2.


Hunt erwachte mit einem Gefühl des Unwohlseins.

Heute war ein Feiertag, und er musste nicht zur Arbeit, also hätte er eigentlich froh und zufrieden sein können, doch der Himmel war grau, eine geschlossene Wolkendecke lag drückend über der Stadt und presste sich wie eine Bleischicht auf die Welt darunter. Das alles passte zu Hunts Befinden. Vielleicht lag es an den Nachwirkungen eines Traumes, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Oder eine Art sechster Sinn verriet ihm, dass irgendetwas nicht stimmte ...

Der Platz neben ihm im Bett war leer und kalt. Beth war schon aufgestanden. Es war ungewöhnlich für sie, ihn nicht zu wecken, und er fragte sich, warum sie ihn hatte weiterschlafen lassen. Noch sonderbarer war, dass im ganzen Haus nichts zu hören war: kein Radio, kein Fernsehen. Auch die Stereoanlage war nicht eingeschaltet, Hunt hörte nicht einmal die Bewegungsgeräusche, die ihm von Beths Frühstücksritual in der Küche nur zu vertraut waren.

In Hunt stieg Entsetzen auf.

Er schwang sich aus dem Bett, streifte sich eine Hose über und ging in die Küche, in der Beth am Tisch saß und auf die Titelseite der Zeitung starrte. Sie hatte keinen Kaffee gemacht und das Frühstück nicht vorbereitet. Als Hunt hereinkam, schaute sie ihn mit kalkweißem Gesicht an. Ihre Hände zitterten, als sie ihm die Zeitung hinhielt. Die Schlagzeile schrie Hunt entgegen: SCHLIMMSTE NACHT IN DER GESCHICHTE VON TUCSON! 45 TOTE!

Hunt wusste genau, warum Beth ihn nicht geweckt hatte, und er wusste jetzt auch, dass dieses undeutliche Gefühl des Entsetzens voll und ganz berechtigt war. Wie betäubt nahm er ihr die Zeitung aus der Hand.

Fünfundvierzig Tote in einer Nacht?

Muss noch meine Lebensversicherungsquote schaffen.

Hunt zweifelte keinen Augenblick daran, dass diese Todesfälle unmittelbar mit dem Besuchsmarathon des Versicherungsvertreters zusammenhingen, bei dem er fünfzig oder sechzig Familien aufsuchen wollte. Doch Hunt war geradezu erschlagen, als ihm bewusst wurde, welche Macht diese Versicherungsgesellschaft wirklich besaß. Fünfundvierzig Menschen in einer einzigen Nacht umzubringen, war nicht bloß ein beeindruckend schwieriges Unterfangen und eine logistische Meisterleistung: Es war schlichtweg unmöglich. Zum ersten Mal verstand Hunt ganz und gar, wie mächtig, fast allwissend ihr Gegner wirklich war.

Beeindruckend schwieriges Unterfangen? Logistische Meisterleistung?

Er schämte sich, so kalt und nüchtern zu denken, doch die Größenordnung dessen, was hier geschehen sein musste, war so gewaltig, dass Hunt gar nicht anders konnte, als es derart sachlich und leidenschaftslos zu betrachten. Er konnte seine Gedanken nicht auf ein einziges Individuum fokussieren, das ihm vertraut genug gewesen wäre, um echtes Mitgefühl und echte Trauer bei ihm hervorzurufen. Wenn eine Tragödie solche Ausmaße annahm, wurde sie unpersönlich. Dann blieben nur noch Zahlen und Statistiken, keine Namen und Gesichter mehr.

Hunt setzte sich zu Beth an den Tisch und las den Zeitungsbericht:


In der letzten Nacht, die ein Polizeisprecher als »gewalttätigste in der Geschichte von Tucson« bezeichnet hat, sind fünfunddreißig Männer und zehn Frauen bei anscheinend nicht miteinander in Verbindung stehenden Morden ums Leben gekommen. »So etwas haben wir noch nie erlebt«, erklärte Brad Neth, Polizeichef von Tucson, und fügte hinzu, seine Männer seien durch diese außergewöhnliche hohe Anzahl von Gewaltverbrechen innerhalb von nur acht Stunden bis zum Letzten ausgelastet. Mord mit anschließendem Selbstmord der Täter und häusliche Gewalt sind für die meisten Todesfälle der vergangenen Nacht verantwortlich, wobei drei Frauen und fünfzehn Männer durch ihre Lebensgefährten erstochen, erschossen oder erwürgt wurden. Vier Männer starben durch Selbstmord. Achtzehn Todesfälle sind auf Bandenkriminalität zurückzuführen. Bei sechs Angriffen aus fahrenden Autos kamen im Old-Pueblo-District elf Menschen ums Leben. Bei der Auseinandersetzung zweier rivalisierender Banden, an der polizeilichen Schätzungen zufolge fünfzig bis sechzig Personen beteiligt waren, starben sieben Menschen. Fünf Personen wurden allem Anschein nach Opfer willkürlicher Gewalttaten.

Auch wenn konkrete Zahlen bisher nicht vorliegen, ist die Anzahl der Todesopfer Sergeant Wilson zufolge weit höher als in einer durchschnittlichen Nacht in New York, Los Angeles oder Chicago. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser von Tucson waren hoffnungslos überlastet.


Auf Seite achtundzwanzig ging der Artikel weiter, und Hunt blätterte, um zu Ende zu lesen, doch dann fiel sein Blick auf einen anderen, sehr viel kleineren Artikel auf der gleichen Seite: FRAU STIRBT BEI UNFALL MIT FAHRERFLUCHT. Hunt wusste nicht, was ihn an einem derart unbedeutenden Allerwelts-Artikel interessierte - vielleicht war es gerade die nichtssagende Überschrift -, und so überflog er schnell die beiden Spalten, um zu erfahren, dass kurz nach Sonnenuntergang eine Frau, die in einigen hundert Metern Entfernung zur nächsten Ampel die Congress Avenue zu überqueren versuchte, von einem bisher unidentifizierten schwarzen Lastwagen erfasst wurde und noch an der Unfallstelle starb. Das Fahrzeug hatte unmittelbar darauf den Unfallort verlassen.

Plötzlich fühlte sich Hunts Mund sonderbar trocken an. Es war Eileen.

Im Artikel wurde sie als »Eileen Marx« bezeichnet - was bedeutete, dass sie wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte. Sie ist allein gestorben, dachte Hunt, und das machte es für ihn tragischer als alles andere. So zickig, wie sie in den letzten Monaten auch gewesen sein mochte, so schlimm, wie ihre Beziehung auch geworden war - Hunt konnte sich auch noch an die Zeit erinnern, in der es eine gute Beziehung gewesen war. Er sah vor seinem geistigen Auge noch immer das unschuldige Mädchen aus der Highschool, die ihn gefragt hatte, ob er mit ihr zum Sadie-Hawkins-Dance gehen wolle - und die später schüchtern nachgefragt hatte, ob sie »mehr als nur Freunde« werden würden. Und das Gefühl, das Hunt damals verspürt hatte, erfasste ihn erneut, nach all den Jahren.

Beth musste seine Miene gesehen haben. »Was ist denn?«

»Eileen«, sagte er. »Meine Exfrau.«

Selbst diese Worte klangen irgendwie traurig: Es war die hoffnungslose Beschreibung einer einsamen Frau, die er zum letzten Mal gesehen hatte, als sie gerade alleine in einen Bus stieg. Innerlich fühlte Hunt sich leer; er war viel trauriger, als er jemals erwartet hatte. Zum Teil war es Mitleid mit seiner Exfrau, doch zum Teil litt er tatsächlich auch um seiner selbst willen. Eileens Tod hatte jegliche Verbindung zu Hunts eigener Jugend gekappt, hatte ein für alle Mal die Tür verschlossen, die zurück in diese sorglosen, viel optimistischeren Tage führte.

Beth wusste nicht, wie sie reagieren sollte. »Das tut mir leid«, brachte sie schließlich hervor. Doch ihre Stimme verriet den Zwiespalt, in dem sie sich sah, und Hunt griff nach ihrer Hand und drückte sie zärtlich.

Noch einmal las er die Allerwelts-Überschrift: FRAU STIRBT BEI UNFALL MIT FAHRERFLUCHT. War das purer Zufall?, fragte Hunt sich. Oder war auch Eileen von diesem Versicherungsvertreter aufgesucht worden? Hatte er auch ihr eine Police angeboten, die sie nicht hätte ablehnen sollen?

Alleine schon bei dem Gedanken daran wurde Hunt speiübel.

Das Telefon klingelte, und Hunt stand auf, um nach dem Hörer zu greifen; er fürchtete schon halbwegs, es könne der Vertreter sein, der ihnen weitere Versicherungsleistungen anbieten wolle. Doch es war Joel, der sich nicht einmal die Mühe machte, ihn zu begrüßen. »Hast du die Zeitung gelesen?«

»Ja«, bestätigte Hunt.

»Glaubst du ...?«

»Ja.«

Einen Augenblick lang schwiegen beide.

»Er hat mir eine Versicherung gegen körperliche Schäden angeboten«, sagte Joel leise.

»Nimm sie«, riet Hunt ihm. »Ihr habt ein Kind.«

»Wie ist das passiert? Wie sind wir da reingeraten?«

»Ich weiß es nicht.«

»O Gott!«, schrie Beth. Sie riss die Augen auf.

»Warte mal«, sagte Hunt nur zu Joel. Dann legte er die Hand auf die Sprechmuschel. »Was ist?«

Beth deutete auf die Titelseite der Zeitung - auf ein Foto der Gegend, wo der Bandenkrieg getobt hatte. Bisher hatte Hunt sich nicht die Mühe gemacht, dieses Foto genauer zu betrachten, doch jetzt schaute er hin, drehte die Zeitung so, dass sie für ihn nicht mehr auf dem Kopf stand, und spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Polizeiliches Absperrband sicherte einen Abschnitt der Straße, auf dem zahlreiche Leichen lagen. Zu beiden Seiten des Bildes waren Streifenwagen mit flackernden Warnlichtern und ein Krankenwagen zu erkennen. Im Vordergrund stand eine Menschenmenge.

Und rechts neben der Menschenmenge, abgesondert und allein, stand ein Geist.

Ihr Geist.

Der Geist, den Beth und Hunt im Spiegel des Gästezimmers gesehen hatten.

Der Mann mit Hut.

Hunts Gedanken überschlugen sich. Vielleicht war es doch kein Geist. Vielleicht war das, was sie im Gästezimmer gesehen hatten, etwas ganz anderes. Edward hatte erzählt, mehrere Männer mit Hüten seien auf ihn zugekommen, hätten die Leiter umstellt und dann die Äste der Bäume auf ihn hinabgeschleudert. »Schlägertypen« hatte Edward sie immer genannt - auch wenn sie alle nur zu genau wussten, dass diese Männer viel mehr waren. Bis zu diesem Augenblick hatte Hunt Edwards Beschreibung dieser Gestalten nicht mit der geisterhaften Erscheinung aus dem Gästezimmer in Verbindung gebracht ... doch allmählich ergab dies alles auf aberwitzige, bizarre Art einen Sinn.

Wieder schaute er das Foto in der Zeitung an. Diese Kreaturen schienen immer dann aufzutauchen, wenn Probleme mit Versicherungen zu Tod und Zerstörung führten - wann immer es erforderlich war, deutlich darauf hinzuweisen, was geschehen konnte, wenn man keine Versicherung abschloss oder wenn die vereinbarten Konditionen einer Police eingefordert werden mussten. Hunt zweifelte nicht daran, dass sich irgendwo auf dem Gelände eine dieser Gestalten herumgedrückt hatte, als das Haus der Bretts ausgebrannt war, und er bezweifelte auch nicht, dass der Fahrer des Wagens einen Hut getragen hatte, als Kate Gifford ums Leben gekommen war.

Sie alle waren Vertreter der Versicherungen. Echte Versicherungs-Agenten, eher noch agents provocateurs, klassische Lockspitzel. Männer - oder Kreaturen -, die ausgeschickt wurden, auf Geheiß der Gesellschaft hin aktiv zu werden.

»Bist du noch da?«, fragte Joel. »Hallo?«

Hunt nahm die Hand von der Muschel. »Schau dir das Foto auf der Titelseite an«, sagte er. »Unten rechts.«

»Ach du Scheiße!«, stieß Joel hervor.

»Als Edward seinen so genannten Unfall hatte, da hat er Männer gesehen, die genau so ausgesehen haben.« Er holte tief Luft. »Beth und ich haben auch einen von denen gesehen. In unserem Gästezimmer. Wir hielten ihn zuerst für einen Geist.«

Er erwartete Fragen. Keine Witze, keinen Spott - wie es unter normalen Umständen unweigerlich der Fall gewesen wäre -, sondern ernst gemeinte Fragen.

Doch Joel brachte es gar nicht aus der Fassung. »Ich habe einen von denen im College gesehen - da hat er gerade mit der jungen Frau geredet, die mir ins Auto gefahren ist. Und genau so hat Lilly auch den Mann beschrieben, den sie mit Kate gesehen hat.«

»Sie hat zusammen mit Kate einen Mann gesehen? Das hast du mir gar nicht erzählt.«

Beth spitzte die Ohren.

»Man hat dich ja freigelassen, und Kate ... na ja, ich schätze, mich hat die ganze Sache einfach überfordert. Aber es stimmt schon, Lilly hat vielleicht mit eigenen Augen genau diesen Kinderschänder gesehen.«

»O Gott.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Ich weiß es nicht«, gab Hunt zu.

»Wir müssen doch irgendetwas tun! Sollen wir zur Polizei gehen?«

»Womit denn?« Hunt blickte zu Beth hinüber, die noch einmal das Foto anschaute. »Rede mit Stacy«, sagte er. »Ich ruf dich nachher wieder an. Ich leg mir einen Plan zurecht.«

In dem Augenblick, als er auflegte, klingelte das Telefon erneut.

Jorge.

»Hol dir eine Ausgabe des Ledger von heute«, sagte er einfach nur. »Auf der Titelseite ist einer der Pfleger, die mich betäubt haben.«

Jorge klang, als wäre er völlig klar im Kopf. Der Zorn hatte die Verzweiflung vertrieben; Hunt hörte die wilde Entschlossenheit in der Stimme seines Freundes, diese Sache bis zum Ende durchzuziehen.

Der alte Jorge war wieder da.

Hunt sprach über Edward, über Joel und das College, über Lilly, über ihren »Geist« und sagte dann: »Die arbeiten für die Versicherungsgesellschaft.«

»Diese Dreckskerle knöpfe ich mir vor. Für das, was die getan haben, bring ich die um. Und wenn ich diesen Versicherungsvertreter wiedersehe ...«

»Hast du schon eine Idee, was du tun willst?«

»Nein. Du?«

»Nein«, gab er zu. »Aber Joel macht auch mit.«

»Hast du schon mit Edward gesprochen?«

»Nee.«

»Das mach ich jetzt gleich. Ich ruf dich wieder an.«

Schon war die Leitung tot, und Hunt legte den Hörer auf die Gabel.

»So kann es nicht weitergehen«, sagte Beth. »Wir müssen etwas tun. Wir müssen die aufhalten!«

Hunt nickte zustimmend. Sie hatten schon zu lange gewartet, hatten nur dagestanden und nichts getan, während zahlreiche Menschen verletzt und sogar umgebracht worden waren.

Aber was konnten sie tun? Wie sollten sie gegen etwas ankämpfen, was nach Lust und Laune Unfälle und Festnahmen arrangierte? Was keinerlei Bedenken hatte, Menschen zu töten? Was in der Lage war, in einer Nacht fünfundvierzig ... sechsundvierzig ... Menschen zu ermorden?

»Ich gehe ins Bad und zieh mich an«, sagte Beth. »Du duscht, und dann fahren wir zu Joel und Stacy und zerbrechen uns gemeinsam die Köpfe.«

»Okay.« Hunt folgte seiner Frau aus der Küche. Beth ging in die Gästetoilette. Hunt wollte sich gerade aus dem Schlafzimmer etwas zum Anziehen holen, als er feststellte, dass die Tür zum Gästezimmer halb offen stand.

Sie war aber zu gewesen.

Es durchlief ihn eiskalt.

Er hörte ein lautes Klopfen, und die Tür zum Gästezimmer schwang ruckartig in den Raum hinein. Jemand hatte sie von innen geöffnet.

Der Versicherungsvertreter trat auf den Flur, in der Hand seinen Aktenkoffer.

Hunt hatte das gleiche Gefühl in den Eingeweiden wie beim ersten Mal, als der Versicherungsvertreter aufgetaucht war: Abscheu, Ekel, Widerwille, ausgelöst durch Furcht.

Der Vertreter trug einen schwarzen Anzug, genau das, was man zu einer Beerdigung anziehen würde. Er war jetzt mindestens fünf Zentimeter größer als Hunt, und viel breitschultriger. Seine Zähne wirkten unnatürlich weiß, als hätte er sie erst kürzlich überkronen lassen. Und sie waren zu groß, als wären übergroße Kronen verwendet worden.

Hunt erinnerte sich, wie der Versicherungsvertreter sie dazu gebracht hatte, ihn beim ersten Mal in ihr Haus zu bitten: genau so, wie es, den Legenden zufolge, notwendig war, damit ein Vampir ein Haus betreten konnte.

Das hätten sie nicht tun dürfen. Hätten sie ihn nicht hereingelassen, hätte er vielleicht nicht Fuß fassen können und wäre vielleicht weitergezogen. Jetzt konnte dieser Dämon jederzeit in ihrem Haus erscheinen, wann immer er wollte.

Vampire. Dämonen.

Was genau dieser Vertreter nun wirklich war, entzog sich Hunt immer noch, doch es musste tatsächlich etwas in dieser Richtung sein. Doch es war ein Rätsel, das vielleicht niemals gelöst werden konnte. Wenn Menschen in Romanen oder Filmen in schreckliche Ereignisse verwickelt wurden, die weit über ihren Verstand hinausgingen, zeichneten sich letztendlich immer irgendwelche Erklärungen ab. Durch Nachforschungen oder die Geschwätzigkeit der Bösen selbst erfuhren die Helden letztendlich nicht nur das Wie, sondern auch das Warum und brachten in Erfahrung, was wirklich geschah. Sie erfuhren den Grund für alles - und auch eine Möglichkeit, das Böse zu besiegen. Im wahren Leben jedoch gab es niemanden, der solche Antworten parat hatte.

»Guten Morgen!«, grüßte der Vertreter mit geheuchelter Fröhlichkeit und streckte die Hand aus. Seine Handflächen waren völlig glatt; nirgends gab es Falten oder Linien, wie Hunt jetzt erst bemerkte. Und die Fingerknöchel traten sonderbar hervor. Hunt hatte solche Hände schon einmal gesehen - auf einem Gemälde, oder in irgendeinem Film -, doch er konnte sich nicht mehr erinnern.

Hunt reagierte nicht auf die dargebotene Hand, doch der Vertreter schien es ihm nicht übel zu nehmen. »Wie herrlich es heute ist«, sagte er und atmete tief durch, als wolle er die gute Luft genießen. »Dass man so einen wundervollen Tag erleben darf!«

Aus der Gästetoilette hörte Hunt Beths kurzen, schrillen Aufschrei.

»Die musste aber dringend, was?« Der Vertreter grinste. »Ich wette, das reicht für eine ganze Gartenbewässerung.«

»Raus«, sagte Hunt nur.

Die Tür der Gästetoilette wurde aufgerissen, und Beth kam auf den Flur gestürmt. Sie hatte eine Hose und ein T-Shirt angezogen, und eiskalte Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Raus mit Ihnen!«, schrie sie. »Wir wollen Sie hier nicht haben!« Sie versuchte, den Mann von sich zu stoßen, doch er griff blitzartig nach ihren Händen und bewegte sie auf und ab, wie bei einem bizarren Begrüßungsritual. Sofort wich Beth zurück, als hätte sie in frische Exkremente gegriffen.

»Ich bin doch nur aus Gefälligkeit hier«, erklärte er ruhig. »Wie ich Ihrem Gemahl gerade schon sagte, während Sie mit so wenig erwähnenswerten anderen Dingen beschäftigt waren, ist es herrlich, so einen wunderbaren Tag erleben zu dürfen. Und genau deswegen bin ich heute hier, um sicherzustellen, dass Sie tatsächlich auch am Leben bleiben - um Sie vor den Schicksalsschlägen zu bewahren, die diese moderne Welt bereithält. Ich möchte Sie vor all den entsetzlichen Realitäten geschützt wissen, mit denen man sich Tag für Tag auseinandersetzen muss.« Er deutete auf den Flur, der vor ihm lag. »Wollen wir uns nicht in die Küche setzen? Vielleicht eine schöne Tasse Kaffee trinken und uns über das äußerst weitreichende Deckungskonzept der Lebensversicherung unterhalten, die wir anbieten?«

Lebensversicherung.

Hunt schaute zu Beth hinüber. Jetzt, nachdem sie wussten, was ihnen drohte, hatten sie beide nicht mehr den Mut, den Vertreter einfach aus dem Haus zu werfen ...

sechsundvierzig

... und so gingen sie in die Küche zurück, eingeschüchtert und zögerlich. Beide lehnten sich mit dem Rücken an die Küchenspüle, anstatt sich wieder an den Tisch zu setzen.

Der Vertreter legte seinen Aktenkoffer auf den Tisch und blieb wartend stehen. Hunt war entschlossen, keine Fragen zu dieser Versicherung zu stellen. Er wollte nur den Vertreter reden lassen. Beth schwieg ebenfalls.

»Also gut. Ich werde die Sache dann ins Rollen bringen.« Die Sprache des Vertreters war abgehackt, verärgert. »Ich biete Ihnen eine Lebensversicherung. Ich werde nicht auf Details eingehen, weil Sie offenbar nicht sonderlich interessiert sind an meinen Informationen. Außerdem glaube ich, das Konzept einer Lebensversicherung erklärt sich von selbst.« Er öffnete seinen Aktenkoffer. Dieses Mal holte er keine Broschüren hervor, keine Flugblätter, keinerlei Zugeständnisse an die Gebote und Gesten der Höflichkeit, die in der normalen Welt üblich waren. Stattdessen zog er ein übergroßes Formular hervor, auf dickeres Papier gedruckt, und breitete es auf dem Küchentisch aus.

Hunt wollte nicht hinsehen, doch er tat es trotzdem. Er sah Worte und Sätze, so klein gedruckt, dass er bezweifelte, sie ohne Lupe überhaupt lesen zu können.

»Dieses Mal«, sagte der Vertreter, »muss ich allerdings leider auf eine sofortige Antwort bestehen.«

»Wir müssen doch darüber reden!«

»Eine sofortige Antwort!« Er hämmerte auf die Tischplatte.

Hunt schaute zu Beth hinüber, die nur unglücklich nickte.

»Okay«, sagte er.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet.« Jegliche Verstimmung war aus der Stimme des Versicherungsvertreters verschwunden. Jetzt wirkte er nicht mehr pikiert, sondern sprach wieder in der leicht affektierten Art des geübten Verkäufers. »Ich gratuliere Ihnen zu einer richtigen Entscheidung.«

In einem Ritual, das Beth und Hunt mittlerweile nur zu vertraut war - was es für sie beide aber nicht weniger abscheulich machte -, reichte er ihnen Stifte, und sie unterzeichneten das Antragsformular.

Dann schob der Vertreter es wieder in seinen Aktenkoffer zurück, schloss ihn und stellte ihn auf dem Fußboden ab. Hunt und Beth hatten erwartet, dass er sich jetzt fröhlich oder spöttisch von ihnen verabschieden würde, stattdessen blieb er stehen und schaute schweigend aus dem Fenster. »Kommen Sie doch mal her, Mr. Jackson!«, sagte er schließlich. »Erzählen Sie mir, was Sie dort sehen.«

Zögerlich trat Hunt neben den Vertreter und schaute aus dem Fenster zu den Ruinen des Hauses hinüber, in dem die Bretts gewohnt hatten.

»Was sehen Sie?«

Hunt zuckte mit den Schultern. »Ein ausgebranntes Haus.«

»Genau so sähe Ihr Haus aus, wenn ein Terrorist beschließen würde, ein Flugzeug genau in ihr Dach zu steuern, oder wenn ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

»Es ist wirklich eine Schande, dass die gar keine Versicherung hatten«, sagte er dann leise, fast wie zu sich selbst.

Es war schon das zweite Mal, dass er so etwas über das Haus der Bretts gesagt hatte, und Hunt kam zu dem Schluss, dass es für den Vertreter zu einer Art fixer Idee geworden sein musste. Hatte er Ed Brett eine Versicherung angeboten und war abgeblitzt? Oder war es einfach nur die Tatsache, dass die Bretts gar keine Versicherungen abgeschlossen hatten, was ihn so wurmte, dass es ihn nicht mehr losließ?

Der Vertreter wandte sich wieder Hunt zu und strahlte ihn regelrecht an. »Aber das kann Ihnen ja egal sein. Sie haben eine mehr als ausreichende Deckung, und mit diesem Neuzugang zu Ihrem Leistungskatalog sind Sie vor viel mehr geschützt als der durchschnittliche Versicherungsnehmer.« Er tätschelte Hunt die Schulter, und Hunt musste gegen das instinktive Bedürfnis ankämpfen, sich angewidert vor ihm zurückzuziehen. »Ich bin sehr stolz auf Sie.«

Hunt blickte zu Beth hinüber und sah ihren sonderbaren, unergründlichen Gesichtsausdruck. Nervös zog sie sich rücklings an die Küchenspüle zurück.

Der Vertreter machte ein paar Schritte und griff nach seinem Aktenkoffer, ehe er zur Küchentür ging. »Es ist mir eine Freude, mit Ihnen ein Geschäft zu machen.«

Hunt hätte ihn an liebsten zusammengeschlagen. Er wollte fühlen, wie seine Faust Gesicht und Körper dieses Scheusals traf und die Knochen bersten ließ. Doch er hatte das beunruhigende Gefühl, dass unter dem Fleisch dieses Mannes gar keine Knochen waren, und dass das Fleisch sich nicht wie Fleisch anfühlen würde.

Mit einem schnellen Winken war der Vertreter durch die Tür und verschwand. Durchs Küchenfenster blickte Hunt ihm nach, schaute zu, wie er den Pfad hinunterging, zwischen den Ocatillas hindurch, bis er auf den Bürgersteig trat. Hunt war versucht, ihm zu folgen und festzustellen, wohin der Mann ging. Er hatte keine Ahnung, ob der Versicherungsvertreter jeden Weg zu Fuß machte, ob er von einer Limousine mit Fahrer durch die Gegend kutschiert wurde, ob er mit dem eigenen Wagen fuhr oder den Bus nahm. Aus irgendeinem Grund konnte man vom Haus aus nie sehen, welches Verkehrsmittel der Mann benutzte. Das war ein weiteres, unheimliches Rätsel, das diesen Mann umgab. Aber dieses Rätsel konnte Hunt vielleicht sogar lösen.

Es war ein Punkt, an dem er ansetzen konnte.

Und wieder einmal war Beth mit ihm auf der gleichen Wellenlänge.

»Wir sollten ihm folgen«, entschied sie.

»Bis du sicher?«

Sie nickte. »Ich hab eine Idee.«

Beth hatte sich bereits umgezogen, doch Hunt trug noch die gleiche Hose wie am Vortag. Nun liefen beide eilig zum Schrank hinüber, der neben dem Eingang stand. Hunt griff nach einer Jeansjacke und schlüpfte barfuß in seine Stiefel, während Beth Sandalen überstreifte; dann eilten beide hinaus.

Am Ende des Blocks bog der Vertreter gerade um die Ecke, und sie beeilten sich. Sie mussten ihm in unauffälliger Entfernung folgen, durften ihn aber nicht aus den Augen verlieren.

Auch um die Ecke stand kein Auto, kein Deathmobil mit schwarzen Scheiben, kein gar nichts. Der Vertreter spazierte einfach nur gut gelaunt über den Bürgersteig.

Hunt und Beth beobachteten ihn. Folgten ihm. Nach weniger als zwei Häuserblocks bog er in die Einfahrt eines eingeschossigen, weitläufigen Hauses im Ranch-Stil ab und setzte sich auf die kleine Veranda vor der Eingangstür. In diesem Augenblick hätte er seine Verfolger leicht erwischen können, so wenig hatten sie damit gerechnet - doch in dem Moment, als der Vertreter vom Bürgersteig auf das Grundstück abbog, duckten Hunt und Beth sich hinter einen Oleanderstrauch vor dem Nachbarhaus. Dann spähten sie zwischen den dichtbelaubten Zweigen hindurch und schauten zu, wie der Versicherungsvertreter seinen Aktenkoffer abstellte und wartete.

Er blieb sitzen, ausdruckslos und reglos. Er starrte ins Nichts wie eine Statue. Hunt hatte noch nie erlebt, dass ein Mensch so still gesessen hätte, und der Anblick erschien ihm widernatürlich und unheimlich.

Er befürchtete schon, sie würden nun stundenlang hinter dem Strauch hocken müssen, doch nach knapp fünf Minuten rollte ein roter Range Rover in die Einfahrt, und der Vertreter erhob sich, als wäre dieser Wagen wie erwartet eingetroffen - genauso, wie ein Fahrplan es vorgeschrieben hätte.

Plötzlich legte der Fahrer des Range Rover den Rückwärtsgang ein und raste wieder auf die Straße. Durch die Windschutzscheibe sah Hunt das vor Panik verzerrte Gesicht des Fahrers, und er sah auch, wie die Lippen der wild gestikulierenden Frau auf dem Beifahrersitz sich lautlos zu einem Schrei verzogen.

Grinsend huschte der Versicherungsvertreter im Laufschritt über den Rasen und auf die Straße, stellte sich geradewegs vor den Geländewagen und versperrte ihm den Weg.

»Holen wir 's!«, flüsterte Beth scharf.

»Was?«

Doch sie war bereits losgelaufen, und bevor Hunt sie aufhalten konnte, drängte Beth sich schon durch den Strauch hindurch und lief über den Rasen des Nachbargrundstücks ...

... auf die Veranda zu, auf der immer noch der Aktenkoffer des Versicherungsvertreters stand.

Hunt hatte den verzweifelten Wunsch, Beth zurückzurufen, aber er wagte es nicht, zusätzlich die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, und so blickte er nur immer wieder zwischen der Straße und dem Haus hin und her. Auf der Straße hatte der Versicherungsvertreter mittlerweile in aller Ruhe seine Position verändert, sodass der Geländewagen ihm unmöglich entkommen konnte.

Hunt sah, wie Beth auf die Veranda schlich, den Aktenkoffer packte und zu ihm in sein Versteck zurückkam. Dann rannten beide davon, so schnell sie konnten, über die Vorgärten der Nachbarhäuser, und hielten sich vom Bürgersteig fern. Hunt rechnete damit, jeden Moment ein schreckliches Brüllen zu hören und eiskalte Finger um seinen Hals zu spüren, wenn der Vertreter sie einholte - eiskalte Finger, die ihn mühelos hochhoben. Doch nichts geschah. Sie sprangen über eine kleine Hecke und flitzten um einen geparkten Cadillac herum, und dann hatten sie die Ecke des Häuserblocks erreicht und bogen nach rechts in die Elm Street ab.

Sie verlangsamten ihre Schritte nicht, bis sie eine weitere Kreuzung erreicht hatten; dann bogen sie nach links ab und waren bald zwei ganze Häuserblocks vom Versicherungsvertreter entfernt. Vor einem kitschigen Haus in Pink und Grau blieben sie stehen und schnappten nach Luft.

»Wir haben's geschafft«, sagte Hunt keuchend. »Er hat uns nicht erwischt.«

»Aber wohin jetzt?«, fragte Beth. Sie sprach leise, verschwörerisch, als fürchtete sie, man könne sie hören. »Nach Hause können wir nicht. Da wird er als Erstes nach uns suchen. Wenn er sieht, dass sein Aktenkoffer weg ist, wird er vielleicht denken, er hat ihn bei uns vergessen und kommt nachschauen. Vielleicht durchsucht er dann das ganze Haus.« Sie erschauerte. »Oder er lässt das seine Kumpel erledigen.«

Hunt dachte fieberhaft nach. »Die Bibliothek«, schlug er vor. »Von dort aus rufen wir alle an und sagen ihnen, dass wir uns da treffen.« Der Dorothy-Pickles-Flügel der Bibliothek war nur drei Häuserblocks entfernt.

»Aber heute ist Feiertag. Da wird die Bibliothek nicht offen haben.«

»Verdammt!«, stieß Hunt hervor.

»Was ist mit Kinko's? Auf der Einkaufsstraße da drüben, gegenüber von Safeway.«

Hunt nickte. Das war zwar ein Fußmarsch von einer halben Stunde, aber dort gab es reichlich Sitzplätze und Tische, es war immer geöffnet. Dort würden sie auch von allem, was sie vorfänden, nötigenfalls Fotokopien anfertigen können.

Hastig durchwühlte Hunt seine Hosentaschen und fand einen zerknautschten Dollarschein, einen Vierteldollar, ein Zehn-Cent-Stück, einen Fünfer und drei einzelne Pennies.

Er nahm Beth den Aktenkoffer ab. »Genauso machen wir 's.«

Zügig gingen sie weiter, in der ständigen Angst, plötzlich den Vertreter in mörderischer Wut heranstürmen zu sehen. Doch sie sahen weder ihn noch die gespenstischen Männer mit den Hüten, und eine halbe Stunde später erreichten sie über eine winzige Nebenstraße das Copy-Center. Sie gingen an der langgestreckten Seitenwand des Gebäudes entlang und durch den Eingang.

Hunt fand eine kleine, abgetrennte Ecke, in der man stundenweise ins Internet konnte, und legte den Aktenkoffer auf den Tisch.

Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte er jetzt festgestellt, dass es gar kein richtiger Aktenkoffer war, sondern nur so aussah - und dass nur der Versicherungsvertreter selbst, mit eigenen Händen, mit seinen unmenschlichen Fingern, ihn hätte öffnen können. Doch Koffer und Verschluss schienen völlig normal zu sein. Als Hunt erst das linke Schloss aufschnappen ließ, dann das rechte, öffnete sich der Aktenkoffer sofort und enthüllte ein Fach voller Papiere und Sammelmappen.

Sorgfältig gingen Beth und Hunt den Inhalt des Aktenkoffers durch. Obenauf lag der Antrag für die Lebensversicherung, den sie beide vorhin unterzeichnet hatten, und darunter eine Sammelmappe, gekennzeichnet mit ihren Namen. Hunt öffnete sie und schaute schnell den Inhalt durch, fand jedoch nichts Außergewöhnliches, nur einen Computerausdruck mit persönlichen Informationen über sie beide, gefolgt von Kopien ihrer sämtlichen Versicherungspolicen.

Unter der Sammelmappe lagen Hochglanz-Broschüren, Blanko-Antragsformulare sowie abgegriffene Versicherungshandbücher, die die Insurance Group nur für den Dienstgebrauch ihrer Mitarbeiter hatte drucken lassen. Hunts Herz klopfte heftig. Zum ersten Mal seit langem sah er einen Hoffnungsschimmer. Er schob die Papiere beiseite und griff nach einem dicken Buch mit der Aufschrift »Versicherungsangebot«. Hunt schlug die erste Seite auf, auf der noch einmal der Buchtitel stand, und blätterte zur nächsten Seite. Dort besagte ein kurzer Absatz, dieses Buch liste die Namen und die IT-Nummern (was immer das sein mochte) sämtlicher Versicherungsleistungen auf, die seitens der Insurance Group angeboten würden. Die Seiten des Buches waren extrem dünn, ähnlich wie bei einer Bibel, und es fiel Hunt schwer, sie eine nach der anderen umzublättern.

»Meine Güte!«, sagte er. »Schau dir das an!«

Beth rückte näher an ihn heran und stellte dann einen Arm auf, damit Vorbeigehende nicht sofort sehen konnten, was sie hier taten.

Es gab Versicherungen gegen alles. Im wahrsten Sinne des Wortes. In fast unlesbar kleiner Schrift hatten sie hier eine alphabetische Liste der Situationen und Ereignisse, der Personen, Orte und Dinge, für die es entsprechende Policen gab. Aberglaube, Aberkennung, Aberation ... Hunt blätterte ziellos das Buch durch. Kontamination ... Orchester ... Teleskop ... Unterführung ... Er schlug die letzte Seite auf. Zulu, Zuñi, Zynophobie.

Hunt klappte das Buch zu. Er war wie erschlagen. Eine Versicherung, die einen derart umfangreichen Leistungskatalog anbieten und auch abdecken konnte, musste erschreckend mächtig sein. Aber vielleicht fand sich irgendwo ja etwas, gegen das die Versicherung keinen Schutz bot - eine Achillesferse, die sie würden nutzen können.

Hunt legte das Buch neben dem Aktenkoffer auf den Tisch und machte sich daran, die anderen Bücher durchzugehen. Drei Bände weiter unten im Aktenkoffer entdeckte er ein kleinformatiges Handbuch, das einfach nur »The Insurance Group« hieß. Rasch griff Hunt danach und schlug es auf. Es hatte weder einen Index noch ein Inhaltsverzeichnis, doch es schien in Kapitel und Unterkapitel aufgeteilt, deren Überschriften in Fettdruck hervorgehoben waren. Hastig blätterte Hunt die Seiten durch, überflog sie nur, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.

Wer sind wir?, fragte die Überschrift.

Hunt las den nachfolgenden Abschnitt. Der Versicherungsvertreter hatte gesagt, die Insurance Group sei eine Interessensgemeinschaft verschiedener Versicherungsträger, und hier waren sie endlich allesamt aufgelistet. Hunt hörte, wie Beth scharf die Luft einsog, als sie die Namen sah.

»Denen gehört UAI«, sagte sie. »Und der Träger deiner Hausratversicherung, und meine alte Immobilienversicherung und ... einfach alles.«

Hunt nickte nur. Er war überrascht, aber nicht schockiert.

»Also hatten wir recht«, sagte Beth leise. »Die vielen Probleme, die wir hatten ... alles, was die mit uns angestellt haben, geschah mit der Absicht, uns für diese verrückten Versicherungen der Insurance Group weichzuklopfen. Die ganze Zeit haben die darauf hingearbeitet, uns genau dahin zu lotsen, wo die uns haben wollten.«

»Aber warum gerade wir?«, fragte Hunt. »Warum haben die sich gerade uns ausgesucht? Oder war das reiner Zufall? Hast du irgendwas Besonderes gemacht? Oder ich vielleicht? Haben wir in irgendein Kundenprofil gepasst? Oder haben die unsere Namen aufs Geratewohl herausgepickt?«

Beth schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Was können wir denn schon bewirken? Wir sind Nobodys. Warum haben die sich keine Leute ausgesucht, die Macht und Einfluss haben? Den Gouverneur, den Präsidenten, Bill Gates oder Ted Turner? Leute, deren Worte und Handeln Gewicht haben. Wenn die Versicherung diese Leute in ihrer Gewalt hätte, dann hätte sie wirklich Einfluss. Dann könnte sie alles kriegen, was sie will.«

»Die können jetzt schon kriegen, was sie wollen«, merkte Hunt an. »Offensichtlich geht es denen um etwas anderes.«

Doch was das sein mochte, wussten sie beide nicht, und sie hatten auch nicht das Verlangen, sich in Spekulationen zu ergehen.

Rasch schaute Hunt den Rest des Buches durch, versuchte herauszufinden, wer die Insurance Group gegründet hatte und wann. Doch falls sich diese Informationen überhaupt in dem Text befanden, waren sie gut versteckt. Hunt brachte in Erfahrung, dass das Firmenmotto die unsinnige, zugleich aber vielsagende Aussage Versicherung ist alles lautete, und dass die Gesellschaft weltweit fast dreitausend Mitarbeiter hatte.

»Was ist denn das?«, fragte Beth plötzlich, als Hunt noch die Seiten umschlug. Sie zog einen gefalteten Bogen vergilbten Papiers aus der unteren Lage des Aktenkoffer-Inhalts und breitete ihn auf der einzigen Stelle des Tisches aus, die noch nicht mit Flugblättern und Formularen bedeckt war. Es war eine Weltkarte; mehrere Regionen waren mit einem »X« markiert; von diesen Punkten aus führten Linien zu handschriftlichen Anmerkungen am Rand. Hunt legte sein Buch zur Seite und ging um den Tisch herum, sodass er sich auf die andere Seite neben Beth setzen konnte.

»Sieh mal!«, sagte sie aufgeregt.

Doch Hunt hatte es schon bemerkt. Die Markierungen und Anmerkungen befanden sich an den wichtigsten Krisengebieten der Welt, den Unruheherden der letzten fünfzig Jahre: Vietnam, Kambodscha, Bangladesch, dem Mittleren Osten, Angola, dem Kosovo, Afghanistan, Somalia, Irak.

Unter der Karte befand sich eine weitere, deutlich ältere. Dort hieß der Iran noch »Persien«, Istanbul war »Konstantinopel«, Thailand war »Siam« und Sri Lanka war »Ceylon«. Diese Karte verschwand fast unter den Markierungen und Linien, den »X« und den Sternchen, und die handschriftlichen Anmerkungen führten über den Rand der Karte hinaus in die blau markierten Ozeane hinein. Hunt sah Namen, die er aus der Geschichte kannte; bedeutende Persönlichkeiten, die an weltverändernden Ereignissen beteiligt gewesen waren und hinter Kriegen und Seuchen, Revolutionen und Attentaten gesteckt hatten.

Plötzlich wurde ihm alles klar. Jetzt verstand er, warum diese Karte sich im Aktenkoffer des Versicherungsvertreters befand.

Ihr Vertreter war auch der Vertreter dieser mächtigen und berühmten Personen gewesen.

Beth war zu demselben Schluss gekommen. »Mein Gott«, stieß sie hervor.

Hunt nickte bloß. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er zu lesen, was am Ende einer der mit einem Sternchen gekennzeichneten Linie stand. Das einzige Wort, das er entziffern konnte, lautete »Hannibal«.

»Meinst du ...«, Beth schluckte schwer, »meinst du, all diese Kriege und Aufstände haben sich ereignet, weil die Leute keine Versicherungen abgeschlossen hatten?«

Genau das hatte Hunt vermutet. Er nickte und leckte sich über die plötzlich trockenen Lippen. »Ja.«

»Dieser Mann hat die Weltgeschichte beeinflusst? Er hat Geschichte gemacht?«

»Wenn das wirklich er war.« Hunt wollte nicht glauben, dass der Vertreter tatsächlich schon so lange sein Unwesen trieb; wenn das zutraf, musste er steinalt sein. »Vielleicht hat er die Karte von seinem Vorgänger übernommen, und der hatte sie von seinem und so weiter.«

»Nein«, widersprach Beth. »Das war er.«

Hunt verfolgte auf der Karte eine Linie, die von Rom ausging ...

Der Untergang des Römischen Reiches?

... bis zu einer Randnotiz, in der er nur die Worte »Nichteinhaltung des Vertrages« lesen konnte.

»Was ist er überhaupt?«, fragte Beth. Die nächsten Worte flüsterte sie: »Vielleicht ist er der Teufel.«

»Nein«, sagte Hunt. »Er arbeitet einfach nur für die Versicherung.«

»Aber was ist das für ein Unternehmen?«

Darauf wusste auch Hunt keine Antwort. Er leerte seine Taschen und reichte Beth das wenige Geld. »Sieh zu, wie weit du damit kommst, und fang an zu kopieren«, sagte er. »Ich rufe Joel, Jorge und Edward an.«


Bei allen seinen Freunden war das Telefon besetzt, was Hunt sehr verdächtig fand. Die Angst keimte in ihm auf, sie würden gefoltert oder könnten bereits tot sein, bestraft für sein Fehlverhalten. Vor seinem geistigen Auge sah er den Versicherungsvertreter, der vor Jorge und Ynez auf und ab ging und immer wieder fragte, wo sein Aktenkoffer sei, während einer der dunklen, stämmigen Männer mit den breitkrempigen Hüten ihren verstümmelten Sohn festhielt und mit weiteren Abscheulichkeiten droht.

Nein. Das war eine Überreaktion.

Hoffte Hunt.

Dennoch stellte er seine Versuche ein, die Freunde anzurufen, weil er fürchtete, der Versicherungsvertreter könnte sich melden, falls doch jemand abnahm.

Nachdem er sich fünfzig Cents fürs Telefon genommen hatte, blieb ihnen genug Geld, um fünfzehn Seiten zu kopieren. Das war nicht viel, also beschlossen sie, die Karten zu kopieren, wobei sie sie Stück um Stück kopierten, um die ganze Karte in Originalgröße reproduzieren zu können. Dafür brauchten sie zwölf Kopien. Mit den restlichen drei Kopien verkleinerten sie die beiden Karten auf ein einzelnes Blatt. Außerdem hatte Beth einen Eintrag gefunden, bei dem es sich um die Adresse des Büros der Insurance Group in Tucson handeln konnte. Auch diese Seite kopierten sie.

Hunt wollte sofort zu diesem Büro fahren und dort mit jemandem sprechen - egal, wen er antraf -, oder wenigstens schon mal das Terrain sondieren. Doch sie hatten kein Auto und kein Geld. Also beschlossen sie, zu ihrem Haus zurückzukehren und sich dort alles Nötige zu besorgen, auch wenn es sehr gefährlich war.

»Wir warten erst mal ab und beobachten das Haus«, schlug Beth vor. »Wir können uns auf der anderen Straßenseite verstecken. Oder im Garten der Bretts. Wenn wir nichts Verdächtiges entdecken, geht einer von uns ins Haus und checkt dort alles.«

»Ich gehe rein«, erklärte Hunt.

Beth lächelte. »Ich hatte gehofft, dass du das sagst.«

Auf dem Heimweg waren die Straßen frei; nirgends schlich der Versicherungsvertreter in seinem Totengräberanzug durch die Stadt, und er fuhr auch nicht in einem Firmenwagen durch die Gegend. Als Beth und Hunt sich hinter den Ruinen des Brett-Hauses versteckten und ihr eigenes Haus beobachteten, sahen sie keinerlei Bewegung. Hunt ging zur Hintertür. Er rechnete mit allem - mit dem Versicherungsvertreter, einer zertrümmerten Küche, einem Gespenst im Gästezimmer -, doch im Haus war nichts, und nachdem er in alle Zimmer geschaut, sämtliche Schränke geöffnet und auch die Garage überprüft hatte, winkte er Beth herein.

Sie beeilten sich. Hunt zog sich ein Hemd an, dazu Tennisschuhe; dann griff er nach seiner Brieftasche und den Schlüsseln. Beth nahm ihre Handtasche und schlüpfte in Turnschuhe. Um die gestohlenen Gegenstände nicht geradewegs in die Höhle des Löwen zu tragen, verbarg Hunt den Aktenkoffer hinter dem überzähligen Kühlschrank, den sie in der Garage abgestellt hatten, während Beth die Kartenkopien im Haus versteckte. Die beiden am Kopierer verkleinerten Karten nahmen sie mit, ebenso die fotokopierte Adresse.

Es war kurz nach elf Uhr.

»Fertig?«, fragte Hunt.

»Fertig.«

Sie brachen auf.

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