XII

»Das war keine besonders gute Idee«, war Priwinns einziger Kommentar, als sie die Lichtung wieder erreicht hatten und Kim ihm erzählte, was geschehen war. »Aber jetzt weißt du wenigstens, was wirklich los ist.«

Um sehr viel mehr zu sagen, blieb ihm auch kaum Zeit - Rangarig wartete gerade lange genug auf dem Boden, daß der Steppenprinz, Bröckchen und Sheera auf seinen Rücken klettern konnten, dann hob er mit einem mächtigen Satz gleich wieder ab und flog nach Süden auf den See zu, an dessen Ufer die gläserne Burg lag. Jetzt, so meinte Priwinn, hätte es ohnehin wenig Sinn, weiter Verstecken zu spielen. Und in Gorywynn waren sie sicherer als hier im Wald, wohin ihnen die Zwerge und eine ganze Armee ihrer Eisenmänner mit Bestimmtheit folgen würden.

Obwohl es hart auf Mitternacht zuging, war die Stadt, in deren Mitte sich das Burgschloß erhob, fast taghell erleuchtet. Während sich Rangarig hoch in den Lüften näherte, wuchs sie langsam aus der Nacht heran. Zuerst sah man nur ein mattes, farbiges Glimmen, wie ein blasses Nordlicht, dann einen in allen Farben des Regenbogens schimmernden Edelstein, der schließlich zu einem sinnverwirrenden Gebilde aus nadelspitzen Türmen, gewaltigen Mauern und wehrhaften Zinnen wurde - ein funkelnder Riesendiamant aus tausendfarbigem Glas, der wie ein vom Himmel gefallener Zauberstern am Ufer des Sees lag. Als Rangarig allmählich niederging und - wie ein lebendes Segelflugzeug reglos und mit weit gespannten Schwingen - ein-, zweimal über der Stadt kreiste, sah Kim, daß trotz der vorgerückten Stunde noch ein reges Kommen und Gehen in den gläsernen Straßenschluchten herrschte.

Ein warmes Gefühl von Freude ergriff von Kim Besitz, während der Drache in immer enger werdenden Spiralkreisen niederging und nach einem Platz zum Landen Ausschau hielt. Obwohl Kim erst einmal zuvor in Märchenmond gewesen war, und obwohl er jetzt ahnte, daß ihn hinter den schimmernden Wällen nur weitere Schrecknisse erwarten würden, war es doch ein bißchen so, als käme er nach Hause.

Er würde Themistokles wiedersehen, und ganz gleich, unter welchen Vorzeichen es geschah - er freute sich darauf.

Um so enttäuschter war Kim, als Priwinn dem Drachen plötzlich zu verstehen gab, daß er nicht direkt vor den Toren, sondern außer Sichtweite der Stadt landen sollte. »Was soll das nun wieder?« murrte Kim ein wenig verstimmt, kaum daß sie vom Rücken des Drachen heruntergeglitten waren. Das hieß - Priwinn und Kim stiegen ab, der Riese blieb im Nacken des Drachen sitzen. Und Rangarig wartete kaum, bis sie sich ein paar Schritte entfernt hatten, ehe er sich auch schon wieder in die Höhe schwang und in der Nacht verschwand.

»Kommt Gorg nicht mit?« fragte Kim verwirrt, obwohl er noch nicht einmal Antwort auf seine erste Frage bekommen hatte.

»Nein«, antwortete Priwinn. »Er würde zu sehr auffallen. Und es ist besser, wenn einer von uns draußen bleibt - falls wir Hilfe brauchen. Wer weiß, was uns in der Stadt erwartet.«

Während Kim ihn noch bestürzt ansah, griff der Prinz in seinen Beutel und zog ein braunes Stück Stoff hervor, das sich als zerschlissener Umhang entpuppte, als er es auseinanderfaltete und über die Schultern warf. Helm und Handschuhe seiner schwarzen Rüstung verbarg er in seinem Beutel, und am Schluß rückte er noch das Schwert zurecht, damit es unter dem schmuddeligen Mantel vor allzu neugierigen Blicken verborgen blieb. Dann hob er eine Handvoll Schmutz auf und rieb ihn sich auf das Gesicht. Er sah jetzt aus wie ein Betteljunge, nicht mehr wie der Prinz von Caivallon, fand Kim. Offensichtlich legte er großen Wert darauf, nicht sofort erkannt zu werden.

Nachdem Priwinn mit seiner Verkleidung fertig war, musterte er auch Kim kritisch. Was er sah, schien ihn zufriedenzustellen - Kims Kleidung bestand ja mittlerweile ohnedies nur noch aus Fetzen -, aber er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Dolch des Zwerges, den Kim unter den Gürtel geschoben hatte.

»Versteck das lieber«, sagte er. »Straßenjungen besitzen keine so wertvollen Waffen.«

Kim zog das Messer und betrachtete es verblüfft. Für ihn sah das Zwergenschwert eher schäbig aus und kein bißchen wertvoll.

»Gib gut darauf acht«, sagte Priwinn ernst. »Es ist eine Klinge, die in den Höhlen der Zwerge geschmiedet wurde.« Er klopfte auf die Stelle, an der sein Schwert unter dem Umhang verborgen war. »Mit Ausnahme meines Schwertes können nur die Waffen der Zwerge den Panzer eines Eisenmannes durchschlagen.«

Da erinnerte sich Kim, wie mühelos vorhin die schmale Klinge durch die zollstarken Eisenplatten geglitten war und wie verheerend ihre Wirkung auf den Eisenmann gewesen war. Hastig schob er das kleine Schwert unter das Hemd und überzeugte sich davon, daß er sich nicht durch eine unbedachte Bewegung selbst verletzen würde. Dann machten sie sich auf den Weg zum Tor.

Rangarig hatte sie ein gutes Stück davor abgesetzt, so daß eine Weile verging, bis sie es erreichten. Und in Kims Wiedersehensfreude mischte sich ein erster Wermutstropfen, als er sah, daß das Tor geschlossen war. Solange er sich erinnern konnte, waren Gorywynns Tore nur ein einziges Mal geschlossen gewesen: während der Belagerung durch Boraas' schwarze Ritter.

Und Kim erschrak noch viel heftiger, als er das Tor genauer ansah: Anders als die Mauern und Zinnen bestand es nicht aus farbigem Glas, sondern aus Eisen!

Es war ein häßliches Tor - groß und wuchtig und so massig, daß es den Eindruck machte, selbst einem Kanonenschuß standhalten zu können, es war mit faustgroßen Nieten übersät, von denen jede einzelne in einem dornigen Widerhaken endete. In der schimmernden Kristallwand des Burgwalls wirkte es wie eine häßlich vernarbte Wunde.

Jemand mußte sie gesehen haben, denn als sie näher kamen, sah Kim eine schemenhafte Bewegung hinter dem nicht ganz durchsichtigen Glas der Mauer. Aber das Tor rührte sich nicht. Erst als sie sich ihm bis auf zwei Schritte genähert hatten, wurde eine winzige Klappe in der gewaltigen schwarzen Fläche geöffnet, und ein Paar dunkler, sehr mißtrauischer Augen spähte zu ihnen heraus. »Wer da?« Kim wollte antworten, aber Priwinn machte eine rasche, verstohlene Geste, still zu sein, und trat einen weiteren Schritt vor. »Zwei Reisende, die hungrig und müde sind und ein Nachtlager suchen«, sagte er schnell.

»Ein Nachtlager? Ihr seid zu spät. Kommt wieder, wenn die Sonne aufgegangen ist - oder besser auch dann nicht. Hier ist kein Platz für Bettler und Hausierer.«

»Wir sind keine Bettler«, sagte Priwinn. Er griff unter seinen Mantel und zog eine goldene Münze hervor. »Wir können für Kost und Lager zahlen. Hier - seht selbst.«

Der Blick der dunklen Augen saugte sich für einen Moment an der Münze fest, die in Priwinns Hand blinkte. Dann wurde die Klappe mit einem Knall zugeschlagen, und etwas später öffnete sich eine niedrige Tür in der Flanke des gewaltigen eisernen Tores. Eine Hand in einem Kettenhandschuh winkte ungeduldig zu ihnen heraus und entriß Priwinn die Münze, als dieser sich an ihr vorbei durch die Tür bückte.

Kim folgte ihm mit klopfendem Herzen. Mildes, hellrosa gefärbtes Licht, das direkt aus den transparenten Kristallwänden der Mauern drang, umgab ihn, als er sich hinter Priwinn aufrichtete und er wieder auf dem vertrauten, gläsernen Mosaik von Gorywynns Straßen stand.

Und doch schien dies nicht mehr der Ort zu sein, den Kim so gut kannte, wie er bestürzt feststellte. Eine eisige Kälte schien ihnen entgegenzuschlagen, und es dauerte einen Moment, bis Kim erschrocken begriff, daß sie nicht von außen kam.

Der Mann, der sie eingelassen hatte, war ein hochgewachsener, grauhaariger Soldat von unbestimmbarem Alter, mit grobem Knochenbau und einem harten Gesicht. An seinem Gürtel hing ein Schwert, dessen schartige Klinge verriet, daß es oft benutzt wurde und nicht nur der Zierde diente. Sein Blick hatte etwas Gieriges und Lauerndes. In seiner Begleitung befanden sich drei weitere Bewaffnete, die sich scheinbar lässig auf ihre Speere stützten, dabei aber Kim und Priwinn äußerst aufmerksam im Auge behielten. Seit wann gab es bewaffnete Wachen hier?

»Was ist mit deinem Freund da?« fragte der Grauhaarige, nachdem er Kim einen Moment lang abschätzend angeblickt hatte. »Kann er auch bezahlen?«

»Seit wann muß man bezahlen, um in Gorywynn eingelassen zu werden?« entfuhr es Kim, ehe Priwinn es verhindern konnte; er brodelte vor Zorn.

Der Prinz warf Kim einen fast verzweifelten Blick zu, griff rasch unter sein Gewand und zog ein weiteres Goldstück hervor, das er dem Wächter hinhielt. »Ich bezahle für ihn«, sagte Priwinn. »Und, bitte, verzeiht meinem Freund. Er ist... lange nicht mehr hier gewesen. Er kennt die Sitten und Gebräuche hier nicht.«

»Das scheint mir auch so«, knurrte der Mann. Das Goldstück verschwand wie das erste unter seinem Gürtel, aber das Mißtrauen blieb in seinem Blick. »Wer ist der vorlaute Bursche?«

»Nur ein dummer Junge vom Lande, Herr«, beeilte sich Priwinn den Grauhaarigen zu beruhigen, während er Kim einen weiteren, beschwörenden Blick zuwarf. Ehe der Soldat eine weitere Frage stellen konnte, fügte Priwinn hinzu: »Könnt Ihr uns vielleicht eine Herberge nennen, Herr? Wir würden ungern auf der Straße übernachten.«

Nachdem ein drittes Goldstück seinen Weg in die Taschen des Wächters gefunden hatte, knurrte dieser: »Geht zu Grodler, meinem Schwager. Sagt ihm, daß ich Euch schicke, dann wird er Euch ein Zimmer geben - wenn Ihr bezahlen könnt. Nur die Straße hinunter. Es ist das Goldene Kalb - Ihr könnt es gar nicht verfehlen.«

»Ich danke Euch, Herr«, sagte Priwinn. Er packte Kim am Arm und zerrte ihn fast gewaltsam hinter sich her. Kim widerstand der Versuchung, sich zu den Männern am Tor umzudrehen, aber er glaubte, ihre Blicke wie die Berührung unangenehmer, warmer Hände im Rücken zu spüren, während sie den großen Platz hinter dem Tor überquerten und in die Straße hineingingen, die der Mann ihnen bedeutet hatte.

»Bist du wahnsinnig?« flüsterte Priwinn, als sie außer Hörweite des Mannes waren, jedoch ohne stehenzubleiben. »Willst du, daß man uns verhaftet und in den Turm wirft?«

»Was?« Kim war aufgebracht. »Wir haben doch nichts getan!«

»Pst«, machte Priwinn. »Und merk dir eins - das Hineinkommen ist hier leichter und billiger, als wieder herauszukommen. Und jetzt halt den Mund, ehe wir noch mehr Aufsehen erregen.«

Tatsächlich hatten sich bereits einige Leute neugierig zu ihnen herumgedreht. Kim wich ihren Blicken aus, aber es war wie am Tor - er konnte sehen, daß man hinter ihnen herstarrte. Und es waren keine angenehmen Blicke, die er fühlte.

Mit Schrecken entdeckte er auch einige Zwerge unter den Passanten, aber Priwinn raunte ihm zu, sich bloß zu beherrschen, und Kim tat sein Bestes. Zumindest trafen sie auf keine Eisenmänner, während sie weitergingen. Aber das bedeutete nichts - von Priwinn wußte er, daß es sie hier gab, wenn auch vielleicht noch nicht in so großer Zahl wie anderenorts.

Sie passierten das Goldene Kalb, von dem der Mann am Tor gesprochen hatte, traten jedoch nicht ein - worüber Kim mehr als froh war. Aus der offenstehenden Tür drang Geschrei und johlendes Gelächter, allerdings von der Art, die wenig angenehm war. Er schauderte sichtbar.

»Lustig, nicht?« bemerkte Priwinn bitter. »Schade, daß wir nicht mehr Zeit haben. Sonst würde ich dir noch eine Menge anderer lustiger Dinge zeigen. Gorywynn hat sich wirklich verändert.«

»Das ist... furchtbar«, flüsterte Kim.

»Und das ist noch lange nicht alles«, sagte Priwinn. »Sieh dort hinauf.«

Kim gehorchte. Im ersten Moment entdeckte er nichts Besonderes/ als sein Blick in die Richtung ging, in die Priwinns Hand deutete. Aber dann sah er es: zwischen den gläsernen Zitadellen der Stadt erhob sich ein wuchtiger, stumpfer Turm, dessen Wände das milde Licht der Kristallstadt aufzusaugen schienen. Kim mußte nicht fragen, um zu wissen, daß er aus Eisen bestand.

»Wohin gehen wir?« murmelte er, nachdem er eine geraume Weile stumm neben Priwinn hergegangen war. »Zum Palast«, antwortete Priwinn. »Wir müssen herausfinden, wo sich Themistokles aufhält. Vielleicht halten sie ihn gefangen. Aber wir müssen uns beeilen. Es würde mich nicht wundern, wenn der Bursche vom Tor uns folgt, um sich zu überzeugen, ob wir tatsächlich im Goldenen Kalb absteigen. Sie sind mißtrauisch allen Fremden gegenüber.« Sie sprachen nicht miteinander, während sie sich dem Burgschloß von Gorywynn näherten, aber Kim entdeckte auf jeden Schritt neue Schrecknisse - manche Straßen waren schon mit Eisen gepflastert, und die Türen nur zu vieler Häuser bestanden nicht mehr länger aus Glas, sondern ebenfalls aus schwarzem, lichtschluckendem Metall. Hier und da begegneten ihnen auch Zwerge, und es fiel Kim immer schwerer, sich bei ihrem Anblick zu beherrschen. Die furchtbare Veränderung, die mit Gorywynn vonstatten gegangen war, trieb ihm die Tränen in die Augen. Und sie machte ihn wütend.

Priwinn begann seine Schritte zu verlangsamen, als sie sich dem Palast näherten. Der gewaltige, vielfach unterteilte Turmbau erhob sich noch immer als höchstes Gebäude über die Zinnen der Stadt, und bis hierhin war das allgegenwärtige Eisen noch nicht vorgedrungen, wie Kim erleichtert feststellte. Und trotzdem schien es, als wäre der milde Glanz, den die gläsernen Wände ausstrahlten, blasser geworden. Ihr Licht schien einen Teil seiner Wärme eingebüßt zu haben. Es war nicht weniger hell. Aber es war ... kalt.

»Wie kommen wir bloß hinein?« fragte Kim.

Priwinn zuckte mit den Schultern und zog nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne. »Leicht wird es jedenfalls nicht«, meinte er. »Du hast vorhin die Wachen am Stadttor gesehen. Der Palast aber wird noch viel schärfer bewacht. Nicht einmal die Bewohner der Stadt dürfen ihn ohne Erlaubnis betreten.«

Kim war entsetzt. Als er damals hier gewesen war, da hatte es nirgendwo verschlossene Türen gegeben, die Burg und ihre Stadt waren eins gewesen. Und jedermann war willkommen. Diesmal jedoch mußte Kim sich vergeblich den Kopf über die Frage zerbrechen, wie man wohl ungesehen in dieses Gebäude eindringen konnte, das ganz aus Glas erbaut war.

Da kam ihnen der Zufall zu Hilfe. Priwinn ergriff Kim plötzlich am Arm und zog ihn hastig in eine Nische zwischen zwei Häusern, und gleich darauf rumpelte ein vollbeladener Wagen an ihnen vorüber, gezogen von zwei Mauleseln, die von einem Zwerg mit einer knallenden Peitsche angetrieben wurden. Kim wußte gar nicht recht, wie ihm geschah, da zerrte ihn sein Gefährte schon mit mehr als sanfter Gewalt mit sich und sprang mit ihm unter die Plane des Wagens.

»Woher weißt du, daß er ins Schloß fährt?« flüsterte Kim. Er konnte Priwinns Gesicht unter der Plane nicht sehen, aber er hörte ihn heftig in der Dunkelheit gestikulieren, daß Kim den Mund halten sollte. Trotzdem wisperte der Steppenprinz: »Ich weiß es gar nicht. Aber schließlich kann man ja auch mal Glück haben, oder?«

Nun ja ... dachte Kim, vielleicht hatten sie Glück. Und tatsächlich rollte der Wagen nur noch einige Augenblicke dahin, dann kam er zum Stehen, und die beiden konnten hören, wie ein mächtiges Tor geöffnet wurde. Wenig später rumpelte der Karren weiter, und nach einigem Geruckel und Geschaukel schien er am Ziel angekommen zu sein.

Hinterher wußte Kim natürlich, daß sie nur kurze Zeit auf dem Wagen gewesen waren - aber während sie in der Dunkelheit lagen und mit angehaltenem Atem davor zitterten, daß die Plane fortgezogen und man sie beide entdecken würde, schien sie endlos zu sein. Doch schließlich wurden die Stimmen neben ihnen leiser. Und nach einigen weiteren Atemzügen wagte es Priwinn, behutsam einen Zipfel der Plane anzuheben und ins Freie zu blinzeln.

»Jetzt - schnell«, befahl er.

Rasch krochen sie unter der Plane heraus und huschten über den Innenhof des Palastes. Hier hatte sich nichts verändert, und es fiel Kim nicht schwer, Priwinn zu folgen. Sie betraten das Hauptgebäude durch eine schmale Nebentür, die - wie Kim sich erinnerte - in die Küche und zu den Vorratsräumen hinabführte, blieben einen Moment stehen, um zu lauschen, und huschten hinein.

Der große Raum mit den zahlreichen Kochstellen, mit Schränken und Regalen voller Töpfe und Tiegel war vollkommen leer. In der Luft hing ein unangenehmer Geruch wie nach verdorbenen Lebensrnitteln und abgestandenem Wasser. Und während Kim eilig hinter Priwinn herlief, fiel ihm im Vorbeigehen auf, daß eine dünne Staubschicht auf dem Boden und den Möbeln lag. Alles war schon seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden.

»Und jetzt?« fragte er, nachdem sie den Raum durchquert und einen schmalen Treppenschacht erreicht hatten. Priwinn überlegte einen Moment. Dann deutete er nach oben. »Ich glaube, das ist die Treppe für das Gesinde«, sagte er. »Sie führt direkt nach oben, damit die Diener mit ihren Speisen nicht ständig durch die Haupthalle laufen müssen. Wenn wir Glück haben, finden wir die Tür zu Themistokles' Gemach.«

Aber das war leichter gesagt als getan. Wie sich herausstellte, war es beileibe nicht nur eine Treppe. Priwinn hatte zwar recht gehabt mit seiner Vermutung, jedoch zeigte sich bald, daß es abseits der breiten Treppen und Gänge des Palastes ein ganzes Labyrinth von geheimen Wegen zu geben schien, die für die Bediensteten vorgesehen waren. Sie öffneten ein Dutzend Türen, nur um verstaubte, verlassene Räume zu finden.

Davon allerdings mehr als genug. Der Anblick der Küche wiederholte sich - alles war verwaist, und die Luft roch schlecht und abgestanden. Kim kam sich mehr und mehr vor, als irrte er durch ein Haus, das schon vor Jahrzehnten von seinen Bewohnern verlassen worden war. Er sprach Priwinn darauf an, aber der Steppenprinz zuckte nur mit den Schultern.

Endlich fanden sie ein Zimmer, das nicht so ganz unbewohnt aussah wie die übrigen Räume. Priwinn zögerte einen Moment, hinter dem Vorhang herauszutreten, der die Dienertür verbarg, und auch Kim machte nur einen kleinen, fast unsicheren Schritt in das Zimmer hinein.

Das Gemach war sehr groß, sehr still und fast leer. Bis auf ein schmales gerades Stück an der gegenüberliegenden Seite, wo sich eine zweite, sehr viel breitere Tür befand, war es völlig rund und hatte Fenster an allen Seiten. Sie mußten sich unter der höchsten Spitze des Turmes befinden. Zwar sah man verschwenderische Teppiche, Bilder und Gobelins an den Wänden, aber es gab kaum Möbel - nur ein schmales Bett, einen einfachen Tisch und eine mächtige Truhe aus Eichenbohlen. Einzig ein gewaltiger, aus einem Stück geschnitzter Sessel war zum Fenster hin gerückt, so daß Kim und Priwinn nur die hohe Lehne erkennen konnten. Niemand war im Raum.

Kim sah sich enttäuscht um.

Priwinn zog eine Grimasse. »Ich verstehe das nicht«, meinte er. »Das hier muß Themistokles' Gemach sein. Ich habe gehört, daß es unter der Turmspitze liegt, und gehofft, daß der Magier hier ist...« Er seufzte tief.

»Das ist ganz richtig«, ließ sich da eine Stimme vernehmen. Kim und Prinz Priwinn fuhren erschrocken herum. Die Hand des Steppenprinzen schlug den Umhang zurück und legte sich auf den Schwertgriff, und auch Kims Finger suchten fast ohne sein Zutun das Zwergenschwert, das er unter dem Hemd trug.

Aus dem Stuhl erhob sich jetzt eine Gestalt. Alles an ihr war weiß - angefangen von dem dichten, bis auf die Schultern fallenden Haar, über die buschigen Brauen und den langen wallenden Bart bis hin zu der weiten Robe, die bis auf die Knöchel fiel. Ein alter Mann, sehr alt, seine Schultern von unzähligen Jahren gebeugt wie unter einer unsichtbaren Last, doch man sah ihm an, daß er früher einmal sehr groß gewesen sein mußte. Und seine sanften Augen strahlten warm und weise, daß Kim erschauerte.

»Themistokles?« rief er aus. »Du ... du lebst!«

Der alte Magier lächelte sanft. »Warum sollte kh nicht? Ich bin zwar nicht unsterblich, aber mein letzter Tag ist noch lange nicht gekommen. Auch wenn der eine oder andere mich vielleicht schon für etwas tatterig halten mag.« Die letzten Worte, die ebenfalls von einem milden Lächeln begleitet wurden, galten Prinz Priwinn, der noch immer wie erstarrt dastand und den Zauberer ansah. Themistokles' Brauen zogen sich zusammen, und ein bekümmerter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als er sah, daß die Hand des jungen Steppenreiters auf dem Schwertgriff lag. »Priwinn, Priwinn«, sagte er kopfschüttelnd. »Du hast anscheinend nichts gelernt. Du bist der gleiche Hitzkopf, wie es dein Vater in deinem Alter war. Und mir scheint, wie er es noch ist. Wieso kommst du in Waffen hierher und durch die Hintertür, wie ein Dieb in der Nacht, statt wie ein Freund an die Tür zu klopfen und um Einlaß zu bitten?«

Der Prinz ignorierte seine Frage. »Ihr seid ... frei?« fragte er unsicher. Er sah sich rasch im ganzen Zimmer um, als erwarte er einen Hinterhalt.

»Ihr seid ... nicht gefangen?«

»Gefangen?« Themistokles lachte ganz leise. »Hier, Prinz Priwinn? In meiner Burg? Wer sollte mich in Gorywynn gefangenhalten, wo ich doch unter Freunden bin?«

»Wißt Ihr, daß Eure Freunde Gold verlangen, damit man die Stadt überhaupt betreten kann?«

Themistokles seufzte. »Ja, das ist mir zu Ohren gekommen. Die Zeiten sind schwer. Manches hat sich geändert.« Er seufzte noch einmal, ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken und deutete mit einer sonderbar matt wirkenden Geste zum Tisch hin. »Setzt euch doch, meine Freunde. Ich würde euch gerne etwas anbieten, aber es ist Nacht, und die Diener schlafen schon.«

Kim dachte an die verwaiste Küche und all die verstaubten Zimmer, und Themistokles' Benehmen kam ihm jetzt sonderbar vor. Er tauschte einen besorgten Blick mit Priwinn und setzte sich dann gehorsam.

»Du bist also zurückgekommen«, begann Themistokles von neuem, nun an Kim gewandt. »Das freut mich wirklich. Es ist lange her, daß du uns besucht hast, mein junger Freund. Hast du deine Schwester mitgebracht?«

Kims Verwirrung wuchs ins Unermeßliche. Aber er fing einen warnenden Blick von Priwinn auf und beherrschte sich. »Leider nicht«, sagte er.

»Das ist schade.« Themistokles schloß die Augen. Eine ganze Weile sagte er gar nichts, und Kim begann bereits darüber nachzudenken, ob der Zauberer vielleicht eingeschlafen war, wie es bei alten Menschen zuweilen in einem Gespräch vorkommt, als dieser die Lider endlich wieder hob und fragte: »Was führt dich her, Kim? Der Weg nach Märchenmond ist weit und beschwerlich, zumal für einen Menschen aus eurer Welt. Kamst du, um alte Freunde zu besuchen, oder gibt es einen anderen Grund? Ist gar bei dir zu Hause irgend etwas nicht in Ordnung?«

»Doch«, antwortete Kim verstört. »Im ... im Gegenteil. Ich dachte, Märchenmond ist es, das Hilfe braucht.«

»Wir?« Themistokles lächelte. »Wobei sollten wir wohl Hilfe brauchen? O nein - hier bei uns ist alles in Ordnung, nicht wahr, Freund Priwinn?«

Priwinns Gesicht verdüsterte sich. »Hier bei uns ist rein gar nichts in Ordnung«, grollte er. »Und Ihr wißt das verdammt gut, Themistokles! Was soll der Unsinn? Wollt Ihr uns verspotten?«

Themistokles wirkte ehrlich betroffen. »Ich fürchte, ich verstehe nicht, was du meinst, mein Freund«, sagte er ein bißchen verstimmt.

Priwinn fuhr auf. »Ihr -«

»Bitte, Priwinn!« Kim unterbrach den Prinzen mit einer Geste, warf ihm einen beinahe flehenden Blick zu und wandte sich dann wieder an Themistokles. »Aber ich sage die Wahrheit, Themistokles. Du hast mich gerufen. Es ist erst ein paar Tage her. Erinnerst du dich denn gar nicht?«

»Ich soll dich gerufen haben?«

»Es war ... vor dem Krankenhaus«, sagte Kim. Seine Stimme wurde beschwörend, und sie klang verzweifelt. Was war nur mit Themistokles los? »Versuch dich zu erinnern, bitte! Da war dieser Junge aus Caivallon, der plötzlich bei uns auftauchte. Und kurz darauf habe ich dein Gesicht als Spiegelbild erblickt, in dem Cafe. Weißt du nicht mehr? Du hast ausgesehen, als hättest du Angst.«

Zuerst blickte Themistokles ihn nur verstört an. Aber dann geschah etwas Erschreckendes: Plötzlich erschlafften seine Züge. Alles Leben schien aus seinen Augen zu weichen, und für einen Moment verlor er die Kontrolle über sein Gesicht: Sein Unterkiefer sackte herab, Wangen und Augenlider hingen schlaff, wie bei einem uralten Greis, der nicht mehr Herr seines Körpers war. Er begann im Stuhl zu wanken, und Kim spannte sich schon, um nötigenfalls rasch vorzuspringen und Themistokles aufzufangen, sollte er stürzen.

Doch es war nicht nötig. So rasch, wie die furchtbare Veränderung gekommen war, verschwand sie auch wieder. Und als Kim das nächste Mal in Themistokles Gesicht blickte, sah er erneut den mächtigen, weisen Beschützer und Hüter des Landes Märchenmond und keineswegs einen greisen, vergeßlichen Alten.

»Oh, ihr Götter der Unendlichkeit«, flüsterte Themistokles. »Was geschieht mit mir?« Zitternd hob er die Hände, fuhr sich durch Gesicht und Haar und betrachtete sekundenlang seine Fingerspitzen, als müsse er sich davon überzeugen, daß er noch er selbst war.

»Ist alles in Ordnung mit Euch?« fragte Priwinn bestürzt. Themistokles nickte. »Ja«, sagte er. »Jetzt - ja. Was war los?«

Kim sah ihn ratlos an. »Du warst... irgendwie seltsam.« Der Zauberer nickte traurig. »Seltsam«, wiederholte er. »Ja, das ... das trifft es wohl. Ich fühle mich ... seltsam, manchmal.« Sein Blick wurde noch ernster. »Wie ein alter, müder Mann, nicht wahr?«

Seine Gäste schwiegen betreten, aber Themistokles forderte sie mit einer Geste auf, zu antworten. »So war es doch, oder?«

»Ja?« sagte Kim unbestimmt, wobei er seinem Blick auswich. Zuerst Kelhim, dachte er. Dann Rangarig - und jetzt auch Themistokles? Nein, das durfte nicht sein!

»Es ist so«, sagte Themistokles, und Kim begriff, daß der Zauberer seine Gedanken gelesen hatte. »Es ist ganz so, wie du denkst, Kim. Der Zauber erlischt.«

»Aber doch nicht bei dir!« rief Kim verzweifelt aus.

Themistokles lächelte schmerzlich. »Gerade die magischen Wesen spüren es als erste am eigenen Leib, wenn der Zauber aus einem Land weicht.«

»Was geschieht hier?« fragte - nein: wimmerte Kim. »Wir wissen es nicht«, erwiderte Themistokles. Dann machte er eine entschiedene Geste und fuhr mit veränderter Stimme fort: »Aber genug. Unsere Zeit ist knapp, und wir haben Besseres zu tun, als sie mit Mitleidsbekundungen zu vertrödeln.«

Kim atmete innerlich auf. Ja - das war wieder der Themistokles, den er kannte! Und mit wenigen, knappen Worten erzählte Kim, was er auf dem Weg hierher erlebt und erfahren hatte. Der Zauberer Themistokles hörte schweigend zu, wie es seine Art war - aber er wirkte nicht besonders überzeugt, als Kim schließlich am Ende anlangte - und bei seinem Verdacht, daß das Zwergenvolk aus den östlichen Bergen etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun habe.

»Ich weiß, daß manche das denken«, sagte Themistokles mit einem bezeichnenden Blick auf Priwinn. »Aber es ist falsch, glaube mir. Wäre es so einfach, hätten wir das Geheimnis schon ergründet.«

»Aber der Zwerg hat es selbst zugegeben!« ereiferte sich Priwinn.

Themistokles lächelte milde. »Eine Frage, Prinz von Caivallon«, sagte er. »Wenn dich ein Riese am Bein packt und schüttelte wie einen Sack Beeren, würdest du dann nicht auch alles zugeben, was man von dir hören will?«

»Ich glaube aber, daß Priwinn recht hat«, sprang Kim seinem Freund bei. »Dieses Land ... geht zugrunde, Themistokles. Als ich das letzte Mal hier war, war alles anders. Menschen und Tiere und Pflanzen lebten gemeinsam und in Frieden - und es gab keine Eisenmänner.«

»Glaubst du wirklich, daß ich nicht schon längst auf den gleichen Gedanken gekommen bin?« fragte Themistokles traurig. »Nein, Kim - so gerne Priwinn und seine hitzköpfigen Freunde die Zwerge für alles verantwortlich machen würden; sie sind es nicht.«

»Sie sind ein widerwärtiges Volk!« rief Priwinn inbrünstig.

»Das mag sein - in deinen Augen«, befand Themistokles. »So wie sie dich wahrscheinlich nicht besonders mögen. Doch bedenke eines, Prinz: Das Unglück begann, noch bevor das Zwergenvolk erschien.«

»Aber die Gruben!« erinnerte Kim. »Sie zerstören das Land, Themistokles. Die Zwerge bauen Straßen aus Eisen und töten die Flüsse.«

»Es sind nicht die Zwerge, mein junger Freund«, wiederholte Themistokles sanft. Er seufzte tief, blickte einen Moment lang an Kim vorbei ins Leere und deutete dann auf eines der zahlreichen Fenster, die die Turmkammer hatte. »Ich stehe oft hier und blicke hinaus, Kim. Oh, ich sehe, was mit diesem Land geschieht, glaube mir. Ich sehe, was ihr beide gesehen habt, und vieles, vieles mehr. Der Zauber erlischt, Kim, das ist wahr. Aber es sind nicht die Zwerge, die ihn uns stehlen. Die Zwerge sind hier, weil die Bewohner dieses Landes sie gerufen haben. Sie sind nicht gewaltsam eingedrungen - die Männer und Frauen unserer Welt sind zu ihnen gegangen. Vielleicht töten sie unsere Welt. Doch sie tun es, weil man es hier so wollte.«

»Das ist nicht wahr, Themistokles!« protestierte Priwinn. »Nicht mehr lange, und dieses ganze Land wird aus Eisen bestehen.«

»Ja«, stimmte Themistokles traurig zu. »Doch nur, weil die Herzen seiner Bewohner sich verwandelt haben, weil sie hart wie Eisen und kalt wie Stein geworden sind. Wer weiß - vielleicht sind all diese Rinder nicht verschwunden, sondern geflohen?«

»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?« fragte Kim leise.

»Was sollte ich denn sonst sagen, kleiner Held?« erwiderte Themistokles ernst.

Kim atmete hörbar aus. »Ich ... weiß es nicht«, gestand er. »Ich dachte, wir ... wir kämpfen zusammen gegen den Feind, der Märchenmond bedroht. Wie wir es schon einmal getan haben.«

»Kämpfen?« Themistokles' Blick glitt über die schwarze Rüstung, die Priwinn trug, und ganz kurz auch über Kims Hemd, fast als könnte er das Schwert sehen, das darunter verborgen war. »So wie dein Freund, der wieder einmal zum Schwert gegriffen hat? O nein, Kim. Der Feind, der uns diesmal bedroht, kommt nicht von außen. Er sitzt in uns selbst. Die Zeit der Magie ist einfach vorbei. Vielleicht wird Märchenmond allzubald nicht mehr das Land der Träume, der Märchen sein. Und wenn seine Bewohner es so wollen, habe ich weder das Recht noch die Macht, es zu verbieten. Ich bin alt geworden, Kim. So wie euer Freund Rangarig zu einem bösen, alten Drachen wird, so werde ich zu einem müden, alten Mann. Ich kann euch nicht helfen.«

»Ihr sagt nicht die Wahrheit!« begehrte Priwinn wütend auf. »Nicht alle hier wollen es so. Nicht alle sind damit einverstanden, daß der Zauber verschwindet.«

»Ich weiß«, sagte Themistokles. »Du und deine Freunde, ihr kämpft dagegen. Aber euer Weg ist falsch. Er wird euch nicht zum Ziel fuhren. Und ich kann euch nicht ewig schützen. Davon abgesehen - was wollt ihr tun? Die anderen mit Gewalt zwingen, wieder zu ihrem früheren Leben zurückzukehren?«

»Wenn es sein muß - ja«, meinte Priwinn entschlossen. »Und wenn sie nicht wollen? Willst du einen Krieg entfachen? Willst du Bruder gegen Bruder kämpfen lassen, Vater gegen Sohn? Das Schwert ist da keine Lösung, Prinz Priwinn.«

»Dann sagt mir eine andere!« verlangte Priwinn.

»Das kann ich nicht«, entgegnete Themistokles.

»Und ... und wenn ich noch einmal zum Regenbogenkönig gehe?« schlug Kim vor. Prinz Priwinn blickte ihn überrascht an, während in Themistokles' Augen ein Ausdruck erschien, als hätte er genau auf diesen Vorschlag gewartet. »Das wäre sinnlos«, sagte er dann. »Er hat uns einmal geholfen, das stimmt. Doch diesmal kann selbst er nichts für uns tun.«

»Aber warum hast du dann unseren Freund gerufen!« rief Priwinn aufgebracht und deutete auf Kim.

»Er kennt die Antwort«, sprach Themistokles. »Er weiß es selbst noch nicht, aber die Lösung aller Rätsel ist tief in ihm verborgen. Und es ist deine Aufgabe, Prinz von Caivallon, ihm zu helfen, die Antwort zu finden.«

Bevor Priwinn etwas erwidern konnte, wurde von draußen lautstark gegen die Tür gehämmert, und eine herrische Stimme verlangte Einlaß. Kim und der Steppenreiter tauschten einen alarmierten Blick und wollten aufstehen, aber Themistokles machte eine beruhigende Geste und rief mit lauter, sehr ruhiger Stimme: »Bitte?!«

Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen, und zwei Männer in der Uniform, wie sie die Wächter am Tor getragen hatten, stürmten herein. Sie waren nicht allein. Hinter ihnen wieselte eine nur kindsgroße, dürre Gestalt mit einem schmutzigen, spitzen Gesicht herein. Als Kim und Priwinn nun dieses Gesicht erkannten, da sprangen sie von ihren Stühlen auf. Es war jener Zwerg, dem Kim und Gorg nur mit Mühe entkommen waren.

Priwinn schlug mit einem Fluch seinen Umhang zurück und zog sein Schwert, und auch Kim zog seine Waffe unter dem Hemd hervor. Der Zwerg sprang mit einem erschrockenen Quietschen wieder zurück, während seine beiden Begleiter ebenfalls nach den Klingen griffen.

»Die Waffen weg!«

Themistokles' Stimme schnitt wie der Knall einer Peitsche durch den Raum, und plötzlich war es ganz und gar nicht mehr die Stimme eines müden, alten Mannes. Ihr Klang war so befehlend, daß Kim fast erschrocken den Dolch wieder einsteckte. Und auch Priwinn und die beiden Soldaten senkten ihre Schwerter.

»Was fällt Euch ein, in meinem Gemach Waffen zu ziehen?« herrschte Themistokles sie an. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«

»Die beiden da!« kreischte der Zwerg. Er hatte wohl gesehen, daß Themistokles' Zorn ihnen allen galt, seine beiden Besucher eingeschlossen, und bekam jetzt sichtlich wieder Oberwasser. »Das sind sie! Ergreift sie! Ich verlange, daß sie auf der Stelle eingesperrt werden!«

»Du hast hier nichts zu verlangen, Zwerg«, donnerte Themistokles. Seine Augen schienen Funken zu sprühen, und der Zwerg wich abermals einen halben Schritt zurück. »Diese beiden sind meine Gäste! Dich habe ich nicht eingeladen, wenn ich mich recht entsinne. Also beherrsche dich!« Etwas ruhiger, aber noch immer in scharfem Ton, wandte er sich an einen der beiden Soldaten. »Was hat das zu bedeuten, Hauptmann?«

Der Hauptmann steckte hastig sein Schwert weg und begann mit den Füßen zu scharren.

»Verzeiht, Herr«, begann er unsicher. »Aber ... aber dieser Zwerg da richtet schwere Vorwürfe gegen Eure beiden Gäste.«

»Welcher Art?« fragte Themistokles.

»Der da -« Der Zwerg deutete mit einem schmuddeligen Zeigefinger wie mit einem Dolch auf Kim. »- hat mich und meine Freunde überfallen. Zusammen mit einem Riesen ist er über uns hergefallen. Sie haben viele unserer Eisenmänner zerstört und hätten auch uns andere unweigerlich umgebracht, wären wir nicht geflohen. Wir gingen unserem Tagewerk nach, als sie auftauchten und einfach auf uns einzuschlagen begannen. Völlig grundlos!«

»Dieser Junge - gegen zwölf von Euren Eisenmännern?« Themistokles lachte leise. »Du scherzt, Zwerg.«

»Sein Begleiter war ein Riese, wie ich schon sagte!« protestierte der Zwerg. »Und ein geflügelter Drache war auch noch dabei.«

»Sicher«, sagte Themistokles ruhig. »Ich kenne sie.« Der Zwerg funkelte ihn an. »Ich verlange mein Recht. Diese beiden sollen für den Schaden aufkommen, den sie angerichtet haben.«

»Wenn das alles ist...«, Themistokles lächelte, machte einige Zeichen mit der linken Hand - und wie aus dem Nichts erschien ein faustgroßer Goldklumpen vor dem Zwerg in der Luft.

»Das dürfte Euren Schaden mehr als ausgleichen, Herr« meinte Themistokles.

Rasch bückte sich der Zwerg, hob den Goldklumpen auf und steckte ihn in die Tasche - aber der Stoff zerriß, und der Goldklumpen fiel krachend auf die Zehen des Zwerges herab, der kreischend auf einem Bein herumzuhüpfen begann. Kim unterdrückte ein Grinsen, und auch in den Gesichtern der beiden Soldaten zuckte es verdächtig.

Nur Themistokles blieb vollkommen ernst. »Ist dein Anliegen damit erledigt?« fragte er.

»Nein«, grollte der Zwerg, nachdem er sich wieder beruhigt und den Goldklumpen wieder aufgehoben hatte. Er deutete abermals anklagend auf Kim. »Ihr gebt also zu, daß dieser Bursche da schuldig ist. Ich verlange seine Auslieferung. Und die des anderen auch. Ich weiß, daß er zu den Rebellen gehört, die in den Wäldern leben und unsere Schmieden überfallen.«

»Stimmt das?« wandte sich Themistokles an Prinz Priwinn.

»Blödsinn«, antwortete Priwinn. »Wir leben nicht in den Wäldern.«

»Da hörst du es«, sagte Themistokles. »Blödsinn.« Er lachte, aber es hörte sich mehr wie ein Kichern an. Kim warf ihm einen erstaunten Blick zu. Das war gar nicht Themistokles' Art, so herumzualbern...

Der Zwerg ächzte vor Wut. Dann wandte er sich mit einer herausfordernden Geste an die beiden Wachen. »Ich verlange mein Recht, Hauptmann!« keifte er. »Die beiden haben uns heimtückisch überfallen. Sind wir Zwerge weniger wert als ihr, daß man ungestraft so mit uns umspringen kann?«

Dem Hauptmann war anzusehen, daß er sich von Sekunde zu Sekunde weniger wohl in seiner Haut fühlte. Er sah Themistokles nicht an, als er sich an ihn wandte. »Verzeiht, Herr, aber ... aber wenn der Zwerg die Wahrheit sagt, dann ... dann müßt Ihr uns beide übergeben. Sie haben ein Verbrechen begangen.«

»Das haben wir nicht!« rief Kim. »Dieser Zwerg hat uns angegriffen. Wir haben uns nur gewehrt!«

»Da hört ihr es!« keifte der Zwerg. »Er gibt es selbst zu!« Themistokles antwortete nicht gleich. Und als Kim sich nach ein paar Sekunden herumdrehte und in sein Gesicht sah, erschrak er zutiefst. In Themistokles' Augen flackerte es. Es schien ihm immer mehr Mühe zu bereiten, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Aber dann strengte er sich noch einmal an und fand zu seinem früheren Selbst zurück.

»Wenn es so ist, Hauptmann«, sagte er, »so werde ich selbst über sie richten. Oder zweifelt Ihr mein Urteilsvermögen an?«

»Natürlich nicht, Herr«, entgegnete der Hauptmann hastig. »Bitte verzeiht.«

»Schon gut«, sagte Themistokles. Er zitterte. »Geht jetzt. Ich werde diese beiden anhören und dann entscheiden, was mit ihnen zu geschehen hat. Geht - und nehmt diese häßliche Kreatur mit, ehe ich sie in eine Kröte verwandle!« Die Augen des Hauptmannes wurden groß, und auch der Zwerg sperrte vor Unglauben Mund und Augen auf. Aber bevor er ging, wandte er sich noch einmal mit einem haßerfüllten Blick an Kim. »Wir werden uns wiedersehen«, versicherte er. »Glaub bloß nicht, daß ich lockerlasse.« Der Zwerg und die beiden Soldaten gingen, und sowohl Kim als auch Priwinn fuhren zu Themistokles herum, kamen aber nicht dazu, irgend etwas zu sagen. Der alte Zauberer wankte immer heftiger und hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, auf eigenen Beinen zu stehen. Mit einem erschöpften Seufzen, das fast wie ein Schrei klang, ließ er sich in seinen Sessel sinken.

»Themistokles!« rief Kim erschrocken. »Was hast du?«

»Schwach ...«, hauchte Themistokles, »ich ... fühle mich so schwach. Es ist als ... sauge mir etwas die Kraft aus.«

»Der Zwerg!« rief Priwinn haßerfüllt. »Ich werde diesen Burschen -«

»Du wirst gar nichts«, unterbrach ihn Themistokles matt. »Ihr müßt... fliehen. Ich weiß nicht, wie lange ich euch noch beschützen kann. Er wird wiederkommen. Geht, solange ich noch ... Herr meiner Sinne bin. Geht auf demselben Weg, auf dem ihr gekommen seid. Und gebt acht. Sie werden versuchen, euch aufzulauern.«

»Wir können dich doch nicht allein lassen!« rief Kim, aber Themistokles schüttelte abermals den Kopf. Müde streckte er die zitternde Hand aus und berührte ganz flüchtig Kims Wange.

»Du bist tapfer«, murmelte er. »Aber dein Mut wäre verschwendet. Hab keine Sorge - noch bin ich Herr von Gorywynn, und sie werden es nicht wagen, die Hand gegen mich zu erheben.« Er lachte leise und ohne die mindeste Spur von Humor. »Es ist ja auch gar nicht nötig. Nicht mehr lange, und ich werde nichts weiter sein als ein vergeßlicher alter Mann, der in seiner Turmkammer sitzt und die wenigen Sterne zählt, die seine kurzsichtigen Augen noch sehen. Vielleicht ist es gut so. Ich bin so müde. So unendlich müde ...« Und damit schlief er tatsächlich mitten im Wort ein.

Kim starrte ihn fassungslos an, dann schrie er auf und begann, an seiner Schulter zu rütteln, bis Priwinn ihn mit Gewalt von Themistokles fortzerrte. Kim schlug seine Hand beiseite.

»Laß mich!« schrie er.

»Wir können nichts für ihn tun«, meinte Priwinn ernst. »Themistokles hat recht - wir müssen unser Leben retten.«

»Ich lasse ihn nicht hier zurück!«

Der Steppenreiter schüttelte traurig den Kopf. »Sie werden ihm nichts tun«, sagte er. »Sieh ihn doch an. Er ist keine Gefahr mehr für sie. Ich glaube, diese Unterhaltung mit uns hat alles aufgezehrt, was noch an Kraft in ihm war. Komm.«

Es verging noch eine geraume Weile, in der Kim einfach dastand und den schlafenden alten Mann auf dem Stuhl vor sich anblickte. Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen. Der Anblick brach ihm schier das Herz.

Aber schließlich sah er ein, daß Priwinn recht hatte - sie konnten rein gar nichts für Themistokles tun. Und sie selbst waren noch lange nicht außer Gefahr.

Er wischte die Tränen fort, straffte die Schultern und wollte zu der verborgenen Türe zurückgehen, durch die sie den Raum betreten hatten, als ihm auffiel, wie Priwinn an einem der Fenster stand und diesen trällernden Laut hören ließ. Und wie schon einmal, vergingen nur wenige Augenblicke, bis das Rauschen gewaltiger Schwingen die Stille der Nacht unterbrach und Rangarig kam, um sie abzuholen.

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