XVII

Zwei Tage später sahen sie das erste Mal das Licht der Sonne wieder. Kim war nicht der einzige, der das Gefühl hatte, aus einem langen, bösen Traum zu erwachen, als das unheimliche, graue Licht der Felsenwelt dem bleichen Schimmer des Mondes wich, der durch den Eingang der Höhle hereinfiel. Ein Hauch eisiger Luft schlug ihm entgegen und ließ ihn frösteln, und alle beschleunigten sie ihre Schritte. Nicht einmal mehr die steile Geröll- und Schutthalde, die sich vor dem Höhleneingang aufgetürmt hatte, vermochte sie zu bremsen. So kollerten und schlitterten einer hinter dem anderen den Hang hinunter, und fast keiner kam ohne Prellungen und Hautabschürfungen davon.

Aber das schien niemand zu stören. Ein allgemeines Aufatmen ging durch die Gruppe, als sie zum erstenmal endlich wieder einen richtigen Himmel über sich sahen und keinen, der aus Stein oder erstarrter Lava bestand. Jarrn, Kim und die befreiten Zwerge waren stundenlang durch das Labyrinth aus Felsen und Höhlen geirrt, ehe sie auf Priwinn und die anderen trafen. Weitere Stunden hatten sie voller Angst darauf gewartet, daß die Flußleute ihre Spur aufnahmen und sie verfolgten, aber sie hatten keinen davon mehr zu Gesicht bekommen. Die Zwerge hatten sich als ausgezeichnete Führer erwiesen. Obwohl die Flußleute eindeutig die Macht über diese unterirdische Welt innehatten, kannten sich die Zwerge doch ungleich besser aus. Sie waren keinem Mitglied dieser unangenehmen Piratengesellschaft mehr begegnet.

Aber der Weg war auch so schwer genug. Die ewige Dämmerung zerrte an ihren Nerven, sie hatten nichts zu essen und fanden nur selten Wasser, so daß sie jetzt alle am Ende ihrer Kräfte angelangt waren. Selbst Gorgs Bewegungen hatten viel von ihrem Schwung verloren, und der Riese war immer schweigsamer geworden.

Kim ließ sich erschöpft auf einen Stein sinken, als er als letzter den Fuß der Geröllhalde erreichte. Plötzlich hatte er Mühe, die Augen noch offenzuhalten. Seine Lider wurden schwer. Arme und Beine schienen plötzlich mit Blei gefüllt zu sein und ihn zu Boden ziehen zu wollen. Müde sah er sich um, erkannte aber nichts außer verworrenen Schatten und dem silbernen Schimmer des Mondlichts, der sich auf feuchtem Gras brach.

Die Zwerge hatten versprochen, sie in die Nähe des Baumes zu bringen, aber davon war im Augenblick weit und breit nichts zu sehen.

Doch Kim war viel zu schläfrig, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Alles, was im Moment zählte, war, daß sie endlich aus jenem finsteren Labyrinth unter der Erde entkommen waren.

Allen anderen schien es ebenso zu ergehen. Obwohl gerade die kleineren Kinder im Laufe des letzten Tages vor Hunger und Erschöpfung manchmal zu weinen begonnen hatten, hörte er jetzt keinen Laut der Klage. Bedachte man, daß sich auf dem kleinen Stück Erde vor der Schutthalde alles in allem - die Kinder, die Zwerge sowie Kim und seine Gefährten mitgerechnet - weit über sechzig Personen aufhielten, dann war es sogar unheimlich still.

Irgend jemand entzündete ein Feuer, und das Knistern der Flammen und die Wärme vertrieben die unheimliche Atmosphäre ein wenig. Aber nicht ganz. Kim schrieb diesen Eindruck seiner eigenen Erschöpfung und Mutlosigkeit zu, aber ihm war doch, als wäre etwas von der schaurigen Düsternis der Höhlen mit ihnen herausgekommen.

Plötzlich entstand auf der anderen Seite des Feuers nahe des Waldrandes eine Aufregung. Kim sah mit schweren Augen auf und erblickte Gorg, der wohl unbemerkt gleich nach ihrer Ankunft weitergegangen sein mußte, denn jetzt trat er aus dem Wald heraus und trug einen erlegten Hirsch über der Schulter. Kim war viel zu müde dazu, aber Priwinn und einige der größeren Jungen und Mädchen liefen rasch zu dem Riesen hinüber und begannen, den Hirsch auszuweiden und zu zerlegen. Bald drehten sich zwei gewaltige Spieße voller saftigem Fleisch über den Flammen, und der verlockende Geruch von Gebratenem ließ alle Mägen noch lauter knurren.

Das Essen und das Gefühl der Erleichterung, das ihnen der freie Himmel und die weite Landschaft rings um sie herum vermittelten, vertrieb auch Kims Niedergeschlagenheit ein wenig. Während er dasaß und fast seine ganze Willenskraft darauf verwenden mußte, das Stück Fleisch, das ihm zugeteilt worden war, mit kleinen Bissen zu nehmen und jeden einzelnen sorgfältig durchzukauen statt alles auf einmal herunterzuschlingen, glitt sein Blick über die vielen Kindergestalten, die im Kreis um das Feuer herumsaßen. Noch immer war kein Wort zu hören, nur das hungrige Reißen und Schmatzen und Kauen rundum.

»Was ist los mit dir?«

Kim drehte mühevoll den Kopf und sah in Priwinns Gesicht. Er hatte nicht gemerkt, daß sich der Steppenprinz neben ihn gesetzt hatte. »Du siehst aus, als hättest du gerade die größte Niederlage deines Lebens erlebt.«

»Ich bin einfach nur müde«, murmelte Kim.

»Das sind wir alle«, antwortete Priwinn. »Aber irgendwas stimmt doch nicht mit dir - also heraus mit der Sprache.« Kim zögerte einen Moment, biß ein weiteres Stück von seinem Fleisch ab, um Zeit zu gewinnen, und antwortete schließlich mit vollem Mund: »Die Kinder, Priwinn.«

»Was soll mit ihnen sein?« wunderte sich Priwinn. »Wir haben sie befreit. Du tust ja gerade so, als wäre dir das nicht recht.«

»Unsinn!« Kim schluckte heftig. »Aber es sind nur so wenige. Und es sind nicht die, nach denen wir gesucht haben.«

»Jedes einzelne Leben ist wichtig«, meinte Gorg von der anderen Seite her.

»Natürlich«, murmelte Kim. »Entschuldigt bitte. Es ist nur ...« Er suchte einen Moment vergeblich nach Worten und schüttelte schließlich hilflos den Kopf. »Es war alles letztlich doch vergebens«, murmelte er. »Nichts hat sich geändert.«

»Und was hast du erwartet, Blödmann?«

Kim mußte nicht den Blick heben, um zu wissen, daß Jarrn sich zu ihnen gesellt hatte. Trotzdem tat er es und starrte den Zwerg böse an. »Ich wette, du weißt, was es mit den verschwundenen Kindern auf sich hat«, sagte Kim. Der Zwerg blickte ihn auf eine Weise an, die Kim unmöglich deuten konnte. Dann antwortete er: »Und ich wette, ich würde es dir nicht sagen, selbst wenn ich es wüßte.« Priwinn fuhr wütend auf, aber Jarrn machte eine rasche Handbewegung und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Wir haben unser Wort gehalten. Ihr seid zurück. Meine Brüder und ich gehen jetzt.«

Kim legte demonstrativ den Kopf in den Nacken und suchte den Nachthimmel ab. »Vereinbart war, daß ihr uns zum großen Baum bringt«, erinnerte er.

»Das haben wir«, antwortete Jarrn. Er deutete mit der Hand in die Dunkelheit hinter sich. »Wenn es Tag wird, werdet ihr einen Hügel sehen. Dahinter liegt er.«

»Warte einen Augenblick«, sagte Priwinn. Er stand auf, bedeutete Gorg mit einer Kopfbewegung, auf Jarrn aufzupassen, und verschwand mit schnellen Schritten. Schon wenige Augenblicke später kam er zurück, aber er war nicht mehr allein. Neben ihm ging Eib, der Baumjunge mit den blauen Blättern.

»Dieser Zwerg behauptet, daß wir in der Nähe deines Baumes sind«, sagte Priwinn und deutete auf Jarrn.

»Stimmt das?«

Eib sah sich unschlüssig um. Es dauerte lange, bis er antwortete, und als er es tat, da klang seine Stimme sehr unsicher. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Es kommt mir ... bekannt vor. Vielleicht.«

Priwinn seufzte und verdrehte die Augen. Jarrn zog wieder eine Grimasse. »Jetzt seid ihr so schlau wie zuvor«, sagte der Zwerg gehässig. »Aber ihr werdet uns schon glauben müssen, ob euch das paßt oder nicht. Außerdem - wenn wir gehen wollen, dann tun wir das auch.«

»Bist du sicher?« grollte Gorg.

Jarrn kicherte böse. »Völlig, Tölpel. Wir hätten euch jederzeit einfach zurücklassen können. Wenn du mir nicht glaubst, dann frag den da.« Er deutete auf Kim, der widerstrebend nickte.

»Und warum habt ihr das nicht getan?« fragte Priwinn. »Dir hattet mein Wort«, erwiderte Jarrn beleidigt. »Aber der Burgfrieden ist vorüber. Wir werden jetzt gehen - und wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann wird dieses Treffen anders verlaufen als das letzte, das verspreche ich.«

»Und ich auch«, schloß Priwinn haßerfüllt.

Kim wandte sich niedergeschlagen ab und entfernte sich ein wenig vom Feuer. Der Streit, der jäh wieder zwischen Priwinn und dem Zwerg aufgeflammt war, machte ihm klar, daß sich nichts geändert hatte. Für einige kurze Augenblicke hatte er sich der Hoffnung hingegeben, daß die gemeinsam überstandenen Gefahren aus Feinden vielleicht Freunde oder zumindest Verbündete gemacht hätten. Aber so war es nicht. Und als sich Kim nach einer Weile umdrehte und wieder zum Feuer zurückging, da waren die Zwerge schon lautlos wie Gespenster in die Nacht entschwunden. Sie brachen am nächsten Tag erst um die Mittagsstunde auf, denn das Essen und die Wärme des Feuers taten nach und nach ihre Wirkung, so daß sie alle in einen tiefen, erschöpften Schlaf fielen. Erst spät am Vormittag erwachten sie. Sie sahen tatsächlich den Hügel, von dem Jarrn gesprochen hatte, aber er war viel weiter entfernt als erwartet, und die wenigen Stunden Schlaf und die eine Mahlzeit hatten längst nicht ausgereicht, ihre Kräfte völlig zu erneuern, so daß sie nur langsam von der Stelle kamen. Als sie endlich den Kamm des Hügels erreichten, da war der Tag schon weit fortgeschritten, und die Sonne begann das letzte Drittel ihrer Wanderung.

Auch auf der anderen Seite des Hügels spannte sich der blaue Himmel. Da war kein gewaltiges Himmelsgewölbe aus Ästen und Blättern, kein grüngefärbtes Sonnenlicht. - Der Baum war nicht da.

Kim blieb enttäuscht stehen. »Er hat gelogen«, flüsterte er. »Die Zwerge haben uns belogen, Priwinn.«

Der Steppenprinz nickte grimmig. »Was hast du erwartet?« fragte er. »Wahrscheinlich haben sie uns in die Irre geführt. Wir werden Monate, wenn nicht Jahre brauchen, um wieder nach Hause zu kommen.«

»Nein«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Das werden wir nicht. - Wir sind da.«

Etwas am Klang dieser Stimme erschreckte Kim zutiefst, und als er sich umdrehte, blickte er in Eibs Gesicht, das unter dem Braun seiner verwitterten Rindenhaut leichenblaß geworden war. Die Augen des Baumjungen waren weit und fast schwarz vor Entsetzen, und seine ausgestreckte, zitternde Hand deutete nach Osten.

Kim drehte sich in dieselbe Richtung. Er blickte nun nach unten, statt in den Himmel hinauf.

Und dann sah er den Baum.

Er war gefallen.

Wo sich vorher ein ungeheuerliches Gebilde aus Holz und Blattwerk und erstarrter Zeit erhoben hatte, da ragte jetzt ein zersplitterter Stumpf in den Himmel. Er war zwar noch immer zehnmal höher als der höchste Festungsturm, den Kim je gesehen hatte, aber doch nichts als ein jämmerlicher Überrest dessen, was der Baum einmal gewesen war. Der Stamm, in mehrere Teile zerbrochen, hatte sich nach Osten geneigt und dabei Wälder, Wiesen, Bäche und ganze Hügelketten unter sich begraben. Und weit, weit entfernt fast schon am Horizont, ragte die zerdrückte Krone des Baumes wie ein Gebirge aus grünen Schatten empor. Sie brauchten fast den Rest des Tages, um die Baumruine zu erreichen. Kim hatte geglaubt, daß sich das Entsetzen, mit dem ihn der erste Anblick des gewaltigen, zerstörten Gebildes erfüllt hatte, während des Marsches etwas legen würde, aber das genaue Gegenteil trat ein - je näher sie kamen, desto erschütterter war er. Auch unter den anderen breitete sich eine immer größer werdende Unruhe aus. Der einzige, der äußerlich völlig ruhig zu bleiben schien, war Eib. Aber Kim behielt ihn aufmerksam im Auge, und er begriff sehr bald, daß es keine wirkliche Ruhe war. Auf Eibs Gesicht war nicht die mindeste Regung abzulesen, doch es war so etwas wie die Starre des Todes, die von seinen Zügen Besitz ergriffen hatte. Er marschierte klaglos zwischen ihnen, aber seine Bewegungen hatten etwas von einer Maschine, die einfach weiterlief, ohne zu wissen, warum. Als sie spät am Abend beim Baumstumpf ankamen und am Fuße der riesigen hölzernen Treppe hielten, war Eib der einzige, der nicht sichtbar auf die ungeheuerliche Zerstörung reagierte, die sich ihren Blicken darbot.

Es war sehr still. Während der letzten Stunde hatte sich ihr Marsch in willkürlichen Schlangenlinien vollzogen, mit denen sie den gewaltigen Trümmerstücken und Holzresten auswichen, die den Boden auf Kilometer im Umkreis bedeckten. Zerbrochene Äste, jeder einzelne gewaltig wie ein ganzer Wald, riesige Splitter des Stammes, groß wie Häuser und Türme, ganze Gebirge aus zerquetschten Blättern hatten sie immer wieder zu Umwegen gezwungen und den Stumpf des Baumes mehr als einmal ihren Blicken entzogen. Aber sie hatten nicht den mindesten Laut gehört. Nicht eine einzige Vogelstimme, nicht das leiseste Rauschen des Windes unterbrach die Stille des Todes, die sich über dem Land ausgebreitet hatte.

»Was ist bloß geschehen?« flüsterte Priwinn erschüttert. Natürlich antwortete niemand. Und es war auch nicht nötig. Im Grunde, dachte Kim niedergeschlagen, war es gleich, was geschehen war. Alles, was jetzt noch zählte, war, daß es geschehen war.

Langsam trat er neben den Baumjungen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Eib fuhr zusammen, als erwachte er zum erstenmal seit Stunden aus der Erstarrung, in die er gefallen war. Mit einer unendlich mühsamen Bewegung drehte er den Kopf und sah Kim an, und endlich erblickte Kim in seinen Augen das, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte: das Glitzern von Tränen.

Aber alle Worte des Trostes, die Kim sich zurechtgelegt hatte, waren plötzlich fort. Er war nicht in der Lage, dem Jungen Trost zuzusprechen. Er selbst fühlte sich leer und zerschlagen, und etwas in ihm schien zerbrochen zu sein wie dieser gigantische Baum. Kim konnte Eib jetzt nicht helfen, er brauchte selbst Hilfe.

»Laßt uns hinaufgehen.« Priwinn deutete auf die Treppe, die den Stumpf hinaufführte. »Vielleicht ist jemand oben.« Aber Eib schüttelte nur den Kopf. »Nein.«

Priwinn ging eine einzige Stufe hinauf, blieb wieder stehen und machte dann niedergeschlagen kehrt.

Sie wollten eben zu den anderen zurückgehen, da raschelte es neben ihnen in den Resten eines zerbrochenen Astes, und plötzlich trat eine knorrige Gestalt mit Haaren und Kleidern aus grünem Blattwerk hervor.

»Oak!« rief Kim aus und rannte auf den Mann zu.

Aber er blieb mitten in der Bewegung stehen, als er dessen Blick gewahrte. Die Augen waren so leer und dunkel wie die von Eib, und sein Gesicht sah mit einemmal nicht mehr nur verwittert aus, sondern alt. Uralt. Und unendlich müde.

Auch Priwinn, Gorg und einige der größeren Kinder kamen auf Oak zu, blieben aber wie Kim in einiger Entfernung stehen.

Oak hob müde den Kopf und sah mit leichter Verwunderung auf, und Kim begriff, daß er bisher gar nicht mitbekommen hatte, was um ihn herum geschah. »Er ist gefallen«, flüsterte der grüne Baummann. »Er ist gefallen.« Kim überwand sich als erster und trat weiter auf den knorrigen Mann zu. »Oak«, sagte er leise. »Was ist hier geschehen? Erzähle uns.«

»Er ist gefallen«, murmelte der Baummann wieder. »Er ist... einfach umgefallen.« Er schien Kims Worte gar nicht gehört zu haben.

»Wie kam das?« fragte nun auch Priwinn, lauter als Kim und in viel schärferem Ton.

»Gefallen«, sagte Oak noch einmal, dann schüttelte er den Kopf, blickte auf und flüsterte: »Und wir selbst sind schuld daran.«

Priwinn und Kim sahen einander an. »Ihr?« wiederholte der Steppenprinz.

»Oak, bitte! Erklär uns, was hier passiert ist! Der... dieser Baum kann doch nicht einfach umgestürzt sein!«

»Ein Sturm«, murmelte Oak nur. Er sah Prinz Priwinn an, aber der Blick seiner dunklen Augen schien geradewegs ins Leere zu gehen. Seine Stimme wurde immer leiser und zitterte, als ihn die Erinnerung an das furchtbare Geschehen zu übermannen drohte. »Es gab einen Sturm«, sagte er dann. »Einen ... schlimmen Sturm.«

»Aber das ist unmöglich«, meinte Priwinn. »Dieser Baum hat Tausende von Stürmen überstanden.«

»Ein Sturm«, sagte Oak noch einmal. »Er ist... er ist einfach umgefallen.«

Priwinn wollte noch etwas sagen, aber Kim legte ihm rasch die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Er begriff, daß sie im Moment von Oak nichts mehr erfahren würden. Der Baummann befand sich in einem Zustand, in dem man nicht mit ihm reden konnte.

Statt weiter in ihn zu dringen, trat Kim ganz dicht neben ihn und streckte die Hand aus. Da geschah etwas Unerwartetes. Oak hörte mit seinem unaufhörlichen Geplapper auf, nahm Kim in die Arme und begann plötzlich zu schluchzen; lautlos und ohne eine Träne, aber sehr heftig.

Unter allen anderen Umständen wäre Kim das peinlich gewesen. Er war nur ein Junge, und Oak war ein Mann, der vielleicht unvorstellbar alt sein mochte. Und trotzdem war es nun Kim, der ihm Trost spendete, ganz einfach, indem er da war und sich von ihm berühren ließ.

Und was Priwinns Worte nicht bewirkt hatten, das geschah jetzt von selbst: Oak stand eine ganze Weile so da, aber schließlich beruhigte er sich, und als er sich mit einer fast verlegenen Bewegung wieder von Kim zurückzog und ihn ansah, da war sein Blick wieder klar; noch immer verschleiert von Entsetzen und Furcht, aber zumindest erkannte er sein Gegenüber jetzt.

»Verzeih«, murmelte er. »Ich habe ... die Beherrschung verloren.«

»Das macht nichts«, sagte Kim. »Könnt Ihr uns erzählen, was geschehen ist, Oak?«

Oak zögerte kurz, aber dann nickte er. »Er ist gefallen«, sagte er. »Limb und die anderen hatten recht. Wir haben ihn zerstört. Es gab einen Sturm, wie es schon Tausende von Stürmen gegeben hat. Aber diesmal hat er ihn nicht überstanden. Er war geschwächt. Wir haben ihm zu viele Wunden zugefügt. Wir haben zuviel aus seinem Herz herausgeschnitten, als daß er noch die Kraft gehabt hätte, standzuhalten.«

»Wo sind die anderen?« flüsterte Priwinn. »Sind sie ... tot?«

Wieder antwortete Oak nicht gleich, und während der Mann den Steppenprinzen schweigend anstarrte, fürchtete Kim sich schon vor der Antwort. Aber da schüttelte der Baummann ganz sacht den Kopf. »Viele sind tot«, sagte er. »Hunderte, wenn nicht Tausende. Die noch leben, haben sich auf die Äste zurückgezogen.« Er deutete dorthin, wo die gewaltige Krone des Riesenbaumes mit dem Horizont verschmolz. »Aber sie werden sterben«, fuhr er im Flüsterton fort. »Der Baum ist gefallen. Seine Äste werden verdorren, und es gibt keinen anderen Ort, wo wir leben könnten.«

»Aber du lebst doch auch!« widersprach Kim beinahe verzweifelt. »Und ... und Eib hat überlebt in der Gefangenschaft der Flußleute. Ihr werdet wieder eine neue Heimat finden.«

Oak blickte ihn an, und plötzlich lächelte er, aber es war ein sehr trauriges Lächeln. »Ich wollte, es wäre so«, sagte er. »Aber wir können nirgendwo anders leben als auf unserem Baum. Für eine Weile können wir woanders sein. Aber ohne Baum wird es unser Volk bald nicht mehr geben.«

»Das darf nicht sein!« rief Kim aus und fühlte einen Zorn, der so heftig war, daß er ihn selbst erschreckte. Es war ein Zorn, der niemand bestimmtem galt, sondern einzig der Tatsache, daß alles so gekommen war. »Ihr werdet einen anderen Baum finden«, versuchte er es. »Eine andere Heimat.«

»Laß es gut sein, kleiner Held«, brummte Gorg. »Er sagt die Wahrheit. Es gibt keinen anderen Ort, an dem sie leben könnten. Und es hat nur diesen einen Baum gegeben.«

»Diese verdammten Zwerge!« sagte Priwinn mit zitternder Stimme. »Ich schwöre, daß ich sie und ihre verdammten Eisenmänner dorthin zurückjagen werde, wo sie hergekommen sind. Und wenn es das letzte ist, was ich tue!« Da schüttelte Oak plötzlich den Kopf. »Es waren nicht die Zwerge, Prinz Priwinn.«

»Natürlich nicht!« sprach Priwinn heftig. »Nur ihre Eisenmänner, nicht wahr?«

»Es war nicht ihre Schuld«, wiederholte Oak mit Nachdruck. »Nicht sie haben den Baum zerstört. Wir selbst waren es. Ihr habt uns gewarnt, du und dein riesiger Freund dort und Limb und viele andere. Wir haben nicht auf euch gehört, und nun müssen wir dafür bezahlen.«

»Jemand anderer wird noch einen viel höheren Preis bezahlen«, beharrte Priwinn, aber wieder schüttelte der Baummann sacht den Kopf, und diesmal lächelte er sogar. »Gibt es einen höheren Preis als den Untergang eines ganzen Volkes?«

Und diesmal antwortete Priwinn nicht mehr.

Sie übernachteten im Schatten des gewaltigen Baumstumpfes. Es gab genug trockenes Holz, so daß sie ein gewaltiges Feuer entzünden konnten, das sie vor der Nachtkälte und dem Wind schützte. Oak brachte ihnen zu essen: Früchte, Beeren und Obst in solchen Mengen, daß sie alle ihre knurrenden Mägen füllen konnten. Er fand seine Beherrschung im Laufe des Abends mehr und mehr zurück. Weder Kim noch einer der anderen sprachen ihn auf das schreckliche Geschehen an, doch er brachte von selbst die Rede darauf, nachdem sie gegessen hatten und noch eine Weile am Feuer zusammensaßen.

»Ich bin froh, daß ihr noch am Leben und unverletzt seid«, sagte er, nachdem Priwinn ihm von ihren Abenteuern in der Eisigen Einöde und anschließend dem Labyrinth der Flußleute erzählt hatte. »Wir waren alle in großer Sorge, nachdem ihr verschwunden ward.«

»Ihr habt doch Limb und seinen Freunden nichts zuleide getan«, vergewisserte sich Priwinn besorgt.

Oak schüttelte mit einem verzeihenden Lächeln den Kopf. »Wofür haltet ihr uns?« fragte er. »Viele waren zornig über das, was ihr getan habt, zumal die Zwerge kaum zwei Wochen danach auftauchten und Schadenersatz für die zerstörten Eisenmänner verlangten. Aber -«

Priwinn unterbrach ihn überrascht. »Zwei Wochen?« wiederholte er. »Aber das kann nicht sein.«

Oak blickte fragend, und Priwinn fügte verwundert hinzu: »Wir sind doch erst vor wenig mehr als einer Woche aufgebrochen!«

»Ihr wart fast ein halbes Jahr fort«, widersprach Oak in verwundertem Tonfall.

Nun war die Reihe an Priwinn und Kim, den Baummann verstört anzublicken.

»Ein halbes Jahr?« vergewisserte sich Kim. »Seid Ihr sicher?«

Oak nickte und zuckte fast gleichzeitig mit den Schultern. »Vielleicht auch einen Monat mehr oder weniger - uns interessiert die Zeit nicht so sehr wie euch.«

»Die Höhlen!« erinnerte Gorg.

Aller Blicke wandten sich verwundert dem Riesen zu. »Die Zwergenhöhlen«, wiederholte Gorg. »Es muß ein Geheimnis darin geben. Wir haben nur zwei Tage gebraucht, um von Burg Weltende hierher zu kommen. Aber die Strecke ist weit, sehr weit. Ginge man sie zu Fuß, würde man schon ein halbes Jahr unterwegs sein. Wenn nicht länger.« Oak nickte zustimmend. »Das Zwergenvolk verfügt über magische Kräfte«, sagte er.

»Die werden sie noch bitter nötig haben, wenn ich mich mit ihnen befasse«, knurrte Priwinn. Oak blickte ihn tadelnd an, enthielt sich aber jeder Antwort und fuhr nach einer weiteren Pause in seiner Erzählung fort.

»Wir haben Limb und den anderen nichts zuleide getan«, sagte er noch einmal. »Aber wir haben auch nicht auf sie gehört. Hätten wir es nur! Vielleicht war es noch nicht zu spät damals. Aber wir waren verblendet. Es schien alles so leicht: Größere Häuser. Schönere Kleider. Bessere Möbel. Ein leichteres Leben. Sie haben uns gewarnt, daß wir dafür bezahlen müssen, und ich glaube, tief in unseren Herzen haben wir gewußt, daß sie recht haben.« Er sah auf, und für einen Moment breitete sich wieder dieses tiefe, hilflose Entsetzen in seinem Blick aus. »Aber wir wußten nicht, daß es so schnell geschehen würde. Wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit. Wir dachten, wir würden schon eine Lösung finden oder rechtzeitig aufhören, ehe der Schaden zu groß war. Wir waren Narren.«

»Es war nicht eure Schuld«, beharrte Priwinn. »Die Zwerge haben eure Sinne verwirrt. Es ist ihre Zauberkraft, deren Verlockung ihr erlegen seid.«

Oak schien widersprechen zu wollen, aber dann sah er wohl ein, daß es sinnlos war, sich mit dem Steppenprinzen darüber zu streiten. Er beließ es bei einem wortlosen Kopfschütteln und starrte in die Flammen des Feuers.

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus, nur unterbrochen vom Knistern der Flammen und dem Rauschen des Windes, der sich im Blattwerk der abgebrochenen Äste brach.

Schließlich stand Kim auf und entfernte sich von den anderen. Er fühlte sich niedergeschlagen und müde. Alles schien sinnlos. Was immer sie taten, welche Anstrengungen auch immer sie unternahmen - es schien hinterher stets schlimmer zu sein als vorher, als kämpften sie in Wirklichkeit auf der Seite ihrer Feinde.

Aber vielleicht stimmte auch das nicht. Möglicherweise war die Antwort wirklich die, daß es die Feinde, nach denen sie suchten, nicht gab.

Während er so in Gedanken versunken dahinschritt, wurde der Boden unter seinen Füßen sumpfiger, und Kim begriff im letzten Moment, daß er um ein Haar in einen kleinen See gestürzt wäre. Abrupt blieb er stehen, blickte auf das Wasser, das im Mondlicht wie geschmolzenes Pech glänzte, und begegnete dem Spiegelbild seines Gesichts. Gerade noch im letzten Moment fiel ihm ein, was Oak einst über diesen See gesagt hatte, und er wandte sich sofort ab, um fortzugehen. Aber er machte nur einen einzigen Schritt, da tauchte plötzlich aus der Dunkelheit eine Gestalt auf und näherte sich ihm: Priwinn.

Eine Zeitlang standen sie beide schweigend da. Die unbehagliche Stille, die sich am Feuer ausgebreitet hatte, schien Priwinn gefolgt zu sein. Dazu kam, daß Kim im Moment einfach nicht mit ihm reden wollte. Eigentlich wollte er mit niemandem reden. Und doch wollte er nicht allein sein. Ein Gefühl der Hilflosigkeit und Verwirrung hatte von ihm Besitz ergriffen, das fast stärker war als das Entsetzen über das furchtbare Geschehen.

Endlich brach der Steppenprinz das lastende Schweigen. »Hast du dich entschieden?« fragte er.

Kim drehte sich widerwillig zu ihm herum und sah ihn erstaunt an. »Entschieden?«

»Ja«, sagte Priwinn. »Auf welcher Seite du stehst. Willst du weiter tatenlos zusehen, wie unsere Welt stirbt?«

Was wollte der Prinz bloß, dachte Kim. Priwinn mußte doch genau wissen, wie schwer die Entscheidung war, zu der er ihn zwingen wollte. »Ich ... ich kann nicht«, flüsterte Kim. Das Gesicht des Prinzen verdüsterte sich. In seinen Augen blitzte es auf, und in seiner Stimme war plötzlich eine Härte, die Kim erschauern ließ. Er erkannte seinen Freund kaum mehr wieder. »Gut!« sagte er hart. »Dann bleib hier oder geh zurück zu Themistokles. Tu, was du willst. Ich werde jedenfalls handeln, damit dieses Land nicht endgültig zugrunde gerichtet wird.«

»Aber was willst du denn tun?« fragte Kim leise und glaubte doch, die Antwort ganz genau zu kennen.

»Was wir schon begonnen haben!« antwortete Priwinn heftig. »Wir werden alle diese verdammten Eisenmänner zerschlagen. Sie und alles andere, was von den Zwergen stammt.«

»Aber du kannst diesen Krieg so nicht gewinnen«, widersprach Kim. »Wer weiß, ob es die Zwerge sind, die Märchenmond den Untergang bringen, Priwinn.«

»Vielleicht hast du recht«, gab der Steppenprinz zu.

»Aber ich sehe keinen anderen Weg. Ich habe auf Themistokles und auf dich gehört. Wir sind nach Norden gezogen, obwohl wir genau wußten, daß es sinnlos sein würde. Wir haben Rangarig verloren. Und wir wären um ein Haar in die Gewalt der Zwerge geraten. Was verlangst du noch von mir?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Kim gequält. »Es ist so ... so entsetzlich. Vielleicht sind es die Bewohner dieses Landes selbst, gegen die du kämpfst.«

»Dann werde ich sie besiegen müssen«, sagte Priwinn entschlossen. »Ich bin nicht allein, Kim. Es gibt viele, die so denken wie ich. Und nach dem, was hier geschehen ist, werden sich uns noch mehr anschließen.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Und mit dir an unserer Spitze würden wir siegen, das weiß ich.«

»Du verlangst Unmögliches von mir«, rief Kim verzweifelt. »Ich kann nicht das Schwert gegen Märchenmond selbst erheben!«

»Aber wenn es sein muß«, beschwor ihn Priwinn. »Und wir werden tun, was getan werden muß. Wir werden die Eisenmänner zerstören, und dann werden wir uns um die Zwerge kümmern.«

»Obwohl ihr nicht einmal genau wißt, ob sie wirklich die Schuldigen sind?« Kim schauderte innerlich.

»Nun, wir haben keine andere Wahl. Sollen wir warten, bis dieses ganze Land unter einer Decke aus Eisen liegt? Zusehen, bis jede Blume, jeder Baum, jede Pflanze erstickt ist, weil keine Luft mehr zum Atmen da ist? Bis jeder Mann und jede Frau in den Gruben der Zwerge arbeiten muß? Vielleicht sind nicht die Eisenmänner und die Zwerge unsere wahren Feinde, aber es sind die einzigen, gegen die wir kämpfen können.«

Kim antwortete nicht. Das Schlimme war, daß er Priwinn insgeheim verstand. Aber die Logik, mit der er argumentierte, war falsch. Vielleicht erreichte er wirklich etwas, indem er jede Maschine der Zwerge erschlug, und vielleicht konnte er das Unglück, das sich über Märchenmond ausbreitete, tatsächlich noch einmal wenden, indem er das Zwergenvolk vertrieb. Aber wenn das ein Sieg war, dachte Kim, dann war er zu teuer erkauft.

»Gib mir noch eine Nacht«, flüsterte er. »Morgen früh sage ich dir meine Antwort.«

Priwinn schien nicht nur enttäuscht, er blickte ihn mit unverhohlenem Zorn an. Aber er sagte nichts, sondern trat nur mit einem wütenden Schritt an Kim vorbei, ballte die Hände zu Fäusten und starrte in den See. Plötzlich fuhr er zusammen, machte einen weiteren Schritt und beugte sich vor, um sein Spiegelbild zu betrachten.

»Tu das lieber nicht«, sagte Kim. »Dieser See ist -«

»Ich kenne sein Geheimnis«, unterbrach ihn Priwinn grob. »Wahrscheinlich besser als du. Aber sieh doch!« Widerwillig drehte sich Kim herum und blickte ebenfalls auf das Wasser herab, wobei er es sorgsam vermied, sein eigenes Spiegelbild anzusehen. Priwinns Antlitz spiegelte sich dunkel, aber sehr klar auf dem unbewegten Wasser, und da es nicht sein eigenes war, sah Kim es genau so, wie es wirklich aussah: schmal, mit dunklen Schatten der Erschöpfung und Mutlosigkeit unter den Augen, und sehr verbittert. »Sieh nicht hin«, bat Kim noch einmal.

Aber Priwinn schüttelte heftig den Kopf und hielt ihn zurück, als Kim sich abermals entfernen wollte. »Sieh doch!« sagte er noch einmal und deutete mit der ausgestreckten Hand auf sein Konterfei im Wasser. Dann zog er die Hand zurück, berührte mit den Fingerspitzen seine Wangen und fuhr wie elektrisiert zusammen.

»Was hast du?« fragte Kim besorgt.

Statt zu antworten, prallte Priwinn jäh vom Ufer des verzauberten Sees zurück, blieb stehen und hob nun beide Hände, um sich über die Wangen zu fahren. Und als Kim neugierig näher trat und ihn im blassen Licht des Mondes betrachtete, da glaubte er, einen dunklen Schatten auf den Wangen des Steppenprinzen zu erkennen, der bisher nicht dagewesen war.

»Ist das ein Bart?« fragte er zweifelnd.

Priwinn keuchte. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ich ... ich werde älter«, flüsterte er.

Kim zuckte zuerst nur mit den Achseln, das passiert schließlich jedem einmal...

Doch dann erschrak auch er, als er plötzlich begriff, was Priwinns Worte bedeuteten.

»Dein Vater...«

Priwinns Hände begannen zu zittern. Voller unverhohlenem Entsetzen starrte er Kim an, fuhr sich noch einmal mit den Fingerspitzen durch das Gesicht und hob dann die Hände vor die Augen, als erwarte er, nicht mehr die Hände eines Jungen, sondern die faltigen Finger eines uralten Greises zu sehen. »Ich beginne zu altern«, flüsterte er noch einmal. »Du weißt, was das bedeutet!«

Kim nickte stumm. Und Priwinn flüsterte: »Meine Zeit als Prinz ist vorbei, Kim. - Mein Vater ist tot.«

Sie verließen Oak, noch bevor die Sonne am nächsten Morgen aufging. Die Baumleute, von denen sich im Laufe der Nacht - angelockt durch das Licht des Feuers - noch eine ganze Anzahl zu ihnen gesellt hatte, hatten angeboten, sich um die Kinder zu kümmern und dafür zu sorgen, daß sie zu ihren Eltern zurückgebracht wurden; ein Vorschlag, den Kim und die beiden anderen nur zu bereitwillig annahmen. Und Kim hatte noch eine weitere, angenehme Überraschung erlebt, als er die Augen aufschlug: Sternenstaub! Oak und seine Freunde hatten sich während der ganzen Zeit um den Hengst gekümmert, und das prachtvolle Tier zeigte sich aufs höchste erfreut, Kim wiederzusehen, so wie auch Kim sich über ihn freute. Für den Steppenreiter hatte sich ebenfalls ein Pferd gefunden, während Gorg auf Oaks leicht verlegene Entschuldigung, daß es für ihn kein passendes Reittier gäbe, nur gegrinst und behauptet hatte, daß er ohnehin schneller sei als jedes Pferd.

Nachdem sie auch Bröckchen und den Kater Sheera auf die Sättel der beiden Pferde hochgehoben hatten, verabschiedeten sie sich von allen und ritten in südöstlicher Richtung los. Priwinn hatte seit gestern abend kaum ein Wort gesprochen, und Kim verstand das nur zu gut. Er akzeptierte auch, daß sein Freund jetzt nichts anderes wollte, als so schnell wie möglich nach Caivallon zurückzukehren. Um so überraschter war er gewesen, als Priwinn an diesem Morgen sich anbot, Kim ein Stück des Weges zu begleiten. Caivallon und Gorywynn lagen ganz und gar nicht in der gleichen Richtung. Es war für Priwinn ein Umweg von mehreren Tagen, mit Kim bis zu jenem Punkt zu reiten, an dem sich ihre Wege unweigerlich trennen mußten, wollte Priwinn die Festung der Steppenreiter überhaupt erreichen. Auch die versprochene Entscheidung hatte er nicht von Kim eingefordert Zwei Tage lang ritten sie fast ununterbrochen in südöstliche Richtung, und wie schon einmal mieden Priwinn und Gorg alle Ansiedlungen und suchten möglichst einsame Orte, um ihr Nachtlager aufzuschlagen. Sie sprachen nicht viel miteinander in dieser Zeit. Priwinn hockte die meiste Zeit wie erstarrt im Sattel, und sein Blick ging ins Leere. Wenn Kim ihn ansprach, dann geschah es mehrmals, daß der Steppenreiter plötzlich wie aus dem Schlaf hochschrak und ihn verwirrt ansah, so daß Kim seine Worte wiederholen mußte. Er versuchte, sich in die Lage Priwinns zu versetzen, aber Kim mußte sich eingestehen, daß es ihm nicht gelang. Er selbst hatte noch niemals einen nahen Verwandten verloren. Es war eine Sache, über den Schmerz zu reden und zu behaupten, daß man ihn verstand - aber in den Tagen, in denen er neben Priwinn herritt und sein starres, fast ausdrucksloses Gesicht anblickte, da begann Kim zu begreifen, daß es etwas ganz anderes war, diesen Schmerz zu empfinden.

Am späten Nachmittag des dritten Tages überquerten sie eine Hügelkette, und als sie auf dem Kamm des letzten Hügels angelangt waren und sich das Land nun wieder flach und eben unter ihnen ausbreitete, da verhielt Priwinn sein Pferd und blickte mit gerunzelter Stirn nach Süden. Auch Kim spürte, daß etwas an dem Anblick nicht so war, wie es sein sollte. Aber anders als Priwinn brauchte er eine Weile, um zu begreifen, was es war.

Wo sie bisher auf ihrem Ritt ein scheinbar willkürliches Durcheinander aus Wiesen, Wäldern, Felsgruppen, Bächen, Feldern und Wegen, kleinen Dörfern oder Bauernhöfen gesehen hatten, da wandelte sich nun das Land allmählich zu einem gewaltigen, geometrischen Muster. Das staubige Band einer Straße zog sich wie ein braungrauer, mit einem gewaltigen Lineal gezogener Strich schräg durch die Ebene, und rechts und Links davon begann man, die Erde in ein Schachbrettmuster aus Braun und Schwarz und den unterschiedlichsten Grüntönen aufzuteilen: Felder, so regelmäßig angelegt, daß ihr Anblick fast in den Augen weh tat. Priwinn sagte kein Wort, aber sein Gesicht verdüsterte sich. Dann löste er die linke Hand vom Zügel und deutete damit auf einen Acker, der unmittelbar in ihrer Nähe lag. Gut die Hälfte davon war bereits umgepflügt - ein Muster aus schnurgeraden, parallellaufenden Linien zerschnitten die Erde in zahllose, handtuchbreite Streifen, und an dem allmählich vorrückenden Ende der letzten dieser Linien bewegte sich ein winziges, mattgraues Etwas, das von einem sonderbaren, metallf arbenen Ding gezogen wurde.

Als sie langsam die Flanke des Hügels hinunterritten und näher kamen, erkannte Kim, daß dieses Etwas ein Pferd war und ein Pflug, auf dem ein Bauer saß. Auch er mußte sie bemerkt haben, denn das seltsame Gespann hörte plötzlich auf, sich zu bewegen. Als sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, stieg der Bauer herunter und kam ihnen wild gestikulierend entgegen. Kim begriff erst jetzt richtig, daß Priwinn keineswegs dem Feldrand oder einem der schmalen Trampelpfade folgte, die die Felder voneinander trennten, sondern sie quer über die frisch gepflügten Furchen führte. Sie waren noch zu weit von dem Bauern entfernt, um seine Worte zu verstehen, aber das wütende Gestikulieren seiner Arme machte deutlich genug, wie zornig er war.

»He da!« schrie der Mann, als er näher kam. »Seid ihr von Sinnen? Was soll das? Könnt ihr nicht wie jeder andere -« Und plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung und im Wort, ließ die Arme sinken und blickte ihnen mit aufgerissenem Mund und Augen entgegen. Kim war nicht ganz sicher, welchem Umstand der Schrecken des Bauern galt - der mattschwarzen Rüstung, die Priwinn nun ganz offen trug, oder der Gestalt des Riesen, der einige Schritte hinter ihren Pferden hertrottete und den der Bauer wohl erst jetzt erblickt hatte. Von weitem mochte Gorg so ausgesehen haben wie ein dritter, nur etwas zu groß geratener Reiter. Sie zügelten ihre Pferde, als sie sich dem Bauern bis auf wenige Schritte genähert hatten. Der Mann starrte weiter den Riesen an und schien von Kim und dem Steppenprinzen gar keine Notiz mehr zu nehmen. »Oh!« flüsterte er schließlich. »Ihr seid ...«

»Ja?« fragte Gorg lauernd und kniff ein Auge zu.

»Ziemlich groß«, stotterte der Bauer. Er schluckte ein paarmal und versuchte zu lächeln, aber es mißlang kläglich. Seine Angst war nicht zu übersehen.

»Finde ich nicht«, versetzte Gorg. »Du bist vielmehr ziemlich klein.«

Der Mann tat Kim leid. Gorg war für seine derben Scherze bekannt, aber jeder wußte, daß er im Grunde keiner Fliege etwas zuleide tat. Trotzdem sah man dem Bauern deutlich an, daß er vor Angst beinahe den Verstand verlor. »Du brauchst nicht zu erschrecken«, beruhigte ihn Kim deshalb hastig und warf Gorg einen bezeichnenden Blick zu. »Wir kamen nur zufällig vorbei. Es tut uns leid, daß wir durch Euer Feld geritten sind, nicht wahr, Priwinn?« Der Steppenreiter überging diese Worte, drehte sich statt dessen im Sattel herum und deutete auf das Gefährt des Bauern. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er zu dem Mann. »Zeigst du es mir?«

Der Bauer zögerte einen ganz kurzen Moment. Sein Blick glitt unsicher über Priwinns nachtschwarze Rüstung und vor allem das Schwert an seiner Seite, aber dann nickte er gehorsam und ging voraus. Priwinn und Kim stiegen aus den Sätteln und folgten ihm. Kim staunte nicht schlecht, als sie näher gekommen waren. Der Pflug selbst war ein ganz normales Gerät, zwar sehr groß und mit übermäßig weit ausladenden Schaufeln, wie es ihm vorkam, aber eben doch nichts anderes als ein Pflug. Nur das Pferd, hinter das er gespannt war, war befremdlich.

Es war kein Pferd, wie Kim es kannte. Es ähnelte einem Pferd auf die gleiche Weise, wie die Eisenkolosse einem Mann ähnelten. Es hatte ungefähr die Form eines Pferdes, aber es war zu groß und zu massig und hatte zu viele und zu scharfe Kanten. Ein einziges, grünglühendes Auge zog sich als schmaler Schlitz quer über die obere Hälfte seines metallfarbenen Gesichtes.


»Ein eisernes Pferd!« entfuhr es Gorg.

Kim warf ihm einen alarmierten Blick zu und sah, wie sich die Hände des Riesen fester um den ausgerissenen Baum schlössen, den er als Keule über der Schulter trug. »Ja, Herr«, sagte der Bauer beunruhigt. Trotzdem lag unüberhörbar ein Unterton von Stolz in seiner Stimme, als er fortfuhr: »Es ist beeindruckend, nicht wahr?«

»Beeindruckend?« Gorg zog eine Grimasse, und der Bauer erblaßte. Kim trat hastig dazwischen. »Woher stammt es?« fragte er den Bauern.

Ganz wie er erwartet hatte, lautete die Antwort: »Von den Zwergen. Ich habe es erst vor wenigen Wochen bekommen, zusammen mit dem neuen Pflug. Und jetzt seht, wieviel ich bereits umgegraben habe.« Stolz deutete er auf das gewaltige Feld, das sich vor ihnen ausbreitete. »Ganz allein. Soviel schaffe ich sonst in drei Monaten.«

»Ohne Hilfe?« fragte Priwinn zweifelnd.

Der Bauer nickte stolz. Kim sah, wie er mehr und mehr Zutrauen gewann. »Ich hatte drei Knechte bis zum letzten Winter«, antwortete er. »Oft mußten wir alle die Gürtel enger schnallen, damit wir genug zu essen hatten. Aber diese Zeiten sind vorbei. Jetzt konnte ich die Knechte entlassen, und ich werde trotzdem mehr ernten als in den fünf Jahren vorher zusammen.«

»Ach«, meinte Gorg. »Und deine Knechte? Wovon leben die jetzt?«

Der Bauer blickte ihn betroffen an und schwieg, während Kim mit ein paar Schritten hinter den gewaltigen Pflug trat und die Ackerfurche betrachtete.

Es war ganz genau der gleiche Anblick wie damals auf Brobings Feld. Die Furche war zu tief; die gewaltigen Schaufeln hatten nicht nur den Mutterboden, sondern auch den Lehm darunter aufgerissen. Dieses Feld würde vielleicht ein oder zwei Jahre lang doppelten Ertrag bringen und dann tot sein, vielleicht für alle Zeiten. Der Anblick erfüllte Kim mit einem solchen Zorn, daß er um ein Haar selbst aufgestanden wäre, um die Egge zu zerschlagen. »Habt Ihr noch mehr solcher ... Dinge auf Eurem Hof?« fragte Priwinn lauernd und plötzlich sehr höflich. Der Bauer nickte stolz. »Zwei Eisenmänner«, sagte er. Plötzlich fuhr er sichtlich zusammen und blickte erst Priwinn und dann Kim mit neuem Ausdruck an. »Aber verzeiht, daß ich so unaufmerksam war«, sagte er. »Ihr müßt von weit herkommen, und Ihr seid sicher hungrig und erschöpft. Wenn Euch ein einfaches Bauernhaus nicht zu schäbig ist, dann kommt doch mit mir und verbringt die Nacht bei uns.«

Kim war überrascht, als sein Freund mit einem Nicken auf dieses Angebot einging. Bisher hatten sie solche Nähe beinahe angstvoll gemieden. Aber jetzt sagte Priwinn: »Gern. Meine Begleiter und ich kommen tatsächlich von weit her. Und wir haben noch einen mindestens ebenso weiten Weg vor uns.«

Kim warf ihm einen fragenden Blick zu, aber der Steppenreiter übersah ihn geflissentlich und ging zu seinem Pferd zurück. Gorg blieb noch einen Moment stehen und betrachtete den Pflug und das eiserne Pferd davor mit einem unheilvollen Ausdruck im Gesicht. Aber schließlich wandte auch er sich um und folgte dem Bauern, der bereits vorausgelaufen war.

»Wieso nimmst du seine Einladung an?« erkundigte sich Kim im Flüsterton, als auch er wieder auf Sternenstaubs Rücken gestiegen war und neben Priwinn herritt. »Bisher haben wir einen großen Bogen um alle Dörfer geschlagen.« Priwinn nickte düster. »Das war vielleicht ein Fehler«, sagte er. »Man erfährt nichts, wenn man mit niemandem redet.« Er runzelte die Stirn und fuhr leiser und mehr zu sich selbst als an Kim gewandt fort: »Ein eisernes Pferd. Das ist neu. Ich bin neugierig, was sie sich als nächstes einfallen lassen werden.«

Sie folgten dem Bauern über die Felder, die so gleichförmig angelegt waren, daß sie allesamt wie tot wirkten, obwohl nicht wenige von ihnen schon fast erntereif waren. Und wie mit seinen Feldern, so verhielt es sich auch mit dem Hof des Bauern: Es war ein kleines Anwesen und so adrett, wie Kim sich nicht erinnern konnte, es jemals zuvor gesehen zu haben. Der Hof aus festgestampfter Erde war so rein gefegt, daß man hätte davon essen können, und die beiden im Winkel zueinander angeordneten Gebäude waren frisch gekalkt und leuchteten weiß im letzten Licht der Sonne. Alles war so ordentlich und sauber wie auf einem zu groß geratenen Spielzeugbauernhof - nicht wie einer, auf dem Menschen lebten.

Priwinn nahm all dies ebenso deutlich zur Kenntnis wie Kim, und der Ausdruck auf seinem Gesicht verdüsterte sich immer mehr. Mit einer heftigen Bewegung stieg er aus dem Sattel und sah sich suchend nach etwas um, woran er den Zügel des Pferdes binden konnte. Der Bauer, dem die Bewegung nicht entgangen war, schüttelte rasch den Kopf und schnalzte gleichzeitig mit der Zunge, und beinahe im selben Moment trat eine riesige, kantige Gestalt mit einem grünleuchtenden Auge aus dem Scheunentor.

Priwinn erstarrte, und auch Gorg fuhr sichtlich zusammen. Aber zu Kims Erstaunen blieben beide völlig reglos stehen, während der Eisenmann zuerst den Zügel von Priwinns Pferd, dann den von Sternenstaub in die Klaue nahm und die Tiere mit stampfenden, gleichmäßigen Schritten in die Scheune führte. Kim erwachte im letzten Moment aus seiner Starre, lief hinter Sternenstaub her und pflückte Bröckchen von seiner Mähne. Das Tierchen ließ es sich widerspruchslos gefallen, und es gab auch keinen Laut von sich, als Kim es auf seine Schulter setzte und wieder zu den anderen zurückging. Flüchtig dachte er daran, daß Bröckchen überhaupt sehr schweigsam geworden war in den letzten beiden Tagen, bedachte man die Schwatzhaftigkeit, mit der er ihnen zuvor allen auf die Nerven gefallen war. Auch Sheera hatte es sich mittlerweile auf der Schulter des Riesen bequem gemacht, sprang aber herunter, als Gorg sich weit nach vorn bückte, um das Bauernhaus zu betreten. Knurrend strich der Kater um die Beine des Riesen, dann verschwand er im Haus. Kaum eine Sekunde später kam er wieder herausgeflitzt. Von drinnen erscholl ein wütendes Bellen, und ein struppiger, sehr großer Hund schoß hinter dem Kater her und begann, ihn quer über den Hof zu jagen. Der Bauer drehte sich mitten in der Bewegung herum und wollte den Hund zurückrufen, aber Gorg schüttelte nur den Kopf, wobei er sich prompt den Schädel an der niedrigen Decke des Flurs stieß, so daß das ganze Haus dröhnte. »Laßt ihn nur«, sagte er. »Sheera kann schon ganz gut auf sich selbst aufpassen.«

Kim ging durch den kurzen Flur bis in die Stube, und der Bauer, Priwinn und unter einiger Mühe auch der gebeugte Riese folgten ihnen. Wie sich herausstellte, hatte ihr Gastgeber kräftig untertrieben, was die Güte seiner Gastfreundschaft anging. Seine Frau, die sich, nachdem sie ihren ersten Schrecken bei Gorgs Anblick überwunden hatte, als sehr freundlich erwies, trug ein Mahl auf, das sogar den Appetit des Riesen stillte. Zumindest war Gorg höflich genug, dies zu behaupten, nachdem er fünf Laibe Brot, ein Faß Wein und ein ganzes Käserad vertilgt hatte. Einzig Bröckchen beschwerte sich vorlaut über zu kleine Portionen, nachdem er zum drittenmal hintereinander Kims Teller leergefressen hatte, ehe dieser auch nur Gelegenheit fand, eine der duftenden Speisen zu kosten. Die Bauersfrau gab Kim lachend einen vierten Nachschlag und war leichtsinnig genug, im Scherz den Vorschlag zu machen, daß sich Bröckchen gern in die Vorratskammer des Hauses zurückziehen und dort sattfressen könnte. Bröckchen murmelte eine Zustimmung, und schon einen Augenblick später war er in der Küche und in der dort angrenzenden Vorratskammer verschwunden. Kim argwöhnte zu Recht, daß der Bäuerin ihre Großzügigkeit spätestens am nächsten Morgen bitter leid tun würde. Nun, sie würden die guten Leute für ihre Gastfreundschaft entschädigen.

Nachdem sie zu Ende gegessen hatten, zog der Bauer einen Tabaksbeutel hervor, stopfte sich eine Pfeife und hielt den Beutel anschließend auch seinen Gästen hin. Kim und der Steppenreiter lehnten dankend ab, während Gorg einen kräftigen Schnupfer nahm und dem verblüfften Bauern einen völlig geleerten Sack zurückgab. Dann nieste er, daß das Glas auf dem Tisch hörbar klirrte, lächelte entschuldigend und verließ mit der Bemerkung den Raum, daß er sich noch ein wenig die Füße vertreten wollte. Der Bauer schien darüber eher erleichtert, aber Kim entging nicht der vielsagende Blick, den Priwinn und der Riese tauschten, ehe Gorg - nach dem üblichen Rums gegen den Türsturz - gebückt aus dem Haus schlurfte. Kim fühlte, daß zwischen den beiden irgend etwas vorging. Während der letzten Tage hatte Priwinn mit Gorg so wenig wie mit ihm gesprochen. Doch die beiden ungleichen, aber vertrauten Freunde waren nicht unbedingt auf Worte angewiesen, um sich miteinander zu verständigen. Nein, dachte Kim, irgend etwas ging hier vor. Etwas verheimlichten ihm die beiden. Er nahm sich vor, den Steppenreiter darauf anzusprechen, sobald sie allein waren. »Dieses eiserne Pferd«, begann Priwinn, »ist wirklich erstaunlich. Ich habe gar nicht gewußt, daß es so etwas gibt.«

»Ich auch nicht - bis vor kurzem«, antwortete der Bauer und nahm lächelnd einen Zug aus seiner Pfeife.

»Aber Ihr werdet sie bald überall sehen, darauf wette ich.«

»Ja«, murmelte Priwinn. »Das glaube ich auch.«

Offensichtlich verstand der Bauer diese Worte völlig anders, als sie gemeint waren, denn er blies eine blaue Rauchwolke vor sich in die Luft und fuhr selbstzufrieden fort: »Sie sind viel stärker als richtige Pferde. Sie brauchen nichts zu fressen, brauchen keinen Schlaf, und sie werden niemals krank oder bockig.«

»Und außerdem«, hörte sich Kim plötzlich zu seiner Überraschung in bitterem Tonfall sagen, »werden sie niemals Hilfe holen, wenn du verletzt irgendwo liegst. Sie werden auch nicht stehenbleiben, wenn du aus dem Sattel stürzt, oder dich gegen einen Wolf oder einen Bären verteidigen.«

Der Bauer schien für einen Moment verwirrt, aber dann lächelte er, als hätte Kim etwas sehr Dummes gesagt. »Natürlich nicht«, sagte er ruhig. »Ich habe dein Pferd gesehen. Es ist ein wirklich prachtvolles Tier. Das schönste, das ich je gesehen habe.«

»Das stimmt«, antwortete Kim. »Sternenstaub ist mein Freund.«

»Auch ich habe ein solches Pferd«, sagte der Bauer, noch immer auf diese sonderbar verzeihende Art lächelnd. »Oh, es ist nicht ganz so schön wie dein Sternenstaub und weit nicht so edel. Wir hatten auch ein Fohlen, bis vor wenigen Wochen.«

»Ihr hattet?«

Der Bauer nickte traurig. »Es wurde gestohlen«, sagte er. »Eines Morgens kam ich in den Stall, und sein Verschlag war leer.« Er seufzte, schüttelte noch einmal traurig den Kopf und lächelte dann wieder: »Aber das andere ist mir ja geblieben. Ich habe es schon lange, und ich reite gern mit ihm aus. Jetzt kann ich es öfter tun als früher, weil ich das Eisenpferd habe. Früher mußte mein Hengst oft den Pflug ziehen oder den schweren Wagen, obwohl er doch eigentlich viel lieber draußen auf der Weide herumgelaufen oder mit mir über die Felder galoppiert wäre.«

Kim blickte den Bauern an, und mit einem Male kam er sich wirklich ein wenig naiv vor. Vielleicht war er das auch. Vielleicht waren sie es beide. Möglicherweise sagten sie beide die Wahrheit, und möglicherweise täuschten sie sich beide, in gewissem Maße. Und plötzlich, einen winzigen Augenblick nur, glaubte Kim die Antwort zu wissen, jene Antwort auf all seine Fragen, und auch den Weg, wie die fruchtbare Gefahr von Märchenmond abgewendet werden konnte. Aber ehe er den Gedanken greifen und in Worte fassen konnte, sagte Priwinn scharf: »Und eure beiden Knechte sind jetzt auch frei nicht wahr? Sie können tun und lassen, was sie wollen. Sie können hungern, im Winter unter freiem Himmel schlafen, und sie können -«

»Ihr irrt«, unterbrach ihn der Bauer. Er lächelte noch immer, aber in seiner Stimme war plötzlich ein scharfer Ton, der Kim alarmiert aufsehen ließ.

»Ich habe selbst dafür gesorgt, daß sie Arbeit und ein neues Zuhause in der Stadt gefunden haben«, erklärte der Mann. »Es geht ihnen jetzt besser als in den Jahren zuvor. Glaubt mir, Prinz Priwinn, sie hätten längst eine bessere Arbeit finden können. Eine, bei der sie nicht in jedem Winter hungern und frieren hätten müssen. Sie sind aus Treue bei mir geblieben, nicht aus Not.«

Priwinn blickte den Bauern mit einer Mischung aus Überraschung und Mißtrauen an. »Prinz Priwinn?« wiederholter er lauernd. »Wieso -«

»Gebt Euch keine Mühe«, unterbrach ihn der Bauer und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ich weiß, wer Ihr seid.« Er blickte den Steppenreiter schweigend an, dann deutete er mit dem zerkauten Mundstück seiner Pfeife auf Priwinns metallene Kleidung. »Und ich weiß auch, warum Ihr diese Rüstung tragt.«

»Und trotzdem hast du uns in dein Haus eingeladen?« wunderte sich Kim.

»Warum auch nicht?« entgegnete der Bauer. Einen Moment lang behielt er noch Priwinn im Auge, dann drehte er sich zu Kim herum. »Ich weiß nicht, wer du bist, Junge. Aber ich weiß, wer dieser junge Hitzkopf hier ist.« Priwinn fuhr bei diesen Worten zusammen, sagte aber nichts, und auch Kim spürte, daß die Worte des Bauern nicht so gemeint waren, wie sie klangen. »Ich weiß, daß Ihr nicht schlecht seid, Prinz Priwinn«, fuhr der Bauer, wieder an den Steppenreiter gewandt, fort. »Ihr seid ungestüm, aber das Ungestüme ist das Vorrecht der Jugend. Jedoch Ihr seid nicht ungerecht oder gar grausam. Ich weiß, daß ich Euch nicht zu fürchten habe.«

Priwinn ballte so heftig die Faust auf dem Tisch, daß seine Knöchel hörbar knackten. Der Blick, mit dem er den Bauern durchbohrte, war wie Eis. »Vielleicht täuscht du dich, Bauer«, sagte er.

Der Bauer schüttelte lächelnd den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Aber vielleicht seid Ihr es, der sich täuscht, Prinz Priwinn. Ich habe von Euch gehört. Und von dem, was Ihr tut. Glaubt mir, es ist falsch. Ihr helft niemandem, wenn Ihr mit Euren Freunden durch das Land zieht und Eisenmänner zerstört. Sinnlose Zerstörung hat noch niemals etwas genützt.«

»Wir zerstören nur, was Märchenmond zerstört«, antwortete Priwinn.

Der Bauer wollte antworten, doch in diesem Moment drang das dünne Schreien eines Kindes durch die Tür herein, und seine Frau stand rasch auf und verließ den Raum. Die Gäste blickten ihr nach. »Ihr habt ein Kind?« fragte Priwinn.

Und mit einem Male erlosch das Lächeln in den Augen des Bauern. Sehr traurig nickte er. »Einen Sohn«, antwortete er. »Er kam im letzten Winter zur Welt, und er ist der letzte, der uns geblieben ist.«

Kim blickte ihn forschend an, und nach einer langen, von düsterem Schweigen erfüllten Pause fuhr der Mann fort: »Wir hatten noch zwei Kinder. Einen Sohn von zwölf und ein Mädchen von elf Jahren. Aber beide verschwanden im vergangenen Frühjahr.«

»Und Ihr habt nie wieder von ihnen gehört?«

Über Priwinns Gesicht huschte ein Ausdruck, der Kim beinahe entsetzte. Was er auf den Zügen seines Gefährten las, das war kein Mitleid, nicht einmal Bedauern, sondern ein Ausdruck, als hätte er genau das gehört, was er hören wollte. Und plötzlich hatte Kim nicht mehr die Kraft, dem Blick des Bauern standzuhalten.

Eine Weile saßen sie in unbehaglichem Schweigen beieinander. Dann hörten sie, wie die Haustür aufgestoßen wurde, und das Tappen schwerer Pfoten näherte sich der Stube. Alle Blicke wandten sich neugierig der Tür zu, und nicht nur zu Kims Überraschung sahen sie den Hund, der Sheera aus dem Haus gejagt hatte, nun Seite an Seite mit dem Kater hereinmarschieren. Die beiden Tiere sahen reichlich zerrupft aus, aber sie machten nicht mehr den Eindruck, als seien sie noch Feinde. Vielleicht waren sie das auch nie gewesen, überlegte Kim.

Als wäre die Rückkehr der beiden Tiere ein Zeichen gewesen, auf das er nur gewartet hatte, trippelte in diesem Moment Bröckchen aus der Küche herbei, sprang mit einem Satz auf den Tisch hinauf und untersuchte schnüffelnd die Teller nach irgendwelchen Resten. Was es fand, das verputzte es in Windeseile, dann sprang es wieder auf Kims Schulter hinauf, kuschelte sich zu einem flauschigen Federball zusammen - und rülpste so laut, daß dem Bauern fast die Pfeife aus dem Mund fiel.

»Das war gut«, sagte Bröckchen anerkennend. »Sprecht Eurer Frau ein Lob für die hervorragende Speisekammer aus, guter Mann.«

»Das werde ich tun«, antwortete der Bauer. »Es freut mich, wenn es dir geschmeckt hat. Du kannst gern soviel essen, wie du willst.«

»Das mache ich«, antwortete Bröckchen und rülpste erneut, daß Kim das Ohr klingelte. »Sobald wieder etwas drin ist, was man essen kann.«

Der Bauer, der natürlich keine Ahnung hatte, daß Bröckchen bei diesem Thema niemals übertrieb, lachte herzhaft. »Einen drolligen Kerl hast du da«, sagte er, an Kim gewandt. »Wo hast du ihn her?«

Kim wollte antworten, doch da fiel die Haustür ins Schloß, und die schweren Schritte des Riesen ließen das Haus erzittern. Einen Augenblick später betrat Gorg tief gebückt die Stube.

Der Bauer sprang mit einem Schrei und so heftig in die Höhe, daß sein Stuhl umstürzte. Die Pfeife fiel aus seinem Mundwinkel und polterte zu Boden. Auch Kim und wenig später Priwinn fuhren von ihren Stühlen hoch.

Über Gorgs linker Schulter hingen Kopf und Hals des eisernen Pferdes!

Mit einem einzigen Schritt durchquerte der Riese die Stube und warf den abgerissenen Pferdekopf auf den Tisch. Das Möbelstück zerbrach unter dem Aufprall der Last in Stücke, und der Bauer prallte mit einem Keuchen einen Schritt zurück. Seine Augen quollen vor Unglaube fast aus den Höhlen, während er den zertrümmerten Pferdekopf anstarrte, und auch Kims Blick irrte fassungslos zwischen diesem und dem Gesicht des Riesen hin und her, immer und immer wieder.

Niemals zuvor hatte er Gorg so haßerfüllt erlebt. Niemals zuvor hatte er einen solchen Ausdruck in seinen Augen gesehen, ein wildes, fast tierisches Flackern, das den Giganten furchterregend aussehen ließ. Gorgs Hände bluteten. Sein Körper war schweißbedeckt und zitterte, und sein Atem ging schwer und stoßweise.

»Was ... was hast du getan?« keuchte der Bauer. Aus hervorquelienden Augen starrte er den Riesen an. Er wurde noch bleicher, als er den Haß im Antlitz des Riesen sah. Schritt für Schritt wich er zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß, und flüsterte noch einmal: »Was hast du getan?«

Und plötzlich fuhr er herum, stieß einen krächzenden, halberstickten Schrei aus und stürzte zum Fenster. Gorg packte ihn, riß ihn mit einer zornigen Bewegung zurück und stieß ihn so wuchtig gegen die Wand, daß er stürzte. »Wenn du deine beiden eisernen Helfer rufen willst, dann spar dir die Mühe«, zischte er wütend. »Was von ihnen übrig ist, das liegt in deiner Scheune.«

Selbst Priwinn blickte den Riesen überrascht an. Kim zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß die beiden etwas in genau dieser Art vorgehabt hatten - aber der brodelnde Haß in Gorgs Augen schien selbst Priwinn zu verwirren.

Unter der Tür erschien die Bauersfrau, die wohl durch den Lärm angelockt worden war. Sie trug ein kleines Kind auf dem Arm, und als sie ihren Mann am Boden erblickte, da stieß sie einen leisen Schrei aus und rannte an dem Riesen vorbei zu ihm. Erst als sie sich zu ihm herabbeugte, um ihm aufzuhelfen, erblickte sie den zertrümmerten Tisch und das, was darauf lag.

Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Kim sah, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich, und mit einemmal begannen ihre Hände so heftig zu zittern, daß er fast fürchtete, sie würde das Kind fallen lassen. Aber als er zu ihr trat, um ihr zu helfen, da fuhr sie mit einer fast entsetzten Bewegung zurück, richtete sich blitzschnell auf und machte ein paar schnelle Schritte, um aus seiner Reichweite zu gelangen. »Warum tut ihr das?« stammelte sie. »Wir ... wir haben euch nichts getan. Warum tut ihr uns das an?«

»Sei unbesorgt«, sagte Priwinn. Er warf einen raschen, fast furchtsamen Blick ins Gesicht des Riesen und gab sich einen sichtbaren Ruck: »Wir werden euch nichts zuleide tun.«

Weder der Bauer noch seine Frau schienen seine Worte überhaupt zu hören. Während der Mann wie erstarrt dasaß und aus leeren Augen auf den zertrümmerten Pferdeschädel starrte, begann die Frau immer heftiger zu zittern. Tränen liefen über ihr Gesicht, aber als Kim sich ihr nähern wollte, da machte sie wieder eine erschrockene Bewegung zurück und preßte gleichzeitig das Baby schützend an ihre Brust. Das Kind begann jetzt zu schreien, und die linke Hand der Frau fuhr in einer beruhigenden Bewegung, die sie wahrscheinlich gar nicht selbst bemerkte, über sein Gesicht.

»Das ist das Ende«, flüsterte der Bauer, der sich mühsam erhoben hatte. Seine Lippen bewegten sich kaum, während er sprach, und sein Blick hing noch immer an dem abgerissenen Pferdehals. Gleichzeitig schien es Kim, als sähe er ihn gar nicht. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck so tiefen Entsetzens, daß Kim schauderte. »Ihr ... Ihr habt mir alles genommen«, murmelte er. »Ihr habt alles zerstört. Jetzt werden sie mir den Hof wegnehmen und das Land, alles. Ich werde in den Gruben arbeiten müssen, bis ich sterbe.«

»Keine Sorge«, sagte Priwinn hart. »Ich werde dich für den Verlust entschädigen.«

Aber es war wie zuvor: Weder der Bauer noch seine Frau hörten seine Worte. »Dir habt alles zerstört«, stöhnte der Bauer noch einmal. »Wir ... wir waren doch nur freundlich zu Euch. Wir haben Euch nichts getan. Wir ... wir wollten doch nur -«

»Später einmal«, unterbrach ihn Priwinn, »wirst du uns verstehen. Wir mußten es tun, und wir werden es weiter tun. Überall. Bis dieser Fluch ein Ende hat!«

Kim fühlte nichts als eine tiefe, schmerzliche Leere. Der zertrümmerte Pferdekopf auf dem Tisch war nur ein Stück Metall, und trotzdem entsetzte ihn sein Anblick so sehr, als wäre es der eines wirklichen Tieres gewesen.

»Sie werden mir alles fortnehmen«, flüsterte der Bauer noch einmal.

»Unsinn!« antwortete Priwinn. »Wieviel mußtest du für dieses Pferd und die beiden Eisenmänner bezahlen?« Zum erstenmal löste der Bauer seinen Blick vom Tisch und sah wieder ihn an. Mit einemmal begann er am ganzen Leib zu zittern. »Ihr versteht nicht«, murmelte er. »Es ist nicht das Geld. Es ist -«

»Wieviel?« Priwinn schrie ihn beinahe an. »Sag es mir!« Der Bauer nannte mit zitternder Stimme eine Summe, und Priwinn griff in seinen Beutel, zählte eine Handvoll Goldmünzen ab und warf sie dem Bauern hin. »Hier!« sagte er verächtlich. »Das ist mehr als genug, deine Schulden zu bezahlen!«

»Aber es ... es ist nicht das Geld!« wimmerte der Bauer. »Die Zwerge... sie ... sie bestrafen es hart, wenn ihre Eisenmänner zerstört werden. Sie werden mich in die Gruben schicken! Und sie werden meiner Frau den Hof wegnehmen und sie davonjagen. Jetzt... jetzt haben wir alles verloren. Zuerst die Kinder und jetzt auch noch den Hof.« Priwinn blickte den Bauern betroffen an. Ihm war das, was er soeben gehört hatte, neu. Aber er fing sich rasch wieder. »Kommt mit uns«, sagte er. »Wenn Ihr Angst vor den Zwergen habt, dann begleitet uns nach Caivallon. Dort seid Ihr sicher. Bald wird dieser Alptraum vorüber sein, dann könnt Ihr auf euren Hof zurückkehren. Ich werde Märchenmond von diesen Kreaturen befreien!«

Aber wieder schien es, als hätte der Bauer ihn gar nicht verstanden. Sein Blick war auf Priwinns Gesicht gerichtet, aber er schien etwas ganz anderes zu sehen als dessen Anlitz. »Wir wollten doch nur ein bißchen ... ein bißchen Wohlstand. Das ist doch nicht zuviel verlangt: nicht mehr hungern müssen, nicht mehr frieren, weniger Sorgen haben, genug zu essen für unsere Kinder.«

Und ganz plötzlich, so schnell wie er gekommen war, erlosch der Zorn auf Priwinns Gesicht. Er ging zu dem Bauern und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das weiß ich«, sagte er mit ruhiger, fast sanfter Stimme. Er lächelte aufmunternd, beugte sich vor und hob mit der linken Hand die Münzen auf, die er dem Bauern hingeworfen hatte. »Nimö1 das«, sagte er. »Nimm dieses Geld und geh damit fort. Es ist genug, um irgendwo anders neu anzufangen. Glaub mir/ ich weiß, daß ihr nur Gutes wolltet.«

Der Bauer starrte die Goldmünzen an, die auf Priwinns ausgestreckter Hand glitzerten, machte eine Bewegung, wie um danach zu greifen, führte sie aber nicht zu Ende. »War es denn zuviel, was wir wollten?« fragte er.

»Nein«, antwortete Priwinn traurig. »Aber der Preis dafür ist zu hoch.«

Kim konnte nicht länger zuhören. Er kam sich vor wie der Zuschauer eines Theaterstückes, in dem alle handelnden Personen dazu verdammt waren, stets das Falsche zu sagen, ganz egal, wie sehr sie sich auch bemühten. Mit einem Ruck drehte er sich herum und stürmte aus dem Zimmer.

Die Dämmerung war hereingebrochen, während sie die Gastfreundschaft des Bauern genossen hatten. Bröckchen hüpfte mit einem leisen Schrei von seiner Schulter und verschwand raschelnd hinter der Hausecke, wohl um in Ruhe seine Nachtgestalt annehmen zu können. Kim blickte dem kleinen Wesen traurig nach, bis es seinen Blicken entschwunden war. Und plötzlich kam ihm diese ganze Welt ganz genauso vor wie Bröckchen - als verwandle sie sich, würde mit dem Untergang der Sonne von etwas unbeschreiblich Schönem, Märchenhaftem zu etwas ebenso Häßlichem und Abstoßendem. Nur, daß es vielleicht nie wieder Tag werden würde.

Eine geraume Weile verging, in der Kim versonnen dastand, als er Schritte hörte. Er wußte, daß es Priwinn war, ohne sich zu ihm umdrehen zu müssen.

Der Steppenreiter trat neben ihn, versuchte, seinen Blick aufzufangen und zuckte schließlich mit den Schultern, als es ihm nicht gelang; Kim sah es aus den Augenwinkeln. »Ich glaube, er hat sich wieder beruhigt«, meinte Priwinn dann.

Kim wandte sich nun doch zu ihm um. »Warum hat er das getan?« flüsterte er.

»Gorg?« Abermals zuckte Priwinn mit den Achseln. »Wenn nicht er, dann hätte ich es getan, spätestens morgen früh«, sagte er hart. »Sie müssen vernichtet werden. Es gibt keinen anderen Ausweg.«

Kim schauderte. Zuerst Kelhim, dachte er, dann Rangarig, die Eisriesen und schließlich Gorg ... War es wirklich so, daß nur Zorn und Bosheit zurückblieben, wenn der Zauber erlosch? Und was war mit Priwinn? Aufmerksam betrachtete er sein gar nicht mehr so jungenhaftes Gesicht. War es möglich, daß sich auch Priwinn verändert haben sollte? Kim glaubte für einen Moment einen harten, bitteren Zug in seinem Gesicht zu erkennen, der vorher nicht dagewesen war. Priwinn war noch immer der, den er kannte, und trotzdem ... Wieder mußte Kim an die Worte denken, die Brobing vor so langer Zeit gesagt hatte: Es ist, als würden wir etwas verlieren, und wir wissen nicht einmal, was. - Und genau das war es. Vielleicht war es das Geheimnis der Jugend, das der Steppenprinz endgültig verloren hatte. »Du schuldest mir noch eine Antwort«, sagte Priwinn plötzlich.

Kim sah ihn irritiert an, und der Steppenreiter fuhr mit einer erklärenden Geste fort: »Spätestens morgen früh trennen sich unsere Wege, Kim. Bis dahin muß ich wissen, ob du auf meiner Seite stehst oder nicht.«

»Was für ein Unsinn«, sagte Kim matt. »Selbst wenn ich mich nicht für deinen Kampf entscheide, Priwinn, so bleiben wir doch Freunde. Ich stehe nicht auf der anderen Seite, nur weil ich -«

»Schließt du dich uns an oder nicht?« fiel ihm Priwinn ins Wort. In seiner Stimme war eine solche Kälte, daß Kim gar nichts antwortete, sondern seinen Freund nur fassungslos anblickte.

»Nein«, sagte er schließlich leise.

Priwinn nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet. »Und was willst du tun?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Kim. »Ich werde zurück nach Gorywynn gehen und mit Themistokles sprechen.« Priwinn lachte hart. »Da paßt ihr ja zusammen«, sagte er. »Ein alter Zauberer, der alles vergessen hat, und ein junger Held, der das Kämpfen verlernt hat.«

Kim schwieg. Die Worte taten ihm weh, und er spürte, daß Priwinn sie aus keinem anderen Grund gesprochen hatte als eben dem, weil er ihm weh tun wollte. Aber wußte auch, warum es so war, und er nahm es dem Steppenprinzen nicht übel. Priwinn hatte seinen Vater verloren, und er sah seine Welt Stück für Stück auseinanderbrechen, ohne daß er in der Lage war, etwas dagegen zu tun.

Fast nur um auf ein anderes Thema zu lenken, fragte er: »Wirst du die Bauern mitnehmen?«

»Ich denke, ja«, antwortete Priwinn. »Der Mann hat sich noch nicht entschieden, aber wenn er die Wahrheit sagt, was die Zwerge angeht, dann kann er nicht hierbleiben. In Caivallon ist er sicher. Und später, wenn alles vorbei ist, dann kann er zurückkommen und seinen Hof wieder bewirtschaften.«

Zumindest der letzte Satz klang nicht sehr überzeugt. Und auch Kim war ganz und gar nicht sicher, ob es später noch etwas geben würde, wohin der Bauer zurückkehren konnte.

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