3.


Schon auf dem Weg zur Arbeit wusste Hunt, dass irgendetwas passieren würde. Er war fünf Minuten zu spät, doch bisher hatte noch kein Arbeitstrupp den Hof der Abteilung Landschaftspflege verlassen. Die Männer hatten sich noch nicht einmal in den üblichen Trupps gruppiert; Hunt sah nur eine einzige, wimmelnde Menschentraube aus Landschaftspflegern, die sich über die gesamte Fläche zwischen dem Lagerhaus, der Garage und dem Hoftor verteilten.

»Was ist denn?«, fragte er Jack Hardy, den er als Ersten traf.

»Steve«, sagte Hardy knapp. »Ist gestern Abend vom Dach gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Chuck versucht gerade herauszufinden, ob er noch lebt. Bisher weiß das niemand.«

Arbeitsplatzversicherung.

Das konnte nicht sein.

Doch Hunt wusste, dass es sehr wohl sein konnte, und beklommen blickte er sich um, plötzlich von einem unerträglichen Schuldgefühl geplagt, gepaart mit Entsetzen. Er steckte bis zum Hals in der ganzen Sache. Wie das Kind aus den Gruselgeschichten, das mit einem Ouija-Brett spielt und das Tor für die Heerscharen der Hölle öffnete, hatte Hunt sich mit etwas eingelassen, das er nicht verstand, und statt sich nach und nach aus seinen Schwierigkeiten zu befreien, musste er feststellen, dass er sich tiefer und tiefer darin verstrickte.

Er war für den Tod von Kate Gifford verantwortlich, und jetzt vielleicht auch für Steves »Unfall«.

In der Menschenmenge suchte Hunt nach Jorge und sah, dass dieser auf der anderen Seite des Hofes neben der Zapfsäule gerade mit Mike Flory sprach. Hunt wollte dringend mit Jorge sprechen - aber nicht, solange Mike dabei war. Und so nickte er ihm nur zu und sagte: »Hallo.« Die drei unterhielten sich noch ein wenig, während sie auf Chucks neuesten Bericht warteten. Die einhellige Meinung war, Steve sei zwar ein Blödmann, aber so etwas habe er nun doch nicht verdient.

»Vielleicht überlebt er ja und kommt wieder auf die Beine. Aber er wird auf jeden Fall vorzeitig in Ruhestand gehen müssen, und dann kriegen wir einen neuen Abteilungsleiter, der sich vielleicht sogar wirklich für uns einsetzt«, sagte Mike hoffnungsvoll.

Jorge jedoch sagte gar nichts. Er wirkte unruhig und schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, blickte sich immer wieder im Hof um, als suche er jemanden. Und jedes Mal, wenn Steves Name fiel, verfiel er in völlig untypisches Schweigen.

Unter dem Vorwand, Kaffee holen zu wollen, nahm Hunt ihn beiseite. Neben einem der Lastwagen blieben sie stehen, sodass man ihr Gespräch nicht belauschen konnte. »Du hast eine Arbeitsplatzversicherung abgeschlossen, nicht wahr?«

Jorge nickte, merklich erleichtert, endlich darüber sprechen zu können. »Ja!«

»Ich auch.«

»Und deswegen ...«

Hunt unterbrach ihn. »Ja. Ich glaub schon.«

Chuck Osterwald kam aus dem Verwaltungsbüro der Abteilung Landschaftspflege und hob die Hände, um die Menge zum Schweigen zu bringen. »Keine guten Nachrichten! Steve liegt im Koma!«, verkündete er. »Die wissen noch nicht, ob er durchkommen wird. Er hat einen Riss in der Milz, und eine Rippe hat die Lunge durchbohrt. Hinzu kommen innere Blutungen und ein schweres Schädeltrauma. Er ist schon operiert, aber selbst wenn er überleben sollte, wissen die Ärzte nicht, wie lange es dauert, bis er aus dem Koma erwacht - falls überhaupt. Len Rojas wird als kommissarischer Abteilungsleiter einspringen. Er hat aus der Stadt angerufen. Alle sollen in die Hufe kommen und sich an die Arbeit machen. Der Zeitplan für diese Woche bleibt unverändert. Was nächste Woche passiert, wird Len dann noch entscheiden. Los geht's!«

Die Arbeiter verteilten sich auf ihre Trupps und gingen zu ihren Einsatzfahrzeugen.

Jorge dachte einen Augenblick lang nach. »Steve war nicht der Einzige, der unsere Arbeitsplätze gefährdet hat«, sagte er leise.

»Ich weiß.«

»Andere wollten unsere Jobs an die Arbeiter von Fremdfirmen vergeben.«

»Ich weiß.«

»Aber der Aufsichtsrat ...«

Hunt blickte ihn an. »Ich weiß.«


Die Orgie war die Hauptmeldung in den Abendnachrichten.

Details wurden nicht bekannt, aber selbst der allgemeine Überblick war schon pikant genug, dass Reporter vor dem normalerweise ruhigen und architektonisch völlig uninteressanten Gebäude der Bezirksverwaltung Stellung bezogen hatten und atemlos von dem »Skandal, der diese Regierungseinrichtung bis in ihre Grundfesten erschütterte« berichteten. Die Meldung wurde um fünf Uhr gebracht, um sechs Uhr in den landesweiten Nachrichten und dann noch einmal um zehn Uhr.

Anscheinend hatte ein Praktikant von der University of Arizona in der letzten Nacht noch lange gearbeitet, um die Mitarbeiter des Büros, dem er zugeordnet war, mit seiner Sorgfalt und seinem Pflichtbewusstsein zu beeindrucken, und hatte die Tür zum Konferenzzimmer geöffnet - den Raum, in den man sich zurückzog, um ungestört diskutieren zu können. Dort hatte er die fünf Mitglieder des Aufsichtsrats vorgefunden, dazu noch zwei bisher nicht identifizierte Abteilungsleiter, die sich in einer »Orgie« ergingen, wie NBC und CBS es bezeichneten. ABC nannte es den »Sexclub nach Dienstschluss«, während Fox von »glühend heißen Sexkapaden« sprach.

Der Praktikant war geradewegs zum Leiter der Verwaltung gegangen, und dann zu seinen Eltern. Sämtliche Aufsichtsratsmitglieder hatten sofort Rücktrittsgesuche eingereicht, und noch vor Ende des Monats sollte eine außerordentliche Wahl stattfinden, um die Nachfolge zu bestimmen. Auch die in die »Orgie« verwickelten Abteilungsleiter waren zurückgetreten.

Hunt hatte das dumpfe Gefühl, dass diese beiden nicht identifizierten Herren sich für die Vergabe des Baumbeschnitts an Fremdfirmen eingesetzt hatten.

Jorge rief an, als Hunt und Beth gerade aßen, um ihnen die Einzelheiten zu berichten, die er von einem Freund aus der Verwaltung gehört hatte. Helen Butler, die einzige Frau im Aufsichtsrat, hatte auf dem Konferenztisch gelegen, als der Praktikant hereinspaziert war; alle drei ihrer Körperöffnungen waren gerade im Einsatz. Lee Spenser, ein ruppiger Ex-Marine, kauerte auf Händen und Knien auf dem Boden und ließ es sich von hinten besorgen, wobei Reynold Lopez ihm nur zu gerne diesen Gefallen tat. Und die beiden Abteilungsleiter waren tatsächlich diejenigen, die sich am stärksten für die externe Vergabe der Landschaftspflege im Allgemeinen und des Baumbeschnitts im Besonderen eingesetzt hatten. Einer der beiden beschäftigte gerade Helen Butlers Mund, während der andere alleine in einer Ecke saß und sich selbst einen Klistierschlauch einführte.

Hunt merkte, dass Jorge eine gewisse Freude daran hatte, dass diese Herren, die ihm so gerne den Job wegrationalisiert hätten, auf diese Weise ihre gerechte Strafe erhalten hatten. Hinzu kamen aber auch Entsetzen und Furcht - das Begreifen, dass das, was hier geschah, nicht nur alle Naturgesetze und Wahrscheinlichkeiten außer Kraft setzte, sondern auch sämtliche moralischen Grundwerte.

»Was passiert als Nächstes?«, fragte Jorge dann. »Oder war es das jetzt?«

»Hoffen wir 's«, sagte Hunt. »Hoffen wir 's.«

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