Es versteht sich wohl von selbst, daß Kim sich lange schlaflos hin- und herwälzte in dieser Nacht. Ebenso, wie es sich von selbst versteht, daß Kim später doch eindämmerte. Eine Stunde oder länger war er auf seinem Bett gelegen und hatte den Stimmen seiner Eltern gelauscht, die gedämpft aus dem Wohnzimmer herauf drangen, ohne daß er freilich verstand, was sie sprachen.
Nicht, daß das wirklich nötig gewesen wäre - selbst wenn Kim nicht über eine besonders ausgeprägte Phantasie verfügt hätte, wäre es unschwer zu erraten gewesen, was sein Vater und seine Mutter besprachen: Vaters Stimme klang laut und sehr erregt, während die seiner Mutter immer leiser wurde und bald gar nicht mehr zu hören war. Kim setzte in diesem Fall ganz auf das diplomatische Geschick seiner Mutter, die es noch stets irgendwie geschafft hatte, ihren Mann zu besänftigen, wenn diesem wegen Kim wieder einmal der Kragen zu platzen drohte.
Und es schien ihr auch diesmal wieder gelungen zu sein, denn als Kim - irgendwann, spät in der Nacht - plötzlich hochschrak und sich im dunklen Zimmer umsah, da waren die Stimmen aus dem Erdgeschoß verstummt, und im Haus war es still. So vollkommen still, daß es fast unheimlich war. Zuerst saß Kim einfach da, blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und wunderte sich ein wenig, daß er überhaupt eingeschlafen war, bei alldem, was ihm im Kopf herumspukte. Aber schließlich war der Tag aufregend genug gewesen, kein Wunder, daß er müde war.
Kim gähnte, schwang die Beine aus dem Bett, auf dem er vollkommen angezogen eingeschlafen war, und fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. Er fühlte sich noch ein bißchen benommen, aber er wußte, daß er so bald nicht wieder einschlafen konnte - und schließlich hatte er wirklich Besseres zu tun, als seine Zeit im Bett zu vertrödein. Er mußte einen Weg zurück nach Märchenmond finden.
Nur hatte er keine Ahnung, wie.
Langsam stand er auf, sah sich in seinem Zimmer um und ging zur Tür, um Licht zu machen, überlegte es sich dann aber anders. Sein Vater hatte die Angewohnheit, manchmal bis spät in die Nacht hinein zu arbeiten. Wenn er das Licht sah, das aus Kims Zimmer drang, brachte er es fertig und kam herein, um nach dem Rechten zu sehen. Und womöglich den unterbrochenen Streit fortzusetzten. Statt also das Licht anzuknipsen, schaltete Kim nur seinen Computer ein und lies den Farbbildschirm mit einem Knopfdruck weiß werden. Die Helligkeit, die der Monitor abgab, reichte durchaus, um sich zurechtzufinden.
Seufzend ließ sich Kim an seinem Schreibtisch nieder, betrachtete eine Zeitlang das zermalmte Wrack des Viper-jägers und machte sich lustlos daran, wenigstens die größten Trümmerstücke notdürftig zusammenzukleben. Er rechnete sich keine großen Chancen aus, damit viel zu erreichen, aber verdammt, irgend etwas mußte er schließlich tun. Und es erschien ihm immer noch besser, etwas Sinnloses zu tun als gar nichts.
Als er das zertrümmerte Hecktriebwerk anfügen wollte, an das, was vom Rumpf übriggeblieben war, und sich dabei vorbeugte, spürte Kim einen stechenden Schmerz im rechten Oberschenkel.
Er verzog das Gesicht, ließ das Plastikteil auf den Schreibtisch fallen und griff in die Tasche. Mit spitzen Fingern zog er die winzige Flöte hervor, die er aus dem Krankenhaus mitgenommen hatte.
Diesmal steckte er sie nicht sofort wieder weg, sondern wog sie lange und nachdenklich in den Händen. Ob sie vielleicht...?
Ein Versuch konnte nicht schaden, obgleich ihm der Gedanke ein bißchen lächerlich vorkam. Außerdem wäre es einfach zu leicht. Trotzdem setzte er das kleine Instrument an die Lippen, versuchte mit spitzen Fingern die winzigen Löcher darauf zuzuhalten und blies kräftig hinein.
Im allerersten Moment hörte er gar nichts, dann gab die Flöte einen dünnen, aber so gräßlichen Mißton von sich, daß Kim erschrocken zusammenfuhr und sie um ein Haar fallen gelassen hätte. Der Ton war so schrill, daß seine Zähne schmerzten und die Glasscheibe vor dem Bildschirm seines Computers zu vibrieren begann.
Verblüfft sah er die kleine Flöte an, verbarg sie wieder in der geschlossenen Faust und blickte sich dann im Zimmer um. Nichts.
Sein Zimmer blieb sein Zimmer, und die Dunkelheit vor dem Fenster blieb die Dunkelheit vor dem Fenster. Was hatte er erwartet? Daß sich der Boden auftat und ein Fahrstuhl nach Märchenmond erschien?
Mit einem enttäuschten Kopfschütteln steckte er die Flöte wieder ein und wollte sich erneut der Viper zuwenden. Aber in diesem Moment hörte er ein Geräusch aus dem Erdgeschoß.
Überrascht blickte er auf, sah auf die kleine Uhr, die in der oberen rechten Ecke des Computerschirms immer mitlief, und dann wieder zur Tür. Es war fast vier - selbst für seinen Vater eine ungewöhnliche Zeit. Außerdem pflegte er, wenn er schon so lange wach war, sich sehr vorsichtig zu bewegen, und nicht herumzutrampeln wie ein Elefant in einer Konservendosenfabrik - und ungefähr so hörten sich die Geräusche an, die noch immer heraufdrangen.
Kim stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie vorsichtig und so leise er konnte. Angespannt lauschte er hinaus. Der Krach drang aus dem Wohnzimmer herauf; das hörte er jetzt ganz deutlich - und es klang tatsächlich, als scheppere dort unten jemand mit sämtlichen Kochtöpfen, Bratpfannen und Konservendosen, die er in der Küche hatte auftreiben können. Was, um alles in der Welt, ging dort unten vor?
Behutsam schob Kim die Tür ganz auf, trat auf den Korridor hinaus und sah nach rechts und links. Es war vollständig dunkel - weder aus dem Erdgeschoß noch aus dem Schlafzimmer seiner Eltern, das am Ende des Ganges lag, kam auch nur das mindeste Licht. Dafür wurde das Scheppern und Klirren unten noch lauter, und dann hörte Kim ein seltsames Rasseln, das er sich gar nicht mehr erklären konnte. Mit klopfendem Herzen bewegte sich Kim auf die Treppe zu und blieb auf dem obersten Absatz stehen. Die Wohnzimmertür stand auf. Die Gardinen schienen nicht vorgezogen zu sein, denn er sah einen bleichen Lichtschimmer von grauer Farbe, der das Rechteck der Tür ausfüllte, und nachdem sich seine Augen ein wenig an das schwache Licht gewöhnt hatten, auch den Tanz von Schatten. Jemand bewegte sich im Wohnzimmer. Und Kim war sicher, daß es nicht sein Vater war.
Auf Zehenspitzen schlich er weiter, blieb auf halber Höhe noch einmal stehen und sah wieder zum elterlichen Schlafzimmer zurück. Seine Tapferkeit ängstigte ihn ein bißchen - um so mehr, als er sich eines Gespräches mit seinem Vater vor nicht allzu langer Zeit erinnerte, in dem sie sich über den Unterschied zwischen Mut und Leichtsinn unterhalten hatten. Wenn dort unten im Wohnzimmer wirklich ein Einbrecher war, dann war es wohl nicht besonders intelligent, wenn Kim allein hinunterging und ihn stellte. Andererseits - wer hatte je von einem Einbrecher gehört, der sich alle nur erdenkliche Mühe bereitete, Krach zu machen?
Kim schlich weiter, erreichte die Wohnzimmertür und lugte mit angehaltenem Atem um die Ecke.
Und da war er sehr froh, sich so leise bewegt zu haben. Das Wohnzimmer war völlig verwüstet. Sämtliche Möbel waren umgeworfen und zum Teil zerbrochen, der Fernseher, Vaters Stereoturm und die elektronische Wanduhr waren nur noch rauchende Trümmerhaufen, als hätte sie jemand methodisch kurz und klein geschlagen, und durch die offenstehende Tür konnte Kim sehen, daß es in der Küche den technischen Gerätschaften nicht anders ergangen war. Das Fenster stand weit offen, war aber dabei zerschlagen, und die Vorhänge waren heruntergerissen. Ein helles, unangenehmes Licht fiel von draußen ins Zimmer, so daß Kim die gesamte Verwüstung in aller Deutlichkeit sehen konnte. Sie - und die Gestalt, die inmitten des Chaos stand und beständig den Kopf von rechts nach links und wieder zurück drehte, als suche sie etwas Neues, was sie zerschlagen und zermahnen konnte.
Nein, es war nicht Kims Vater.
Es war überhaupt kein Mensch. Jedenfalls keiner, wie Kim ihn je zuvor gesehen hatte ... Eine geraume Weile stand Kim einfach da, starrte den zwei Meter großen, kantigen Riesen an, der in dem verheerten Zimmer stand, und zweifelte am eigenen Verstand.
Obwohl er ihn gegen das grelle Licht vor dem Fenster nur als schattenhaften Umriß erkennen konnte, gab es gar keinen Zweifel: die gewaltigen, kantigen Schultern, die riesigen Klauen, eine davon schlank und mit gelenkigen, überaus geschickt anmutenden Fingern ausgestattet, die andere eine fürchterliche Stahlklaue mit rasiermesserscharfen Kanten, die zu nichts anderem zu gebrauchen war als zum Zerreißen und Zerfetzen, das Gesicht, dessen Silhouette an die Maske eines Eishockey-Torwartes erinnerte, und das schmale, schlitzförmige Auge, hinter dem grüne Leuchtbuchstaben jagten - es war der Roboter aus dem Science-fiction-Film vom Abend!
Und fast, als spüre er seine Anwesenheit, drehte die Gestalt in diesem Moment den kantigen Schädel und blickte Kim an. Kim erwachte mit einem Schrei aus seiner Erstarrung und fuhr herum. Instinktiv machte er einen Schritt auf die Haustür zu, prallte dann aber mitten in der Bewegung zurück. Rebekka und seine Eltern! Er mußte sie warnen! Der Koloß war nicht hergekommen, um sich mit ihnen zu unterhalten! Ganz egal, aus welcher Ecke der Galaxis er auch kam - dies würde keine Begegnung der dritten Art, sondern eine der tödlichen sein, wenn er seine Eltern oder seine Schwester im Schlaf überraschte. Es war seltsam genug, daß sie der Krach nicht schon geweckt hatte.
Als Kim an der Wohnzimmertür vorüberstürmte, traf ein fürchterlicher Schlag die Wand und ließ das Haus bis in seine Grundfesten erzittern. Eine stählerne Faust brach krachend durch den Stein, grabschte nach Kims Arm und riß ein Stück aus seinem Pullover, als Kim sich im letzten Moment zur Seite warf.
Er stolperte, prallte gegen das Treppengeländer und fiel die ersten fünf Stufen hinauf, anstatt sie zu gehen. Ein weiterer, noch härterer Schlag traf die Wand und ließ sie völlig zusammenbrechen; offensichtlich hielt der Koloß nicht allzuviel davon, Türen zu benutzen, sondern ging lieber den direkteren Weg.
Die Angst gab Kim zusätzliche Kräfte. Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen, hetzte die Treppe hinauf und schrie dabei aus Leibeskräften nach seinem Vater. Sein Gebrüll mußte noch zwei Häuser weiter deutlich zu hören sein, ganz abgesehen von dem Höllenlärm, den der Roboter veranstaltete, als er sich gewaltsam einen Weg durch die Wohnzimmerwand schuf. Aber trotzdem regte sich im Haus nichts. Das Licht hinter der Schlafzimmertür ging nicht an, und niemand antwortete auf die Schreie.
Kim erreichte das Ende der Treppe, warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück - und schrie ein zweites Mal noch gellender auf. Als er sah, daß die rechte schlankere Hand des Roboters nicht mehr-leer war.
Seine Bewegung und der grellweiße Blitz, der wie eine Nadel aus Licht nach Kim stach, kamen fast gleichzeitig. Der Laserstrahl verfehlte Kim um Millimeter, brannte ein faustgroßes Loch in die Tür seines Zimmers und setzte so nebenbei das Treppengeländer und den Teppich in Brand. Greller Feuerschein erfüllte den Flur, und die Luft war binnen Sekundenbruchteilen schneidend heiß und kaum noch zu atmen.
Kim stürzte herum, erreichte mit zwei Riesensätzen die Schlafzimmertür seiner Eltern, riß sie auf - und rannte mit voller Wucht gegen ein unsichtbares Hindernis, das sich dahinter erhob.
Der Anprall war so heftig, daß er benommen rückwärts taumelte und auf dem Hosenboden landete. Sein Kopf dröhnte, und die Lichtblitze vor seinen Augen stammten jetzt nicht mehr nur von den lodernden Flammen, die den Korridor erfüllten. Während hinter ihm die Treppe unter dem Gewicht des stählernen Giganten zu erzittern begann, rappelte sich Kim mühsam hoch und trat noch einmal an die Tür heran. Er konnte das Schlafzimmer seiner Eltern dahinter deutlich erkennen - aber als er die Hände ausstreckte, stießen seine Finger auf harten Widerstand, als stünde er vor einer Wand aus massivem Glas.
Und genau das war es auch. Als er genauer hinsah, bemerkte er die blitzenden Lichtreflexe, die die Flammen auf dem Glas verursachten. Und den Schatten, der plötzlich hinter ihm erschien.
Zum zweitenmal ließ sich Kim einfach zur Seite fallen, und zum zweitenmal verfehlte ihn der Schuß aus der Strahlenpistole des Roboters nur um Haaresbreite. Der grelle Lichtstrahl schlug in die gläserne Wand, durchdrang sie völlig mühelos - und ohne sie auch nur zu beschädigen! - und explodierte an der gegenüberliegenden Wand des Schlafzimmers. Der Schrank, die Tapeten und ein Teil der Vorhänge fingen sofort Feuer. Aber in dem plötzlichen, grellen Licht konnte Kim auch erkennen, daß das Zimmer vollkommen leer war. Das Bett war aufgeschlagen, aber seine Eltern waren nicht da.
Ihm blieb nicht einmal Zeit, so etwas wie Erleichterung zu empfinden, denn der Roboter gab sich keineswegs damit zufrieden, das Schlafzimmer seiner Eltern zu flambieren, sondern versuchte nach wie vor, Kim zu treffen. Ein dritter Laserblitz zuckte aus seiner Hand und brannte eine rauchende Spur in den Boden neben den Maschinenmann, ehe er gute zwei Meter des Treppengeländers absäbelte und auch noch ein Loch in der Wand hinterließ. Kim raffte all seine Kraft zusammen, rollte sich mit zusammengebissenen Zähnen über die Spur aus glimmendem Holz, die der Lichtstrahl im Boden hinterlassen hatte, und kam hakenschlagend wieder auf die Füße. Mit einem Satz war er quer durch den Korridor und riß die Tür zu Rebekkas Zimmer auf. Er war nicht einmal mehr besonders überrascht, als er auch hier gegen eine unsichtbare Wand aus Glas krachte. Es war, als wäre Kim in einem riesigen Aquarium eingeschlossen, völlig allein mit einem tollwütigen Roboter, der wild entschlossen schien, die Nacht mit einer Grillparty zu beenden. Als Kim diesmal auf die Füße kam, hatte der Roboter den Treppenabsatz fast erreicht und hob gerade seinen kolossalen Eisenfuß, um ihn auf den Flur zu setzen. Gleichzeitig zielte er erneut mit seiner Lichtwaffe auf Kim - und er war jetzt so nahe, daß er schon blind und blöd zugleich sein mußte, um danebenzuschießen. Und Kim ahnte, daß dieses Wesen keines von beiden war.
Die Angst brachte Kim auf eine verzweifelte Idee. Als die Waffe in der Hand des Roboters herumschwenkte, sprang er mit einem Satz über den Flur, riß den großen Wandspiegel herunter, der neben der Badezimmertür hing, und hielt ihn sich vor Brust und Gesicht.
Die Laserwaffe des Roboters stieß einen weiteren, grellweißen Lichtblitz aus, der den Spiegel direkt vor Kims Herz traf.
In diesem Moment wartete Kim darauf, einfach tot umzufallen. Aber der Laserstrahl durchschlug den Spiegel nicht, sondern prallte davon ab und fuhr im gleichen Winkel zurück, in dem er zuvor eingeschlagen war. Vor den Füßen des Roboters verwandelte sich das Holz der Treppenstufe in rauchende Rotglut und verschwand.
Eine halbe Sekunde später verschwand auch der Roboter, denn die Treppe, ihres Haltes beraubt, brach unter ihm zusammen, und er stürzte polternd in die Tiefe. Der Knall, mit dem er unten aufschlug, schien das ganze Haus zum Wanken zu bringen.
Kim stand einfach keuchend da, erleichtert, noch am Leben zu sein, dann ließ er sich vorsichtig auf Hände und Knie herabsinken und kroch auf die zusammengebrochene Treppe zu. Der Roboter war in einem Wust aus zertrümmertem und zum Teil brennendem Holz zu Boden gestürzt - aber er schien keineswegs außer Gefecht gesetzt. Ganz im Gegenteil - als Kim vorsichtig den Kopf über die Kante streckte und zu ihm herabsah, begann er sich wieder zu bewegen. Sein rechter Arm pendelte wild und ziellos hin und her, und aus seinem Inneren drang ein schrilles, unangenehmes Heulen und Jaulen. Langsam hob er den Kopf und blickte aus seinem unheimlichen, grünleuchtenden Auge zu Kim empor.
Der Junge kroch hastig ein Stück zurück, richtete sich auf und sah sich wild um. Sein Triumph war nur von kurzer Dauer gewesen. Er war gefangen. Der Korridor brannte lichterloh, und die Flammen griffen immer schneller um sich. Ins Schlafzimmer oder in das Zimmer Rebekkas konnte er nicht, wie die beiden Beulen an seiner Stirn nachhaltig bewiesen, und das Bad hatte kein Fenster. So blieb nur sein eigenes Zimmer. Mit ein bißchen Glück konnte er aus dem Fenster steigen und über das Garagendach entkommen, ehe das ganze Haus in Schutt und Asche fiel.
Hastig riß Kim die Tür auf und zog erschrocken den Kopf zwischen die Schultern, als ihm auch hier lodernde Flammen entgegenschlugen. Der Laserstrahl, der die Tür durchschlagen hatte, war an seinem Schreibtisch explodiert und hatte ihn mitsamt dem Computer und dem Viper-Wrack in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt. Und auch hier hatten die Flammen bereits auf die Wände und den Teppich übergegriffen.
Kim hustete, hob schützend die Hände vor das Gesicht und tastete sich halb blind zum Fenster. Mit tränenden Augen riß er die Gardinen beiseite, öffnete es - und stöhnte vor Enttäuschung, als seine Finger wieder gegen einen massiven unsichtbaren Widerstand stießen. Dicht hinter dem Fenster erhob sich auch hier eine Wand aus stahlhartem Glas!
Kim drehte sich keuchend herum und sah sich im Zimmer um. Hitze und Helligkeit trieben ihm die Tränen in die Augen, und er bekam kaum noch Luft. Zu allem Überfluß hörte er durch das Prasseln der Flammen eben ein gewaltiges Poltern und Krachen aus dem Erdgeschoß heraufdringen, das ihm klarmachte, daß sein grünäugiger Verfolger keineswegs aufgegeben hatte. Es war nicht zu erkennen, was der Roboter tat - aber Kim war sicher, daß er in wenigen Augenblicken wieder auftauchen würde, um ihm endgültig den Garaus zu machen!
Taumelnd verließ Kim wieder das Zimmer, drehte sich hilflos im Kreis und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Der größte Teil des Korridors stand bereits in Flammen, und der Rauch war so dicht, daß Kim das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Jeder Atemzug war eine Qual. Selbst wenn ihn der Roboter nicht erreichte, würde er in wenigen Augenblicken ersticken und verbrennen.
Wieder drang dieses fürchterliche Krachen und Bersten aus dem Erdgeschoß herauf. Kim arbeitete sich hustend und mit tränenden Augen zur Treppe vor und beobachtete entsetzt, wie der Roboter da unten alle möglichen Möbelstücke zusammentrug und am Fuße der zusammengebrochenen Treppe zu einem Haufen auftürmte. Noch ein paar Minuten, und er würde sich auf diese Weise eine Treppe gebaut haben, über die er bequem heraufkriechen und nachsehen konnte, ob sein Opfer noch lebte. Und gegebenenfalls etwas dagegen unternehmen.
Kim taumelte verzweifelt in sein Zimmer zurück, riß einen Stuhl hoch und schmetterte ihn mit aller Kraft gegen die Glaswand vor dem Fenster.
Der Stuhl zerbrach. Die Glaswand nicht.
Er brauchte etwas Stärkeres, um sie zu zertrümmern - aber was? Es gab in seinem Zimmer alles mögliche - aber nichts, was geeignet schien, eine Scheibe aus Panzerglas zu zerstören. Trotzdem riß er ein Stück des zerbrochenen Stuhls in die Höhe und schlug damit mehrmals und mit aller Gewalt zu. Mit dem einzigen Ergebnis, daß Kims Arme nach ein paar Hieben zu schmerzen begannen und er nun wirklich keine Luft mehr bekam; das Zimmer war derart von heißem Rauch erfüllt, daß Kim das Gefühl hatte, Feuer zu atmen. Er taumelte wieder auf den Gang hinaus - und blickte direkt in das grünleuchtende Schlitzauge des Roboters, das sich in diesem Moment über den Treppenabsatz schob. Die winzigen Leuchtbuchstaben dahinter schienen triumphierend aufzuflammen. Eine gewaltige Eisenklaue griff nach oben und grub sich knirschend in die Dielen, während der schwere Riese begann, seinen Körper in die Höhe zu ziehen.
Die schiere Todesangst erfüllte Kim mit dem Mut der Verzweiflung. Mit einem Satz sprang er auf den Roboter zu, holte aus und versetzte ihm einen Tritt, daß sein Metallschädel wie eine Glocke dröhnte. Der Roboter wankte, aber er kippte nicht, wie Kim gehofft hatte, rücklings nach unten und zerbrach vollends, sondern schlug im Gegenteil wieder mit der Klaue aus, so daß sich Kim mit einem hastigen Hüpfer in Sicherheit bringen mußte.
Er war verloren! Das Haus brannte jetzt wie ein Scheiterhaufen, und der Koloß würde in wenigen Augenblicken hier sein und Kim zweifellos umbringen, wenn es ihm nicht gelang, die Glaswand zu zerbrechen!
Und dann fiel ihm etwas ein. Es gab noch eine Möglichkeit, das Glas zum Zerspringen zu bringen ...
Kim versetzte dem Roboter einen weiteren Tritt, sprang mit einem Satz in sein Zimmer zurück und riß die winzige Flöte aus der Tasche. Vor lauter Aufregung ließ er sie fallen und tastete einen Moment lang blind über den Teppich, der mit Asche und qualmendem Holz übersät war. Dann hob er sie an die Lippen und blies mit aller Macht hinein.
Ein schriller, quäkender Quietschton erklang, der so intensiv war, daß Kim vor Schmerz die Augen schloß. Sein Schädel schien zerspringen zu wollen, und seine Zähne fühlten sich an, als versuche jemand, sie einzeln auszureißen.
Aber als Kim den Blick hob und wieder zum Fenster sah, waren sämtliche Scheiben zerborsten, und das Glas davor war nicht länger unsichtbar, sondern hatte sich in ein Spinnennetz aus Sprüngen und Rissen verwandelt.
Kim atmete tief ein, wappnete sich gegen den neuerlichen Schmerz und setzte das Musikinstrument erneut an die Lippen, als eine stählerne Hand seine Schultern packte und ihn mit unvorstellbarer Kraft herumriß.
Kim schrie auf, prallte gegen die Wand und taumelte hilflos auf den Flur hinaus, als ihm der Koloß einen Stoß versetzte. Die stählerne Klaue schlug nach Kims Gesicht und verfehlte es nur knapp, weil Kim in diesem Moment abermals das Gleichgewicht verlor und rücklings auf den Korridor hinausfiel.
Sofort wollte er sich herumwerfen, aber er konnte die Bewegung nicht einmal halb zu Ende führen. Der Roboter machte einen einzigen, stampfenden Schritt und sein riesiger Eisenfuß erwischte Kims Hosenbein und nagelte es regelrecht an den Boden. Kim schrie auf und versuchte sich loszureißen, aber der Stoff seiner Jeans hielt seinen Kräften stand.
Fast gemächlich drehte sich die fürchterliche Gestalt vollends herum, starrte auf Kim herab - und hob den zweiten Fuß, um ihn damit zu zerstampfen.
In diesem Moment dachte Kim nicht mehr nach - setzte seine Flöte an die Lippen und blies mit aller Kraft hinein. Der Ton schien seinen Schädel sprengen zu wollen. Er schrie vor Schmerz auf, warf gequält den Kopf zurück und blies noch einmal in das winzige Mundstück. Vor dem Fenster seines Zimmers zerbarst klirrend die Scheibe, und gleich darauf sank auch die unsichtbare Wand vor der Schlafzimmertür in einem Scherbenregen in sich zusammen.
Etwas traf mit ungeheurer Wucht auf das Glas hinter Rebekkas Tür und ließ es regelrecht explodieren. Ein langgestreckter, rotbrauner Schatten flog wie ein Blitz durch die Luft, prallte gegen den Roboter und schleuderte ihn meterweit davon. Mit einem schrillen, metallischen Kreischen krachte die riesige Mordmaschine gegen die Wand.
Kims Augen weiteten sich ungläubig, als er sah, was den Roboter angegriffen hatte: Es war ein geschupptes, grünrotes Etwas mit fürchterlichen Krallen und Zähnen, Augen wie geschliffene Rubine und einem wild peitschenden, muskulösen Schweif, das jetzt dicht vor dem Roboter hockte und ihn mißtrauisch beäugte. Das Geschöpf ähnelte einem Salamander - oder hätte ihm jedenfalls geähnelt, wäre es nicht von der Schwanzspitze bis zum Maul gute drei Meter lang gewesen und in den Schultern so hoch wie ein Schäferhund. Wie ein sehr großer Schäferhund.
Der Roboter drehte sich blitzschnell herum und musterte seinen neu aufgetauchten Gegner aus seinem grünen Auge. Kim sah, wie er ein paarmal versuchte, die Hand zu heben, die noch immer den Laserstrahler trug; doch der Arm verweigerte ihm den Dienst. Aber der andere funktionierte noch und der endete in der schrecklichen Stahlklaue. »Paß auf!« schrie Kim automatisch, als er sah, wie der Maschinenmann eine Bewegung nach links vortäuschte und dann blitzartig aus der anderen Richtung heraus zuschlug. Kim hatte keine Ahnung, ob der Riesensalamander seine Warnung hörte oder verstand. In jedem Fall schien sie überflüssig zu sein. Mit einer Schnelligkeit, die bei einem Wesen seiner Größe einfach unvorstellbar war, wich das Tier dem Hieb aus, sprang gleichzeitig auf den Roboter zu und ließ eine lange, geschmeidige Zunge aus dem Maul herausschnellen. Ehe der Roboter auch nur begriff, was geschah, hatte sich die Zunge um seinen Arm gewickelt. Fast gleichzeitig machte die Echse eine Bewegung zur Seite und schlug mit dem Schwanz zu.
Ein Geräusch erklang, als schlüge ein Hammer von der Größe der Freiheitsstatue auf einen entsprechenden Amboß. Mit einem trockenen Knirschen brach der Arm des Roboters dicht unter dem Schultergelenk ab, und mit einem Male sprühte die ganze riesenhafte Gestalt blaue und oran-gerote Funken. Statt grünem Licht erfüllten plötzlich rote Flammen den schmalen Sehschlitz in seinem Eisengesicht. Die ganze, riesige Gestalt wankte, schien sich für einen winzigen Moment noch einmal zu fangen - und stürzte dann stocksteif und rücklings zum zweitenmal ins Erdgeschoß herab. Diesmal hörte Kim deutlich das Geräusch von zerberstendem Metall.
Völlig fassungslos starrte Kim die große rotgrüne Echse an. Sie ... kam ihm bekannt vor, so verrückt ihm selbst der Gedanke erschien. Sie war ... war ...
Ihm blieb keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu verfolgen, denn Kim war keineswegs außer Gefahr. Der Roboter mochte besiegt sein, aber das Haus brannte noch immer, und die Flammen hatten mittlerweile fast von dem gesamten Korridor Besitz ergriffen. Selbst unter dem Körper der Echse züngelten gelbe und rote Flammenzungen hervor, ohne daß sie es jedoch zur Kenntnis zu nehmen schien. Wahrscheinlich schützte sie ihr dicker Schuppenpanzer vor der Hitze.
Aber Kim besaß keinen solchen Schutz. Er begann die Hitze immer stärker und stärker zu fühlen, und jeder Atemzug wurde zur Pein. Hustend stemmte er sich in die Höhe, sah sich um und bemerkte entsetzt, daß die Flammen jetzt auch die Tür zu seinem Zimmer völlig ausfüllten. Der Raum war ein loderndes Inferno, das eher an das Innere eines Hochofens erinnerte denn an das Zimmer, das er seit vierzehn Jahren bewohnte. Auch das Schlafzimmer seiner Eltern brannte. Es blieb nur noch der Weg in Rebekkas Zimmer. Kim hustete, machte einen großen Schritt, um nicht über den Schwanz der Echse zu stolpern, taumelte durch die Tür - und prallte mit einem überraschten Laut zurück. Rebekkas Zimmer brannte nicht.
Es war auch nicht mehr Rebekkas Zimmer. Es war überhaupt kein Zimmer mehr.
Vor Kim erstreckte sich eine scheinbar unendliche, in düsteren Braun- und Schwarztönen gehaltene Landschaft, in der nur wenige, verkrüppelt wirkende Bäume und bizarres Buschwerk wuchsen, die an Gebilde aus geflochtenem Stacheldraht erinnerten. Die Tür, durch die er getreten war, war auch keine Tür, sondern ein gezacktes Loch in einer gewaltigen Wand aus schimmerndem Glas, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte.
Etwas berührte ihn an der Hüfte. Kim drehte sich herum und machte einen erschrockenen Schritt zur Seite, als er sah, daß es der Riesensalamander war. Er war ihm gefolgt und hatte neben Kim haltgemacht. Der Blick seiner faustgroßen kalt schimmernden Reptilienaugen bohrte sich in den des Jungen. »Wasssss issssst?« zischelte die Echse. »Worauf wartessssst du? Dasssss sssssie zurückkommen?« Sie bewegte unruhig den gewaltigen, dreieckigen Schädel und kroch einen Schritt auf Kim zu. Ihr Schwanz peitschte unruhig. »Steig auf«, zischelte sie. »Wir müsssssen machen, dasssss wir wegkommen. Diesssser eine war nicht allein.« Kim machte keine Anstalten, auf den Rücken der Echse zu steigen.
Er tat überhaupt nichts. Wenigstens nicht gleich.
Er stand einfach da und starrte abwechselnd den sprechenden Riesensalamander und die unwirkliche Landschaft vor sich an, und ganz, ganz langsam begriff er, wieso ihm dieses Wesen so bekannt vorgekommen war. Was vor ihm stand, das war nichts anderes als einer der beiden Leguane aus dem Terrarium seiner Schwester. Nur war es kein Zwerg mehr, sowenig, wie die unheimliche Sumpflandschaft vor Kim länger das Innere des Terrariums war. Zugleich fiel ihm schlagartig ein, wo er sich befand. Das war nicht mehr das Haus seiner Eltern. Nicht einmal dieselbe Stadt, ja, nicht einmal mehr dieselbe Welt. Kim hatte den Weg gefunden, nach dem er so verzweifelt gesucht hatte. Er war im Lande Märchenmond.
Stunden später war Kim nicht mehr so sehr überzeugt davon, daß die öde, monotone Welt, durch die ihn die Echse trug, wirklich das Land war, für das er es hielt. Und in Wahrheit hatte er auch keinen Zeitbegriff mehr; er wußte nicht, ob er seit zwölf oder erst zwei oder gar schon zweihundert Stunden auf dem geschuppten Rücken des Riesensalamanders hockte; jedenfalls fühlte er sich, als wären es viele Stunden gewesen.
Das gewaltige Tier trottete recht gemächlich über den sumpfigen Boden, wobei es ziemlich rücksichtslos in Wasserlöcher platschte, durch dorniges Unterholz brach oder sich unter tiefhängenden Zweigen der wenigen Bäume hindurchschlängelte, die seinen flachen Körper zwar nicht berührten, dafür aber den seines Reiters. Kims Gesicht war bald zerschrammt und voller blutiger Kratzer, sein Pullover hing in Fetzen - die Haut darunter zu einem guten Teil auch - und sein Rücken wie auch ein gewisser Körperteil etwas tiefer darunter schmerzten unerträglich. Kim hatte die Echse ein paarmal gebeten, anzuhalten oder wenigstens etwas genauer darauf zu achten, wo sie lief, aber diese schien der menschlichen Sprache plötzlich nicht mehr mächtig zu sein.
Stunde um Stunde war sie dahingetrottet, hatte Bäche durchwatet und kleine Waldstücke durchquert. Sie war durch Sümpfe und gewaltige Schlammlöcher gekrochen, aus denen stiegen Blasen auf, die ein übelriechendes Gas entließen, sobald sie an der Oberfläche platzten. Es war dunkel geworden, aber nicht ganz. Ein unheimlicher, grauer Schimmer am Himmel war geblieben, obwohl Kim weder Mond noch Sterne entdecken konnte. Und irgendwann später hellte es auf, aber wie die sonderbar halbdunkle Nacht auch nicht ganz - der Tag blieb verhangen wie ein regnerischer früher Novemberabend, obwohl die Sonne vom Himmel schien.
Kim mußte trotz seiner unbequemen Lage und trotz des Tohuwabohus, das in seinen Gedanken herrschte, irgendwann auf dem Rücken seines absonderlichen Schuppentaxis eingeschlafen sein, denn als er die Augen wieder aufschlug, hatte sich seine Umgebung verändert: Vor ihm erstreckte sich noch immer sumpfiges Ödland, in dem Bäume und Büsche wie aus hartem schwarzen Draht wuchsen, aber der Himmel war lichter geworden, und hier und da entdeckte Kim einen Tupfen von Grün und Rot zwischen den tristen Farbtönen des Sumpfes.
Es fiel auf, daß das schweigsame Reittier langsamer geworden war, und kaum hatte Kim dies bemerkt, da blieb es wie auf ein Stichwort hin völlig stehen und wackelte mit dem Kopf. Kim verstand und kletterte steifbeinig von seinem Rücken.
Jeder einzelne Knochen in seinem Leib tat ihm weh. Stöhnend reckte er sich, machte einen vorsichtigen Schritt und biß die Zähne zusammen, als sein Rücken und sein wundgesessenes Hinterteil mit heftigen Schmerzen auf die Bewegung reagierten. Die Echse stand ein Stück abseits und blickte ihn schweigend, aber sehr aufmerksam aus ihren großen, glitzernden Augen an. Kim erwiderte ihren Blick, aber nicht sehr lange. Obwohl ihm dieses Wesen zweifellos das Leben gerettet hatte, fühlte er sich in seiner Nähe nicht besonders wohl. Das Reptil strahlte eine Fremdartigkeit aus, die ihn schaudern ließ.
Trotzdem zwang sich Kim zu einem Lächeln, als er sich vollends zur Echse umwandte. »Ich dachte schon, du wirst überhaupt nicht mehr müde«, sagte er. »Wie weit sind wir gelaufen?«
»Keine Pause«, antwortete die Echse. »Weiter gehe ich nicht. Du bisssst jetzt in Sssssicherheit.«
Kim warf einen raschen Blick in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Du meinst, sie kommen nicht hierher?« fragte er.
»Dasssss wagen sssssie nicht«, versicherte ihm die Echse. Dann gab sie einen Laut von sich, der sich anhörte, als wollte ein Krokodil plötzlich lachen. »Und wenn doch, dann werden sssssie sssssich wundern. Sssssollen sssssie nur kommen. Ich zerreissssse sie.«
Kim dachte daran, wie die Echse den Roboter erledigt hatte, und glaubte ihr auf Anhieb.
»Ich ... danke dir jedenfalls«, sagte er. »Für alles, was du getan hast. Ohne dich wäre ich jetzt tot.«
»Ssssstimmt«, zischte das Schuppenwesen, kniff ein Auge zu und musterte ihn kalt aus dem anderen. »Und?«
»Oh ... nichts ...«, murmelte Kim, »es hätte mir nicht gefallen, das ist alles.«
Die Echse würdigte ihn nicht einmal einer Antwort, sondern drehte sich auf der Stelle herum und begann in die Richtung zurückzukriechen, aus der sie gekommen waren. Kim konnte nicht sagen, warum, aber er hatte das sichere Gefühl, daß sie sich in seiner Nähe so wenig wohl fühlte wie er umgekehrt in der ihren. Und obwohl es ihm ein bißchen ungerecht vorkam, war er erleichtert, daß sie ging.
Trotzdem rief er das Tier noch einmal zurück. »Rosi?« Er hatte keine Ahnung, welcher der beiden Leguane es war, aber das Wesen blieb tatsächlich stehen und wandte ihm den mächtigen Schädel zu. »Warum nennssssst du mich ssssso?« zischelte es in leicht verärgertem Ton. »Entschuldige«, sagte Kim hastig. »Ich meine, versteh das nicht falsch, aber für mich seht ihr beide gleich aus. Wenn du nicht Rosi bist, mußt du Rosa sein.«
»Mein Name ist Lizard«, fauchte die Echse. »Deine Schwester nennt mich Rosi. Ein dämlicher Name.«
»Lizard, entschuldige«, stammelte Kim hastig. »Das konnte ich ja nicht wissen.«
»Jetzt weissssst du esssss«, zischelte die Echse übellaunig und fuhr sich mit der langen, geschmeidigen Zunge über die Lippen. Kim überlegte dabei, ob sie vielleicht hungrig war, beschloß aber, daß er die Antwort lieber nicht wissen wollte. »Wohin gehst du?« fragte er.
»Fort«, antwortete Lizard. »Mein Reich endet hier. Du mussssst schon allein weitergehen.«
»Allein?« murmelte Kim. Unbehaglich sah er sich um. Die Landschaft war nicht mehr ganz so öde wie bisher, aber auch alles andere als einladend. »Aber wohin soll ich denn gehen?«
»Du wirssssst schon den Weg finden«, erwiderte Lizard. »Du wolltessssst ins Land der Träume, nicht? Du bissssst da.«
»Da?« wiederholte Kim verständnislos. »Du mußt dich irren. Das hier ist ...«Er brach verwirrt ab. Die Landschaft, in der sie sich befanden, war alles andere als ein Traumland. Eher schon ein Alptraumland.
»Das hier ist nicht das Land der Träume«, sagte er schließlich.
»Issssst es doch«, antwortete Lizard. »Nur nicht deiner Träume. Hast du gedacht, allesssss richtet sich nach dir, Warmblüter?«
Kim blickte die Echse verdattert an. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was er gerade gehört hatte. Und vor allem, was es bedeutete.
»Moment mal!« sagte er. »Du willst damit sagen, daß ... daß das hier ... daß das hier dein Märchenmond ist? Dein Traumland?«
»Hassssst du wasssss dagegen?« erkundigte sich Lizard lauernd.
»Keineswegs«, versicherte Kim eilig. »Ich ... ich war nur überrascht, das ist alles. Ich habe gedacht, daß ...«
»Ja?« fragte Lizard, als Kim mitten im Satz stockte. Kim sah das riesige Schuppenwesen verstört an. Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. Wie oft hatte er die beiden Leguane beobachtet, wie sie hinter der Scheibe ihres gläsernen Gefängnisses saßen, scheinbar zur Reglosigkeit erstarrt, nichts als kleine, geistlose Tiere, die er nicht einmal hübsch fand. Kim schauderte abermals.
»Ich habe nicht gewußt, daß ihr auch träumt«, meinte er schließlich.
»Tun wir aber«, gab Lizard unfreundlich zurück. »Und jetzt gehe ich. Lauf einfach geradeaus, dann kommssssst du schon, wohin du willssssst.«
»Warte noch«, sagte Kim hastig.
Lizard blieb noch einmal stehen und starrte ihn mißmutig aus einem Auge an. Das andere bewegte sich unabhängig davon in einer anderen Richtung und suchte den Sumpf ab. »Wasssss issssst denn noch?«
»Nur noch eine Frage«, sagte Kim. »Wovon träumt ihr?« Unverhohlen starrte ihn die Echse weiter an, bis Kim sich immer unbehaglicher unter ihrem Blick zu fühlen begann. Dann gab Lizard einen Laut von sich, der wieder wie ein Lachen klang; vielleicht war es aber auch das genaue Gegenteil.
»Von der Freiheit«, sagte Lizard.
Kim antwortete nicht. Schweigend und sehr, sehr betroffen blieb er stehen, bis sein geschuppter Retter zwischen den Büschen verschwunden war.