XXII

Selbst die gewaltigen Kräfte des Tatzelwurms reichten nicht aus, das Gewicht von so vielen Gästen länger als zwei oder drei Stunden hintereinander zu tragen, so daß ihr Flug nach Westen in zahllose, kleine Etappen zerfiel. Die Pausen wurden immer länger. Dabei fieberten sie alle innerlich vor Ungeduld. Keiner von ihnen wußte, wieviel Zeit in der Welt draußen vergangen war, während sie in den Höhlen der Zwerge gearbeitet hatten, und erst recht wußte keiner, was inzwischen jenseits der Schattenberge geschehen war. Die Kinder fragten sich, wie es ihren Familien erging, ob sie in Freiheit oder überhaupt noch am Leben waren. Kim jedoch wagte es nicht, den Tatzelwurm zu größerer Eile anzutreiben. Selbst nachdem sie schon drei Tage unterwegs waren, begriff er immer noch nicht wirklich, wie es ihm gelungen war, dieses riesige, zornige Wesen dazu zu bringen, ihnen zu helfen. Auch hätte es wahrscheinlich wenig Sinn gehabt, mit dem Tatzelwurm zu reden. Daß er ihnen jetzt half, bedeutete noch lange nicht, daß er plötzlich zu ihrem Freund geworden wäre; er blieb ein böser Drache, der launisch und unberechenbar war, so daß sich alle während sie rasteten in respektvoller Entfernung von ihm hielten. Kim sprach ihn nur an, wenn es unbedingt nötig war. Und selbst die Gespräche zwischen Kim und Peer wurden immer knapper, bis sie schließlich ganz versiegten, je weiter sie sich den Bergen näherten. Die Angst, ein vom Krieg verwüstetes Land vorzufinden, sobald sie die himmelhohen Gipfel des Schattengebirges hinter sich gebracht hätten, wurde übermächtig und verdüsterte ihre Stimmung wie eine Gewitterwolke. Möglicherweise waren Monate vergangen, wenn nicht Jahre, und vielleicht war es schon viel zu spät, noch irgend etwas zu retten. Der einzige, dessen Laune sich nicht trübte, war Jarrn, den sie einfach mitgenommen hatten. Während des ersten Tages hatte er kaum ein Wort gesprechen und sie alle nur mit haßerfüllten Blicken aufgespießt, aber nachdem er sein erstes Entsetzen überwunden hatte, wurde er wieder ganz der alte, vorlaut und aufsässig, wie Kim ihn kannte. Wenn Kim mit ihm zu reden versuchte, erhielt er entweder gar keine Antwort oder hatte die Wahl zwischen einer frechen Bemerkung, einer Beleidigung oder einer Unflätigkeit.

Dabei war es keineswegs so, daß sich Kim über dieses Benehmen des Zwergenkönigs ärgerte. Jarrns Frechheiten hatten trotz allem etwas, das es schwer machte, sie wirklich übelzunehmen. Aber sie bereiteten Kim Sorge. Mehr, als er vor den anderen zuzugeben bereit war. Jarrn mochte ein Großmaul - oder um eines seiner Lieblingswörter zu benutzen: ein Blödmann - sein, aber er war kein Narr. Wenn er trotz des Umstandes, sich in Gefangenschaft und auf dem Weg zu seinem größten Widersacher zu befinden, derart fröhlich war, so mußte das einen Grund haben. Und Kim hatte das Gefühl, daß ihm dieser Grund ganz und gar nicht gefallen würde.

Am vierten Tag ihrer Reise erreichten sie das Schattengebirge. Sie hatten noch Tageslicht für drei oder vier Stunden, aber der Tatzelwurm begann trotzdem tieferzugehen. Er suchte nach einem Rastplatz für die Nacht, und Kim versuchte nicht, ihn davon abzubringen. Die Schattenberge galten als unüberfliegbar. Niemand wußte, wie hoch sie wirklich waren, und es gab nicht wenige, die behaupteten, daß ihre eisverkrusteten Spitzen direkt an den Himmel stießen. Wenn es dem Tatzelwurm tatsächlich gelingen sollte, über sie hinwegzufliegen, dann würde er jedes bißchen Kraft dafür brauchen, das er zur Verfügung hatte.

Sie schliefen alle nicht sehr gut in dieser Nacht. Auch Kim wälzte sich unruhig hin und her, als er plötzlich mit dem Gefühl erwachte, angestarrt zu werden.

Er hatte sich nicht getäuscht. Eine kleine, in ein schmutziges, schwarzes Cape gehüllte Gestalt saß mit überkreuzten Beinen neben ihm und blickte auf ihn herab. Sie hatten Jarrn mit einer Zwergenkette gefesselt und deren Ende an den Halsring des Tatzelwurms gebunden, so daß der Zwerg zwar genug Bewegungsfreiheit hatte, aber jeglicher Fluchtversuch unmöglich war. Und Kim hatte bisher sorgsam darauf geachtet, stets außer Reichweite des Zwergenkömgs zu sein, wenn er sich zum Schlafen niederlegte.

An diesem Abend jedoch hatte er nicht darauf geachtet. Voller Schrecken begriff er, wie leicht es Jarrn hätte fallen können, den Schlüssel an sich zu bringen, und senkte sogleich die Hand zum Gürtel. Der Schlüssel war noch da. »Keine Sorge, Dummkopf«, sagte Jarrn. »Wenn ich hätte fliehen wollen, wäre ich nicht mehr da. Und du wärst bestimmt nicht wach geworden.«

»Das glaub ich dir gerne«, knurrte Kim, während er sich verschlafen in eine halb sitzende, halb liegende Position hochstemmte. »Bei Diebstahl und Betrug seid ihr Zwerge ja unschlagbar.«

Jarrns Gesicht nahm einen Ausdruck ehrlicher Betroffenheit an. »Wer sagt so etwas?« fragte er. »Wir betrügen niemanden, und wir stehlen auch nicht. Wir treiben Handel, das ist alles.«

»Ja«, erwiderte Kim. »Aber euer Handel gefällt mir ganz und gar nicht.«

Seine Worte fielen unfreundlicher aus, als er eigentlich wollte, und er begriff, daß der grobe Ton nur Ausdruck seiner Verlegenheit war - er hatte Jarrn wirklich unrecht getan. Es war seltsam: Je besser er Jarrn kennenlernte, desto schwerer fiel es ihm, dem Zwerg böse zu sein. Sie standen auf verschiedenen Seiten, das schon, aber ein Betrüger war der Zwerg wirklich nicht. Und doch schien es, als wüßte er mehr, als er sagte. Und das wiederum machte Kim wütend, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, daß Jarrn sich insgeheim über ihn lustig machte.

»Laß mich schlafen«, brummte Kim. »Wir haben morgen einen schweren Tag vor uns.« Damit drehte er sich herum und schlief, um ein bißchen weniger unruhig, weiter. Anders als an den Tagen zuvor drängte niemand am nächsten Morgen zum Aufbruch. Sie alle waren sehr still, und auf ihren Gesichtern war die Angst vor dem, was sie erwarten mochte, deutlich abzulesen. Als Kim wieder einmal die Frage stellte, wer von ihnen weiter mitkommen wollte, da antwortete keiner, und schließlich kletterten sie alle wieder auf den Leib des Tatzelwurms hinauf, und der Drache begann mit seinem endlosen Aufstieg.

Das Grau der Dämmerung blieb hinter ihnen zurück, und sie tauchten in den Sonnenschein ein, der das Land unter ihnen noch gar nicht erreicht hatte. Trotzdem wurde es nicht wärmer, sondern zuerst kalt, dann bitterkalt, schließlich eisig. Kims Haut prickelte vor Kälte, und sein Atem gefror zu grauem Dampf vor seinem Gesicht.

Der Tatzelwurm glitt fast ohne Flügelschlagen und wie ein Segelflieger die warmen Aufwinde an den Bergen nutzend dahin, um Kraft zu sparen. Langsam schraubte er sich an den Flanken des Schattengebirges entlang in die Höhe, während die Reisenden schaudernd enger zusammenrückten, um sich gegenseitig zu wärmen. Es nützte wenig. Ein eisiger Wind kam auf, der wie mit Messern durch ihre Kleidung schnitt, die Luft war wie Glas und so frostig, daß man meinte, sie anfassen zu können. Unter ihnen war längst kein Fels mehr, sondern glitzerndes Eis, das die ganze Gebirgskette wie ein erstickender Panzer bedeckte. Höher und immer höher schraubte sich der Tatzelwurm. Die ersten Berggipfel blieben unter ihnen zurück, aber dahinter lagen die Flanken weiterer, noch höherer Berge, und der Himmel über ihren Köpfen war jetzt von einem dunklen, beinahe schwarzen Blau. Die eisige Luft verbrannte Kims Kehle wie mit Flammen, und er konnte die Hände kaum noch bewegen.

Noch weiter und weiter ging ihr Aufstieg. Der Tatzelwurm überwand auch die nächsten Berggipfel, und hinter diesen erhob sich erneut die Flanke eines Gletschers, dessen Spitze irgendwo im dunklen Blau des Himmels verschwamm. Der Wind war jetzt schneidend, er trieb Kim Tränen in die Augen und ließ sie auf seinen Wangen zu Eis erstarren. Auch auf der rauhen Haut des Tatzelwurms bildete sich eine dünne, knisternde Schicht.

Und es wurde immer noch kälter. Die Bewegungen des fliegenden Drachenwesens begannen allmählich an Eleganz und Kraft zu verlieren. Es stieg noch immer, aber jetzt längst nicht mehr so schnell und mühelos wie zuvor. Dabei wurden die Berge vor ihnen nicht weniger. Hinter jedem Gipfel, den sie überstiegen, ragte ein weiterer Gletscher auf, und Kim begann sich zu fragen, ob das womöglich überhaupt kein Ende hatte und sie verloren waren. Die Luft wurde nun auch dünner, so daß es zunehmend schwerer fiel zu atmen.

Und schließlich kam es, wie es kommen mußte. Zuerst fast unmerklich, aber dann schneller und schneller begann der Tatzelwurm an Höhe zu verlieren. Er schlug jetzt kräftig mit den Flügeln und strengte seine gewaltigen Muskeln an, so sehr er nur konnte, aber es half nichts. Die eisige Luft trug seinen Körper einfach nicht mehr, und das Gewicht seiner Passagiere und das des Eises, das sich immer rascher auf seiner Haut bildete, war einfach zuviel für ihn.

Kim erschrak heftig, als er sich vorbeugte und an den Flügeln des Drachen vorbei in die Tiefe sah. Unter ihnen war nichts als ein Gewirr aus scharfkantigen Felsen und eisverkrusteten Graten. Nirgendwo war eine Stelle zu erblicken, auf der sie sicher landen konnten, um dem Tatzelwurm eine Rast zu gönnen. Plötzlich beugte sich Jarrn vor und schrie: »Nach links! Siehst du den Berg mit der gespaltenen Spitze? Flieg links daran vorbei!«

Obwohl das Heulen des Windes und das Rauschen der gewaltigen Drachenflügel seine Stimme übertönten, schien der Tatzelwurm sie zu verstehen, denn er änderte gehorsam den Kurs und bewegte sich ruckend und unsicher in die Richtung, die der Zwerg ihm angegeben hatte. Kim spürte genau, wie schwer es ihm fiel, die Höhe zu halten. Immer wieder sackte er ab, und immer mühsamer arbeitete er sich mit schweren Flügelschlägen wieder empor. Manchmal streiften sie schon so dicht über die Berggipfel hinweg, daß Kim jeden Moment damit rechnete, einer der messerscharfen Grate würde den Leib des Drachen treffen und ihn aufreißen, so daß sie alle in den Tod stürzen müßten.

Aber irgendwie schafften sie es. Der Tatzelwurm stöhnte bei jedem Flügelschlag, als koste er ihn unendliche Überwindung, und alle mußten sie sich beherrschen, um nicht vor Schmerz und Kälte zu wimmern. Ihre Finger-and Zehenspitzen schienen abgestorben, und es schien, daß die eisige Kälte allmählich in die Körper hineinkroch, um alles Leben darin zum Erstarren zu bringen. So dicht, daß die weit gespannten Schwingen des Riesendrachen beinahe den Felsen zu streifen schienen, glitten sie an der Flanke des von Jarrn bezeichneten Berges entlang. Dahinter lag nichts als ein weiterer Berg. Jarrn deutete wieder nach links und schrie aus vollem Halse, und abermals folgte ihm der Tatzelwurm. Er wandte sich nach links, flog um Haaresbreite an einem rasiermesserscharfen Grat aus Eis vorbei und tauchte in eine plötzlich aufklaffende Schlucht ein.

Und dann, ganz plötzlich, war es vorbei. Die Berge wichen rechts und links von ihnen zur Seite, und mit einem mal lag kein Eis- und Felsengewirr mehr unter ihnen, sondern das Panorama eines weiten, sonnenbeschienenen Landes.

Kim schauderte, als er sah, wie hoch sie flogen. Man konnte keine Unterschiede zwischen Wäldern und Wiesen erkennen. Die Flüsse waren wie dünne silberne Haare, die nur manchmal in der Sonne aufblitzten. Da spürte er, wie den Tatzelwurm nun endgültig die Kräfte verließen. Das riesige Geschöpf stöhnte und legte sich auf die Seite, so daß sie alle mit einem Aufschrei ins Rutschen gerieten und sich entsetzt aneinanderklammerten. Erst im allerletzten Moment fand es sein Gleichgewicht wieder und setzte zum Sturzflug an. Der Sturmwind heulte, und fast hätte er sie alle vom Rücken des Tatzelwurms gefegt, während das Land ihnen regelrecht entgegensprang.

Schon konnten sie Einzelheiten unter sich wahrnehmen, Städte, Dörfer und Gehöfte, Straßen und Wege. Jetzt raste der Tatzelwurm so dicht über dem Boden dahin, daß seine Schwingen durch die obersten Wipfel der Bäume brachen. Dann prallte er mit furchtbarer Wucht auf, wurde wie ein flach über das Wasser geworfener Stein wieder in die Höhe geschleudert und krachte ein zweites Mal zu Boden. Sein gewaltiger Leib riß einen Graben in die Erde, und seine noch immer weit ausgestreckten Flügel zerfetzten Büsche und knickten Bäume, ehe er mit einem furchtbaren Ruck zum Liegen kam. Kim und Peer und alle anderen wurden einfach vom Rücken heruntergeschleudert und landeten im hohen Bogen im Gras.

Stunden später froren sie noch immer erbärmlich. Kim begann erst allmählich all die Kratzer und Prellungen und Beulen zu spüren, die er bei dem Sturz davongetragen hatte, so wie alle anderen auch. Wie durch ein Wunder war niemand ernsthaft verletzt, nicht einmal Jarrn, der doch an den Drachen gekettet war. Dabei hatte die Kette seinen Sturz reichlich unsanft abgebremst. Der einzige, um den sich Kim ernsthafte Sorgen machte, war der Tatzelwurm selbst. Er lebte zwar, und seine Brust bewegte sich in mühsamen, schweren Atemzügen. Manchmal öffnete er die Augen und blickte ins Leere. Aber er reagierte nicht, als Kim ihn ansprach.

Obwohl die Sonne vom Himmel schien, trugen sie Holz und trockenes Laub zusammen und entfachten ein Feuer, um sich daran zu wärmen. Kim machte sich vor allem um die Jüngeren Sorgen; die Kälte hoch oben am Himmel war so grausam gewesen, daß es fast ein Wunder war, daß alle überlebt hatten. Und daß niemand ernsthafte Erfrierungen davongetragen hatte.

Freilich hatte Kim das Gefühl, dicht unterhalb der Haut zu einem Eisblock erstarrt zu sein. Er hielt die Hände so knapp über die heißen Flammen, daß sie fast seine Finger berührten. Auch Bröckchen kuschelte sich zitternd neben den glühenden Holzscheiten hin. Und Jarrn schlang die Arme um den Oberkörper und klapperte hörbar mit den Zähnen.

Nach einer Weile zog er eine Hand unter seinem Umhang hervor und griff nach der Kette an seinem Fuß. Sie hatten sie vom Hals des Tatzelwurms gelöst und um den Stamm eines Baumes geschlungen, so daß der Zwerg zwar ans Feuer kommen, aber nicht davonlaufen konnte. »Wann macht ihr das Ding endlich los?« fragte er. »Ich habe euch geholfen. Dir seid auf der anderen Seite der Berge, oder?«

»Und?« fragte Kim.

»Und! Und!« äffte der Zwerg ihn nach. »Warum läßt du mich dann nicht frei? Hab' ich euch etwa nicht den Weg gezeigt?«

»Schon«, antwortete Kim. »Aber doch nur, um dein eigenes Leben zu retten - nicht wahr?«

Jarrn starrte ihn wütend an.

Aber Kim wollte den Zwerg nicht gehen lassen. Jarrn war ein wenig zu fröhlich gewesen, gestern abend. Nein - der Zwerg wußte etwas. Und Kim würde ihn nicht freilassen, bevor er herausgefunden hatte, was es war.

»Du willst mich zu diesen Grasfressern bringen.«

»Ja«, antwortete Kim, ohne den Zwerg anzusehen.

»Sie werden mich umbringen«, meinte Jarrn düster.

»Das werden sie nicht«, widersprach Kim. »Ich gebe dir mein Wort, daß dir kein Steppenreiter ein Haar krümmen wird...«

»Da kommt jemand«, unterbrach sie Peer. Er deutete auf den Kamm eines Hügels. Und als Kim über die prasselnden Flammen des Feuers hinwegsah, da sah auch er zwei winzige Punkte dort: Reiter.

Die beiden fernen Gestalten blieben eine ganze Weile reglos dort oben stehen, was auch nicht weiter verwunderlich war - ein loderndes Lagerfeuer an einem warmen Sommertag war schon erstaunlich genug, aber der Anblick des Tatzelwurms, der mit weit ausgebreiteten Schwingen reglos im Gras lag, mußte sie geradezu lahmen. Und doch setzten sich die beiden nach einer Weile in Bewegung und näherten sich dem Feuer.

Kim, Peer und ein paar andere Jungen standen auf und traten ihnen fröstelnd entgegen.

Es waren ein Mann und eine Frau, beide schon älter, in grobe, schwere Kleidung aus Leder und Metall gehüllt und beide mit langen Schwertern und Bögen bewaffnet, zu denen sie gefüllte Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken trugen. Es waren eindeutig Krieger.

Der Mann ritt ein Stück zur Seite, während sie näher kamen, so daß er die kleine Gruppe am Feuer und vor allem den Tatzelwurm zusammen im Auge behalten konnte, die Frau aber lenkte ihr Pferd dicht an Kim und Peer heran und starrte eine Weile schweigend aus dem Sattel herab. »Wer seid Ihr?« Ihre Stimme klang nicht sehr freundlich.

Kim stellte sich und Peer vor, dann deutete er auf seine Gefährten, die zähneklappernd am Feuer standen. »Das sind unsere Freunde«, sagte er. »Wir ...« Er zögerte. Er wußte doch nichts von diesen Fremden. Sie waren zwar nur zu zweit, aber sie waren beide bewaffnet, und sie machten beide durchaus nicht den Eindruck, als hätten sie die mindesten Hemmungen, ihre Waffen auch zu benutzen. Auch hatten sie nicht gesagt, wer sie waren. »Wir haben noch einen Zwerg bei uns«, schloß er vorsichtig.

Das Gesicht der Frau verdüsterte sich, und ihre Hand bewegte sich rasch zum Gürtel und erfaßte den Schwertgriff. »Einen Zwerg?« fragte sie scharf. »Was habt ihr mit diesem Pack zu schaffen?«

»Nichts«, versicherte Kim rasch. »Wir und die anderen sind aus ihren Bergwerken geflohen. Diesen einen mußten wir mitnehmen.«

Die Hand der Kriegerin löste sich wieder vom Schwertgriff, blieb aber in seiner Nähe liegen. »Geflohen?« fragte sie zweifelnd. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, Bursche. Das ist doch noch keinem gelungen.«

»Fragt den Zwerg selbst, wenn Ihr uns nicht glaubt«, meinte Peer mürrisch.

»Wir hätten es auch nicht geschafft«, fügte Kim hastig hinzu, »wenn der Tatzelwurm uns nicht geholfen hatte.« Er deutete auf den reglosen Drachen, behielt die Frau dabei aber aufmerksam im Auge. Ihr Blick glitt über den riesigen Leib, während Kim fieberhaft überlegte, wer sie sein mochte und ob sie zum Feind gehörte oder nicht. Es machte ihn krank, so denken zu müssen. Was war nur mit diesem Land geschehen, daß man darauf achten mußte, was man sagte, wenn man auf Fremde traf?

»Der Tatzelwurm?« murmelte die Frau. »Ist er das?« Die Kriegerin schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Sattel und sagte: »Ich habe von ihm gehört. Aber man sagt, er wäre tot. Die Eisenmänner sollen ihn umgebracht haben.«

»Sie haben ihn bloß fortgebracht«, erklärte Kim. »Er war eingesperrt. Aber wir konnten ihn befreien.«

Die Zweifel auf dem Gesicht der Frau waren keineswegs beseitigt. »Ihr?« Sie blickte verächtlich auf die halbverhungerten Kinder. »Ihr wollt geschafft haben, was selbst uns nicht gelingt?«

»Wir hatten Glück.« Jetzt stieg der Mann von seinem Pferd und trat näher, schweigend und mit finsterem Blick, der deutlich sein Mißtrauen spiegelte. Kim fürchtete schon, daß ihr Landeplatz ihnen vielleicht zum Verhängnis werden könnte. Sie kehrten jetzt zum Feuer zurück. Auch die Frau war abgestiegen und betrachtete die Gesichter der Jungen und Mädchen eines nach dem anderen sehr aufmerksam, während der Mann haßerfüllt auf den Zwerg starrte, ehe er sich mit einem Ruck umwandte und auf den Tatzelwurm zuging. Er blieb in respektvoller Entfernung stehen, aber er zeigte keine Angst, sondern nur Vorsicht, immerhin war dieses Wesen groß genug, um ihn mit einer versehentlichen Bewegung zu töten.

»So, Junge«, begann die Frau, als der Krieger sich wieder zu ihr gesellt hatte. »Erzähle.«

Und Kim erzählte, wobei er sorgfältig beobachtete, wie sie das Gehörte aufnahmen. Er berichtete von seiner Gefangennahme, von der Zeit in der Zwergenschmiede und ihrer gemeinsamen Flucht. Die Fremden hörten schweigend zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen, nur als er von ihrem Flug über die Schattenberge erzählte, da runzelte die Frau zweifelnd die Stirn. Auch als Kim zu Ende gekommen war, da schwieg sie noch eine Weile, ehe sie sagte: »Und jetzt seid ihr auf dem Weg nach Westen, um euch Priwinns Heer anzuschließen?«

»Ich weiß nichts von einem Heer«, meinte Kim vorsichtig. »Wir haben nur gehört, daß er unterwegs nach Gory-Wynn ist.«

»So kann man es auch nennen«, sagte die Frau, die ihren Namen nicht genannt hatte. »König Priwinn und seine Steppenreiter haben fast überall gesiegt. Die Zwerge haben sich in Gorywynn verschanzt, und es wird ein hartes Stück Arbeit werden, sie dort herauszuholen. Zumal auch die Flußleute und eine Menge anderes Gesindel ein Heer aufgestellt haben, das auf Gorywynn zieht.«

Kim sah sie erschrocken an, und die Frau nickte düster. »Ein gewaltiges Heer. Mein Begleiter und ich sind übrigens auf dem Weg nach Westen, um uns Priwinns Armee anzuschließen.«

Sie tauschte einen Blick mit ihrem Begleiter. »Ihr könnt mit uns kommen«, sagte sie. »Ich würde euch nicht raten, mit diesem ... Ding dort weiterzureisen. Wenn die Geschichte, die du erzählst, wahr ist, dann hat es euch bisher vielleicht geholfen. Aber ihr solltet euer Glück nicht auf die Probe stellen. Verschwindet lieber, solange es noch erschöpft ist und schläft. Wenn es aber erwacht, wird es euch töten.«

»Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute höre«, ließ sich jetzt Jarm vernehmen, verstummte aber sofort wieder, als ihn ein eisiger Blick der Kriegerin traf.

»Ihr irrt Euch«, sagte Kim fest.

»Höre!« beschwor ihn die Frau. »Das da ist ein Ungeheuer, Junge. Es denkt und handelt anders, als du glaubst. Sei vernünftig und höre auf mich.«

Kim dachte eine Weile über die Worte der Kriegerin nach. Nicht, weil er etwa meinte, daß sie recht hatte - er wußte, daß er sich in dem Tatzelwurm nicht täuschte. So böse und zornig er war, so würde er doch niemals lügen. Er wußte gar nicht, was das Wort bedeutete, Gewalt ja, aber Lüge und Betrug waren nicht seine Sache. Ganz davon abgesehen, daß ein Wesen wie der Tatzelwurm es wirklich nicht nötig hatte, irgend jemanden zu belügen. »Wir müssen auf dem schnellsten Weg nach Gorywynn«, sagte Kim schließlich. »Und wir müssen uns beeilen. Vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern.«

»Was?« fragte die Frau spöttisch.

»Die große Schlacht, von der Ihr gesprochen habt«, erklärte Kim. »Es darf nicht dazu kommen.«

Die Kriegerin lachte leise. »Wie will denn ein Junge wie du so etwas verhindern?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Kim ehrlich. »Ich weiß auch nicht, ob es mir gelingen kann. Aber ich muß es zumindest versuchen.« Er blickte die Frau und ihren Begleiter nachdenklich an. »Aber vielleicht könnt Ihr die anderen Kinder mitnehmen.« Er machte eine weit ausholende Geste über die am Feuer versammelten Jungen und Mädchen. »Wir sind schneller, wenn wir nur zu dritt mit dem Tatzelwurm fliegen.«

»Du willst wirklich mit diesem Ungeheuer nach Gorywynn?« staunte die Frau. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Wie du meinst. Wir waren ohnehin unterwegs zur nächsten Stadt, um unsere Vorräte aufzufüllen. Die anderen nehmen wir gern mit. Dort werden wir jemanden finden, der dafür sorgt, daß sie alle wieder zu ihren Eltern kommen«, versprach sie. Und so verabschiedeten sich Kim und Peer von ihren Gefährten. Nur Bröckchen blieb bei ihnen - und natürlich der Zwergenkönig Jarrn.

Der Tatzelwurm brauchte den Rest des Tages und die ganze folgende Nacht, um sich von der Anstrengung zu erholen. Erst als die Sonne das nächste Mal aufging, stiegen sie wieder auf seinen Rücken, um weiter nach Westen zu fliegen. Jarrn hatten sie wieder am Halsring des Drachen angekettet, ohne auf sein wütendes Geschrei Rücksicht zu nehmen. Kim hatte nun einen Grund mehr dafür, den Zwerg mitzunehmen. Weder die Kriegerin noch ihr schweigsamer Begleiter hatten etwas über ihn gesagt, aber Kim hatte die feindseligen Blicke, mit denen sie den Zwerg musterten, sehr wohl bemerkt. Und er war nicht sicher, daß sie Jarrn am Leben lassen würden, bliebe er frei oder gar in ihrer Obhut zurück. Sie flogen jetzt nicht mehr so hoch und nicht mehr so schnell wie bei ihrem Flug über die Schattenberge, aber doch mit großer Geschwindigkeit. Der Tatzelwurm schien sich völlig erholt zu haben, denn er legte nun kaum noch Unterbrechungen ein. Nur des Nachts ruhten sie aus. Niemand näherte sich mehr dem Ungeheuer, vielmehr floh jedes Lebewesen in weitem Umkreis, wo immer es erschien. Nach zwei Tagen hatten sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt, und Kim begann allmählich zu hoffen, daß sie rechtzeitig dort eintreffen würden, um - Ja, was eigentlich?

Er gestand es sich ungern ein, aber er hatte keine Ahnung. Sicher, sie würden zu Priwinn und den anderen zurückkehren. Aber wie sollte er verhindern, daß das Furchtbare geschah: daß Märchenmond in einem Meer von Blut und Tränen ertrank. Er war gekommen, um zu helfen, aber alles war nur schlimmer geworden. Er hatte Märchenmond von einem Ende zum anderen bereist, und er war an Orten gewesen, die wohl noch keines anderen Menschen Fuß vor ihm betreten hatte. Es hatte nichts genützt; er war dem Geheimnis der verschwundenen Kinder um keinen Schritt nähergekommen. Am dritten Tag ihrer Reise begann der Tatzelwurm unruhig zu werden. Seine Bewegungen wirkten fahrig, und sein mächtiger Schädel bewegte sich unentwegt hin und her, als suche er etwas. Kim fragte ihn mehrmals danach, bekam aber keine Antwort.

Gegen Mittag überflogen sie ein brennendes Gehöft. Der Tatzelwurm glitt so hoch am Himmel dahin, daß Kim nur ein winziges rotes Glühen am Boden wahrnahm, aber sie gewahrten den Rauch, und nachdem Kim es ihm dreimal befohlen hatte, machte der Tatzelwurm endlich kehrt und sank widerwillig in großen Spiralen dem Boden entgegen. Kim spähte aufmerksam nach unten. Der Schatten des Drachens glitt mehrmals über den Hof, der in Flammen stand, und Kim sah zahlreiche Gestalten, die sich angstvoll davor duckten und in heller Panik davonliefen, als sie erkannten, wo der Drache landen würde.

Nur ein Mann mit grauem Haar und ein schlanker Junge in Kims Alter blieben zurück. Hoch aufgerichtet und gelähmt vor Angst standen sie da, als Kim den Tatzelwurm kaum hundert Meter vor der brennenden Scheune warten ließ und den Rest der Strecke zu Fuß zurücklegte.

Der Mann und der Junge blickten ihm starr entgegen. Der Junge war verletzt; seine linke Hand war übel verbrannt, und auch ein Teil seines Haares war angesengt, aber er schien den Schmerz gar nicht zu spüren. Sein Gesicht war grau vor Entsetzen, und seine Lippen zitterten. Der ältere Mann war, wie Kim vermutete, wohl sein Vater.

Kim hielt sich gar nicht erst mit langen Erklärungen auf, sondern fragte ohne Umschweife: »Was ist passiert?«

»Wer bist du?« fragte der Mann prompt zurück.

Kim machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das tut im Moment nichts zur Sache. Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Was geht hier vor? Haben das die Eisenmänner getan?«

Er sah, wie der Junge beim Klang dieses Wortes unmerklich zusammenfuhr. Der Mann antwortete: »Nein. Es war ...« Er zögerte, warf einen angstvollen Blick auf den Tatzelwurm, der in einiger Entfernung dahockte und den lichterloh brennenden Hof mißtrauisch beäugte, und fuhr nach einer Pause fort: »... ein Drache.«

»Ein Drache?« wiederholte Kim erschrocken.

Der Mann nickte ein paarmal. »Ein Drache«, bestätigte er. »Er war nicht so groß wie der, den du reitest. Und nicht schwarz, sondern -«

»- von goldener Farbe?« fiel ihm Kim aufgeregt ins Wort. »Ja.« Die Furcht auf dem Gesicht des Mannes machte allmählich einer dumpfen, tiefen Verzweiflung Platz. »Woher weißt du das?«

»Ich wußte es nicht«, flüsterte Kim entsetzt. Rangarig! Der Gedanke traf Kim wie eine Ohrfeige. Es war Rangarig gewesen, der diese entsetzliche Verwüstung angerichtet hatte, da gab es gar keinen Zweifel. Es gab nur einen goldenen Drachen in Märchenmond.

»Wie kam es dazu?« fragte er leise. »Was habt Ihr getan, um ihn so zu reizen?«

»Getan?« Plötzlich lachte der Bauer schrill und hysterisch auf, als befände er sich am Rande des Wahnsinns. »Getan? Wie kommst du darauf? Nichts. Er ... er kam und griff uns an. Fast mein ganzes Vieh ist verbrannt, und daß keiner von uns getötet wurde, gleicht einem Wunder. Er verwüstet das Land seit langem, aber bisher blieben wir verschont.«

Kim schwieg. Er sagte auch nichts, um den beiden Trost oder Mut zuzusprechen, sondern drehte sich, obwohl das nicht seine Art war, wortlos um und ging mit hängenden Schultern zu Peer und dem Tatzelwurm zurück.

»Was ist los?« erkundigte sich Peer ungeduldig, als Kim stumm auf den Rücken des Tatzelwurms zurückkletterte. Seine Stimme klang besorgt, denn er hatte den bestürzten Ausdruck auf Kims Gesicht gesehen.

»Rangarig«, murmelte Kim nur.

Peer runzelte die Stirn. Natürlich hatte ihm Kim während ihrer gemeinsamen Gefangenschaft von dem Golddrachen Rangarig erzählt, von all den Abenteuern, die sie gemeinsam überstanden hatten, und auch davon, daß Rangarig ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte.

»Der ... der Golddrache?« fragte er deshalb ungläubig. Kim nickte.

Peer wollte etwas sagen, doch in diesem Moment lief ein Beben durch den Leib des Tatzelwurms, er bog seinen Schlangenhals weit herum, um seine Passagiere ansehen zu können. Die roten Augen loderten. »Rangarig?« donnerte er. »Er ist hier?«

Kim erschrak. Plötzlich erschien ihm die Unruhe des Tatzelwurms in einem völlig anderen Licht. Und er begriff, in welch entsetzlicher Gefahr sie schwebten. Was für eine fürchterliche Aussicht: Rangarig, der Golddrache, der das Land unsicher machte, und sein uralter Erzfeind, der Tatzelwurm, trafen durch einen Zufall aufeinander. Vielleicht war es auch gar kein Zufall; es konnte doch sein, daß sich die beiden ungleichen und doch ähnlichen Wesen finden mußten wie zwei Naturgewalten, die sich unwiderstehlich anzogen, zu dem einzigen Zweck, einander gegenseitig zu vernichten.

»Er ist nicht mehr, was er einmal war«, sagte Kim hastig. »So wenig wie du.«

»Er ist mein Feind, das genügt.« Der Tatzelwurm sprach nicht sehr laut, und in seiner Stimme war kein Zorn, nicht einmal so etwas wie eine Drohung. Aber gerade das, diese kalte Sachlichkeit, ließ Kim bis ins Innerste erschauern. »Unsinn!« piepste Bröckchen. Mit raschen Bewegungen krabbelte er unter Kims Hemd hervor und auf dessen Schulter hinauf. »Du redest Unsinn, alter Freund«, fuhr er fort. »Gut, er ist dein Feind. Na und? Ihr könnt euch gegenseitig umbringen. Aber das ist auch alles, war ihr könnt.«

»Wenn es so bestimmt ist, dann wird es geschehen«, anwortete der Tatzelwurm mit großem Ernst.

»Ach ja. Das ist typisch für einen Klotzkopf wie dich. Muskeln wie ein Berg, aber ein Gehirn, das man aufblasen muß, damit es so groß wird wie eine Walnuß! Ihr beiden schlagt euch die Schädel ein, und was sonst noch geschieht, das kümmert euch ja nicht. Sollen die anderen doch vor die Hunde gehen.«

Kim hielt vor Schreck den Atem an, als er hörte, wie Bröckchen mit dem Tatzelwurm verfuhr. Aber erstaunlich genug, der Drache wurde nicht zornig, sondern blickte das kleine Wesen nur sehr lange und sehr nachdenklich an. Dann drehte er mit einem Ruck den Kopf wieder weg, spreizte jäh die Flügel und schoß warnungslos wieder in den Himmel hinauf.

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