Es sollte für lange, lange Zeit das letzte Mal sein, daß Kim den Himmel erblickte, als man ihn wieder auf den Wehrgang hinausführte. Kim schien es, als erwache er aus einem Traum. Daß diese Bande halb verrückter Zwerge über ihn Gericht gesessen haben sollte, war an sich schon abwegig genug; aber daß ihr Urteil irgendeinen Einfluß auf sein Leben hatte, das kam ihm geradezu lächerlich vor. Indes, die Faust des eisernen Mannes, die sein linkes Handgelenk mit erbarmungsloser Kraft festhielt, sprach eine andere Sprache. In schnellem Tempo wurde Kim über den Wehrgang gezerrt, aber sie betraten nicht wieder das Hauptgebäude, sondern stapften die steile, hölzerne Treppe in den Burghof hinunter. Dort blieb der Eisenmann stehen und erstarrte zur Reglosigkeit, während seine stählerne Klaue Kims Arm weiter festhielt.
Eine geraume Weile verging. Der Hof lag in gespenstischer Schwärze vor ihnen, und nur dann und wann bewegte sich die riesige, kantige Gestalt eines Eisenmannes vorbei oder der kleine, huschende Schatten eines Zwerges. Kim hörte nichts. Die Dunkelheit schien nicht nur fast alles Licht, sondern auch jedes Geräusch aufzusaugen. Je länger Kim dastand und darauf wartete, daß irgend etwas geschah, desto mehr fühlte er sich wie in einer riesigen, unterirdischen Höhle ohne Aus- oder Eingang gefangen. Für einen Moment mußte er sich gegen den Gedanken wehren, daß vielleicht ganz genau dies das Urteil war, das die Zwerge über ihn gesprochen hatten: daß er hier stehen und an den erstarrten Eisenmann gefesselt sein würde, bis er vor Hunger oder Durst oder Erschöpfung starb.
Aber natürlich entsprang dieser Gedanke nur seiner eigenen Furcht. So grausam war Jarrn nicht. Trotzdem, Kim Wußte, daß er weder von ihm noch von einem der anderen Zwerge Gnade zu erwarten hatte. Je besser er die Zwerge kennenlernte, desto mehr verwirrte ihn dieses kleine Volk. An Jarrns freche Art hatte er sich mittlerweile ja gewöhnt, doch das, was er gerade in der Turmkammer erlebt hatte, war zu absurd. Die Zwerge kamen ihm vor wie eine Meute außer Rand und Band geratener Kinder; vorlauter, gehässiger, bösartiger Kinder, nicht mehr und nicht weniger. Der Gedanke, daß dieses Volk zu einer Gefahr für das ganze Land geworden sein, ja, Märchenmond den Untergang bringen sollte, erschien ihm beinahe lächerlich.
Wieder verging eine geraume Weile, und als Kim gerade ernsthaft darüber nachzudenken begann, ob man ihn vielleicht schlichtweg hier vergessen hatte, da öffnete sich knarrend das gewaltige Burgtor, und ein von zwei eisernen Pferden gezogener gewaltiger Kastenwagen rollte auf den Hof. Kim riß die Augen auf, als der Wagen näherkam und er ihn besser erkennen konnte. Was im blassen Mondlicht zuerst wie ein riesiger quaderförmiger Aufbau gewirkt hatte, das entpuppte sich bei näherem Hinsehen als ein Gitterkäfig aus daumendicken, rostigen Stangen. Eingesperrt in diesen Käfig waren ein Dutzend Jungen und Mädchen verschiedenen Alters. Nur einer der größeren Jungen zerrte und rüttelte mit aller Kraft an den Gitterstäben, die anderen Kinder saßen teilnahmslos auf dem Stroh, das auf den Boden des Käfigs gestreut worden war.
»Also doch«, murmelte Kim, als der Wagen knarrend an ihm vorüberrollte.
»Was - doch?« fragte Bröckchen. Kim hatte schon fast vergessen, daß er überhaupt da war, aber das kleine Wesen war ihm treu gefolgt und hatte es sich zwischen den riesigen Füßen des Eisenmannes bequem gemacht, wo es Schutz vor dem kalten Nachtwind fand. Jetzt blickte es abwechselnd Kim und den vorüberrasselnden Gitterwagen aus seinen hervorquellenden Triefaugen an.
»Es stimmt also doch«, sagte Kim niedergeschlagen. »Sie sind es, die die Kinder entfuhrt haben«. Er seufzte. Aus einem Grund, den er sich im ersten Moment selbst nicht erklären konnte, war er bitter enttäuscht.
»Priwinn und Gorg hatten recht«, fuhr er bitter fort.
Bröckchen trippelte zwischen den Füßen des Eisenmannes hervor, lief ein paar Schritte hinter dem Wagen her und machte dann wieder kehrt, um zu Kim zurückzulaufen. »Scheint so«, bestätigte er. »Es sind Kinder. Sie sehen nicht gut aus.«
»Priwinn muß das erfahren«, sagte Kim. Mit aller Macht zog und zerrte er an der eisernen Klaue, die seinen linken Arm gefesselt hielt, aber der Griff des Eisenmannes lockerte sich nicht einmal ein bißchen. »Hilf mir!« bat Kim. Mit der freien Hand griff er zu und versuchte, die stählernen Finger des Riesen zurückzubiegen, und Bröckchen hüpfte mit einem Satz auf den Arm des Eisenkolosses hinauf und begann, mit Zähnen und Krallen an seiner Hand herumzureißen. Doch das einzige Ergebnis ihrer vereinten Bemühungen waren mehrere abgebrochene Fingernägel und Krallen.
Schließlich gab Kim enttäuscht auf und ließ sich neben dem stählernen Koloß zu Boden sinken. Bröckchen hüpfte von dem eisernen Arm herunter.
Kim schwieg eine ganze Weile, während er seinen kleinen, nacht-häßlichen Gefährten nachdenklich anblickte. Bröckchen war kaum größer als eine junge Katze und in der Dunkelheit beinahe unsichtbar, obwohl er nicht einmal einen Meter vor ihm saß.
»Glaubst du, daß du den Weg zurück nach Gorywynn findest?« fragte Kim unvermittelt.
»Wie meinst du das?« erkundigte sich Bröckchen vorsichtig. »Weil einer von uns dorthin muß«, antwortete Kim und rüttelte demonstrativ am Arm des stählernen Giganten. »Und so wie es aussieht, bin ich im Moment nicht derjenige, der es kann. Also - was ist? Findest du den Weg?«
»Ich denke schon«, antwortete Bröckchen. »Aber ich lasse dich nicht allein.«
»Quatsch!« erwiderte Kim streng. »Was glaubst du, wem es hilft, wenn du hier bleibst? Priwinn nicht, Themistokles nicht, und mir ganz bestimmt auch nicht.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Wagen hinter sich. »Auch nicht diesen Kindern dort und allen anderen, die sie entführt haben. Du muß versuchen, hier herauszukommen und das Schattengebirge zu überqueren.«
»Aber das dauert ja viel zu lange!« gab Bröckchen zu bedenken. »Bis dahin kannst du längst tot sein!«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Kim, und er sagte es nicht nur, um Bröckchen zu beruhigen. »Sei vernünftig, Freund«, fuhr er fort. »Ich weiß, wie tapfer du bist. Tu also, was ich dir sage. Verbirg dich irgendwo. Warte auf eine gute Gelegenheit und versuche, hier herauszukommen. Du mußt dich zu Priwinn und den anderen durchschlagen und ihnen erzählen, was hier geschehen ist. Und danach suche Themistokles...«
»Eine interessante Idee«, sagte eine quäkende Stimme hinter Kim.
Kim fuhr erschrocken herum und blickte mitten in Jarrns Gesicht. Der Zwergenkönig hatte sich im Schütze der Dunkelheit herangeschlichen, ohne daß sie auch nur seine Schritte gehört hatten, und jetzt blickte er mit einer Mischung aus Hohn und Zorn auf Kim und das Tierchen herab. »Aber ich fürchte, ich kann das nicht zulassen«, fügte er spöttisch hinzu. Gleichzeitig hob er die Hand und machte ein Zeichen. Da stürzte aus der Dunkelheit eine Schar Zweige herbei, die versuchte, Bröckchen zu packen.
Es blieb bei dem Versuch. Aus dem scheinbar schwerfälligen, sich nur träge bewegenden Stacheltier wurde plötzlich ein rasender Irrwisch, der mit phantastischer Geschwindigkeit zwischen den zupackenden Händen der Zwerge entlangflitzte, dabei wilde Haken nach rechts und links schlug und in jeden Finger biß, der ihm zu nahe kam. Die triumphierenden Schreie der Zwerge verwandelten sich rasch in einen Chor aus Schmerz und Schreckenslauten, und mehr als eine der kleinen Gestalten begann plötzlich wie wild auf der Stelle zu hüpfen und die langen, nadelspitzen Stacheln aus ihren Fingern oder dem Gesicht zu ziehen. Auch Jarrn schrie wütend auf und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Bröckchen, doch diesmal versuchte es nicht, ihm auszuweichen. Ganz im Gegenteil, es blieb plötzlich stehen, fuhr herum und sprang mit einem schrillen Pfiff nahezu senkrecht in die Höhe. Jarrns Wutgebrüll verwandelte sich in ein schrilles Kreischen, als der stachelige Ball unter seiner spitzen Kapuze verschwand. Sein Umhang beulte sich Sekunden lang aus und zitterte und bebte, als tobe ein Orkan darunter. Dann sprang Bröckchen wieder ins Freie und raste im Zickzack über den Hof davon, bis er in der Dunkelheit verschwand. Drei oder vier Zwerge stürzten hinter ihm her, und zumindest einer mußte Bröckchen wohl eingeholt haben, denn es erscholl ein schriller Schmerzensschrei.
Der Zwerg kam nicht zurück, und auch von Bröckchen war nun nichts mehr zu hören oder zu sehen, aber Kim machte sich wenig Sorgen darum. Bröckchen hatte schon oft genug bewiesen, daß er durchaus in der Lage war, auf sich selbst zu achten. Und Kim blieb auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn in diesem Moment richtete sich Jarrn stöhnend auf und taumelte auf ihn zu. Er wankte, und das wenige, was Kim unter der dunklen Kapuze erkennen konnte, sah aus, als wäre das Gesicht des Zwergenkönigs einem tollwütigen Rasenmäher begegnet. Wo seine Haut nicht zerschnitten, zerkratzt und zerschunden war, da steckten die abgebrochenen Spitzen von Bröckchens Stacheln darin.
»Witzig!« knurrte Jarrn. »Sehr, sehr witzig.« Er starrte Kim haßerfüllt an, dann schlug er die Kapuze zurück und begann mit spitzen Fingern, die Stacheln aus seinem Gesicht zu pflücken. »Aber das wird euch nichts nützen«, fuhr er mit zusammengebissenen Zähnen und kleinen, unterdrückten Schmerzlauten fort. »Wir kriegen dieses größen-wahnsinnige Stachelschwein schon, keine Sorge. Der Weg nach Westen ist weit, und es lauern eine Menge Gefahren dort.«
Kim zog es vor, nicht darauf zu antworten. Er hatte das sehr sichere Gefühl, daß er Jarrn im Moment nur wütend machen würde, ganz egal, was er sagte.
Jarrn zog mit zusammengebissenen Zähnen auch noch die letzten Stacheln aus seinem Gesicht, fuhr sich mit den Händen über die Wangen und betrachtete anschließend ärgerlich stirnrunzelnd das Blut, das an seinen Fingerspitzen klebte. Der Blick, mit dem er Kim danach musterte, versprach nichts Gutes.
»Lach ruhig, wenn dir danach ist«, grollte Jarrn beleidigt. »Es wird sowieso für lange Zeit das letzte Mal sein, daß du etwas zu lachen hast, Blödmann.«
Er machte einen zornigen Schritt rückwärts, stolperte über den Saum seines eigenen Mantels und landete unsanft auf dem Hosenboden. Aber das Lachen, das Kim bei diesem Anblick in der Kehle emporstieg, blieb ihm im Halse stecken, als er den Ausdruck auf dem Gesicht des Zwergenkönigs gewahrte.
Jarrn rappelte sich schimpfend wieder hoch und machte eine zornige Geste, woraufhin der Eisenmann jäh wieder aus seiner Erstarrung erwachte und Kim unsanft in die Höhe riß. »Bring ihn weg!« befahl Jarrn. »Schaff ihn zu diesen anderen Bälgern, wo er hingehört!«
Der Eisenmann wandte sich gehorsam um und zerrte Kim dabei mit sich, aber da machte Jarrn eine Bewegung und hielt ihn noch einmal zurück. »Noch eines, Bengel!«, sagte er haßerfüllt. »Freu dich nur nicht zu früh. Selbst wenn deine Freunde hierher kommen sollten, was sie bestimmt nicht tun, nur um einen Blödmann wie dich zu retten, dann wird dir das nichts nützen.« Er lachte böse. »Du wolltest doch das Geheimnis unserer Schmieden kennenlernen? Nun, das wirst du. Du wirst darin arbeiten, genau wie diese anderen Bälger. Du wirst für den Schaden aufkommen, den du angerichtet hast. Du wirst alles bezahlen, und zwar auf Heller und Pfennig, das schwöre ich dir.«
Bevor die Nacht zu Ende ging, verließen Kim und die anderen Kinder die Festung Morgon. Zuvor aber brachte man sie in eine kleine, stickige Schmiede, in der die Funken tanzten, rund um die flackernden Feuerstellen. Dort wurden sie aneinandergekettet: Ein wuchtiger Ring aus Eisen wurde an Kims rechtem Fußgelenk befestigt, und durch die Öse, die sich daran befand, wurde eine lange Kette gezogen. Sie erschien Kim im ersten Moment geradezu lächerlich dünn, aber er entsann sich, was Jarrn ihm in der Höhle der Flußleute darüber erzählt hatte, und so versuchte er erst gar nicht, die Kette aus Zwergenstahl zu zerreißen, obwohl ihre einzelnen Glieder kaum dicker als ein Bindfaden waren. Währenddessen versuchte Kim, mit den anderen Kindern ins Gespräch zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Fast alle wirkten teilnahmslos und beinahe so, als befänden sie sich in einer Art Trance. Einzig der Junge, der schon vorhin an den Stäben des Güterwagens gerüttelt hatte, schien wach und in der Lage, etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Aber entweder verstand er Kims Sprache nicht oder er wollte nicht antworten, denn seine einzige Reaktion auf Kims Fragen bestand aus zornigen Blicken und einer drohenden Bewegung mit der Faust, als Kim ihm zu nahe kam.
So aneinandergekettet verließen sie Burg Morgon in dem Käfigwagen, der mit ihnen aus dem Schloßhof rumpelte. Zwei Zwergenkutscher lenkten das schreckliche Gefährt den schmalen Serpentinenpfad bis in die Ebene hinab. Ein Eisenmann, der mit schweren Schritten hinter dem Wagen einherstampfte, ließ jeden Gedanken an Flucht oder Widerstand gleich im Keim ersticken.
So fuhren sie durch die finsteren Wälder, die Morgon wie ein verfilzter, natürlich gewachsener Festungswall umgaben, dann hielten sie an. Auf einen Wink des Zwerges hin öffnete der Eisenmann den Käfig und befahl den Insassen mit einer groben Geste, auszusteigen.
Aus dem Dickicht heraus trat ein weiterer Eisenmann. Die stählernen Kolosse ergriffen die beiden Enden der Kette, mit denen die Fußringe der Kinder miteinander verbunden waren, und zerrten ihre Gefangenen grob durch das stachelige Unterholz, bis sie zu der Ruine eines verfallenen Festungsturmes gelangten, die sich mitten im Wald erhob. Eine sonderbare Art von Angst beschrieb. Kim, als er sah, wie der erste Eisenmann mit den Gefangenen vor ihm langsam in der Schwärze des Tores verschwand. Es war die gleiche, entsetzliche Schwärze, wie Kim sie erlebt hatte, als sie in der Eisigen Einöde in die Höhle hinabgestiegen waren, zu der Jarrn sie geführt hatte - wieder war das, was vor ihm lag, nicht einfach Dunkelheit, sondern es schien, als tauchten sie in einen schwarzen, lichtfressenden See, der ihre Körper wie auch ihre Seelen verschlang. Als Kim an der Reihe war, den Turm zu betreten, da spürte er wieder jenes unheimliche Schaudern, das ihn schon beim Höhleneinstieg nahe Burg Weltende erfaßt hatte. Doch Kim wußte, was er dort erlebt hatte, das war nicht das ungeteilte Reich der Zwerge gewesen, ebensowenig wie Burg Morgon. Jarrn und sein halbverrückter Anhang mochten die verlassene Festung zu ihrem Sitz erkoren haben, weil sie an einem unzugänglichen Ort lag und leicht zu verteidigen war, und weil es darüber hinaus niemanden mehr gab, der Anspruch auf sie erhoben hätte. Hier - erst das hier war ihr ureigenstes Reich.
Der Turm hatte keinen Boden. Unmittelbar hinter der Tür begann eine steile, zuerst aus festgestampftem Lehm, und nach wenigen Stufen aus dem natürlich gewachsenen Fels des Bodens herausgemeißelte Treppe, die in endlosen Windungen tiefer und tiefer und immer tiefer in die Erde hinabführte. Es gab kein Licht, nur den unheimlichen grauen Schimmer, je weiter sie nach unten stiegen, an den sich Kims Augen erst gewöhnen mußten. Da erkannte er die unheimliche Verwandlung, die hier vorging: Mit dem Eintritt in die düstere Welt der Zwerge schienen die aneinandergeketteten Kinder vor ihm zu verblassen, gleichsam zu flachen, fast körperlosen Gespenstern zu werden, die sich mit unwirklicher Lautlosigkeit bewegten.
Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Kim hatte versucht, die Stufen zu zählen, es aber bald wieder aufgegeben. Irgendwann hörte er überhaupt auf, an irgend etwas zu denken. Er brauchte jedes bißchen Kraft allein dafür, einen Fuß vor den anderen zu setzen und all die Stufen zu bewältigen, die hinabführten.
Die Treppe endete in einer kreisrunden Höhle, von deren Decke Wasser tropfte und in deren Wänden sich zahllose Löcher und Öffnungen befanden. Aus vielen davon drang flackernder, roter Feuerschein, und er hörte das Hämmern und Klingen von Werkzeugen und schreckliche, knarrende, dröhnende Geräusche. Kims Knie zitterten, und er fühlte sich so schwach, daß er mit aller Macht darum kämpfen mußte, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen. Auch die anderen Gefangenen wankten vor Erschöpfung, aber die beiden eisernen Wächter trieben sie unbarmherzig vorwärts. Grob zerrten sie die Kinder durch die Höhle und auf eines der Felslöcher oder Durchgänge zu, die vom glühenden Licht erfüllt waren. Dahinter öffnete sich ein gewaltiger unterirdischer Saal. An buchstäblich Tausenden von Feuern wurde hier geschmiedet und gehämmert, daß die Funken stoben, Stahl und weißflüssiges Eisen zischten, zahllose Gestalten bewegten sich hin und her, schleppten große Erzbrocken oder Körbe voller Holzkohle und taten hundert andere Dinge an hundert verschiedenen Orten, die Kim gar nicht alle zugleich erfassen konnte.
Aber eines fiel ihm auf den ersten Blick auf, so niedergeschlagen und erschöpft er auch war - nur die allerwenigsten, die hier arbeiteten, waren Kinder. Der allergrößte Teil der geschäftigen Gestalten lief auf winzigen, spindeldürren Beinen und trug zerfetzte, schwarze Umhänge. Nur hie und da sah Kim jemanden, der ihm und seinen Leidensgenossen glich, diese wenigen aber schienen ausnahmslos mit den schwersten körperlichen Arbeiten betraut zu sein.
Wenn all die verschwundenen Kinder aus Märchenmond im Zwergenreich waren, dann nicht in diesem Teil der Höhlen. Sie wurden weitergezerrt, und es dauerte nicht lange, da fand sich Kim selbst an einem der lodernden Schmiedefeuer. Er hatte einen gewaltigen Blasebalg zu bedienen, der die Flammen zu immer hellerer Glut entfachte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihm irgend etwas zu erklären. Und niemand machte sich die Mühe, ihn zu bewachen oder seine Arbeit zu beaufsichtigen. Die Kette an seinem Fuß wurde an einen gewaltigen Felsbrocken angeschlossen, so daß er gerade zwei Schritte in jede Richtung tun konnte, und wenn er den Blasebalg nicht kräftig genug bediente, so fuhr ihn sein Arbeitsgenosse - ein Zwerg - auf der anderen Seite des Schmiedefeuers an und beschimpfte ihn. Kims Mitgefangene wurden an mehreren Stellen des riesigen Saales aufgeteilt, wo ihnen verschiedene Arbeiten zugewiesen wurden.
Und so verging der erste von vielen Tagen, die Kim in den unterirdischen Schmieden der Zwerge zubrachte. Er bediente an jenem Tag den Blasebalg, bis er glaubte, auch beim besten Willen seine Arme nicht mehr heben zu können. Die Zwerge aber arbeiteten unermüdlich weiter, und wenn Kim zu langsam wurde, so erschien einer der Eisenmänner und half den keifenden Befehlen des Zwergenschmiedes mit groben Stößen nach. Als Kim endlich losgekettet und fortgebracht wurde - seinen Platz am Blasebalg nahm sofort ein anderer Gefangener ein und die Arbeit wurde ohne Unterbrechung fortgesetzt - da war Kim so müde, daß er kaum noch mitbekam, wohin man ihn brachte. Zurück in den kreisrunden Raum mit den zahllosen Öffnungen ging es und von dort in eine andere, wesentlich kleinere Höhle, wo er neben einem dürftigen Lager aus nassem Stroh an den Boden gekettet wurde. Er war so müde, daß er auf der Stelle einschlief und nicht einmal bemerkte, wie die Zwerge erschienen und den Gefangenen ein kärgliches Mahl brachten.
Kim schlief wie ein Stein in dieser Nacht und ohne zu träumen, aber als er am nächsten Morgen wachgerüttelt wurde, da hatte er das Gefühl, die Augen gerade erst zugemacht zu haben. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper schmerzte, und der Zwerg, der ihn weckte, mußte mit mehreren derben Kniffen und Stößen nachhelfen, damit Kim sich überhaupt von seinem Lager aufraffte. Sein Magen knurrte, und er hatte entsetzlichen Durst. Aber als er das dem Zweig sagte, lachte dieser nur und erklärte, Essen hätte es am vergangenen Abend gegeben, und wenn er hungrig sei, so müsse er sich schon gedulden, bis er gearbeitet und sich sein Essen für diesen Tag verdient hätte.
Er wurde nicht wieder an den Blasebalg geführt, sondern bekam die Aufgabe zugeteilt, Holzkohle in großen, geflochtenen Körben zu den einzelnen Feuern zu tragen. Schon nach kurzer Zeit war Kim mit seinen Kräften am Ende, aber es gab kein Erbarmen: Je lauter er sich beschwerte, desto größer wurden die Körbe, die er zu tragen hatte, und je langsamer er wurde, desto mehr trieb man ihn an.
Kim erinnerte sich hinterher nicht, wie er das Kunststück fertiggebracht hatte, diesen Tag zu überleben. Irgendwann hatte er wohl einen Zustand der Erschöpfung erreicht, in dem er einfach weiterarbeitete, ohne selbst noch zu spüren, was er tat. Und irgendwann, nach hundert Ewigkeiten, war es vorbei, und er wurde wieder zurück in die Felsenkammer gebracht und neben seiner Schlaf statt angebunden. Obwohl er noch müder und erschöpfter war als am Tag zuvor, hielt er sich an diesem zweiten Abend mit Gewalt wach, denn sein Magen schmerzte mittlerweile vor Hunger, und er spürte, daß er jedes bißchen Essen brauchen würde, das er bekommen konnte.
Es war wenig genug, was die Zwerge brachten. Und es schmeckte abscheulich. Aber Kim zwang sich, den unappetitlichen, grauen Brei aufzuessen und bat sogar um einen Nachschlag, worauf die Zwerge allerdings nur gehässig lachten.
Als er sich auf sein Lager zurücksinken ließ, sah Kim sich zum erstenmal aufmerksam um. Der Raum war weit nicht so riesig wie die daneben liegende Schmiede, aber immer noch groß genug, um Dutzende von Strohlagern zu beherbergen. Die Gefangenen hier waren zumeist Jungen und Mädchen in Kims Alter, aber auch einige kleinere Kinder. Die meisten schienen ebenso erschöpft und am Ende ihrer Kräfte wie Kim, denn sie waren eingeschlafen, kaum daß sie ihren Brei hinuntergewürgt hatten. Einige aber saßen noch auf ihren Lagern und unterhielten sich mit leiser Stimme. Kim fing einige Wortfetzen auf, ohne wirklich zu verstehen, was geredet wurde.
Dann entdeckte er den Jungen, der zusammen mit ihm irrt Gitterwagen hierhergebracht worden war. Er saß nicht weit entfernt, hatte die Beine an den Körper gezogen und die Arme um die Knie geschlungen, und obwohl er Kim unvermittelt ansah, schien sein Blick ins Leere zu gehen. Kim lächelte ihm zu, aber auf dem Gesicht des anderen zeigte sich nicht die mindeste Reaktion. Es war, als hätte er es gar nicht bemerkt.
»Wo kommst du her?« fragte ihn Kim.
Der Junge hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. Kim mußte seine Worte noch zweimal wiederholen, ehe er eine Antwort gab.
»Aus dem Westen«, sagte der Junge schließlich. »Meine Eltern hatten einen Hof, drei Tagesritte westlich von Gorywynn.«
»Sie hatten?« fragte Kim. »Wie meinst du das?«
Der Junge blickte ihn schweigend an. Im ersten Moment hielt Kim den Ausdruck in seinen dunklen Augen für Zorn; dann begriff er, daß es eine tiefe, bohrende Verzweiflung war.
»Die Rebellen«, murmelte er nur..
Kim wurde hellhörig.
»Königs Priwinns Steppenreiter«, stieß jetzt der Junge hervor. Seine Stimme klang haßerfüllt. »Hast du noch nie von ihnen gehört?«
Kim nickte. Offensichtlich wußte der Junge nicht, wer er war. Und es war wohl im Moment besser, wenn es dabei blieb. »Ich habe von ihnen gehört«, meine Kim vorsichtig. »Sie ... sie kämpfen gegen die Eisenmänner und gegen die Zwerge, nicht wahr?«
»Gegen die Zwerge?« Der Junge lachte bitter. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie gegen meinen Vater gekämpft haben, und dessen Bruder und unsere Knechte.«
»Priwinns Reiter?« fragte Kim zweifelnd. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Dann laß es«, sagte der Junge unfreundlich und senkte wieder den Blick.
»Bitte entschuldige«, begann Kim wieder. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber ich habe gehört, daß sie niemandem etwas zuleide tun, sie zerstören doch nur die Eisenmänner.«
Der Junge sah mit einem Ruck auf. »Dann hast du etwas Falsches gehört!« meinte er böse.
Kim schwieg eine Weile. Der Schmerz des Jungen tat ihm weh. Er fühlte sich dafür verantwortlich, und sei es nur, weil es ihm nicht gelungen war, Priwinn von seinem Vorhaben abzubringen.
»Was ist denn geschehen?« fragte er nach einer Weile leise. Der Junge starrte weiter ins Leere, und Kim fand sich schon damit ab, daß er keine Antwort erhalten würde, aber dann begann der andere doch mit leiser, zitternder Stimme zu erzählen.
»Wir haben gehört, daß sie in der Nähe waren«, begann er. »Sie haben ein Heer aufgestellt, mußt du wissen. Sie ziehen plündernd und raubend durch das Land, und sie zerstören rücksichtslos alles, was aus Eisen ist. Ohne zu fragen, wem es gehört. Und es heißt, sie werden immer mehr.« Kim dachte an das, was er wie im Zeitraffer in der grünen Glasscheibe erblickt hatte. Wieviel Zeit mußte draußen in Märchenmond schon vergangen sein ...
»Und dein Vater hatte einen Eisenmann?« nahm Kim das Gespräch wieder auf.
»Drei«, antwortete der Junge. »Und ein eisernes Pferd. Im Herbst sollte ein Pflug dazukommen, vor den man kein Pferd mehr spannen muß.«
»Und ihr wolltet sie nicht hergeben«, vermutete Kim. »Hergeben?« Der Junge lachte beinahe hysterisch. »Mein Vater hat den Hof und alles Land verpfändet, um die Eisenmänner und das Pferd kaufen zu können«, er schrie fast. »Unser Hof war schon immer groß, aber das Land dort ist karg, und es kostet viel Mühe und Schweiß, ihm etwas abzuringen. Mein Vater hoffte, mit Hilfe der Eisenmänner mehr aus dem Boden herauszuholen. Aber dann kamen die Steppenreiter. Sie verlangten, daß er die eisernen Männer zerschlüge, und als er sich weigerte, da fielen sie über ihn her, legten ihn in Ketten, und dann zwangen sie ihn zuzusehen, wie sie die Eisenmänner zerstörten.«
Kim war erschüttert. Trotz allem, was er selbst erlebt hatte, fiel es ihm schwer, die Worte des Jungen zu glauben. Aber gleichzeitig spürte er, daß der andere die Wahrheit sprach.
. »Sie sagten, es müßte sein«, fuhr der Junge bitter fort. »Sie sagten, die Eisenmänner und alles andere, was von den Zwergen käme, brächte Märchenmond den Untergang. Aber uns haben sie den Untergang gebracht.«
»Sie haben euch doch nichts getan?« erkundigte sich Kim erschrocken.
Der Junge schüttelte traurig den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber auf seinem Gesicht regte sich kein Muskel. »Genügt das nicht?«, meinte er. Dann fuhr er fort: »Nachdem alles vorbei war, banden sie ihn wieder los und forderten uns alle auf, sich ihnen anzuschließen. Aber mein Vater wollte nicht. Er jagte sie vom Hof, und noch am gleichen Abend begannen wir, unsere Sachen zusammenzupacken, um unseren Hof zu verlassen. Aber es war zu spät. Die Rebellen waren kaum verschwunden, da tauchten die anderen auf.«
»Was für andere?«
Der Junge zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Bewaffnete Männer in silberfarbenen Rüstungen. Einige von ihnen ritten eiserne Pferde, es waren auch Eisenmänner und Zwerge bei ihnen. Sie umstellten den Hof und warfen meinem Vater und seinem Bruder vor, verantwortlich für den Verlust der Eisenmänner und des Pferdes zu sein. Vater versuchte, ihnen zu erklären, was geschehen war, aber sie hörten gar nicht zu. Sie verlangten das Geld, das er den Zwergen schuldete, und als er es nicht hatte, da legten sie ihn und seinen Bruder und alle Knechte in Ketten und schleppten sie davon.«
»Und du?«
»Auch ich sollte in die Gruben, aber einer der Zwerge meinte, ich wäre zu jung dafür und würde die Arbeit nicht schaffen. Also brachten sie mich hierher.«
Kim spürte ein tiefes, ehrliches Mitleid mit dem Jungen. Zugleich war er verwirrt. Die Geschichte, die er erzählt hatte, war nicht die, die er von Brobing und anderen kannte. Dieser Junge war nicht auf magischem Wege ans seinem Elternhaus verschwunden, sondern schlicht und einfach verschleppt worden. Und so furchtbar das war - es war nicht das Rätsel, das es zu lösen galt.
»Wie heißt du?« fragte Kim.
»Peer«, antwortete der Junge, ohne ihn anzusehen.
»Die anderen Kinder, Peer«, fuhr Kim vorsichtig fort. »Die, mit denen du hierhergekommen bist - sind sie auch von den Zwergen deshalb entführt worden?«
Peer zuckte mit den Schultern. »Die meisten ... ein paar hatten einfach das Pech, unseren Weg zu kreuzen, und einer der Eisenmänner hat sie gepackt und in den Käfig gestoßen. Warum fragst du?«
»Nur so«, antwortete Kim rasch. »Ich bin nur überrascht, daß es ... so viele sind.«
Dabei war es eigentlich genau umgekehrt. Die Höhlen waren zwar gewaltig, und jedes Kind hier war eines zuviel. Und doch: Es waren nicht genug. Wenn es stimmte, daß fast alle Kinder Märchenmonds bereits verschwunden waren, dann hätten hier unzählige sein müssen.
Kim hatte das Gefühl, von der Lösung dieses schrecklichen Geheimnisses weiter entfernt zu sein denn je. Langsam ließ er sich auf sein Lager zurücksinken und schloß die Augen, doch obwohl er so müde wie am Vortag war und seine Glieder sich wie Blei anfühlten, dauerte es lange, sehr lange, bis er in dieser Nacht Schlaf fand.
Allmählich lernte er sämtliche in der Zwergenschmiede anfallenden Arbeiten kennen. Fast jeden Tag wurde ihm eine neue Tätigkeit zugeteilt, und jede schien ein bißchen schwerer als die vorhergehende zu sein. Er schleppte Kohle, dann Erz und schließlich Körbe voll schwerer, fertiggeschmiedeter Eisenteile. Er schürte das Feuer, trug Werkzeuge und glühend heiße Schmiedestücke hin und her, er brachte den Zwergen Wasser oder reichte ihnen neue Hämmer, wenn die alten von den unermüdlichen, rasenden Schlägen der Schmiede selbst rotglühend geworden waren. Und nach und nach lernte er auch die anderen Teile des unterirdischen Zwergenreiches kennen. In dem verzweigten Höhlensystem gab es Säle, wo aus den Teilen, die die fleißigen Zwergenschmiede schufen, riesige, geheimnisvolle Apparaturen zusammengesetzt wurden, deren Sinn und Zweck Kim noch nicht einmal zu erraten vermochte, die ihn aber durch ihre bloße Größe und ihr Aussehen zutiefst erschreckten. In wieder anderen Werkstätten wurde das Erz, das irgendwo draußen in den Gruben gebrochen worden war, in gewaltigen Brocken angeliefert, die Kim und seine Leidensgenossen mit schweren Vorschlaghämmern zerkleinern mußten, bis sie die passende Form und Größe hatten, um eingeschmolzen zu werden.
Anfangs hatte er das Gefühl, sterben zu müssen. Jede Faser seines Körpers schmerzte, und seine Müdigkeit schien einen Grad erreicht zu haben, der jenseits des Erträglichen lag. Aber so schlimm es auch war, Kim gewöhnte sich daran. Seine Hände bekamen Schwielen und sein Körper wurde allmählich kräftiger. Trotz der schmalen Kost begannen seine Muskeln unter der schweren Arbeit zu wachsen. Zwar war er noch immer stets zum Umfallen müde, aber manchmal saßen Peer und Kim jetzt nach dem Abendessen noch eine Weile beisammen und redeten. Kim lernte auch einige der anderen Gefangenen kennen. Allerdings nicht sehr viele, und keinen so gut wie den Jungen aus dem Westen. Während der Arbeit fand sich keine Gelegenheit, mit jemandem zu sprechen, und danach wurden sie immer an der gleichen Stelle angekettet, so daß Kim nur dann und wann ein Wort mit einem der Kinder wechseln konnte, wenn sie zurück in den Schlafraum gebracht wurden. Und doch zeigten diese wenigen Gespräche, daß Peer recht gehabt hatte: Das Schicksal der Gefangenen hier glich meist dem seinen. Ihre Väter hatten die Eisenmänner nicht bezahlen können, oder Priwrnns Steppenreiter hatten die Höfe verwüstet und sie der Rache der Zwerge ausgeliefert, oder sie hatten einfach das Pech gehabt, im falschen Moment am falschen Ort zu sein und aufgegriffen zu werden. Keiner von ihnen erzählte, daß er eines Morgens einfach aufgewacht und hiergewesen wäre, alle hatten sie handfeste Gründe, und nicht einer war auf magische Weise verschwunden. Es schien, als wäre es doch wahr: Die Zwerge mochten dafür verantwortlich sein, daß ganz Märchenmond allmählich unter einer Decke aus schwarzem Eisen erstickte, aber mit dem Geheimnis der verschwundenen Kinder hatten sie nichts zu tun, Kim hatte längst aufgehört, die Tage zu zählen, er wußte nicht, wie lange er schon hier unten war, als Jarrn, der Zwergenkönig, ihn aufsuchte. Es war an einem Abend, nachdem er und Peer in der Steinbruchhöhle gearbeitet hatten und besonders müde waren. Kim hatte sich sofort nach dem Essen auf dem feuchten Stroh ausgestreckt und die Augen geschlossen. Aber er war noch nicht richtig eingeschlafen, als ihn ein derber Fußtritt in die Seite weckte und hochfahren ließ. Als er die Augen öffnete, stand Jarrn vor ihm.
Der Zwergenkönig machte vorsichtshalber einen Schritt zurück, um außer Kims Reichweite zu kommen, grinste aber unverschämt. »Na, Blödmann?« fragte er fröhlich. »Wie gefällt es dir bei uns?«
»Danke«, brummte Kim böse. »Das Essen läßt zwar zu wünschen übrig, aber euer Freizeitangebot ist wirklich gut. Woher hast du gewußt, daß ich so gern Sport treibe?« Jarrn lachte meckernd. »Es freut mich, daß du die Sache mit Humor nimmst«, sagte er. »Ich bin extra heruntergekommen, um mich davon zu überzeugen, daß unser Ehrengast auch ja zufrieden mit seinem Quartier ist.«
»Ehrengast?« Peer richtete sich auf und sah Kim verwundert an.
Jarm nickte heftig. »Oh ja«, antwortete er. »Hat er es dir nicht erzählt? Er wird nämlich ganz besonders lange hierbleiben.«
Kim sah den Zwergenkönig flehend an, was dieser zu neuerlichem, meckerndem Lachen veranlaßte. »Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, daß wk den Schaden mittlerweile errechnet haben, für den du verantwortlich bist«, sagte er. »Natürlich nur ungefähr - die genaue Summe können wir erst ermitteln, wenn wir deinem Freund, diesem außer Rand und Band geratenen kleinen Grasfresser, das Handwerk gelegt haben.«
»Und? Worauf seid ihr gekommen?«
Jarrn tat so, als müsse er einen Moment angestrengt überlegen. »Grob geschätzt würde ich sagen, daß du den Schaden vielleicht in fünf- oder sechshundert Jahren abgearbeitet hast«, sagte er. »Die Zinsen natürlich nicht eingerechnet. Aber ich will ja nicht kleinlich sein - sagen wir, daß ich in vierhundert Jahren wiederkomme, und dann sehen wir weiter.«
»Soll das ein Scherz sein? Ich fürchte, ganz so alt werde ich nicht.«
Jarrn lachte nicht mehr. Er sah Kim auf eine Art und Weise an, die ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ. »Da wäre ich nicht so sicher«, sagte er, sehr leise und ernst. »Hier bei uns vergeht die Zeit nämlich nicht, mußt du wissen. Du wirst fünfhundert Jahre hier arbeiten, und auch fünftausend, wenn ich es will. Solange du diese Höhlen nicht verläßt, wirst du nicht altern.«
Kim erstarrte vor Entsetzen. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß der Zwerg die Wahrheit sprach. Er wußte ja schon, daß die Zeit stillstand im Reich der Zwerge. Waren nicht allein Monate draußen in Märchenmond vergangen, während er bewußtlos auf Burg Morgen gelegen war? »Nun?« fragte Jarrn gehässig. »Ist dir der Humor vergangen?«
Jarrn erhielt keine Antwort, und nachdem er sich eine Weile an Kims unübersehbarem Entsetzen geweidet hatte, trat er einen Schritt zurück, hob die Hand, und ein zweiter Zwerg erschien hinter ihm. Er trug einen Sack aus grobem Leinen, in dem etwas heftig zappelte und sich bewegte. »Und damit du dir nicht umsonst Hoffnungen machst und dann enttäuscht bist«, fuhr der Zwergenkönig hämisch fort, »habe ich hier noch eine besondere Überraschung für dich.« Er öffnete den Knoten, mit dem der Sack verschlossen war, und drehte ihn herum. Ein stacheliges, häßliches Etwas fiel heraus und kollerte mit einem wütenden Pfeifen über den Boden.
»Bröckchen!« rief Kim erschrocken aus.
Das Werwesen fuhr herum und zischte zornig. Als es Kim erkannte, trat ein Ausdruck unendlicher Trauer in seine Augen.
»Ganz recht!« sagte Jarrn. »Es war wirklich nicht leicht, diesen vierbeinigen Widerling einzufangen. Wenn ich bedenke, wie er meine Leute zugerichtet hat, dann müßte ich dir eigentlich noch ein halbes Jahrhundert als Zugabe verpassen. Aber ich will es für diesmal gutsein lassen. Nimm den da als Geschenk, und als Gesellschaft für die Zeit, die du noch hier verbringen mußt.« Und damit drehte er sich um und ging lauthals lachend davon.
Er entfernte sich ein paar Schritte, dann blieb er stehen und wandte sich noch einmal zu Kim um. »Ach, übrigens«, sagte er in einem Tonfall, als wäre es ihm gerade erst eingefallen. »Du und dein gräßliches Stachelschwein da -« er deutete auf Bröckchen. »Ihr könnt euch die Mühe sparen, fliehen zu wollen. Diese Höhlen haben keinen Ausgang. Zumindest keinen, den ihr benutzen könntet.« Und damit verließ er sie. Lange Zeit war es still, nachdem der Zwergenkönig wieder gegangen war. Sein Erscheinen hatte auch einige der anderen Gefangenen geweckt und sie neugierig aufsetzen lassen, aber niemand sprach ein Wort. Kim spürte nur voll Unbehagen, wie sie ihn aufmerksam betrachteten. »Ist das wahr?« fragte Peer schließlich leise.
»Was?«
»Was der Zwerg gemeint hat«, wiederholte Peer. In seiner Stimme war ein Ton, der Kim nicht gefiel. Er sah auf und erblickte etwas im Gesicht des Jungen, das ihm Angst einflößte.
»Daß die Steppenreiter deine Freunde sind?«
»Ja«, gestand Kim.
»Dann hast du mich belegen«, sagte Peer. »Du hast gesagt, du bist mein Freund. Aber du hast mich von Anfang an belegen. Du stehst auf ihrer Seite.«
»Nein!« Kim schüttelte hilflos den Kopf und fügte mit leiserer Stimme hinzu: »Oder doch, ja. Aber nicht so, wie du glaubst.«
»Nicht so, wie ich glaube!« echote Peer. »Wie denn sonst? Der König der Steppenreiter ist dein Freund! Wahrscheinlich hast du dich insgeheim halb totgelacht, als ich dir erzählt habe, was auf unserem Hof geschah!«
»Das ist nicht wahr!« beteuerte Kim. »Priwinn ist mein Freund, das stimmt. Aber ich wollte nie, daß er das tut. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen. Was glaubst du, warum ich hier bin?«
»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Peer haßerfüllt, aber Kim fuhr im gleichen Tonfall fort: »Weil ich mich von ihnen getrennt habe, Peer. Weil ich versuchen wollte, das Geheimnis der Zwerge zu ergründen, bevor genau das geschieht, was nun geschehen ist.«
Der Junge blickte ihn unsicher an. »Das Geheimnis der Zwerge?«
Kim machte eine hilflose Geste in die Runde. »Ich ... ich dachte, ich könnte herausfinden, was mit all den Kindern geschehen ist. Aber ich habe versagt.«
»Welchen Kindern?«
»Den Kindern, die aus Märchenmond verschwinden«, antwortete Kim. »Niemand weiß, was ...«
Peer unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste. »Das mußt du mir nicht erzählen. Ich hatte drei Brüder, die nicht mehr da sind.«
Nun war Kim an der Reihe, den anderen verblüfft anzusehen. Sie hatten viel miteinander geredet in den vergangenen Wochen, und er hatte den Jungen gut kennengelernt und viel über sein Leben auf dem Bauernhof erfahren. Doch von seinen Geschwistern hatte Peer ihm nie erzählt. Noch etwas war an den Worten des Jungen, das Kim alarmierte. Drei Brüder ... Etwas daran erschien Kim bedeutsam. Aber er konnte einfach nicht sagen, was.
»Und was hat das alles mit den Zwergen zu tun?« fragte Peer.
»Ich fürchte, eben nichts«, sagte Kim niedergeschlagen. Er seufzte. »Ich bin ein Narr, Peer. Ich habe geglaubt, ich könnte kommen und ganz allein vollbringen, was allen anderen mißlungen ist.«
»Nun ja -«, sagte Peer, »du wirst lange genug Gelegenheit haben, über deinen Irrtum nachzudenken. Fünfhundert Jahre werden wohl reichen.«
»Du glaubst doch nicht, daß ich hierbleibe«, widersprach Kim entschlossen. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde hier herauskommen. Und ihr auch.«
Peer lachte leise und nicht im mindesten belustigt.
»Aha«, meinte er. »Wir müssen nur warten, bis unsere Ketten durchrosten und diese Felsen hier von selbst zusammenbrechen.«
»Es ist nicht das erste Mal, daß ich einem Kerker entkomme, von dem es heißt, daß eine Flucht unmöglich ist«, erklärte Kim. »Und es wird mir noch einmal gelingen.«
»Ich fürchte«, piepste Bröckchen kleinlaut, »diesmal wird es nicht ganz so einfach.« Er trippelte näher, bedachte Peer mit einem prüfenden Blick und rollte sich schließlich neben Kims Seite zusammen, wobei seine langen, scharfen Stacheln durch Kims zerschlissenes Hemd stachen. »Der Zwerg hat die Wahrheit gesagt. Es führt kein Weg aus diesen Höhlen.«
»Das ist doch Unsinn!« sagte Kim unwillig. »Wir sind ja schließlich auch hier hereingekommen.«
»In diese Höhlen führen nur Wege hinein, keiner hinaus«, beharrte Bröckchen. »Glaube mir. Nur die Zwerge kennen den Ausgang.« Er schniefte hörbar. »Die mit ihrer Zauberei. Was denkst du, wie sie mich eingefangen haben? Bestimmt nicht mit bloßen Händen! Es waren ihre miesen Kunststücke, auf die ich hereingefallen bin.«
»Trotzdem!« Kim schüttelte heftig den Kopf. »Ich schwöre, daß ich einen Ausweg finden werde. Und wenn ich mich mit bloßen Händen durch den Stein graben muß!«
Bröckchen antwortete gar nicht mehr darauf, und insgeheim spürte Kim selbst, daß das, was sich wie Entschlossenheit anhören mochte, in Wirklichkeit nichts anderes als bloß Trotz und Verzweiflung war.