XV

Je weiter sie nach Norden kamen, desto wärmer wurde es. Die Luft war jetzt nicht mehr so kalt, daß das Atemholen weh tat, und sie stießen immer öfter auf trockene Inseln inmitten der morastigen Einöde, in die sich die Welt der Eisriesen verwandelt hatte. Die Maschinen der Zwerge und das, was die Flußleute damit getan hatten, schienen diesen Landstrich nicht nur in Unordnung gebracht, sondern seine Naturgesetze regelrecht auf den Kopf gestellt zu haben.

Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, da schritten sie bereits über trockenen Boden, in dem sich nur hier und da noch eine Pfütze oder ein kleines Schlammloch befanden. Und als sich auch dieser zweite Tag ihrer Wanderung dem Ende zuneigte, da rückte ihr Ziel in greifbare Nähe: Weltende, die Burg am Rande der Zeit, Sitz der mächtigen Weltenwächter.

Schon am frühen Nachmittag erspähten Sheeras scharfe Kateraugen die eisigen Türme, und wenig später gewahrte auch Kim ein weißes Blitzen und Schimmern am Horizont. Dieser Anblick - und die große Erleichterung darüber, daß Burg Weltende die Zerstörung der Eisigen Einöde überstanden hatte - gab ihnen noch einmal neue Kraft. Obwohl sie ihre letzten Vorräte schon am vergangenen Abend aufgezehrt hatten und alle erschöpft und müde von dem zweitägigen Gewaltmarsch waren, schritten sie noch einmal schneller aus. Trotzdem vergingen Stunden, ehe sie sich der Burg aus Schnee und Eis auch nur sichtbar näherten. Aber je weiter sie schließlich doch an das gewaltige Bauwerk aus schimmernden Eistürmen herankamen, desto unbehaglicher begann sich Kim zu fühlen.

Er war nicht der einzige, dem es so erging. Auch auf Gorgs Gesicht wich die Hoffnung allmählich einem Ausdruck von Beunruhigung, ja Sorge. Selbst Priwinn wurde immer schweigsamer und sprach schließlich während des letzten Stück Weges kein Wort mehr.

Es war nicht nur der Umstand, daß ihnen niemand entgegenkam, um sie zu begrüßen. Die Eisriesen lebten zurückgezogen in ihrer Festung am Rande der Unendlichkeit und kümmerten sich nicht um den Rest der Welt. Aber mit jedem Schritt, der sie dem Eispalast der Weltenwächter näher brachte, spürten sie deutlicher, daß irgend etwas nicht stimmte. Bis sie schmerzlich erkennen mußten, was es war. Das gewaltige Eistor mit der eingravierten, liegenden Acht - dem Symbol der Unendlichkeit - war unverändert. Die spiegelnde Fläche aus glasglattem, milchigem Eis war schon für sich allein größer als so manche Burg, die Kim in Märchenmond zu Gesicht bekommen hatte. Aber die Silhouetten der Eiszinnen darüber waren zu klein und zu rund; die Türme der Festung sahen aus wie riesige Kerzen, die in der Wärme der Sonne in sich zusammengesunken waren; die Eismauern standen schräg und gegeneinander geneigt, als begännen sie, unter ihrem eigenen Gewicht zusammenzubrechen.

Burg Weltende begann zu schmelzen!

Ein Dutzend Schritte vor dem Tor blieb Kim stehen und starrte das mächtige Gebilde aus Eis und gläserner Kälte an, und er weigerte sich einfach, anzuerkennen, was seine Augen ihm zeigten. Er spürte den frostigen Hauch, den die gewaltigen Eisflanken ausstrahlten, und sie alle zitterten jetzt wieder vor Kälte.

Und doch hatte das Unheil, das diese Weltengegend befallen hatte, seine Hand auch schon nach dieser Burg ausgestreckt. Die ungeheure Masse von Eis schmolz zwar nicht so rasch wie die Schollen, die das Land und die Flüsse bedeckt hatten, und vielleicht würde Burg Weltende noch ein paar Jahre überstehen - als letzte Erinnerung an das, was dieser Teil Märchenmonds einmal gewesen war. Aber am Ende würde auch sie einfach fort sein. Kim fühlte eine Trauer, die so tief war, daß sie körperlich schmerzte. Sie hatten alles riskiert, um hierher zu kommen. Einer ihrer Freunde hatte sein Leben geopfert, um dieses Ziel zu erreichen, und vielleicht würden auch sie sterben, ehe sie den Regenbogenkönig fanden. Und das alles nur um dieser letzten, verzweifelten Hoffnung willen, der winzigen Möglichkeit, daß die Hüter der Unendlichkeit noch einmal in das Schicksal Märchenmonds eingreifen und alles zum Guten wenden würden.

Und nun war alles vergeblich gewesen.

»Wo ... sind die Eisriesen?« flüsterte Priwinn.

»Fort«, murmelte Gorg. Die Stimme des Riesen zitterte, und als Kim zu ihm aufschaute, da sah er ein so tiefes Entsetzen auf seinen Zügen, wie er es nie zuvor im Gesicht des Freundes erblickt hatte. »Sie sind ... alle fort. Sie können hier nicht mehr leben. Sie ... sie brauchen die Kälte und das Eis wie wir anderen die Wärme und die Sonne. Vielleicht... vielleicht sind sie tot.«

Und plötzlich fuhr er herum, packte den erstbesten Zwerg, dessen er habhaft werden konnte, und riß ihn in die Höhe. »Vielleicht sind sie tot!« schrie er noch einmal. »Ihr habt sie umgebracht mit euren verdammten Maschinen!« Der Zwerg stieß einen quietschenden Schrei aus, begann mit den Beinen zu strampeln und erstarrte, als Gorg eine Faust vor seinem Gesicht ballte, die größer als sein ganzer Kopf war.

»Ihr habt sie umgebracht!« brüllte Gorg, und seine Stimme zitterte heftig.

»Gorg!« Priwinns Ausruf klang energisch und doch gleichzeitig sanft und beruhigend. Mit einem raschen Schritt trat er auf den Riesen zu, hob die Arme und versuchte, dessen zur Faust geballte Rechte herunterzudrücken. Priwinns Kraft reichte dazu nicht aus, aber Gorg senkte von sich aus die Hand, und gleich darauf ließ er auch den Zwerg vorsichtig wieder zu Boden.

»Es ist nicht gesagt, daß sie tot sind«, beruhigte ihn Priwinn. »Vielleicht sind sie einfach nur fortgegangen. Du hast es selbst vorhin gesagt.« Er lächelte traurig und streckte die Hand aus, als wollte er den Riesen tröstend an der Wange berühren, aber er reichte nicht hin. Gorg starrte aus leeren, vor Schmerz verdunkelten Augen an ihm vorbei, dann wandte er sich mit einem Ruck ab und stampfte ein paar Meter davon. Kim wollte ihm nachgehen, aber der Prinz hielt ihn am Arm zurück und schüttelte wortlos den Kopf. Da verstand Kim, daß sein großer Freund in seinem Schmerz allein sein wollte.

Auch Kim kämpfte mit den Tränen. Es war einfach nicht gerecht, daß sie alle Gefahren und Anstrengungen überstanden hatten und daß sie trotz ihrer Verfolger und aller Hindernisse, die die Natur und ein feindliches Schicksal ihnen in den Weg gelegt hatten, so weit gekommen waren - nur um zu begreifen, daß alles vergeblich war. Da glaubte Kim plötzlich noch einmal Rangarigs Stimme zu hören, jene Worte, die er an ihrem letzten gemeinsamen Morgen gesprochen hatte: Wer hat jemals behauptet, daß das Leben fair ist?

»Kommt«, sagte Priwinn nach einer Weile. »Wir wollen uns ein bißchen umsehen. Vielleicht ist ja noch nicht alles verloren.«

Indes, seine Worte drückten nur aus, was er sich wünschte, nicht, was er dachte, das wußten Gorg und Kim so gut wie er. Aber trotzdem widersprachen seine Gefährten nicht, sondern lösten sich nach kurzem Zögern von ihren Plätzen und folgten dem Steppenprinz ins Innere der Eisfestung.

Der Weg durch den Wall aus strahlend weißer Kälte kam Kim wie ein Schritt in die Vergangenheit vor. Von außen betrachtet, mochte Burg Weltende eine sterbende Festung sein, aber innen schien sie völlig unversehrt. Eiseskälte schlug ihnen entgegen und ließ ihren Atem zu Dampf werden, als sie über den großen Innenhof schritten und sich dem Thronsaal näherten. Alles war unverändert. Hier drinnen schien selbst die Zeit gefroren zu sein, und für einen Moment kam es Kim völlig absurd vor, daß jemand diesem Bollwerk aus klirrend erstarrter Ewigkeit etwas anhaben könnte. Jeden Moment rechnete er damit, daß sich eine Tür öffnete und einer der gewaltigen weißen Weltenwächter hervortrat, um sie zu fragen, was sie hier suchten.

Aber nichts dergleichen geschah. Die Eisfestung war vollkommen verlassen. Sie durchquerten Räume und Hallen und Gänge, gingen gewaltige Treppen aus schimmerndem Eis hinauf und liefen über Balustraden aus glitzerndem, weißem Schnee. Schließlich gelangten sie in den Thronsaal.

Auch er war verwaist. Die lange Tafel, an der die Eisriesen einst gesessen hatten, stand unversehrt da, und Kim erinnerte sich sogar genau des Platzes, an dem er damals gestanden hatte, direkt vor dem riesigen Thron und neben Baron Kart, dem Heerführer der schwarzen Ritter, der ihn bis hierher ans Ende der Welt verfolgt hatte.

Kims Blick fiel auf die schmale Tür hinter dem Thron, und sein Herz begann schneller zu klopfen, als er die lange Tafel aus blankem Eis umrundete und darauf zutrat. Wieder öffnete sie sich wie von Geisterhand bewegt, kurz bevor er sie erreichte. Aber als er dieses Mal hindurchtrat, da lag dahinter nicht die endlose eisglatte Ebene, auf der Kim und der schwarze Baron ihren letzten Kampf ausgetragen hatten. Hier war nichts als eine kleine, leere Kammer. Und obwohl Kim eigentlich hätte wissen müssen, was ihn erwarten würde, schloß er mit einem tiefen, unendlich enttäuschten Seufzer die Augen und ließ sich gegen die kalte Wand sinken.

Es hatte nicht mehr da sein können. Die Eisreisen waren die Wächter der Welten; sie allein entschieden, wer den Weg über das Nichts gehen durfte und wer nicht. Gab es sie nicht mehr, dann gab es auch den Weg in die Ewigkeit nicht mehr. Kim hatte das gewußt. Und doch - tief in seinem Herzen war noch ein winziger, gegen jede Vernunft gefeiter Hoffnungsschimmer gewesen. Als er jetzt erlosch, da hatte Kim das Gefühl, daß mit ihm auch ein Stück von ihm selbst starb. Er stand lange mit geschlossenen Augen so gegen die Wand gelehnt da, bis die eisige Kälte durch Kims Kleider kroch und sein Rücken zu schmerzen begann.

Als er die Augen öffnete, sah er sich Gorg gegenüber. Der Riese stand mit weit vorgebeugten Schultern da, denn der Raum war viel zu klein, als daß er sich hätte aufrichten können, und sein Atem zauberte einen Vorhang aus grauem Dampf vor sein breites Gesicht. Trotzdem konnte Kim die Spuren getrockneter Tränen auf Gorgs Wangen erkennen, und mit einem Male kam ihm sein eigener Schmerz klein und lächerlich vor, verglichen mit dem, was der Freund empfand.

»Du hast sie gekannt? Es ist sehr schwer für dich, nicht wahr?« fragte Kim.

Gorg nickte. Er weinte nicht mehr. Sein Gesicht war wie Stein, aber in seinen Augen war etwas Neues, etwas, das nicht mehr so gutmütig wie früher war, ein ganz kleines bißchen so wie in den Augen des Drachen, kurz bevor Rangarig zur Bestie geworden war. Und das machte ihm angst.

»Sie und ich gehörten ... zum selben Volk«, flüsterte Gorg stockend. Er lächelte schmerzlich. »Doch was wißt ihr schon davon.«

»Sie leben gewiß noch«, sagte Kim, wider besseres Wissen und nur, um überhaupt etwas zu sagen. »Sie sind wohl geflohen.«

Gorg schüttelte den mächtigen Kopf, aber die Bewegung war nur angedeutet, so daß Kim sie mehr ahnte als wirklich sah. »Sie sind tot«, sagte der Riese leise. »Ich spüre es.« Kim hätte gern noch versucht, Gorg Trost zuzusprechen, aber er fand keine Worte mehr. So ging er schweigend an ihm vorbei und trat wieder in den Thronsaal hinaus.

Dort stand der Steppenprinz mit steinernem Gesicht neben der Tür und starrte ins Leere, während sich die Zwerge, respektlos wie sie nun einmal waren, auf den kunstvoll geschnitzten Eisstühlen herumlümmelten und lautstark miteinander debattierten, in einer Sprache, die Kim nicht verstand. Bröckchen und Sheera hockten nebeneinander mitten auf dem Tisch und beäugten das lärmende Zwergenvolk mißtrauisch.

»Es tut mir leid«, flüsterte Kim.

»Was?« fragte Priwinn. Seine Stimme klang so flach und ausdruckslos, als rede er im Schlaf.

»Es war alles umsonst«, sagte Kim. »Themistokles hatte recht. Wir hätten niemals hierher kommen sollen.«

»Aber hier sind wir nun einmal«, antwortete Priwinn. »Und es war richtig. Wir mußten es wenigstens versuchen.« Er lächelte traurig. »Ich habe mein Volk schon einmal fast in den Untergang geführt, weil ich nicht auf dich gehört habe, Kim.«

»Aber dieses Mal«, sagte Kim bekümmert, »habe ich mich getäuscht.« Trotzdem - schon während er diese Worte sprach, spürte er, daß es nicht so war. Der Weg, den Priwinn und Gorg eingeschlagen hatten, war falsch. Sie hatten Märchenmond einmal gerettet, indem sie zum Schwert griffen und sich einem Feind stellten, der mit dem Schwert in der Hand gekommen war. Aber dieses Mal gab es keinen solchen Feind. Womöglich gab es überhaupt keinen Feind. Vielleicht war das, was sie aufzuhalten versuchten, nichts anderes als der Wechsel der Zeit. Wo stand geschrieben, daß die Zukunft denen, die in der Vergangenheit lebten, gefallen mußte? »Wenn ihr beiden damit fertig seid, euch gegenseitig leid zu tun«, rief Bröckchen vom Tisch aus, »dann wäre ich für eine Idee dankbar, wie es weitergeht. Es ist verdammt kalt hier.«

»Und die Gesellschaft gefällt mir nicht«, fügte Sheera mit einem schrägen Blick auf die Zwerge hinzu.

Kim mußte zugeben, daß die beiden recht hatten. Die Lage war - vorsichtig formuliert - alles andere als günstig. Sie hatten nichts mehr zu Essen, waren zu Tode erschöpft - und da gab es immer noch Rangarig, der vielleicht genau in diesem Moment draußen am Himmel kreiste und nach ihnen suchte. »Die beiden haben recht«, bestätigte Priwinn und rieb sich fröstelnd die Hände. »Wir können nicht hierbleiben. Es ist schrecklich kalt. Heute nacht würden wir erfrieren.«

»Noch einmal zurück?« fragte Kim. »Das schaffen wir nie!«

»Hast du eine bessere Idee?« entgegnete Priwinn achselzuckend.

Kim starrte ihn ratlos an. Keiner von ihnen hatte bisher auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie sie den Rückweg bewältigen wollten - und warum auch? Zum einen waren sie davon ausgegangen, die Strecke auf Rangarigs Rücken in kurzer Zeit zurücklegen zu können, und zum anderen hatten sie alle nicht weitergedacht als bis zu den Eisriesen, bis zum Regenbogenkönig, der ihnen helfen würde. Nun würden sie nie zu ihm gelangen.

»Ihr seid richtige Schlauköpfe, wie?« spottete Jarrn.

Kims Antwort bestand in einem warnenden Blick, und Sheera machte wie zufällig eine Bewegung, die seine messerscharfen Krallen nur knapp am Gesicht des Zwerges vorbei durch die Luft fahren ließ. Jarrn prallte einen Schritt zurück, fuhr aber in unverändertem, höhnischem Tonfall fort: »Ich wette, keiner von euch Meisterstrategen hat auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß ihr ja auch irgendwie zurückkommen müßt, wie?«

»Wir werden es schon schaffen«, antwortete Kim grob. Jarrn wackelte heftig mit dem Kopf. »Da bin ich sicher!« erwiderte er höhnisch. »Ihr werdet wohl irgendwo dort draußen im Matsch ersaufen oder vom Drachen getötet werden. Und wir mit euch. Selbst, wenn ihr es bis zum Fluß schaffen solltet - was ziemlich unwahrscheinlich ist -, schnappen euch die Flußleute.«

»Das werden wir sehen.«

Kim trat überrascht einen Schritt zur Seite, als der Riese geduckt durch die Tür trat und sich neben ihm zu seiner vollen Größe aufrichtete. Gorg hatte sich wieder völlig in der Gewalt. Seine Stimme klang dunkel und ruhig wie immer, und auf seinen Zügen lag sogar die Andeutung eines Lächelns. Zumindest äußerlich war er wieder der gutmütige, humorvolle Riese, als den jedermann ihn kannte. Nur, wenn man ganz genau hinsah, dann erblickte man in seinen Augen einen tiefen, unterdrückten Schmerz.

»Da habe ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden«, dröhnte er. »Ich fürchte mich bestimmt nicht vor ein paar dahergelaufenen Schurken.«

Jarrn musterte den Riesen mit einem verächtlichen Blick. »Jetzt überschätzt du dich«, sagte er. »Größe und Kraft allein sind nicht alles. Sie werden uns alle schnappen und in Ketten legen.«

Gorg zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Wenn es so kommen soll, dann kommt es so«, sagte er. »Es sei denn, du hättest einen anderen, besseren Rat, wie wir hier herauskommen, Zwerg.«

Jarrn zögerte einen ganz kleinen Moment. Dann sagte er: »Vielleicht habe ich den.«

Kim und der Steppenprinz tauschten einen überraschten Blick. »Was meinst du damit?« fragte Kim.

Jarrn trat einen weiteren Schritt zurück und deutete nacheinander auf seine fünf Begleiter. »Wir haben beraten«, sagte er. »Glaubt es oder nicht - auch wir waren erstaunt über das, was hier geschehen ist. Und so ganz nebenbei möchten wir genauso gern am Leben bleiben wie ihr.«

»Hör auf, Unsinn zu reden, und sag, was du sagen willst«, unterbrach ihn Priwinn grob.

Der Zwerg schenkte ihm einen giftigen Blick und nuschelte etwas vor sich hin, das sich in Kims Ohren wie ›blöder Grasfresser‹ anhörte. Laut aber sagte er: »Es gibt einen Weg hier heraus.«

»Wie?« riefen Kim und Priwinn wie aus einem Mund. Der Zwerg grinste gehässig und schüttelte ganz langsam den Kopf. »O nein«, sagte er. »So einfach ist das nicht, ihr Schlauköpfe. Erst will ich euer Wort, daß ihr uns freigebt.« Priwinn versuchte abfällig zu lachen, aber es gelang ihm nicht ganz.

»Es gibt einen Weg zurück«, wiederholte Jarrn, ohne darauf zu achten. »Wir kennen ihn. Aber wir brauchen euch dabei.«

»Was ist das für ein Weg?« Gorg betrachtete den Zwerg mißtrauisch.

Jarrn zögerte. Ganz offensichtlich scheute er davor zurück, zuviel zu verraten Aber er schien doch zu begreifen, daß sie nur gemeinsam eine Chance hatten, hier herauszukommen. »Ihr wißt, daß wir in Höhlen leben«, erklärte er schließlich. »Und wir kennen viele unterirdische Wege durch die Berge. Einer davon ist nicht sehr weit von hier. Ich kann euch zeigen, wo der Eingang ist. Und es gibt einen Tunnel, der geradewegs zum großen Baum führt.«

»Das sind fast zwei Wochen zu Fuß«, meinte Priwinn zweifelnd.

»Nicht durch eine Zwergenhöhle«, antwortete Jarrn, als wäre dies Erklärung genug. »Also - wie ist es? Gebt ihr uns frei?«

»Sobald wir den Baum erreicht haben«, sagte Priwinn, aber Jarrn schüttelte stur den Kopf.

»Nein«, beharrte er. »Jetzt. Auf der Stelle.«

»Damit wir euch zu dieser Höhle bringen und ihr uns in irgendeinem Labyrinth zurücklaßt, in dem wir uns verirren und vor Hunger oder Durst umkommen?« Priwinn schüttelte ebenso heftig den Kopf wie der Zwerg zuvor. »Für wie dumm hältst du mich, kleiner Mann?«

»Darauf willst du doch wohl keine Antwort, oder?« grinste Jarrn, wurde aber gleich wieder ernst, ehe Priwinn lospoltern konnte. »Ich sagte es bereits: Wir schaffen es nicht allein«, antwortete Jarrn verärgert. »Es ist gefährlich dort unten. Wir haben diese Tunnel gegraben, aber sie gehören nicht mehr länger uns. Die Flußleute herrschen jetzt dort. Gemeinsam können wir es vielleicht schaffen. Also?« Priwinn sah nicht sehr überzeugt aus, während Gorgs Gesicht überhaupt keinen Ausdruck erkennen ließ. Schließlich war es Kim, der nickte und sagte: »Also gut. Ihr seid frei - unter einer Bedingung.«

Jarrn legte den Kopf schräg und blinzelte mißtrauisch zu ihm empor.

»Was ist das Ehrenwort eines Zwerges wert?« fuhr Kim nach einer kurzen Pause fort.

Jarrn blies die Backen auf und machte ein unanständiges Geräusch. »Soviel oder sowenig wie deines, Junge.«

»Dann verlange ich dein Ehrenwort«, sagte Kim ernst, »daß ihr uns sicher bis zum Baum geleitet. Wir möchten nicht gerne den Weg für euch durch das Gebiet der Flußleute freikämpfen, damit ihr uns dann zum Dank dafür irgendwo auf halber Strecke vergeßt.«

Zu seiner Überraschung lächelte Jarrn plötzlich. »Du fängst an, mir zu gefallen, Bursche«, sagte er kichernd. »Also gut - du hast mein Wort. Wir schließen Frieden, bis wir den großen Baum erreichen. Dann geht jeder seiner Wege.«

Die Höhle, von der Jarrn gesprochen hatte, lag tatsächlich nicht sehr weit von Burg Weltende entfernt. Sie gingen zuerst den Weg zurück, den sie gekommen waren, dann bogen sie nach Westen ab und bewegten sich eine Weile auf einem scheinbar vollkommen willkürlichen Kurs hin und her. Kim begann bereits zu argwöhnen, daß sich die Zwerge einen grausamen Scherz mit ihnen erlaubten oder sie absichtlich in die Irre führten, um ihnen in einem günstigen Moment zu entwischen. Aber plötzlich blieb Jarrn stehen und deutete auf ein kreisrundes Loch im Boden.

Kim trat näher und sah den gut zwei Meter durchmessenden Schacht verblüfft an. Er hätte seine rechte Hand darauf verwettet, daß er vor einer halben Minute noch nicht dagewesen war. Schaudernd beugte er sich vor, soweit er es wagte, und blickte in die Tiefe. Da die Sonne bereits niedrig stand, reichte ihr Licht nur noch ein kleines Stück in den Schacht hinab; alles, was tiefer als drei oder vier Meter lag, war hinter einer schrägen Wand aus undurchdringlicher Schwärze verborgen. Aber man spürte, daß dieser Schacht sehr tief war.

Hastig richtete sich Kim wieder auf, trat einen Schritt von seinem Rand zurück und sah zuerst Priwinn und dann den Riesen zweifelnd an. Er war mit einemmal gar nicht mehr so sicher, ob sie gut daran getan hatten, den Vorschlag der Zwerge anzunehmen.

»Worauf wartet ihr?« fragte Jarrn ungeduldig. »Das erste Stück ist nicht gefährlich.«

Priwinn gab sich einen sichtlichen Ruck und wollte den Anfang machen, aber Gorg hielt ihn am Arm zurück. »Laßt mich vorausgehen«, sagte er. »Wer weiß, was uns dort unten erwartet. Außerdem - wenn einer von euch stürzt, kann ich ihn wohl auffangen. Umgekehrt würde ich euch mit in die Tiefe reißen.«

Niemand widersprach, und so ließ sich Gorg vorsichtig am Rande des schwarzen Schachtes nieder, streckte beide Anne weit aus und suchte sicheren Halt, ehe er langsam in die Tiefe stieg.

Kim sah ihm mit einem Gefühl wachsender Furcht dabei zu. Als der Riese den noch hellen Bereich hinter sich ließ, geschah etwas Unheimliches - Gorgs Beine und sein Körper verschwanden nicht langsam im Schatten, es sah vielmehr aus, als tauche er in die Oberfläche eines pechschwarzen, reglos daliegenden Sees hinab. Nach einigen Augenblicken waren nur noch Kopf und Schultern des Riesen zu sehen, dann nur noch eine Hand, und schließlich war er ganz verschwunden.

»Jetzt ich«, sagte Jarrn und drängelte sich vor, als Kim als zweiter in die Tiefe steigen wollte. »Dieser Dummkopf bringt es fertig und verläuft sich dort unten.«

Kim verbiß sich die wütende Antwort, die ihm auf der Zunge lag, und ein Blick auf Priwinn zeigte ihm, daß es dem Steppenprinzen ebenso erging. Sie hatten zwar einen Waffenstillstand mit den Zwergen geschlossen, aber das bedeutete nicht, daß sie sich alles erlauben durften. Ganz und gar nicht.

Nacheinander stiegen sie in die Tiefe, und was Kim vorhin beobachtet hatte, das erlebte er nun selbst: Als er langsam den Schacht hinabstieg und aus dem Sonnenlicht herauskam, da hatte er tatsächlich das Gefühl, in etwas Ungreifbares einzudringen; es war nicht nur so, daß hier unten einfach kein Licht war. An seiner Stelle schien es etwas anderes zu geben, etwas Unheimliches, Düsteres und Eisiges, das nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele erschauern ließ.

Der Abstieg dauerte sehr lange. Kim war ein guter Kletterer, aber er schätzte, daß mehr als eine Viertelstunde verging; bis er unter sich wieder die Stimmen der anderen hörte und schemenhafte Bewegungen wahrnahm. Und mehr als einmal drohten ihn die Kräfte zu verlassen. Als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, zitterten seine Hände und Knie so heftig, daß er sich für einen Moment an die Wand lehnen und ausruhen mußte.

Mit klopfendem Herzen sah er sich um. Der Kamin, durch den sie herabgestiegen waren, endete in einem runden, mannshohen Stollen, dessen Wände so spiegelglatt waren, als wären sie aus dem Fels herausgeschmolzen statt gemeißelt worden. Es war nicht so vollständig dunkel, wie es von oben ausgesehen hatte. Ein trüber, grauer Schimmer hing wie leuchtender Nebel in der Luft und ließ die Umrisse der anderen als gespenstische Schatten vor ihm erscheinen. Gorg hatte sich auf Hände und Knie heruntergelassen, da der Gang viel zu niedrig für ihn war, um auch nur gebückt stehen zu können. Priwinn stand neben ihm, während sich Jarrn und die anderen Zwerge auf der anderen Seite des Stollens zusammengedrängt hatten. In dem grauen Nebellicht hier unten wirkten sie noch unzugänglicher als sonst.

»Wohin jetzt?« fragte Kim, nachdem er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, und seine Stimme hallte mehrmals unheimlich und verzerrt von den spiegelglatten Wänden wider. Ein kleiner Schatten fuhr erschrocken zusammen und begann mit der Hand zu wedeln.

Es war Jarm. »Nicht so laut!« zischte er. »Willst du, daß sie uns hören?«

»Sagtest du nicht, dieser Teil des Ganges wäre sicher?« erkundigte sich Priwinn.

Jarrn machte eine Bewegung, die in der Dunkelheit nicht genau zu erkennen war. »Das ist er auch - üblicherweise«, flüsterte er hastig. »Aber man weiß ja nie, nicht wahr?« Er deutete mit der Hand hinter sich. »Wir müssen jedenfalls dort entlang. Besser, ich gehe vor.«

Niemand widersprach, und so übernahmen die Zwerge die Spitze ihrer kleinen Gruppe. Je weiter sie durch den unterirdischen Tunnel wanderten, desto mehr gewöhnten sich Kims Augen an das blasse Licht. Er konnte immer noch nicht weiter als fünf oder allerhöchstens sechs Schritte sehen, aber er erkannte jetzt wenigstens mehr von seiner unmittelbaren Umgebung. Der Stollen war nicht auf natürlichem Wege entstanden, das sah er jetzt deutlich. Sollten die Zwerge die Wahrheit gesagt haben, und dieser Gang führte tatsächlich bis zum großen Baum ...? Nein, Kims Phantasie reichte einfach nicht aus, sich vorzustellen, das jemand in der Lage war, ein solches Höhlensystem künstlich zu erschaffen. Und so war es auch nicht; wenigstens nicht ganz. Kims Zeitgefühl geriet völlig durcheinander, als sie den Zwergen durch die von unheimlichem Grau erfüllten unterirdischen Gänge folgten. Es mußten Stunden sein, während derer sie durch runde, wie in den Fels gebrannte Tunnel, durch gewaltige, natürlich entstandene Höhlen, über zyklopische Schutthalden und vorbei an jäh aufklaffenden, bodenlosen Abgründen gingen.

Manchmal mußten sie über Wände klettern, die selbst Kims Geschicklichkeit beinahe überforderten. Mehrmals hätten sie es ohne die Hilfe des Riesen gar nicht geschafft, der sich mit seinen gewaltigen Körperkräften an den manchmal lotrechten Wänden hinaufzog wie eine zu groß geratene Fliege und dabei immer zwei oder drei von ihnen auf den Schultern mitschleppte. Kim wurde schon bald klar, warum die Zwerge sich auf diesen Handel eingelassen hatten: Obwohl sie selbst einen großen Teil dieses tief in die Erde gegrabenen Labyrinths geschaffen hatten, war der Weg doch an vielen Stellen für sie unpassierbar. Hier und da klafften Löcher und Abgründe im Boden, die sie zu lebensgefährlichen Kletterpartien zwangen, und einmal überwanden sie eine dieser tückischen Schluchten nur, indem Gorg die Zwerge kurzerhand packte und in hohem Bogen auf die andere Seite warf.

Über ihnen mußte die Sonne längst untergegangen sein, aber sie wanderten immer noch dahin. Jeglichen Vorschlag, eine Rast einzulegen, lehnten die Zwerge ab und drängten nervös zum Weitergehen. Und alle anderen hatten das sichere Gefühl, daß es besser war, auf sie zu hören. Keiner hatte es ausgesprochen oder auch nur eine entsprechende Bemerkung gemacht, aber Kim ahnte, daß nicht Felsschluchten und labyrinthische Tunnel hier unten die eigentlichen Gefahren waren.

Und er sollte recht behalten.

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