2.


Von einer stürmischen Romanze konnte man wahrlich nicht sprechen. Beide hatten sich erst vor kurzem die Finger verbrannt, und so ließen Beth und Hunt es langsam angehen. Er wartete eine Woche, bis er sie überhaupt anrief; eine Woche später hatten sie ihr erstes »richtiges« Date: die traditionelle Kombination aus Abendessen und Kino. Hunt hatte schon befürchtet, es gebe vielleicht nichts mehr, worüber sie noch hätten reden können, und dass sie all ihre intelligenten Äußerungen und interessanten Themen schon beim Abendessen verbraucht hätten, sodass nun lange Pausen peinlicher Stille entstehen könnten, gelegentlich unterbrochen von mitleiderregenden Versuchen, so etwas wie eine Konversation einzuleiten. Doch wenn überhaupt, kamen die beiden noch besser miteinander aus als bei Joel, und sie unterhielten sich prächtig. Sie hatten viel gemeinsam. Nicht dass die Gefahr bestand, dass sie zu einem dieser Pärchen mutierten, die immer alles gemeinsam machten, doch es genügte, um ein Fundament zu haben, auf dem eine echte Beziehung würde wachsen können. Nach dem Film gingen sie einen Kaffee trinken und plauderten bis Mitternacht. Als Hunt sie dann bei ihr zu Hause absetzen wollte, fragte Beth ihn, ob er nicht mit reinkommen und die Nacht mit ihr verbringen wolle.

Danach verging kein Wochenende mehr, an dem sie nicht gemeinsam etwas unternahmen. Sie machten ganz alltägliche Dinge - gingen in Buchhandlungen und Einkaufszentren, gingen wandern, liehen sich Filme aus, verbrachten einen Samstag in Tombstone und einen anderen in den Old Tucson Studios. Edward und Jorge, Hunts Arbeitskollegen, machten sich über ihn lustig, weil er offensichtlich schon so unter dem Pantoffel stand, dass er einen ganzen Sonntagnachmittag damit zubrachte, in Beths Garten Unkraut zu jäten. »Ich arbeite die ganze Woche an Bäumen und Büschen«, sagte Jorge. »Das Letzte, womit ich mein Wochenende verbringen will, ist Gartenarbeit!« Zugleich aber verstanden sie ihn, und beide mochten Beth.

An einem kühlen Samstagnachmittag gingen sie alle miteinander aus: Beth und Hunt, Joel, Stacy und Lilly sowie Edward und Jorge mit ihren Frauen. Sie besuchten das Sonora Desert Museum und gingen anschließend zum Essen in ein italienisches Restaurant, wo Lilly auf dem Fußboden einschlief und die anderen sich unterhielten, bis der Laden schloss.

Beths Haus war neuer und größer als Hunts, aber es war keiner von diesen Möchtegern-Mediterran-Bauten, die mit erschreckender Geschwindigkeit anscheinend in jedem Teil der Stadt hochgezogen wurden. Es war ein langgestrecktes, niedriges Haus im Pseudo-Santa-Fe-Stil und lag auf einem Grundstück, das groß genug war, um neben dem Gebäude selbst noch Platz für einen Gemüsegarten zu haben, während hinter dem Haus einige Blumenbeete lagen. Beth wohnte nicht zur Miete, das Haus gehörte ihr, und Hunt verbrachte mehr und mehr Nächte dort. Schließlich kam der Punkt, an dem Beth ihn fragte, ob er nicht bei ihr einziehen wolle. Hunt könne ja die Hälfte der monatlichen Hypothek beitragen, fügte sie schnell hinzu, weil sie fürchtete, er könne sich beleidigt fühlen, wenn sie ihm anbot, mietfrei bei ihr zu wohnen.

Zwar wäre Hunt nur zu gern mit Beth zusammengezogen, doch er war noch nicht bereit, sich so schnell festzulegen, und so sagte er ihr in gespieltem Macho-Tonfall, er sei ein Mann, der seine Freiheit brauche. Sie lachte, doch sie verstand, was mit diesem Scherz gemeint war, und so drängte sie ihn zu nichts. Also gingen sie weiter miteinander aus, waren zusammen und hatten Spaß.

Hunts Exfrau Eileen war keine sonderliche Musikliebhaberin gewesen und nur aus Pflichtgefühl auf Konzerte mitgegangen - und auch nur dann, wenn Hunt nicht irgendwelche Kumpel hatte auftreiben können, die ihn begleiteten. Nach der Trauung hatten sie kein einziges Konzert mehr gemeinsam besucht. Im Laufe der Jahre war Hunt träge geworden und ging kaum noch aus; inzwischen zog er es vor, zu Hause zu bleiben und CDs zu hören.

Bei Beth war es genau andersherum. Sie liebte das Nachtleben, und über Internet, die Underground- und Alternativ-Presse hielt sie sich auf dem Laufenden, was die Veranstaltungskalender sowohl der kleineren Clubs als auch der größeren Konzertsäle der Stadt anging. In den ersten drei Monaten, die sie zusammen waren, hatte Hunt mehr Livekonzerte besucht als im ganzen Jahrzehnt zuvor.

An einem Samstagabend, als sie von einem Santana-Konzert kamen, sahen sie eine Bande Chicanos mit kahlrasierten Schädeln und blauen Tattoos, die vor der Halle einen schlaksigen Loser-Typen in leuchtend purpurner Kleidung brutal zwischen sich hin und her schubsten, begleitet von grölendem Gelächter. Hunt führte Beth in die entgegengesetzte Richtung, als auch schon mehrere Polizisten aus der Halle kamen, die Schlagstöcke erhoben.

Vier Tage später sahen sie den gleichen Loser-Typen wieder, dieses Mal vor einem Kino. Es war das Programmkino gleich neben der Universität; Beth und Hunt hatten sich eine französische Komödie angeschaut, angeblich einer der besten Filme des Jahres, doch er hatte sie zu Tode gelangweilt. Vor dem Gebäude galt Parkverbot, also hatten sie den Wagen dahinter abgestellt. Während der Rest des Publikums langsam zum Hauptausgang drängte, verließen sie den Saal durch einen Notausgang, um Zeit zu sparen. Hinter ihnen fiel die schwere Tür ins Schloss - und erst da bemerkten sie den Tumult, der über ihnen am Kopf der Treppe herrschte.

Der Mann trug die gleiche purpurne Kleidung, doch es war eine andere Bande, die ihm dieses Mal zusetzte - vier bärtige, übergewichtige Biker brüllten ihm eine Obszönität nach der anderen entgegen, während sie ihm ins Gesicht und in den Magen boxten und dann, nachdem er zu Boden gestürzt war, auf ihn eintraten. Wahrscheinlich ein Drogendealer, dachte Hunt. Aber Drogendealer oder nicht, Beth war wütend über das, was diese Gang da mit dem wehrlosen Mann anstellte. »Lasst ihn in Ruhe!«, rief sie und stürmte die Treppe hinauf. Innerlich völlig verkrampft, eilte Hunt ihr hinterher und rechnete schon damit, fürchterlich zusammengeschlagen zu werden, doch zu seiner Überraschung liefen die Biker tatsächlich davon. Offensichtlich hatten sie Angst, identifiziert werden zu können. Der Mann, auf den sie eingeschlagen hatten, lag zusammengekrümmt am Boden und presste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände auf den Leib. Vermutlich war eine Rippe gebrochen, wahrscheinlich sogar mehrere - doch das war es nicht, was Hunt wirklich verängstigte. Es war das Blut, das dem Mann aus den Ohren strömte, beängstigend viel Blut, das zum Teil im rissigen Beton versickerte; der Rest bildete eine Lache, die absurderweise fast so aussah wie eine auf dem Kopf stehende Karte beider Teile des amerikanischen Kontinents.

Hastig tastete Hunt nach seinem Handy. »Ich ruf die Polizei!«

»Nein!«, keuchte der Mann zwischen den Stöhnlauten, die er vor Schmerzen ausstieß. »Keine Bullen!«

»Gleich um die nächste Ecke ist ein Krankenhaus«, sagte Beth. »Am einfachsten wäre es, ihn dahin zu bringen.«

»Ich glaube nicht, dass wir ihn bewegen sollten.«

»Keinen Arzt!«, stieß der Mann hervor.

»Aus Ihrem Ohr läuft Blut, verdammt noch mal!«, sagte Hunt. »Vielleicht haben Sie eine schwere Kopfverletzung. Das könnte Sie umbringen!«

Das schien endlich zu dem Mann vorzudringen. Vor Schmerzen zusammengekrümmt, rollte er sich stöhnend auf die Seite; dann stemmte er sich auf die Knie, eine Hand auf das immer noch blutende Ohr gepresst. »Dann bringt mich hin ... aber keinen Krankenwagen ... keine Bullen.«

Natürlich würden die Ärzte fragen, was geschehen sei, und wahrscheinlich wären sie sogar verpflichtet, die Polizei zu informieren, das wusste Hunt - aber das sollte der Mann selbst herausfinden. Er gab Beth die Wagenschlüssel, und schon lief sie über den Parkplatz hinter dem Kino. Hunt half dem Mann auf die Beine und stützte ihn, als er ihn zum Seitenstreifen führte, wo Beth mit dem Wagen hielt. Sie hatte bereits ein paar Taschentücher aus dem Handschuhfach geholt und reichte sie Hunt, kaum dass sie die Tür hinter dem Fahrersitz geöffnet hatte. »Versuch damit die Blutung zu stillen«, sagte sie. Hunt gab dem Mann die Taschentücher, der sie sich sofort ans Ohr presste.

»Ganz fest drücken«, wies Beth ihn an. »Wir sind gleich da.«

Der Mann lehnte sich im Sitz zurück, rollte sich instinktiv auf die linke Seite und schluchzte leise vor sich hin. Hunt schlug die Tür zu, lief zur Beifahrerseite, sprang in den Sitz, und schon fuhren sie los.

Das Desert Regional Hospital lag tatsächlich in der Nähe; es war weniger als einen Häuserblock entfernt. Beth hielt mit kreischenden Reifen auf einem der Parkplätze, die für Rettungswagen reserviert waren. Dann lief sie zum Eingang der Notaufnahme. Ehe Hunt dem Mann helfen konnte auszusteigen, kamen bereits zwei Pfleger mit einer Krankentrage aus der gläsernen Schiebetür, hoben den Patienten geschickt vom Rücksitz und betteten ihn auf das weiche Kissen, das auf der Trage lag.

Hunt folgte ihnen durch den Eingang, doch dann wurden sie alle von einer streng wirkenden Frau aufgehalten, die sich aus dem Fenster einer kleinen Wachstube lehnte und sich weigerte, den Öffner der Sicherheitstür zu betätigen, der das Wartezimmer vom eigentlichen Krankenhaus trennte. »Ich brauche Informationen über die Versicherung, ehe der Patient zugelassen werden kann«, sagte die Frau. Beth stand neben dem Fenster, aufgebracht und fassungslos.

»Ich habe keine Krankenversicherung!«, heulte der Mann.

»Dann tut es mir leid«, gab die Frau zurück, »dann werden Sie zum County General müssen. Mittellose nehmen wir nicht mehr auf.«

»Ich kann bezahlen«, stöhnte der Mann. »Schauen Sie in meiner Tasche nach.«

»Wir nehmen keine unversicherten Patienten auf.«

»Sie müssen ihn aufnehmen!«, sagte Beth. »Das ist unverantwortlich!«

»Es tut mir leid.«

»Der Mann ist brutal zusammengeschlagen worden und blutet aus dem Ohr. Es könnte eine innere Kopfverletzung sein.«

»Wie ich schon sagte, Sie müssen zum County ...«

»Na gut«, warf Hunt ein. »Dann lassen Sie ihn dort hinbringen!«

»Sie müssen ihn dorthin bringen«, erklärte die Frau. »Wir können keine Krankenwagen entbehren, und der Mann unterliegt nicht unserer Zuständigkeit. Wir sind nicht dafür verantwortlich, dass Sie ihn ins falsche Krankenhaus gebracht haben.«

»Sie müssen uns jetzt hier nicht anmeckern!«, fauchte Beth. Dann wandte sie sich den beiden Pflegern zu. »Können Sie uns helfen, den Mann wieder in unseren Wagen zu schaffen, oder gehört das auch nicht mehr zu Ihrem Job?«

Die Krankentrage wurde den gleichen Weg wieder zurückgerollt, und die Pfleger, denen das alles sehr peinlich zu sein schien, legten den verletzten Mann vorsichtig und so bequem wie nur möglich auf die Rückbank; eines der Kissen aus der Krankentrage ließen sie freundlicherweise unter seinem Kopf.

Dieses Mal setzte Hunt sich ans Steuer, doch er wusste nicht, wohin er fahren musste. »Weißt du, wo dieses Krankenhaus ist?«, fragte er.

Beth nickte. »Bis dort sind es ungefähr zehn Minuten, wenn alle Ampeln grün sind. Fahr los.«

Sie setzten sich in Bewegung. Von der Rückbank kam nur noch Schweigen, und Hunt verstellte den Innenspiegel. Der Verletzte hatte die Augen geschlossen. Er musste das Bewusstsein verloren haben. Hunt fuhr so schnell, wie es erlaubt war, doch nun trat er das Gaspedal tiefer durch und erhöhte die Geschwindigkeit um weitere zehn Meilen die Stunde. Beinahe hoffte er, ein Streifenwagen würde sie anhalten und anschließend mit Blaulicht zum Krankenhaus eskortieren.

Dieses Glück hatten sie nicht.

Die erste Ampel stand auf Grün, bei der zweiten rasten sie über Gelb, und dann wurden sie von einer roten Ampel aufgehalten. Von nun an waren sie im zähfließenden Verkehr eingepfercht und mussten fünf Meilen unter der Höchstgeschwindigkeit bleiben.

Mehrere Häuserblocks vom Krankenhaus entfernt erwachte der Mann wieder. Gerade als sie an einem Supermarkt vorbeikamen, schrie er vor Schmerzen auf.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Beth.

»Natürlich nicht!«, schrie er zurück.

»Wir sind fast da.«

»Setzen Sie mich einfach ab«, verlangte er.

»Sie müssen zu einem Arzt«, sagte Hunt. »Vielleicht haben Sie innere Verletzungen oder ...«

»Ich geh ja ins Krankenhaus!«, sagte der Mann mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich weiß, dass ich Hilfe brauche. Ich hab Schmerzen! Es tut so verdammt weh!«

»Wir können Sie nicht einfach hier absetzen.«

»Ich bin nicht versichert. Vielleicht schicken die mich auch weg! Wenn ihr mich einfach nur absetzt und dann verschwindet, müssen die mich nehmen. Ich tu so, als würde ich ohnmächtig, dann haben die gar keine andere Wahl!«

Der Mann hat recht, überlegte Hunt. Vielleicht würde er auch vom zweiten Krankenhaus abgewiesen. Und wohin sollten sie ihn dann bringen?

Hunt fuhr auf den Parkplatz des Krankenhauses und auf das hell erleuchtete NOTAUFNAHME-Schild zu.

»Helft mir rein. Und dann haut ab. Von da an schaff ich es schon.«

Sie hatten keine Zeit mehr, zu diskutieren. »Okay.«

»Hunt ...«, setzte Beth an.

»Der Mann hat recht«, sagte er. »Die müssen ihn behandeln.«

Zu beiden Seiten stützten sie den Fremden und halfen ihm, in die Notaufnahme zu humpeln. Bei jedem Schritt sog er scharf die Luft ein.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Beth, während sie auf den Empfang zuhinkten.

»Ist doch egal.«

Die Dienst habende Krankenschwester schaute sie besorgt an. Sie griff schon nach einem Klemmbrett, auf dem einige Formulare lagen. »Was haben Sie denn?«

»Ich schaff das«, sagte der Mann. »Geht jetzt. Und danke.«

Hunt griff nach Beths Hand und zog sie in Richtung Ausgang. »Ich bin in 'ne Prügelei geraten«, hörte er den Mann hinter sich sagen. »Ich glaube, ich hab 'n paar gebrochene Rippen, und mein Ohr blutet ...«

Dann waren Hunt und Beth durch die Tür.

»Das ist doch nicht richtig so!«, sagte Beth.

»Wir haben getan, was wir konnten. Mehr als die meisten anderen getan hätten. Und wir hatten keine Wahl.« Er öffnete die Tür und stieg in den Wagen. »Wir hätten gleich einen Rettungswagen rufen sollen.«

»Aber hätten die ihn mitgenommen?«

Die Frage konnte Hunt nicht beantworten.

Es war schon nach Mitternacht, und Hunts Haus lag hier deutlich näher als Beths, also kam Beth dieses Mal mit zu ihm. Die Nachbarn feierten eine Party. Den ganzen Häuserblock entlang waren Autos geparkt, und mehrere Pickups waren einfach auf das Baumwollfeld auf der anderen Straßenseite gefahren. Aus einer lärmenden Stereoanlage dröhnte Rapmusik. Offensichtlich lief die Party schon eine ganze Weile, und die Stimmung schien immer noch zu steigen. Die Feier hatte sich bis zu Hunts Hinterhof ausgebreitet, doch er war müde und nicht in der Stimmung, sich jetzt mit einer Horde betrunkener White-Trash-Gestalten anzulegen und mit ihnen über Grundstücke und Hausfriedensbruch zu diskutieren.

Beth und er ignorierten die Nachtschwärmer, gingen ins Haus, schlossen hinter sich ab und fielen ins Bett. Sie waren sogar für Sex zu müde, also küssten sie sich nur züchtig und rollten sich dann jeweils fast bis an die Bettkante - und dort schliefen sie auch prompt ein.

Hunt träumte, der Loser-Typ in den purpurnen Klamotten hätte Beth niedergestochen, und mit wachsender Panik fuhr Hunt nun sie von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Tucson über Phoenix bis nach Los Angeles.

Aber niemand wollte sie aufnehmen.

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