung weg, als eine ganze Welle der widerwärtigen, durchsichtigen Flüssigkeit hereinschwappte und seine Füße und die Hosenbeine tränkte. Der Berg zitterte. Das Grollen war zu einem Brüllen angeschwollen, und Kim wußte nicht mehr, ob es wirklich das Dröhnen des Gesteins war, was sie hörten, oder das Donnern dieses fürchterlichen Unwesens dort draußen.

»Was ist das?« flüsterte Peer entsetzt, als es endlich vorbei war. Das Grollen und Stöhnen war jetzt leiser geworden. Der Boden zitterte immer noch sanft unter ihnen.

Kim zuckte hilflos mit den Schultern. »Wie soll ich das wissen«, flüsterte er. »Vielleicht... nein, das ist unmöglich, oder doch - ein Wurm? Oder eine Schlange?«

»Ein Wurm?« Peer riß ungläubig die Augen auf. »Das Vieh war mindestens hundert Meter lang!«

»Optimist!« piepste Bröckchen.

Kim blickte unglücklich. Er seufzte. »Wenigstens wissen wir jetzt, wovor die Zwerge solche Angst haben!«

»Sehr beruhigend«, maulte Peer und rappelte sich auf. Er hatte sich beim Sturz Hände und Knie blutig geschürft und blickte jetzt auf seine zerschundene Haut herab. Aber er sagte nichts mehr, sondern sah sich aufmerksam in der Runde um. »Ist jemand verletzt?« fragte er.

Niemand antwortete. Auch als er sich wenige Augenblicke darauf erkundigte, ob sie weitergehen wollten, schwiegen alle.

»He«, sagte er in dem vergeblichen Versuch, aufmunternd zu klingen. »Ich weiß, daß ihr euch fürchtet. Mir geht es genauso. Aber wir können nicht hierbleiben.«

»Laß es gut sein, Peer«, sagte Kim. »Wir sind müde. Vielleicht sollten wir ein bißchen schlafen.«

»Hier?« Peer schüttelte sich angeekelt. »Falls du es noch nicht bemerkt hast - dieser Tunnel ist genauso glitschig wie der andere. Hier kann jederzeit noch so eine Lawine auftauchen.«

»Aber irgendwo müssen wir doch schlafen«, meinte Kim müde. »Warum also nicht hier? Außerdem«, fügte er nicht sehr überzeugt hinzu, »wer sagt, daß es mehr als diese eine gibt.«

»Nun ja«, Peer seufzte und runzelte die Stirn, »und falls doch, dann werden wir es schon merken, nicht wahr?« Kim spürte, daß es besser war, jetzt nichts mehr zu sagen. Sie alle hatten einen Grad der Erschöpfung erreicht, der sie reizbar machte, und das, was sie soeben erlebt hatten, trug nicht unbedingt dazu bei, sie zu beruhigen. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, suchte vergeblich eine Weile nach einem trockenen Fleckchen, auf dem er sich ausstrecken konnte, und legte sich schließlich seufzend auf den besudelten Boden, um zu schlafen.

Es wurde ein ebenso unruhiger wie kurzer Schlaf. Kim erwachte, als ihn jemand kräftig und ausdauernd an der Nase zog. Noch halb benommen hob Kim die Hand, um den Störenfried zu verscheuchen, und prompt spürte er einen schmerzhaften Biß in den Zeigefinger. Mit einem Ruck öffnete er die Augen und starrte das stachelige Etwas an, das vor seinem Gesicht auf dem Boden hockte und ihn aus hervorquellenden Triefaugen musterte.

»Was ist denn los?« murmelte Kim noch ganz verschlafen. »Nicht so laut«, wisperte Bröckchen, und das in einem Ton, der Kim schlagartig erwachen ließ.

Hastig richtete er sich auf, warf einen raschen Blick in die Runde und stellte fest, daß alle anderen noch schliefen. Selbst Peer, der sich angeboten hatte, Wache zu halten, war im Sitzen eingenickt und schnarchte leise.

»Also?« fragte Kim noch einmal und jetzt im Flüsterton. »Ich habe mich ein wenig umgesehen«, antwortete Bröckchen.

»Und?« fragte Kim ungeduldig. »Laß dir doch nicht jedes Wort aus deiner häßlichen Nase ziehen.«

Bröckchen schielte, um seine Schnauze zu betrachten, murmelte etwas Unfreundliches, sagte aber dann: »Ich glaube, ich habe einen Weg nach draußen gefunden.«

»Was?!« Kim richtete sich kerzengerade auf. Peer fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch und blinzelte verwirrt. »Ich bin nicht sicher«, flüsterte Bröckchen. »Deshalb wollte ich, daß es vorerst auch nur du erfährst. Ich bin ein Stück weit den Gang hinaufgelaufen, bis ich neuerlich an eine Abzweigung kam.«

»Und sie führt nach draußen?« fragte Kim aufgeregt. »Nicht so hastig. Ich sagte, ich glaube, daß sie nach draußen führt.«

»Du hast dich nicht überzeugt?« mischte sich jetzt Peer stirnrunzelnd ein, der bisher schweigend zugehört hatte. Bröckchen schüttelte sich. »Nein. Aber da war ein frischer Wind, und ich glaube, ich habe Licht gesehen.«

»Du glaubst es also, so«, murrte Peer.

»Laß«, sagte Kim. »Wie müssen es immerhin versuchen.«

Rasch stand er auf, weckte die anderen und berichtete ihnen, was Bröckchen entdeckt zu haben meinte. Und obwohl die Ungewißheit groß war, wollten sie alle gleich in diesen Gang vordringen.

Da sie nichts zu essen hatten und es auch kein Wasser gab, brachen sie sofort auf. Der Weg war nicht weit; kaum dreihundert Schritte jenseits der Stelle, an der sie gestern abend kehrtgemacht hatten, zweigte tatsächlich ein weiterer, kreisrunder Gang nach rechts ab, den sie nun einschlugen. Sie hatten erst wenige Schritte getan, als Kim tatsächlich einen kühlen Hauch auf der Haut zu verspüren glaubte.

Der Gedanke, einen Ausweg aus diesem unterirdischen Labyrinth gefunden zu haben, spornte sie alle noch einmal an. Sie schritten kräftiger aus, und selbst die Furcht vor den entsetzlichen Bewohnern dieses Tunnelsystems vermochte sie nicht mehr aufzuhalten.

Es dauerte nicht lange, da gewahrte Kim weit vorne einen helleren Schein in dem unwirklichen Grau, das sie umgab. Sie liefen immer schneller, ohne sich noch um weitere Abzweigungen zu kümmern. Und wirklich wuchs der diffuse helle Schein zu einem Punkt aus Licht, schließlich zu einem wahrhaft von Sonnenstrahlen erfüllten Kreis heran.

Dieser Anblick gab ihnen neue Kraft. Mit einemmal war alle Furcht und Erschöpfung vergessen, und sie legten die letzte Strecke im Laufschritt zurück, Peer und Kim an der Spitze.

Um ein Haar aber wäre alles umsonst gewesen, denn der strahlend blaue Himmel, der sich vor dem Tunnelausgang wölbte, ließ Kim alle Vorsicht vergessen. So wäre er beinahe abgestürzt, ehe er es auch nur bemerkte, hätte ihn Peer nicht im letzten Moment am Arm gepackt und zurückgerissen. Kim verlor durch den plötzlichen Ruck das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin. Schimpfend arbeitete er sich wieder hoch und wollte Peer ärgerlich anfahren, aber dieser machte nur eine Handbewegung und deutete mit der Linken nach vorne. Der Stollen endete in einer lotrechten Felswand, die unter ihnen weit in die Tiefe stürzte, ehe sie in ein mit Geröll und spitzen Felsnadeln übersätes Seeufer überging. Es war ein großer, kreisrunder See, der den Boden eines Felskraters bedeckte. Die Wände rundum wirkten glatt und wie poliert und waren von zahlreichen runden Löchern durchsetzt wie ihr Stollenausgang eines war. Kim stöhnte enttäuscht auf. Sie hatten zwar den Ausgang aus diesem unterirdischen Irrgarten gefunden - aber es schien, als würde ihnen das wenig nützen. Der Krater war so glatt wie poliertes Eisen, und nirgendwo war eine Stelle zu sehen, an der sie in die Tiefe hätten steigen können. Und es hätte ihnen auch gar nichts geholfen, denn die Felswand, die nach unten gut dreißig Meter tief war, erhob sich über ihren Köpfen noch zehnmal so weit in die Höhe. Das war kein Krater, sondern ein riesiger, senkrechter Schacht, der in den Fels getrieben worden war.

»Endstation«, murmelte Peer niedergeschlagen, während er hinaufblickte.

Statt zu antworten, ließ sich Kim vorsichtig auf die Knie herabsinken und beugte sich vor, so weit er es wagen konnte. Es wurde ihm schwindelig, als er in den Abgrund blickte, aber er kämpfte das Gefühl nieder und zwang sich, die Wand Meter für Meter abzusuchen.

Alles umsonst. Nicht einmal eine Fliege hätte an diesem Felsen Halt gefunden.

»Und nun?« fragte Peer matt.

Kim zuckte mit den Schultern. »Wir müssen irgendwie dort hinunter.«

Er betrachtete den See. Das Wasser war von dunkelblauer, fast schwarzer Farbe, was darauf hinwies, daß er sehr tief war, selbst nahe am Ufer. Zwischen diesem Ufer und dem Fuß der Wand lagen gute fünf Meter, vielleicht auch etwas mehr, so genau ließ sich das aus der Höhe heraus nicht schätzen. Kim war nicht sicher, daß sie diese Distanz überspringen konnten. Ganz davon abgesehen, daß ihm vor einem Sprung ins Wasser aus dieser Höhe nun doch etwas bange war.

Kim stand auf und wandte sich an die anderen. »Zieht eure Hemden aus«, sagte er.

Als Peer ihn fragend anblickte, erklärte er: »Wenn wir sie zusammenknoten, langt es vielleicht für ein Seil, an dem wir in die Tiefe klettern können.«

»Das ist unmöglich!« behauptete Peer. »Das geht nicht!«

»Hast du eine bessere Idee?« erkundigte sich Kim.

»Dann tu, was ich dir sage«, fuhr Kim fort, als Peer schwieg. »Wir beide halten das Seil, und die anderen klettern daran in die Tiefe.«

»Selbst wenn wir uns dabei nicht die Hälse brechen«, widersprach Peer abermals, »was ist damit gewonnen? Wir kommen nie aus diesem Loch heraus!«

»Aber wenigstens aus diesem schrecklichen Tunnel«, erwiderte Kim. Er deutete mit der Hand über den See. »Siehst du all diese Löcher in der Wand? Was glaubst du, wer sie gemacht hat?«

Peer erbleichte, dann widersprach er nicht mehr, sondern zog statt dessen sein Hemd über den Kopf und begann, es zusammenzudrehen. Auch Kim zog sich bis auf die Hose aus und knotete alles an die Kleider der anderen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie alle Einzelteile zusammengefügt hatten, und das Ergebnis sah nicht unbedingt vertrauenerweckend aus. Aber als Kim und Peer das eine Ende und zwei kräftige Jungen das andere nahmen und mit aller Kraft daran zerrten, da zogen sich zwar die Knoten fester zusammen, doch das Seil hielt. Es würde gewiß das Gewicht eines einzelnen Kindes tragen, das sah man.

»Also los!« befahl Kim. »Immer zwei halten abwechselnd das Seil, und ein dritter steigt hinunter.«

Es dauerte lange, bis sich der erste bereitfand, die lebensgefährliche Kletterpartie zu wagen, aber nachdem er sie unbeschadet überstanden hatte, stiegen nach und nach auch die anderen Jungen und Mädchen in die Tiefe. Endlich war auch der letzte unten auf dem Felsstrand angekommen, nur Peer und Kim standen noch im Höhlenausgang.

Peer sah Kim ratlos an.

Kim packte das Seil fester, suchte mit gespreizten Beinen sicheren Halt auf dem Boden und machte eine auffordernde Kopfbewegung. »Ich denke, ich kann dich halten, wenn du nicht zu sehr zappelst.«

Peer schüttelte den Kopf. »Und wie kommst du hinunter?« Kim machte ein möglichst überzeugendes Gesicht.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich werde springen.« Peers Augenbrauen rutschten erstaunt nach oben.

»Springen?« wiederholte er ungläubig. »Dort hinunter?«

»Sicher«, antwortete Kim. »Es sei denn, du hast zufällig einen Hammer und kräftige Haken dabei, um das Seil hier irgendwo festzuknoten.«

»Das schaffst du nie und nimmer!«

Kim grinste. »Soll ich es dir gleich jetzt beweisen? Nur, wie kommst du dann hinunter?«

Peer beugte sich vor, blickte in die Tiefe und schauderte sichtbar. »Nein, danke«, sagte er. Er griff nach dem Seil, zögerte dann noch einmal und sah Kim fragend an. »Und du sagst das nicht nur, damit ich hinuntersteige?« vergewisserte er sich.

»Nein!« versicherte Kim, aber es war ihm nicht ganz wohl dabei. »Nun mach schon - ich habe keine Lust, den Rest des Tages hier zu verbringen.«

Peer war noch nicht völlig überzeugt, aber er griff dann doch nach dem Seil, kletterte vorsichtig über die Kante und stieg Hand über Hand herab.

Hinterher wußte Kim selbst nicht mehr zu sagen, wie er es geschafft hatte, ganz allein das Gewicht des Jungen zu halten. Es schien ihm die Arme aus den Schultern reißen zu wollen, und er hatte schon nach einer Minute das Gefühl, daß seine Kräfte versagen würden. Immer wieder wurde er auf dem rutschigen Boden auf die Kante zu gezogen und mußte sich unter Aufbietung aller Kräfte ein Stück zurückquälen. Einmal begann das Seil so heftig in seinen Händen zu rucken, daß es schon einem Wunder glich, daß er nicht nach vorn gerissen wurde und kopfüber in die Tiefe stürzte. Aber irgendwie schaffte er es. Plötzlich hörte der entsetzliche Zug auf, und Kim sank mit einem erschöpften Keuchen auf die Knie herab, schloß die Augen und tat eine geraume Weile nichts anderes, als einfach dazusitzen, nach Atem zu ringen und darauf zu warten, daß die Schmerzen in seinen Schultern und Handgelenken aufhörten.

Seine Knie zitterten noch immer, als er sich aufrichtete und zu Peer und den anderen hinabblickte.

Die Gruppe hatte sich im Halbkreis unter dem Höhlenausgang aufgestellt und blickte zu ihm herauf. Kim hörte, wie Peer etwas rief, konnte aber die Worte nicht verstehen. Schaudernd ließ er den Blick über den See gleiten. Er hatte furchtbare Angst.

Und doch blieb ihm keine Wahl, wollte er nicht zurück in die Höhlen der Zwerge, um dort für ewig Schwerarbeit zu verrichten. Falls ihn nicht schon vorher das schleimige Ungeheuer niederwälzte. Mit einem letzten, entschlossenen Seufzer trat er zurück, rannte los und stieß sich mit aller Kraft ab. Für endlose Schrecksekunden fürchtete er, wie ein Stein in die Tiefe zu stürzen und auf dem Strand zerschellen zu müssen. Da hörte er einen vielstimmigen Aufschrei unter sich und öffnete die Augen. Sein Sprung hatte ihn in einem perfekten Bogen weit über den felsigen Strand hinausgetragen und unter Kim lag nichts als das dunkelblaue Wasser des Sees, auf den er zuflog.

Es dauerte vielleicht eine Sekunde, allerhöchstens zwei, aber Kim starb in dieser Zeit tausend Tode. Einen halben Herzschlag bevor er auf der Wasseroberfläche aufprallte, begann er vor Angst zu schreien, dann klatschte er ins Wasser und hatte das Gefühl, von der Faust eines unsichtbaren Riesen durch eine dicke Glasscheibe geprügelt zu werden. Wie ein Stein wurde er unter Wasser gezogen, riß instinktiv den Mund auf, um zu schreien und sah, wie seine kostbare Atemluft in silbernen Blasen an seinem Gesicht vorbei in die Höhe stieg.

Er paddelte nach Leibeskräften, während er immer noch tiefer sank. Die Oberfläche des Sees war bereits unendlich weit über ihm wie ein silbern spiegelnder Himmel, aber die Wucht des Sturzes war immer noch nicht aufgezehrt. Meterweit wurde er hinabgesogen, bis der Druck auf seine Brust und seine Ohren unerträglich wurde, als es ihm endlich gelang, mit verzweifelten Ruder- und Schwimmbewegungen dem Sturz unter Wasser ein Ende zu bereiten und wieder nach oben zu steigen.

Die Atemnot wurde unerträglich. Es schien, als zerquetschte ihn ein Ring aus Eisen, der sich um seine Brust zusammenzog. Zwar schoß jetzt die Wasseroberfläche auf Kim zu, aber schon versiegten seine Kräfte. Noch eine Sekunde, und er würde den Mund öffnen und zu atmen versuchen, auch wenn das seinen sicheren Tod bedeutete. Dann sah er den Schatten.

Es war nur ein Schemen, ein Gleiten und Wogen im dunklen Blau des Wassers, ein großes Etwas, das eine Woge vor sich herschob, die ihn hilflos wie einen Kreisel herumwirbeln ließ. Es war diese Druckwelle, die ihn plötzlich wie rasend nach oben schleuderte, und ihm damit das Leben rettete. Keuchend durchbrach Kim die Wasseroberfläche, sog die Lungen voller Luft und hustete qualvoll, als er zurückklatschte und Wasser schluckte. Hastig arbeitete er sich wieder an die Oberfläche, rang prustend nach Atem und versuchte gleichzeitig, seiner Panik Herr zu werden und seine wild hin- und herschlagenden Gliedmaßen unter Kontrolle zu bekommen. Dann schwamm er zum Ufer. Der Schatten! Er wußte, daß er dagewesen war. Ungeheuer massig!

»Achtung!« rief er mit letzter Kraft, während er mit verzweifelten Schwimmbewegungen dem Ufer zustrebte. »Rettet euch! Im Wasser ... ist etwas!«

Er wußte nicht einmal, ob Peer und die anderen seine Worte überhaupt verstanden. Und selbst wenn sie ihn verstanden - wohin hätten sie laufen sollen. Es gab nur diesen See und den fünf Meter breiten, kreisrunden Streifen aus Geröll, der ihn umgab.

Da kräuselte sich plötzlich die Wasseroberfläche. Kim spürte sich angehoben und wieder zurückgeworfen, geriet abermals unter Wasser und kam hustend wieder hoch. Und mit einemmal begannen Peer und die anderen am Ufer entsetzt zu schreien und durcheinanderzulaufen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Kim das Gefühl, einen gewaltigen Schatten unter sich aus der Tiefe des Sees emporsteigen zu sehen - und dann schien der ganze See in einer ungeheuren Woge aus Gischt zu explodieren!

Kim wurde wie ein welkes Blatt in die Höhe geschleudert und wieder aufs Wasser zurückgeworfen. Kochender Schaum schlug über ihm zusammen, und ein ungeheures Brüllen marterte seine Ohren und ließ den steinernen Kessel erbeben. Keuchend und spuckend kam er wieder an die Oberfläche, versuchte, eine Schwimmbewegung zu machen, und wurde gleich wieder unter Wasser gedrückt, als eine zweite, nicht minder große Woge über ihm zusammenschlug. Ein riesiges, schwarzglänzendes Ungeheuer tobte hinter ihm im Wasser, und wie gestern im Tunnel glaubte er, für den Bruchteil einer Sekunde den Blick zweier stechender rotglühender Augen auf sich zu fühlen.

Mit dem letzten bißchen Kraft, das Kim noch blieb, arbeitete er sich wieder hoch und schwamm auf das Ufer zu. Die Woge hatte sich am Fuße der Felswand gebrochen und alle von den Füßen gerissen. Die, welche sich bereits wieder erhoben hatten, standen wie gelähmt da und starrten auf einen Punkt irgendwo hinter Kim auf dem See.

Er drehte sich nicht um. Seine Kräfte waren endgültig erschöpft. Es waren nur noch ein paar Schwimmzüge bis zum Ufer, aber es war gar nicht sicher, ob er sie schaffen würde. Kim ahnte, was hinter ihm war. Er war ein Narr gewesen, dachte er bitter. Wieso hatte er angenommen, daß sich das Unwesen nur im Inneren des Berges aufhielt? Die zahllosen Löcher in der Felswand hätten ihm eigentlich das Gegenteil sagen müssen. Dort drinnen im Berg hatten sie sich wenigstens noch vor ihm verstecken können. Aber hier draußen gab es nichts mehr, das sie schützte. Erschöpft erreichte er das Ufer, kroch auf Händen und Knien ein Stück den steinigen Strand hinauf und drehte sich um.

Sein Herz schien zu stocken, als er sah, was aus dem See aufgetaucht war, riesig und schwarz und glänzend wie nasses Leder. Eine Bestie von unvorstellbarer Kraft und Bosheit. Das war nicht jene Lawine, die sich durch das Labyrinth gewälzt hatte.

Es war der Tatzelwurm!

Kim starrte wie gelähmt auf den droschkengroßen Schädel, der hoch wie eine Kirchturmspitze über ihm emporragte. Der Tatzelwurm! Die größte und gefährlichste Bestie Märchenmonds. Ihre rotglühenden Augen starrten Kim voller unbezähmbaren Haß an, und von ihren mannslangen Zähnen tropfte Geifer und schäumendes Wasser. Und plötzlich begriff Kim, warum das Ungeheuer nicht mehr an seinem angestammten Platz gewesen war. Die Zwerge hatten es hierher gebracht, an diesen unheimlichen Ort im Herzen ihres Reiches. Und nicht nur das. Um den schwarzglänzenden Riesenhals der Kreatur schmiegte sich ein gut meterbreiter Ring aus schwarzem Eisen, an dem eine armdicke Kette aus Zwergenstahl befestigt war. Der Tatzelwurm war ein Gefangener wie sie.

Noch immer auf dem Rücken liegend, kroch Kim weiter den Strand hinauf, ohne den Blick von den glühenden Augen des Ungeheuers zu nehmen. Die Bestie fixierte ihn, und es war, als würden ihre Blicke irgend etwas in Kims Seele berühren und auf der Stelle verbrennen.

Es war nicht das erste Mal, daß Kim diesem Ungeheuer gegenüberstand. Und er hatte den Gedanken kaum gedacht, da blitzte in den riesigen Augen des Tatzelwurms ebenfalls Erkennen auf, gefolgt von einer Woge lodernden, unstillbaren Hasses. Mit einem ungeheuren Brüllen richtete sich der Tatzelwurm auf, entfaltete ein Paar gigantischer, ledriger Fledermausschwingen und stieß sich auf der Wasseroberfläche ab. Sein weit aufgerissenes Maul fuhr in Kims Richtung.

Kim dachte eben, daß dies nun sein Ende wäre, da straffte sich die Kette mit einem peitschenden Knall, und der Tatzelwurm wurde wuchtig zurückgerissen und klatschte ins Wasser. Die entstehende Woge schleuderte Kim ein Stück weiter den Strand hinauf und somit außer Reichweite. Auch die anderen wurden abermals von den Füßen gerissen. Schnaufend kam Kim wieder hoch, rappelte sich auf Hände und Knie empor und wischte sich das Wasser aus den Augen.

Der Tatzelwurm tobte! Seine Schwingen peitschten das Wasser, und sein langer, schuppiger Schwanz schlug mit dröhnenden Geräuschen gegen die gegenüberliegende Felswand. Aber so ungeheuerlich seine Kräfte auch waren, der Kette aus Zwergenstahl vermochten sie nichts anzuhaben!

Eine ganze Welle wütete das Drachenwesen so, bis er die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen einsah, vielleicht war er auch nur erschöpft oder entmutigt. Sein Blick loderte noch immer vor Haß, als sein Kopf mit raschen, schlangenartigen Bewegungen hin- und herpendelte und den Strand absuchte.

»DU!« brüllte er, daß der Boden erbebte. »Du hier! Dir habe ich dies alles zu verdanken!«

Peer und einige der anderen Jungen blickten auf Kim, aber dieser zuckte nur mit den Achseln. Er wußte nicht, was der Tatzelwurm meinte. Trotzdem stand er auf und ging ein paar Schritte weit auf den See zu, blieb dann in respektvollem Abstand vor dem Wasser stehen und achtete darauf, daß er nicht etwa in Reichweite der Kette gelangte.

Der Tatzelwurm bäumte sich abermals auf, als er Kim auf sich zukommen sah, und zerrte mit aller Gewalt an seiner Fessel. Der Boden zitterte, und aus der Krone der Felswand lösten sich Gesteinsbrocken und fielen polternd zu Boden. Aber die Kette hielt dem Ungeheuer auch diesmal stand, und wieder gab es nach einigen Augenblicken auf. Kim musterte den Giganten schaudernd. Das Ungeheuer war mindestens dreimal so groß wie Rangarig; und von einer Bösartigkeit, die alles, was lebte, sich bewegte und frei war, vernichten mußte. Und doch - da war noch mehr. Etwas, das bei ihrer ersten Begegnung nicht im Blick dieses Scheusals gewesen war.

Kim runzelte nachdenklich die Stirn. War es möglich? dachte er. Konnte es sein, daß die unheimliche Verwandlung, die mit allen in Märchenmond vor sich ging, auch vor dem Tatzelwurm nicht halt gemacht hatte?

Gut und Böse waren hier in Märchenmond viel klarer geschieden als dort, wo Kim herkam. Das Gute war hier einfach gut, und weiter nichts. Das Böse war einfach nur böse, ohne Wenn und Aber und ohne Abstufungen. Doch Kelhim, Rangarig und am Schluß selbst Gorg hatten begonnen, Haß und Mordlust zu empfinden, überlegte Kim - war es dann möglich, daß dieses gewaltige Wesen dort umgekehrt plötzlich auch zu anderen Gefühlen fähig war als nur schlechten? Lange Zeit stand Kim hoch aufgerichtet am Ufer und blickte den Tatzelwurm stumm an, hin- und hergerissen zwischen panischer Angst und einer verzweifelten Hoffnung. Schließlich machte er einen weiteren, entschlossenen Schritt, von dem er genau wußte, daß er ihn in die Reichweite der furchtbaren Fänge der Bestie bringen mußte. Auch der Tatzelwurm schien dies zu wissen, denn er legte den Kopf schräg und blickte Kim lauernd an, ohne sich jedoch zu rühren. Vielleicht witterte er eine Falle; oder er wollte nur warten, bis sein Opfer so nahe war, daß es nicht mehr fliehen konnte.

»Du kennst mich also«, sprach ihn Kim an.

Der Tatzelwurm stieß ein tiefes, vibrierendes Grollen aus und peitschte das Wasser mit seinen Schwingen. »Ich hasse dich!« zischte er und wirkte dabei wie eine ins Riesenhafte vergrößerte Schlange.

»Aber warum?« fragte Kim.

In den Augen des gigantischen Ungetüms blitzte es auf. »Alles war gut, bevor du gekommen bist!« grollte es. »Du und dein verdammter, goldener Drache! Und nach euch die schwarzen Ritter. Ihr habt mich besiegt!« brüllte der Tatzelwurm und bäumte sich wieder auf. »Danach sind alle anderen gekommen. Es hat nicht mehr aufgehört. Und ich mußte kämpfen. Immer wieder und wieder und wieder. Und am Ende bin ich alt und müde geworden.«

»Das... tut mir leid«, sagte Kim stockend, und es war die Wahrheit. So böse dieses Wesen war, so hatte es doch seinen Platz in der Schöpfung wie alle anderen. Und ein kleines bißchen fühlte sich Kim tatsächlich schuldig an seinem Schicksal, wenn er auch gleichzeitig wußte, daß sie gar keine andere Wahl gehabt hatten, damals.

»Es tut dir leid?!« brüllte der Tatzelwurm und riß abermals an seiner Kette. »Sieh mich an! Sie haben mich in Ketten gelegt - mich, für den es früher keinen Feind gegeben hat, der ihm gewachsen wäre!«

»Wir sind auch Gefangene«, sagte Kim schlicht.

Der Tatzelwurm hörte für einen Moment zu rasen auf und beäugte ihn mißtrauisch und leicht verwirrt aus der Höhe herab. »Ich sehe keine Ketten«, rief er schließlich. »Du lügst!« Kim streifte das rechte Hosenbein hoch, so daß der Drache den eisernen Ring an seinem Fuß erkennen konnte. »Wir haben unsere Ketten gesprengt«, sagte er. »Und du kannst es auch, wenn du nur wirklich willst.«

Da wurde es still über dem See. Der Tatzelwurm starrte Kim an, und er kam langsam, mit schlangelnden, gleitenden Bewegungen näher, bis sein gigantischer Schädel so nah war, daß Kim nur den Arm hätte auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Kim starb fast vor Angst, und alles in ihm schrie danach, davonzulaufen, so schnell er nur konnte. Aber er rührte sich nicht, und er hielt auch dem musternden Blick der glühenden roten Augen stand, obwohl er dabei das Gefühl hatte, von innen nach außen gekehrt zu werden. Es schien vor diesen durchdringen Blicken keine Geheimnisse zu geben, keine Lüge und keinen Betrug. »Wenn es euch gelungen ist, diese Ketten zu sprengen, dann müßt ihr stärker sein als ich«, meinte er schließlich. »Meine Kräfte reichen dazu nicht.«

Kim wollte antworten, aber in diesem Moment trippelte etwas Kleines, Rot- und Gelbgestreiftes neben ihn, und Bröckchen piepste, vorlaut wie immer: »He, du da! Vielleicht solltest du weniger deine Muskeln spielen lassen und statt dessen einmal dein bißchen Grips benutzen, dann wärst du schon frei!«

Der Tatzelwurm blinzelte. Kim war nicht sicher, ob er Bröckchen überhaupt sehen konnte, denn es war, zumal in seiner Taggestalt, nicht größer als der Schmutz, der in den Augenwinkeln des Drachen klebte. Aber schon dröhnte der Tatzelwurm: »Wer ist dieser Winzling?« Und Bröckchen antwortete mit einem beleidigenden, unanständigen Geräusch, daß der Blick des gigantischen Drachenwesens sich unheilvoll verdüsterte.

»Nimm Bröckchen nicht ernst«, sagte Kim hastig. »Mein Freund meint es nicht so.«

»Und ob ich es so meine!« protestierte Bröckchen. Aber Kim überging es einfach und fuhr an den Tatzelwurm gewandt fort: »Wir haben diese Ketten nicht mit Gewalt gesprengt, keine Macht der Welt kann sie zerreißen, denn sie wurden von Zwergen geschmiedet. Aber wir -«

Da verstummte er mitten im Wort. Er starrte den Tatzelwurm mit aufgerissenem Mund und Augen an, dann senkte sich Kims Hand ganz langsam zum Gürtel und schloß sich um den eisernen Schlüssel, den er darunter trug. Er hatte ihn in der Erzhöhle eingesteckt und danach glatt vergessen. »Ja?« donnerte der Tatzelwurm.

Kim wollte antworten, aber er kam nicht mehr dazu, denn plötzlich erscholl weit über ihnen ein warnender Ruf, und als Kim den Kopf in den Nacken legte, da sah er Dutzende von winzigen, in flatternde schwarze Mäntel gehüllte Gestalten am Rande des Felskraters aufgereiht.

»Verschwinde von dort, Blödmann!« brüllte Jarrn zu ihm herunter. »Oder willst du zu Drachenfutter werden?« Auch der Kopf des Tatzelwurms ruckte in die Höhe. Als er den Zwerg erkannte, glühten seine Augen vor Zorn, und er stieß ein ungeheuerliches Brüllen aus, als er versuchte, in die Höhe zu springen, um seine Peiniger zu erreichen. Die Kette riß ihn auf halbem Wege zurück, und abermals schien der See in einer Explosion aus Schaum und kochendem Wasser auseinanderzubersten, die Kim und die anderen fluchtartig vom Ufer zurückweichen ließ. Trotzdem durchnäßte sie die Woge abermals bis auf die Knochen und riß die meisten von ihnen zu Boden.

»Du!« brüllte der Tatzelwurm auf. »Komm herunter, damit ich dich zerreißen kann!«

Jarrn zog eine Grimasse und steckte sich die Zeigefinger in die Ohren, bis das Gebrüll halbwegs verklungen war. Dann nahm er die Hände wieder herunter, schüttelte den Kopf und sagte gelassen: »Fällt mir nicht ein, Würmchen. Wenn du jemanden fressen willst, dann nimm doch die da unten.« An Kim und die anderen gewandt fuhr er fort - »Verdient habt ihr es ja nicht, aber wir holen euch raus. Gebt acht, da unten.«

Zwei seiner Begleiter warfen eine Strickleiter in die Tiefe, die sich klappernd an der Wand entlang abrollte und knapp über dem Boden endete. »Steigt hoch!« rief Jarrn. »Bevor er euch auffrißt.«

Tatsächlich bewegten sich einige der Jungen sofort auf die Leiter zu, aber Kim und auch Peer und der größte Teil der Kinder rührten sich nicht.

Nachdenklich glitt Kims Blick über das riesige Gesicht des Tatzelwurms. Der Drache musterte ihn kalt, und es war Kim nicht möglich, den Ausdruck in seinen feuerroten Augen zu deuten. Kims Hand schloß sich um den Schlüssel unter seinem Gürtel, verharrte einen Moment reglos dort und zog ihn schließlich hervor.

Jarrn kreischte, als er sah, was Kim in den Fingern hielt. »Bist du von Sinnen?!« brüllte er mit vollem Stimmaufwand. »Er wird euch alle töten, und uns dazu!«

Kim machte einen weiteren Schritt zum Wasser hin. Der Tatzelwurm legte den Kopf schräg und blickte ihn sehr nachdenklich, ja beinahe flehend an. Aber das lodernde Feuer in seinen Augen blieb, und Kim vergaß keine Sekunde, welch fürchterlichem Ungeheuer er da gegenüberstand. »Nicht!« heulte Jarrn. »Er bringt euch alle um! Es ist schon ein Wunder, daß ihr seinem Vetter, dem Steinwurm, entkommen sei - wollt ihr euer Glück auf die Probe stellen?«

»Wenn ich dich befreie«, sprach Kim zum Tatzelwurm, »gibst du mir dann dein Wort, uns nichts zu tun?«

Der Tatzelwurm schwieg.

Kim zögerte einen Moment, machte einen weiteren Schritt, hob die rechte Hand mit dem Schlüssel und deutete mit der anderen zu den Zwergen auf dem Kraterrand hinauf. »Und auch ihnen nicht. Ich öffne deine Ketten, aber du darfst kein Blut vergießen.«

»Ich soll ihnen das Leben schenken?« grollte der Tatzelwurm. »Sie haben mich in Ketten gelegt und hier eingesperrt, an diesem öden Ort.«

»Und ich befreie dich«, sagte Kim ernst. »Um den Preis ihres Lebens.«

Atemlose Stille breitete sich aus. Selbst der Tatzelwurrn schien so verblüfft daß er nicht mehr antwortete. Dann rückte er aber ganz nahe und senkte den schweren Schädel. »Sie sind deine Feinde, so wie sie meine sind«, knurrte er. »Warum bittest du um ihr Leben?«

»Weil das Leben heilig ist«, antwortete Kim. »Und niemand hat das Recht, es zu zerstören, ganz gleich aus welchen Gründen.« Er schwieg einen Moment, und als er weitersprach, da überlegte er jedes Wort sehr sorgfältig, denn er spürte, daß von dem, was er jetzt sagte, nicht nur sein, sondern womöglich das Schicksal von ganz Märchenmond abhängen mochte. »Du bist groß, Tatzelwurrn«, sagte er. »Du bist das größte und stärkste Wesen, das ich je gesehen habe. Du hast deine Kräfte, um dem Bösen zu dienen. Mach bitte einmal eine Ausnahme: hilf uns.«

»Euch?« Der Tatzelwurrn riß ungläubig die roten Augen auf und machte ein Geräusch, das sich wie ein Lachen anhörte. »Du bist von Sinnen, Winzling! Ihr seid meine Feinde!«

»Nein«, antwortete Kim. »Das sind wir nicht. Bring uns hier heraus, Tatzelwurrn, und hilf uns, die wirklichen Feinde deiner Welt zu bekämpfen. Vielleicht wird dann alles wieder so werden, wie es war, und auch du wirst wieder so leben können wie einst: stolz und frei und ohne Ketten.« Der Tatzelwurrn regte sich nicht nach diesen Worten, aber nach einer Welle deutete Kim sein Schweigen als Zustimmung und machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Oben auf dem Felsen begann Jarrn zu kreischen, als würde er bei lebendigem Leibe aufgespießt. »Du Irrer!« brüllte er. »Was tust du!«

Aber Kim hörte nicht auf ihn, sondern ging Schritt für Schritt weiter ins Wasser hinein, bis er hüfttief im See stand und der schwarze Hals des Tatzelwurms neben ihm lag. Langsam hob Kim die Hand und steckte den Schlüssel in das winzige Vorhängeschloß, das den Halsring mit der Kette verband. Noch einmal zögerte er. Und noch einmal Schossen ihm blitzschnell tausend Gründe dafür durch den Kopf, warum er ihn besser nicht herumdrehte, aber dann gab er sich einen entschlossenen Ruck und ließ das Schloß aufschnappen.

Der Tatzelwurm bäumte sich mit einem ungeheuren Brüllen auf, breitete die Schwingen aus, daß das Wasser des Sees abermals schäumend emporschoß - und verschwand mit einem einzigen, kraftvollen Satz in den Himmel. Kim und die anderen wurden von der Flutwelle von den Füßen gerissen und zu Boden geschleudert, aber das waren sie ja mittlerweise schon fast gewohnt. Als Kim wieder aufgestanden war, sah er, wie die Zwerge in heller Panik durcheinanderrannten und flohen. Nur Jarrn war stehengeblieben und blickte entsetzt in den Himmel, wo der Tatzelwurm mittlerweile zu einem winzigen Punkt zusammengeschrumpft war.

Doch er flog nicht davon. Für einen Moment entschwand er völlig ihren Blicken, aber dann machte er kehrt, kam zurück und kreiste wie ein Riesenadler über dem See, ehe er sich mit einem schrillen Kreischen in die Tiefe stürzte. Erst im letzten Moment breitete er seine riesigen Lederschwingen aus und fing den Sturz ab.

Kim blickte mit klopfendem Herzen auf den See hinaus. Zum allererstenmal sah er den Tatzelwurm in seiner ganzen, ungeheuerlichen Größe. Anders als bei Rangarig ähnelte der Leib des Drachen dem einer Schlange oder eben eines riesigen Wurms. Und ganz wie eine Schlange glitt der Tatzelwurm jetzt durch das Wasser aufs Ufer zu. Er war so groß, daß Kim sich ernsthaft fragte, wie er überhaupt in dem Kratersee Platz gefunden hatte.

Das geifernde Maul des Ungeheuers stand weit offen, und in seinen Augen loderte noch immer jener rote, unstillbare Haß. Kim und die anderen wichen vom Ufer zurück, bis sie mit den Rücken gegen die glatte Felswand gepreßt dastanden, und für einige Augenblicke war Kim vollkommen davon überzeugt, daß Jarrn recht gehabt hatte und der Tatzelwurm seine neu gewonnene Freiheit als allererstes dazu nutzen würde, sie zu töten.

Hals und Schädel glitten knirschend auf den Kiesstrand hinauf. Sein Blick fixierte Kim, und es war, als schaute Kim direkt in die Hölle. In den glühenden Augen brannte eine unstillbare Wut, die kein bestimmtes Ziel hatte, sondern einfach allem galt, was existierte. Denn dieses Geschöpf war erschaffen worden, um den Worten Haß und Zerstörung einen Körper zu verleihen. Und doch war - Kim spürte es wieder - noch etwas anderes da, und als der Tatzelwurm nach einer Ewigkeit, wie es schien, wieder das Maul öffnete, da tat er es nicht, um sie zu verschlingen.

»Alles wird wieder wie es war?« dröhnte er.

»Das kann ich dir nicht versprechen«, antwortete Kim. »Aber wir können es versuchen. Zusammen gelingt es uns vielleicht.«

Lange, sehr lange blickte ihn der Tatzelwurm an, und Kim fühlte den lautlosen Kampf, der hinter der gewaltigen Stirn stattfand. Aber Kim wußte schon, wie er sich entscheiden würde, noch ehe der Tatzelwurm knurrte: »Also gut, kleiner Held. Versuchen wir es.«

Kim atmete erleichtert auf.

Aber eine Sekunde später war er felsenfest davon überzeugt, sich getäuscht zu haben, denn der Tatzelwurm fuhr mit einer überraschend schnellen Bewegung herum, spreizte die Schwingen und stieß sich mit einem einzigen, kraftvollen Satz bis zum oberen Rand des Felskraters hinauf. Seine weit ausgestreckten, geöffneten Klauen zielten auf den Zwergenkönig, der wie gelähmt dastand, dann aber herumfuhr und mit einem schrillen Schrei die Flucht ergriff. »Nein!« schrie Kim verzweifelt. »Das darfst du nicht!« Jarrn warf sich kreischend zur Seite und versuchte, den zuschnappenden Klauen des Drachenwesens zu entwischen, aber er war nicht schnell genug. Die riesigen Pranken schlössen sich um ihn und hüllten seinen Körper zur Gänze ein. Jarrns gellendes Entsetzensgeschrei brach ab, während sich der Tatzelwurm mit einem zweiten, kraftvollen Schlag seiner riesigen Fledermausschwingen herumwarf, einen Viertelkreis über dem Krater drehte und dann in langsamen, immer enger werdenden Spiralen wieder auf den See herabstieß.

Als er noch zehn Meter über dem Wasser war, öffneten sich seine Vordertatzen, und ein brüllendes, schwarzes Bündel stürzte herab und verschwand klatschend im Wasser.

Jarrn schien nicht verletzt zu sein; zumindest schimpfte er wie gewohnt aus Leibeskräften, kaum daß er wieder an die Wasseroberfläche gekommen war. Der Tatzelwurm flog einen niedrigen Kreis über ihn, und allein der Sturmwind seiner Flügel drückte den Zwerg abermals unter Wasser, schob ihn aber auch gleichzeitig ein Stück weiter auf das Ufer zu. Kim wollte dem Zwergenkönig entgegenlaufen, aber der hatte mittlerweile aus eigener Kraft das Ufer erreicht und schenkte ihm einen so bösen Blick, daß Kim die Bewegung nicht zu Ende führte. Gleich darauf trat panische Angst in seine Augen, denn der Tatzelwurm ließ sich kaum eine Körperlänge hinter ihm aufs Wasser herabsinken und riß das Maul auf, als wolle er Jarrn nun endgültig verschlingen.

»Nein!« schrie Kim noch einmal verzweifelt. »Tu es nicht!« Und das Wunder geschah. Die riesigen Kiefer des Tatzelwurms klafften über dem Zwerg auf wie ein zahnbesetztes Scheunentor, aber die tödliche, zuschnappende Bewegung blieb aus.

Sekunden vergingen, in denen es niemand am Ufer auch nur wagte, zu atmen. Und dann, ganz, ganz langsam hob sich der gewaltige Schädel des Tatzelwurms wieder, und Jarrn stolperte entsetzt zurück und fiel auf sein Hinterteil. Nicht einmal zehn Minuten später kletterten sie alle, einer nach dem anderen, auf den schwarzglänzenden Schlangenleib des Tatzelwurms hinauf, um sich von ihm in die Freiheit zurücktragen zu lassen.

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