VI

Er brach am nächsten Tag nicht nach Gorywynn auf. Die zweitägige Wanderung durch das Sumpfland schien doch mehr an Kims Kräften gezehrt zu haben, als er selbst eingestehen wollte, und er schlief wie ein Stein. Brobing und seine Frau erzählten jedenfalls hinterher übereinstimmend, daß sie beide mehrmals versucht hätten, ihn aufzuwecken, aber ohne Erfolg. Als Kim von selbst erwachte, war der Tag schon mehr als zur Hälfte vorbei.

Das war ärgerlich. Aber der Schlaf in einem richtigen, weichen Bett und das Essen hatten Kim gutgetan, und er fühlte sich zum erstenmal seit Tagen wieder wirklich ausgeruht und erfrischt. Nachdem Jara ihm ein ebenso verspätetes wie reichhaltiges Frühstück zubereitet hatte, wandte er sich mit der Bitte an Brobing, ihm ein Pferd zu leihen, damit er sich auf den Weg nach Gorywynn machen konnte. Aber der Bauer lehnte ab. »Es ist zu spät«, sagte er. »Die nächste Stadt liegt am Fluß, und bis dahin ist es ein guter Tagesritt, selbst wenn man keine Rast einlegt. Das schafft Ihr heute nicht mehr.«

»Ich kann unter freiem Flimmel übernachten«, meinte Kim. Die Vorstellung, einen weiteren Tag zu verlieren, behagte ihm nicht. »Das macht mir nichts aus.«

»Das glaube ich Euch gerne«, antwortete Brobing. »Aber es ist zu gefährlich. Habt Ihr Kelhim vergessen?« Er machte eine entschiedene Handbewegung, als Kim widersprechen wollte, und fuhr mit leicht erhobener Stimme fort: »Das ganze Land von hier bis zum Fluß ist sein Revier. Tagsüber greift er selten an, und wenn, könnt Ihr ihm sicher ausweichen - ich werde Euch Sternenstaub geben, meinen besten Hengst. Aber nachts ist es zu gefährlich.«

Kim schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag; zumal ihm auch der besorgte Blick nicht entgangen war, den Brobing und Jara tauschten. Die beiden sorgten sich wirklich um ihn. Und das letzte, was er wollte, war, ihren Schmerz noch zu vertiefen. Sie sollten nicht um ihn bangen müssen.

»Möchtet Ihr Sternenstaub kennenlernen?« fragte Brobing plötzlich.

Kün nickte begeistert. Er liebte Tiere und vor allem Pferde. Rasch sprang er auf und folgte Brobing aus dem Haus. Sie gingen zu einem der großen Ställe, die sich hinter dem Hauptgebäude erhoben. Erneut fiel ihm auf, um wie vieles größer dieser Hof war, als der, den Brobing und die Seinen früher bewohnt hatten. Als der Bauer dies merkte, sagte er voller unübersehbarem Stolz: »Wir sind lange durch das Land gezogen, ehe wir einen Flecken Erde fanden, auf dem wir uns niederlassen konnten«, erklärte er. »Aber es hat uns nicht gereut. Dieser Ort ist beinahe noch schöner als der, an dem wir damals lebten.«

»Und dein Land ist größer«, fügte Kim hinzu.

»Sechs Tagwerke, in jeder Richtung«, bestätigte Brobing. »Und erst im letzten Winter haben wir eine Quelle mit Bitterwasser entdeckt.«

»Bitterwasser?«

»Man füllt es in Lampen, und es brennt viele Stunden«, erklärte Brobing.

»Petroleum«, sagte Kim. »Ihr meint Petroleum.«

»Nennt man es da, wo Ihr herkommt, so?« Kim nickte, und Brobing fuhr mit einem Lächeln fort: »Im nächsten Jahr werde ich ein paar Männer einstellen, die mir helfen, es zu fördern und in Krüge abzufüllen, damit wir es auf dem Markt in der Stadt verkaufen können.«

»Ihr müßt viele Knechte haben, um einen so großen Hof bewirtschaften zu können«, stellte Kim fest, aber Brobing schüttelte abermals den Kopf.

»O nein«, antwortete er. »Nur die beiden Mägde, die Ihr gesehen habt, und einen Mann - und mich selbst natürlich.«

Kim blickte zweifelnd über die lange Reihe von nebeneinandergebauten Stallungen und Scheunen, dann über die Felder, die hinter dem Hof begannen und sich erstreckten, so weit das Auge reichte. »Aber wie schafft Ihr dann all diese Arbeit?« wunderte er sich.

Abermals lächelte Brobing. »Warum nicht?« Er lachte, als er Kims verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich erkläre es Euch - später«, versprach er. »Aber jetzt laßt uns zu Sternenstaub gehen. Er ist sicher schon ganz begierig darauf, seinen neuen Herrn kennenzulernen.«

Sie betraten den Stall, in dem sich in zwei langen Reihen beiderseits der Tür mindestens dreißig großzügige hölzerne Verschlage befanden. Die meisten davon standen zwar leer, aber Kim schätzte trotzdem, daß Brobing ein gutes Dutzend Pferde besaß. In einer Gegend wie dieser schon ein wenig mehr als nur ein kleines Vermögen. Das Leben des Bauern schien sich tatsächlich grundlegend geändert zu haben, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Sie steuerten die letzte der Boxen an. Brobing blieb zwei Schritte davor stehen und deutete mit einer einladenden Geste auf das Tier, das darin stand.

Kim riß erstaunt die Augen auf. Jedes einzelne Pferd hier im Stall war ein Prachttier - es waren ausnahmslos Reitpferde, keine Ackergäule, wie Kim mit kundigem Blick bemerkt hatte -, aber Sternenstaub war das mit Abstand prachtvollste Tier. Der Hengst war riesig und von nachtschwarzer Farbe, in die winzige weiße Tupfen eingestreut waren, als wäre sein Fell mit Millionen von Sternen besprenkelt. Seine großen, klugen Augen blickten Kim an, als wüßte er ganz genau, wen er vor sich hatte, und als Kim nach einer Weile des Staunens behutsam näher trat, senkte das Pferd den Kopf und ließ es zu, daß ihm der Junge zärtlich die Nüstern streichelte. »Er ist... wunderbar«, sagte Kim.

»Ich weiß«, antwortete Brobing. »Es ist mein schnellstes Pferd. Torum sollte es haben, später einmal.«

»Aber das kann ich nicht annehmen«, sagte Kim, ohne daß es ihm indes möglich war, den Blick von dem prachtvollen Hengst loszureißen. »Ich ... ich kann Euch nicht versprechen, daß ich ihn zurückbringe. Der Weg nach Gorywynn ist weit -«

»- und voller Gefahren«, unterbrach ihn Brobing. »Eben darum bestehe ich darauf, daß Ihr Sternenstaub nehmt. Ich möchte nicht, daß Euch unterwegs etwas zustößt, nur weil Ihr vielleicht auf einer klapperigen Mähre reitet.«

»Aber wenn er Eurem Sohn gehören sollte -«

Abermals unterbrach ihn Brobing, und diesmal in einem Ton, der Kim begreifen ließ, daß er ihn beinahe unabsichtlich verletzt hätte. »Glaubt Ihr nicht, daß ich dieses Pferd gerne hergebe, wenn ich dafür hoffen darf, meinen Sohn zurückzubekommen?«

»Ich kann Euch nicht versprechen, daß ich Torum finde«, meinte Kim leise.

»Ich weiß das«, sagte Brobing. »Doch wenn es einer kann, dann Ihr. Und dabei braucht Ihr alle Hilfe, die Ihr bekommen könnt. Was ist schon ein Pferd?«

»Ein Pferd wie dieses?« Kim drehte sich nun doch zu Brobing herum. »Es muß sehr wertvoll sein«, sagte er. »Das ist es«, bestätigte Brobing. »Aber ich bin ein wohlhabender Mann. Und ohne Euch hätte ich nichts von alledem hier. Ohne Euch wäre ich nämlich tot - und meine Familie auch.«

Kim widersprach nicht mehr. Sie blieben noch eine Weile im Stall, und Brobing wartete geduldig, während sich Kim mit dem prachtvollen Hengst anfreundete und unentwegt auf ihn einredete, damit er sich an seine Stimme gewöhnte. Schließlich stieg er vorsichtig auf Sternenstaubs Rücken, und das Tier ließ es sich gefallen.

»Ich sehe schon, ihr werdet sicher gute Freunde werden«, sagte Brobing lachend, nachdem Kim endlich wieder vom Rücken des Hengstes herabgestiegen war. »Aber jetzt kommt. Ich zeige Euch den Hof - wenn Ihr wollt.«

Natürlich wollte Kim - wenn auch vielleicht aus anderen Gründen, als Brobing annehmen mochte. Ohne ein weiteres Wort folgte er dem Bauern.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Fluge. Brobing zeigte Kim voller Stolz sein ganzes Anwesen - und es war wirklich gewaltig. Neben dem Dutzend Pferde besaß er an die hundert Schweine und Rinder und dazu eine Ziegenherde, von der er selbst lachend erklärte, daß er sie niemals gezählt hätte. Brobing hatte vorhin im Stall nicht übertrieben - er war tatsächlich ein sehr wohlhabender Mann geworden. »Aber wie könnt Ihr diesen riesigen Hof bewirtschaften?« wunderte sich Kim wieder.

»Kommt - ich zeige es Euch.« Lächelnd deutete der Bauer mit einer einladenden Geste auf das Feld, das unmittelbar ans Haus grenzte, und Kim folgte ihm dorthin.

Es war ein großer, zur Hälfte frisch umgepflügter Acker. Eine Gestalt bewegte sich weit entfernt am Ende der letzten Furche auf das Haus zu, wobei sie einen gewaltigen Pflug vor sich herschob.

»Wer ist das?« fragte Kim überrascht. Es erschien ihm schon seltsam, daß kein Pferd den Pflug zog - oder einer der Ochsen, die gleich zu Dutzenden in Brobings Stall standen. Aber vor allem hatte Kim niemals davon gehört, daß man einen Pflug vor sich herschob.

Er beschattete die Augen mit der Linken, um die einsame Gestalt auf dem Feld besser sehen zu können. Sie war groß und von dunkler, rostroter Farbe, und ihre Bewegungen waren ebenso eckig und steif wie ihre Umrisse.

»Der ... Eisenmann?« entfuhr es ihm überrascht.

Brobing nickte. »Brokk verrichtet fast alle Arbeiten hier auf dem Hof«, sagte er. »Er pflügt die Felder und bringt die Ernten ein, schert die Schafe und schlachtet die Schweine und Ziegen. Und zwischendurch erledigt er noch alle Reparaturen, die anfallen. Den größten Teil der Ställe, die ich Euch gezeigt habe, hat er ganz allein gebaut. Ich wüßte wirklich nicht, was ich ohne ihn täte. Und Ihr hattet Angst vor ihm«, fügte er kopfschüttelnd hinzu.

Kim schwieg. Brobings Worte hatten nicht unbedingt dazu beigetragen, das Unbehagen zu vertreiben, mit dem ihn die Gegenwart des Eisenmannes erfüllte. Im Gegenteil. »Warum tut er das?« fragte er. »Ich meine - was verlangt er als Gegenleistung?«

»Als Gegenleistung?« Eine Sekunde lang blickte ihn Brobing höchst verwirrt an, dann erst schien er zu begreifen, was Kim überhaupt mit seinen Worten meinte, und fing schallend zu lachen an.

»Nichts«, sagte er. »Ich sehe schon - Ihr versteht immer noch nicht. Brokk ist nicht mein Knecht. Er gehört mir. Ich habe ihn gekauft, vor drei Sommern.«

»Gekauft?« wiederholte Kim verständnislos - und erst dann begriff er. »Ihr meint, Brokk ist eine ... Maschine?«

»Ich weiß nicht, was eine Maschine ist«, antwortete Brobing, noch immer lächelnd. »Er ist kein Lebewesen, wenn Ihr das meint. Er besteht nur aus Eisen. Die Zwerge in den östlichen Bergen stellen die Eisenmänner her. Sie sind teuer, aber die Anschaffung lohnt sich - wie Ihr seht. Noch zwei Jahre, und ich habe diesen da abbezahlt und kann einen zweiten, vielleicht sogar einen dritten dazunehmen. Ihr werdet staunen, wenn Ihr seht, was ich dann aus diesem Hof mache.«

»Aber wozu?« fragte Kim.

Brobing schien verwirrt. »Wie meint Ihr das?«

»Dir habt es selbst gesagt«, antwortete Kim. »Ihr seid bereits ein reicher Mann. Genügt Euch das nicht? Warum wollt Ihr noch mehr haben?«

»Warum nicht?« fragte Brobing entgeistert. »Ich nehme niemandem etwas weg, oder? Das Land ist groß genug. Jeder könnte einen Hof wie diesen haben, und es wäre noch immer genug Platz für alle da. Ich verstehe Eure Frage nicht.«

Kim antwortete nicht mehr darauf, denn da bemerkte er etwas, das ihn stark an das erinnerte, womit er sich vor gar nicht langer Zeit in der Schule beschäftigt hatte. Der Biologielehrer war sogar mit ihrer Klasse aufs Land gefahren, damit sie verstehen konnten, was er meinte. Kim machte ein paar Schritte, um sich auf dem frisch umgepflügten Feld in die Hocke sinken zu lassen. Nachdenklich hob er eine Handvoll der gerade umgeworfenen Erde auf und ließ sie durch die Finger rieseln. Der leichte Wind, der über dem Feld wehte, trug das meiste davon als grauen Staub mit sich fort.

»Der Boden ist völlig ausgelaugt«, stellte er fest. »Ihr grabt zu tief um. Es ist Lehm mit im Mutterboden, seht Ihr?« Brobing nickte. »Wir bringen jetzt drei Ernten im Jahr ein«, sagte er. »Das verlangt viel von der Erde. Noch ein Jahr oder zwei, und wir werden das Feld aufgeben müssen.«

»Und dann?« fragte Kim ernst.

Brobing zuckte mit den Achseln. »Wir pflügen ein neues Stück Boden um«, meinte er. »Es ist genug da.«

»Irgendwann wird alles aufgebraucht sein«, gab Kim zu bedenken.

»Kaum.« Brobing lachte. »Und wenn, so gehen wir fort und bauen woanders einen neuen Hof auf. Glaubt mir, das ist kein Problem. Brokk baut mir in einer Nacht ein neues Haus, wenn ich es ihm befehle.«

Kim schauderte. Langsam stand er auf und betrachtete den gewaltigen Eisenmann, der mit weit ausgreifenden Schritten näher kam, wobei er den zentnerschweren Pflug vor sich herschob wie ein Kind einen Puppenwagen. »Irgendwann wird es kein Land mehr geben, wohin Ihr ziehen könnt, Brobing«, sagte Kim.

»Unsinn«, widersprach der Bauer. »Märchenmond ist groß, junger Herr. Viel größer, als wir es uns vorstellen können. Und außerdem - es gibt nicht nur dieses Land.«

»Könnt Ihr denn neues bauen?« fragte Kim.

Die Worte sollten spöttisch klingen, aber sie taten es nicht, und Brobing nickte auch mit großem Ernst.

»Ihr habt die Stellwand gesehen, die die Sümpfe begrenzt.« Der Bauer deutete in die Richtung, aus der Kim gekommen war. »Alles Land von dort bis hierher bestand bis vor wenigen Jahren aus unfruchtbarem Fels und Gebirge. Die Eisenmänner haben sie abgetragen und neues, fruchtbares Land geschaffen. Ihr seht also, sie können Berge versetzen, wenn es nötig ist. Und sie können die Sümpfe trockenlegen und neuen Lebensraum schaffen.«

»Die Sümpfe?« Kim dachte an Lizard. »Das meint Ihr nicht ernst, Brobing. Dieses Land dort gehört Euch nicht.«

»Es gehört keinem«, entgegnete der Bauer. »Was lebt schon dort, außer ein paar Schlangen und Eidechsen? Aber es wird nicht nötig sein, glaubt mir.« Er lächelte wieder. »Ihr seid nicht der einzige, der so denkt. Es gibt manche, die sagen, daß die Eisenmänner nicht gut für uns sind. Aber sie irren sich. Seht Euch um! Als wir uns das erste Mal sahen, da war ich ein armer Mann!«

»Das mag sein.«

»Und heute«, fuhr Brobing fort, »fehlt es mir und meiner Familie an nichts. Ich muß mir keine Sorgen um die nächste Ernte machen, oder einen Sturm. Alles nimmt Brokk mir ab. Glaubt mir - wir sind glücklich.«

Kim sparte es sich, darauf zu antworten. Aber er dachte plötzlich wieder an den Ausdruck von Schmerz in Jaras Augen, als sie über ihren verschwundenen Sohn geredet hatte, und da wußte er, daß Brobing unrecht hatte.

Als sie sich auf den Rückweg zum Haus machten, blieb Brobing plötzlich stehen und blickte nach Westen. Auch Kim blinzelte gegen das Licht der sinkenden Sonne und erkannte eine winzige Gestalt, die sich dem Hof näherte. »Erwartet Ihr Besuch?« fragte er - seltsam beunruhigt, ohne zu wissen, warum.

Brobing schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht«, sagte er langsam. »Aber manchmal kommen ...« Er brach wieder ab und blickte angestrengt auf den näher kommenden Reiter, dann rief er überrascht aus: »Das ist Jarrn!«

Eine Sekunde lang zögerte er noch. Dann wandte er sich um, lief ins Haus zurück und ließ Kim einfach stehen, als hätte er ihn glatt vergessen.

Kim sah dem näherkommenden Reiter mißtrauisch entgegen. Brobings Verhalten zeigte sehr deutlich, daß ihm der unangemeldete Besuch wenig willkommen war - und auch Kim erfüllte ein merkwürdiges Unbehagen. Dabei sah der Reiter, als er näher kam, eigentlich kaum bedrohlich aus. Eher komisch, fand Kim.

Als der Fremde sein Pferd - das nicht größer als ein Pony war - auf den Hof lenkte und absaß, dachte Kim im ersten Augenblick, es wäre ein Kind. Der Bursche reichte ihm allerhöchstens bis unter das Kinn, und auch das nur, wenn er sich auf die Zehenspitzen gestellt hätte. Er war ganz in Schwarz gekleidet: schwarze Stiefel, schwarze Hosen und Hemd und einen schwarzen, bis auf die Knöchel fallenden Umhang, der nur so um seine rasseldürre Gestalt schlotterte. Sein Gesicht erinnerte an das eines halbverhungerten Geiers. Auch sein Haar, das sich zum Großteil unter der spitzen Kapuze seines Umhanges verbarg, war schwarz. Seine Fingernägel übrigens auch.

»Wer bist du?« fragte der Kleine unfreundlich, nachdem er auf Kim zugestapft war und sich herausfordernd vor ihm aufgebaut hatte.

»Eine gute Frage«, antwortete Kim. Der herrische Ton des Zwerges ärgerte ihn. »Vielleicht sollte ich sie dir stellen.«

In den Augen des Zwerges blitzte es zornig auf. »Ich bin Jarrn«, schnappte er. »Ich komme jedes Jahr zweimal hierher. Aber dich habe ich hier noch nie gesehen. Gehörst du zu dem Bauernpack?«

Kim beherrschte sich mühsam, um nicht das zu tun, wonach ihm plötzlich war: nämlich den Zwerg zu packen und so lange zu schütteln, bis er aus seinen albernen Dracula-Klamotten herausrutschte. »Das Bauernpack, wie du es nennst, Knirps«, sagte er - wobei er voller Schadenfreude bemerkte, wie der Zwerg bei dem Wort Knirps unter dem Staub auf seinem Gesicht erbleichte, »sind meine Freunde. Ich bin hier zu Gast.«

»Nun, ich auch«, giftete Jarrn. »Also gib den Weg frei, damit ich mir holen kann, was mir zusteht.« Er hob die Hand, um Kim beiseite zu schieben, aber der rührte sich nicht. »Geh aus dem Weg, Bursche«, sagte Jarrn drohend. »Oder -«

»Oder?« wiederholte Kim herausfordernd und ballte die Fäuste. Er kannte sich selbst nicht wieder. Es war sonst ganz und gar nicht seine Art, sich auf so plumpe Weise herausfordern zu lassen. Aber die bloße Anwesenheit des Zwerges reizte ihn schon, als verströme die schwarzgekleidete Gestalt etwas, das ihn in Wut brachte.

Der andere antwortete nicht, aber plötzlich hörte Kim ein Stampfen, und als er sich herumdrehte, da sah er, daß Brokk den Pflug fahrengelassen hatte und mit weit ausgreifenden Schritten quer über den frisch gepflügten Acker herbeikam. Sein grünes Auge schien drohend zu leuchten.

»Was ist denn los?« drang Brobings Stimme vom Haus her. Kim wandte den Kopf und sah, daß der Bauer und seine Frau eilig herbeikamen. »Kim - Jarrn! Was geht hier vor?«

»Nichts«, meinte Kim grollend.

Jarrn deutete anklagend mit einem dürren Zeigefinger auf ihn. »Dieser unverschämte Lümmel wollte mich nicht ins Haus lassen, Brobing. Ist er ein Verwandter von Euch?«

»Er ist... der Sohn eines guten Freundes«, sagte der Bauer. »Bitte, verzeiht ihm sein Benehmen. Er weiß nicht, wer Ihr seid. Und er ist noch jung. Ihr wißt, wie Kinder sind.« Bei diesen Worten warf er Kim einen beschwörenden Blick zu.

»Ja«, schnarrte Jarrn herablassend. »Das weiß ich. Deshalb verabscheue ich sie ja auch. Fast so sehr wie Bauernpack.«

Zu Kims unbeschreiblicher Überraschung lachte Brobing zu diesen Worten, wenn es auch etwas gekünstelt klang. Dann deutete er mit einer einladenden Geste aufs Haus. »Aber kommt doch herein, Jarrn. Ihr müßt hungrig und erschöpft sein. Meine Frau wird Euch eine Mahlzeit bereiten.«

»Dazu ist keine Zeit«, antwortete Jarrn ruppig. »Ich muß gleich weiter. Ich will heute noch zwei weitere Höfe besuchen. Aber einen Becher Wein nehme ich, während Ihr das Geld holt.«

»Das Geld?« Brobing blinzelte. »Schon jetzt?«

»Habt Dir es etwa nicht?« fragte der Zwerg und kniff mißtrauisch ein Auge zu.

»Doch, doch«, beschwichtigte ihn Brobing hastig. »Es liegt bereit. Ich habe Euch nur noch nicht erwartet. Im letzten Jahr -«

»Letztes Jahr war letztes Jahr«, unterbrach ihn Jarrn unwillig. »Wenn Ihr es nicht habt, komme ich auf dem Rückweg wieder vorbei, in einem Monat. Aber länger warte ich nicht. Habt Ihr die Summe nicht, nehme ich ihn wieder mit.« Er deutete auf Brokk, der mittlerweile dicht herangekommen war, jetzt aber langsamer ging.

Brobings Blick folgte der Geste des Zwerges. »Aber ich habe es ja«, beeilte er sich. »Sogar mehr als das. Ich kann die Summe, die im Winter fällig ist, gleich jetzt bezahlen. Das spart Euch einen Weg, Herr.«

»Eure Geschäfte scheinen ja gut zu gehen«, sagte Jarrn, ohne auf die Worte des Bauern einzugehen.

»Ich kann nicht klagen.« Brobing schien erst jetzt zu bemerken, daß Brokk seine Arbeit liegengelassen hatte, denn sein Antlitz verdunkelte sich.

»Was fällt dir ein?« rief er. »Geh sofort wieder aufs Feld zurück, Brokk. Bis heute abend muß umgegraben sein!« Brokk gehorchte - aber erst, wie Kim bemerkte, nachdem der Zwerg eine rasche, kaum wahrnehmbare Bewegung mit der Hand gemacht hatte, die Brobing nicht auffiel. Sie gingen ins Haus. Brobing und der Zwerg setzten sich an den Tisch, an dem Kim am Abend zuvor gegessen hatte. Kim überlegte einen Moment, ob er sich zu ihnen setzen sollte, fing aber dann einen ärgerlichen Blick des Besuchers auf und zog es vor, zu Jara in die Küche zu gehen. Sie hatte bereits begonnen, das Abendessen vorzubereiten.

Jara stand am Herd und rührte mit einem hölzernen Löffel in einem riesigen, gußeisernen Topf, aus dem es verlockend duftete. Als Kim eintrat, lächelte sie und deutete mit einer Kopfbewegung zu einem Stapel säuberlich aufgereihter Porzellanteller auf einem Regal. Sie lächelte erneut, als Kim sich einen davon nahm und sie ihm eine gewaltige Kelle voller Suppe einschenkte.

»Wer ist das?« fragte Kim, nachdem er den ersten Löffel gekostet hatte, und deutete auf die Stube.

»Jarrn?« Jara machte ein Gesicht, das die Frage eigentlich schon beantwortete - zumindest wurde deutlich, was sie von dem überraschenden Gast hielt. »Ein Zwerg aus den östlichen Bergen«, sagte sie. »Wir haben Brokk von ihm gekauft. Und jetzt kommt er zweimal im Jahr, um sein Geld zu holen, bis Brokk uns ganz gehört.«

»Und wieso läßt Brobing sich seine Grobheiten gefallen?« fragte Kim.

Jara lächelte verzeihend. »Ich sehe schon, Ihr habt noch nie Zwerge aus den östlichen Bergen getroffen«, sagte sie. »Sie sind das unhöflichste Volk, das Ihr Euch vorstellen könnt. Ich glaube, niemand hat je ein freundliches Wort von ihnen gehört. Aber sie sind nicht schlecht. Sie sind gute Handwerker. Ihre Schmiedearbeiten sind berühmt und begehrt im ganzen Land.«

»Wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich ihm schon Manieren beibringen«, sagte Kim.

Jara seufzte. »Diese Leute sind nicht schlecht, Kim«, wiederholte sie. »Nur unhöflich. Aber wenn man weiß, wie man mit ihnen umzugehen hat, kommt man irgendwie klar. Brobing jedenfalls. Und ich verschwinde meistens in die Küche, wenn Jarrn erscheint. Er bleibt nie lange. Und außerdem«, fügte sie mit einem hörbaren Seufzen hinzu, »gehört ihm der Eisenmann, bis wir ihn ganz abbezahlt haben, was im nächsten Sommer der Fall sein wird. Bis dahin kann er ihn jederzeit wieder mitnehmen.«

»Und dann wärt Ihr ruiniert«, vermutete Kim.

Jara lächelte. »Nein. Wir müßten ein paar Knechte einstellen, das wäre teurer, aber ruiniert wären wir nicht.« Kim aß seine Suppe zu Ende und ging in die Stube. Eben händigte Brobing dem Zwerg einen Beutel aus, der prall mit Goldstücken gefüllt war. Jarrn zählte sie pedantisch, kritzelte etwas auf einen Zettel, den er aus einer Tasche seines schwarzen Hemdes kramte, und steckte beides mit einem unzufriedenen Knurren wieder ein. »Also komme ich nur noch einmal, im nächsten Sommer«, sagte er. »Danach gehört Brokk endgültig Euch.«

»Ich könnte vielleicht einen zweiten Eisenmann gebrauchen«, meinte Brobing.

Jarrn zuckte mit den Schultern. »Wenn wir uns über den Preis einig werden ... Die Nachfrage ist groß, und sie wird immer größer. Wir können gar nicht soviel herstellen, wie die Leute wollen. Laßt uns im nächsten Jahr darüber reden.« Er griff mit einer dürren Hand nach dem Weinbecher, den Brobing ihm hingestellt hatte, und blinzelte Kim über den Rand des Gefäßes hinweg mißtrauisch an.

»Der Sohn eines Freundes, sagt Ihr?«

»Ja«, Brobing warf Kim wieder diesen beschwörenden Blick zu. »Er ist zum erstenmal hier. Ich glaube, er hat noch nie einen von Eurem Volk gesehen.«

»Zum erstenmal, so.« Jarrns Augen wurden schmal. »Wo kommst du denn her, Bursche?«

»Aus Neu -«, begann Kim, sah das verzweifelte Aufflackem in Brobings Blick und verbesserte sich hastig: »Aus einem Land, das sehr weit im Westen liegt. Ich glaube nicht, daß Ihr es kennt, Herr«, schloß er höflich.

»Ich kenne viele Länder«, antwortete Jarrn. »Aber es interessiert mich gar nicht. Ich muß jetzt weiter.« Er stand auf. »Wir sehen uns dann das nächste Mal. Und seht zu, daß Ihr das Geld bis dahin zusammenhabt. Alles und pünktlich.« Brobing atmete sichtbar auf, als Jarrn das Haus verließ. Er machte sich nicht einmal die Mühe, den Zwerg hinaus zu begleiten und zu warten, bis er davongeritten war, wie es die Höflichkeit eigentlich verlangt hätte. »Ein sonderbarer Kerl«, murmelte er kopfschüttelnd. »Die Zwerge sind für ihre ruppige Art bekannt - aber Jarrn ist schlimmer als alle, die ich je getroffen habe.«

Sonderbar? dachte Kim. Nein - sonderbar fand er Jarrn ganz und gar nicht. Eher unheimlich.

Und er wurde das Gefühl nicht los, daß er ihn wiedersehen würde; und das eher, als ihm recht war.

Das Abendessen verlief in gedrückter Stimmung. Sowohl Brobing als auch seine Frau gaben sich redliche Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber Kim spürte sehr wohl, daß die beiden irgend etwas bedrückte. Er fragte nicht danach, aber er nahm an, daß es irgendwie mit dem Zwerg zu tun hatte.

Nachdem die Sonne untergegangen war, zog sich Kim zurück. Er sei müde, gab er vor, und müsse schließlich am nächsten Morgen in aller Frühe aus dem Bett. Das entsprach zwar der Wahrheit, war aber nicht wirklich der Grund, aus dem er kurz nach Dunkelwerden freiwillig zu Bett ging; derartiges wäre ihm sonst nicht im Traum eingefallen. Aber Kim schloß aus der Bedrückung der beiden Bauersleute, daß sie sich etwas zu sagen hatten, bei dem sie allein sein wollten; sie waren nur einfach zu höflich, dies ihrem Gast zu sagen. So lag Kim ungewohnterweise sehr zeitig im Bett. Fast eine Stunde lang lag er so mit offenen Augen und hinter dem Kopf verschränkten Händen in Torums Kammer, starrte die weißgekalkte Decke über seinem Kopf an und versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Vergeblich. Alles war so verwirrend und beunruhigend, daß er nur Kopfschmerzen bekam, je länger er versuchte, Ordnung in das Durcheinander hinter seiner Stirn zu bringen. Schließlich stand er wieder auf und lief unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Es war noch nicht spät; sicherlich waren Brobing und seine Frau Jara noch auf. Kim würde tun, was er gleich hätte tun sollen - sie einfach fragen, was das alles hier zu bedeuten hatte: der Zwerg Jarrn und dieser Eisenmann und die sonderbare Veränderung, die mit Brobing und seiner Familie, ja mit ganz Märchenmond vor sich ging. Der Bauer wußte mehr, als er ihm bisher verraten hatte, da war Kim sicher.

Leise öffnete er die Tür. Jaras und Brobings Stimmen drangen gedämpft aus der Stube unten im Erdgeschoß zu ihm herauf, als er auf den Flur trat. Kim konnte die Worte nicht verstehen, aber der heftige Klang der Stimmen erschreckte ihn - stritten die beiden miteinander? Kim blieb stehen, lauschte einen Moment und ging dann auf Zehenspitzen weiter. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, die Bauersleute zu belauschen, nachdem sie so freundlich und hilfsbereit zu ihm gewesen waren - und doch hatte er das Gefühl, daß es so besser war.

»... ich verstehe dich ja!« hörte er Brobings Stimme. »Aber er wird es merken. Ich habe ihm gesagt, es ist ein scharfer Tagesritt bis zum Fluß - was soll ich ihm erzählen, wenn er herausfindet, daß es nicht einmal eine Stunde ist?« Kim wurde hellhörig: Brobing hatte ihn belogen? Aber warum denn?

»Er muß es ja nicht herausfinden«, antwortete die Frau. »Jedenfalls nicht sofort. Laß ihn noch hierbleiben, Brobing. Nur einen Tag noch. Oder zwei.«

»Oder eine Woche, nicht wahr?« Brobing seufzte, und Kim konnte sein Kopfschütteln direkt hören. »Jara - glaub mir, ich begreife dich. Ich verstehe dich nur zu gut. Auch mir bricht Torums Verlust das Herz. Aber Kim ist nicht unser Sohn. Und er wird es auch nie werden!«

»Vielleicht... gefällt es ihm ja hier«, beharrte Jara. »Wenn er eine Weile bleibt, wird er merken, wie schön es hier ist. Wir können ihm alles bieten, was er sich wünschen kann.«

»Er ist nicht hier, weil er sich etwas wünscht«, sagte Brobing, jetzt in fast sanftem Ton. »Du weißt das, Jara. Du ...« Kim hörte nicht weiter zu. So leise, wie er gekommen war, schlich er wieder in sein Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Das wenige, das er gehört hatte, reichte ihm. Brobing hatte ihn tatsächlich belogen - weil Jara nicht wollte, daß Kim ging. Aber sie konnte sich doch nicht im Ernst einbilden, daß er einfach hierbleiben und ihr den verlorenen Sohn ersetzen konnte! Der Gedanke erfüllte Kim mit Zorn - aber nur für einen ganz kurzen Moment, denn fast im gleichen Augenblick begriff er, warum Jara das getan hatte. Brobing hatte selbst gesagt - der Verlust des Sohnes brach ihr das Herz. Und Menschen, die verzweifelt sind, tun auch manchmal verzweifelte Dinge. Kim spürte keinen Zorn mehr. Jara tat ihm leid.

Statt in die Stube hinunterzugehen, wie Kim es vorgehabt hatte, setzte er sich auf das Bett und wartete. Er mußte fort, nicht morgen früh, sondern noch heute nacht - Kelhim hin oder her. Wenn Jara aufstand, dann würde sie einen Zettel auf Kims Nachtschränkchen vorfinden, auf dem er ihr mitteilte, daß er in aller Frühe und ganz leise aufgebrochen war, um sie und ihren Mann nicht zu stören.

Er saß und wartete, bis es auf dem Hof und im Haus still geworden war. Es dauerte lange. Kims Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn Jara und ihr Mann redeten noch lange. Kim schätzte, daß es bereits auf Mitternacht zuging, ehe er es endlich wagte, aufzustehen und das Ohr gegen das Holz der Tür zu pressen, um zu lauschen.

Es herrschte vollkommene Stille. Alles, was Kim hörte, war das Rauschen in seinen eigenen Ohren. Behutsam drückte er die Klinke herunter, schob die Tür einen Spaltbreit auf und lauschte noch einmal. Nichts rührte sich. Aber gerade, als Kim das Zimmer verlassen wollte, um auf Zehenspitzen aus dem Haus zu schleichen, glaubte er ein Geräusch hinter sich zu vernehmen. Erschrocken drehte er sich herum.

Nichts. Er war allein. Das Zimmer war dunkel und leer und still. Und doch, da war etwas, er hörte es immer noch - ein sonderbares Knarren und Ächzen, das er sich nicht erklären konnte.

Vorsichtig - und ein wenig ängstlich - schloß Kim die Tür und trat in sein Zimmer zurück, um es gründlich - und völlig ergebnislos - zu durchsuchen. Erst, als er sich dem Fenster näherte, merkte er, daß die Geräusche gar nicht aus seinem Zimmer, sondern vom Hof kamen. Es war eine sehr warme Nacht, deshalb stand das Fenster offen. Da auf dem Hof vollkommenes Schweigen eingekehrt war, drang jeder Laut doppelt deutlich herein. Darauf bedacht, stets im Schatten zu bleiben, um von unten nicht gesehen zu werden, blickte Kim hinaus.

Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an das silberne Mondlicht draußen zu gewöhnen. Dann erschrak er so heftig, daß er um ein Haar aufgeschrien hätte.

Neben der Scheune stand ein gewaltiger Schatten; größer, viel größer als ein Mensch und im verwirrenden Licht des Mondes nicht mehr als ein schwarzer, bedrohlicher Schemen. Im allerersten Moment war Kim fest davon überzeugt, daß es sich um niemand anderen handelte als Kelhim, der gekommen war, um zu vollenden, was er vor zwei Tagen begonnen hatte. Aber dann sah er, daß der Umriß zwar gewaltig wie der des Bären war, aber zu eckig und viel zu plump. Außerdem hatte Kelhim kein grünleuchtendes Auge!

Es war Brokk.

Was um alles in der Welt tat der Eisenmann dort draußen, mitten in der Nacht? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn neben dem riesigen Schatten des Eisenmannes tauchte plötzlich ein zweiter, sehr viel kleinerer Schatten auf, mit dürren Armen und Beinen und einem Umhang, der in einer spitzen Kapuze endete: Jarrn.

Die beiden waren viel zu weit vom Haus entfernt, als daß Kim verstehen konnte, was der Zwerg zu Brokk sagte, aber er sah, wie der Kleine heftig mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelte und dabei immer wieder auf das Haus - und das Fenster zu Kims Zimmer! - deutete.

Einen Augenblick später drehte sich Brokk mit schwerfälligen Bewegungen herum und stampfte auf das Haus zu. Kims Herz machte einen entsetzten Hüpf er bis zum Hals hinauf, wo es doppelt schnell und hart weiterzuklopfen schien. Der allererste Impuls war, herumzufahren und aus dem Haus zu stürmen, so schnell wie nur möglich. Aber Kim sah sehr rasch ein, daß es dafür zu spät war. Brokk war nicht sehr gewandt, aber die Scheune war auch nicht besonders weit entfernt - der Eisenmann würde das Haus längst erreicht haben, ehe Kim aus dem Zimmer, den Flur entlang und die Treppe hinuntergerannt war. Außerdem bestand die Gefahr, daß Brobing und Jara dadurch aufwachten und Brokk ihnen etwas zuleide tat, wenn sie sich dem Eisenmann etwa in den Weg stellten.

So wartete Kim mit klopfendem Herzen, bis der Eisenmann das Haus umkreist hatte und sein Fenster nicht mehr sehen konnte, dann schwang er sich mit einer entschlossenen Bewegung auf den Sims, atmete tief ein - und sprang die drei Meter in die Tiefe.

Der Aufprall war weniger hart, als Kim erwartet hatte. Trotzdem verlor er das Gleichgewicht, überschlug sich drei-oder viermal und kam taumelnd auf Händen und Knien hoch und blickte direkt in ein schmutziges Zwergengesicht, das ihn unter der spitzen Kapuze heraus verblüfft anstarrte. Aber Jarrn hatte das Pech, eine Sekunde später als Kim aus seiner Verblüffung zu erwachen. Er klappte eben den Mund auf, um loszuschreien, da hatte ihn Kim schon am Kragen gepackt und zerrte ihn so grob in die Höhe, daß aus dem Schrei nur ein Gurgeln wurde.

Kim sah sich gehetzt um. Brokk war hinter dem Haus verschwunden und stapfte jetzt wahrscheinlich gerade die Treppe hinauf. Bis er Kims Zimmer erreicht und festgestellt hatte, daß es leer war, würde sicherlich noch eine Minute vergehen. Und wahrscheinlich eine zweite, bis er den ganzen Weg wieder zurückgeruckelt war. Das war erbärmlich wenig Zeit - aber vielleicht genug, den Stall zu erreichen. Außerdem - welche Wahl hatte Kim schon? Er rannte los, wobei er den heftig strampelnden Zwerg einfach hinter sich herzog. Der spuckte keuchend Gift und Galle, aber Kim hielt ihn unerbittlich fest - gerade so, daß Jarrn noch Luft zum Atmen bekam, doch nicht genug, um loszuschreien. Das Schienbein blaugetreten und den einen Arm völlig zerkratzt, stürmte Kim in die Scheune, ohne auf die wilden Angriffe Jarrns zu achten, und rannte auf die letzte Box in der langen Reihe zu. Sternenstaub hob den Kopf und blickte ihn an, als er näher kam. Kim jubelte innerlich, als er sah, daß der Hengst bereits Satteldecke und Zaumzeug trug. Der Sattel selbst hing über der Tür des Verschlages, aber Kim hatte Übung darin, Pferde aufzuzäumen. Er brauchte kaum eine Minute, den Sattel aufzulegen und wenigstens notdürftig zu befestigen. Jarrn hielt er dabei einfach unter dem linken Arm geklemmt, wo dieser geifernd weiterzappelte. Aber als Kim die Tür der Box geöffnet hatte und sich in den Sattel schwingen wollte, blickte er unversehens in ein Paar dunkler Triefaugen, die ihm aus einem abgrundtief häßlichen Gesicht entgegenstarrten.

»Du schuldest mir noch einen Fisch«, erklang es da. Und Bröckchen schnüffelte in Jarrns Richtung, dann machte es ein unanständiges Geräusch. »Du willst mir doch nicht den da andrehen, oder? Den will ich nicht.«

Kim atmete hörbar auf. Der Schreck hatte ihn ordentlich gepackt, vorhin. Jetzt war er froh wie schon lange nicht. »Bröckchen«, sagte er. »Ich muß weg.«

Er machte Anstalten, sich in den Sattel zu schwingen, aber dort saß Bröckchen und rührte sich nicht von der Stelle.

»Du bist mir noch etwas schuldig«, beharrte Bröckchen. »Ich kann jetzt nicht«, stöhnte Kim. Aber er sah ein, daß es wenig Sinn hatte, die kostbare Zeit mit einem Streit um einen Fisch zu verschwenden. »Gut«, sagte er. »Ich fange dir deinen Fisch. Komm mit.«

Bröckchen überlegte eine Weile mißtrauisch, dann kroch es jedoch gehorsam nach vorne und krallte sich in Sternenstaubs Mähne fest, so daß Kim endlich in den Sattel steigen konnte. Den Zwerg, der immer noch krächzend um sich schlug, packte er dabei unsanft vor sich auf das Pferd. »Laß mich los! Willst du mir alle Knochen im Leib brechen?« keuchte Jarrn, als sich Kims Hand an seinem Kragen kurz lockerte.

»Keine schlechte Idee«, knurrte Kim grimmig, während er Sternenstaub auf das Tor zu lenkte. »Aber vorher werden wir uns noch ausführlich unterhalten, sobald wir ein paar Meilen weit weg sind - los, Sternenstaub!«

Tatsächlich machte das Pferd einen gewaltigen Satz - blieb aber so ruckartig wieder stehen, daß es Kim um ein Haar abgeworfen hätte, während Bröckchen in einem Salto über seinen Kopf hinwegsegelte.

Unter der Stalltür war ein gewaltiger Schatten erschienen. Groß, eckig und schwarz wie die Nacht verwehrte er ihnen den Weg. Sein grünes Auge funkelte boshaft.

»Ha!« schrie Jarrn. »Damit hast du wohl nicht gerechnet. Jetzt wollen wir sehen, wo deine große Klappe bleibt!« Brokk machte einen einzelnen, schwerfälligen Schritt, unter dem der ganze Stall zu erbeben schien. Sternenstaub tänzelte auf der Stelle, und auch die anderen Pferde begannen in ihren Boxen unruhig zu werden.

»Pack ihn, Brokk!« kreischte Jarrn. »Reiß ihm die Rübe runter! Ich befehle es dir!«

Brokk machte einen weiteren Schritt. Seine fürchterliche Schaufelhand klappte auf, und die Stahlzähne daran blitzten wie das Gebiß eines Raubtieres im Dunkeln.

Kim ließ den Hengst vorspringen, daß es beinahe schien, als wollte er Brokk einfach über den Haufen reiten, riß im letzten Moment mit aller Macht an den Zügeln und warf sich zurück. Sternenstaub schrie vor Schmerz und Überraschung und bäumte sich auf. Seine wirbelnden Vorderhufe trafen Brokks eisernen Schädel mit einem Laut, als schlüge er eine gewaltige Glocke an. Kim konnte sehen, wie der Eisenmann unter den Hufschlägen erzitterte.

Er wankte - aber er fiel nicht.

Sternenstaub wieherte vor Angst und tänzelte ein Stück zurück. Und Kim entging nur noch durch eine verzweifelte Bewegung im Sattel der riesigen Schaufelhand, die ihn packen wollte. Brokk begann, ihn in die Enge zu treiben. Sternenstaub mußte Schritt für Schritt zurückweichen, und so plump der Eisenmann war, der Platz im Stall reichte einfach nicht aus, um an ihm vorbeizupreschen!

»Nur zu, Brokk!« brüllte Jarrn. »Pack ihn!« Und Kim tat das einzige, was ihm noch einfiel - er packte den Zwerg mit beiden Händen, riß ihn hoch über den Kopf und warf ihn wie ein lebendes Geschoß auf den Eisenmann.

Jarrn kreischte markerschütternd, und Brokk hob blitzschnell die Arme, um seinen Meister aufzufangen. Es gelang ihm - allerdings mit der falschen Hand: jener mit der Schaufel dran.

Als Kim tief über Sternenstaubs Rücken gebeugt an ihm vorbeipreschte, hörte er einen Laut wie eine zuschnappende Bärenfalle, und aus Jarrns wütendem Brüllen wurde ein schmerzhaftes Röcheln. Aber da war Kim schon aus dem Stall heraus und raste tief über Sternenstaubs Hals gebeugt in die Nacht hinein.

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