4.


Langsam spazierten Beth und Stacy durch die Foothills Mall, plauderten und bummelten an den Schaufenstern vorbei. Ein paar Schritte vor ihnen schlürfte Lilly einen Shake von Orange Julius und warf verstohlen einen Blick in das Schaufenster von Victoria's Secret. Dann schaute das Mädchen über die Schulter. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als sie bemerkte, dass ihre Mutter sie beobachtete. Sofort drehte Lilly sich wieder um.

Als sie an dem Dessous-Geschäft vorbeigingen, deutete Stacy auf das Schaufenster und fragte Beth: »Brauchst du irgendwas?«

Beth lachte.

Es war schon eine Weile her, dass sie das letzte Mal über dieses Thema hatte lachen können - und ihre Freundin hatte die Veränderung offensichtlich bemerkt. Beth wusste nicht recht, ob sie stolz darauf sein sollte oder eher peinlich berührt, doch wie auch immer: Sie war froh, dass ihr Liebesleben sich zum Besseren verändert hatte und dass sie das Leben wieder genießen konnte.

Dass sie Hunt kennen gelernt hatte.

Hunt.

Er war anders als die Männer, mit denen sie ausgegangen war, nachdem Tad sie »abgeschossen« hatte. Tad war gut aussehend gewesen, erfolgreich und charmant, aber er war auch kleinlich gewesen, sehr auf Kontrolle bedacht und hoffnungslos egozentrisch. Hunt war viel sanfter, ausgeglichener und netter. Auch wenn das nicht unbedingt die Eigenschaften waren, die Beth bei einem Mann suchte, hätte man sie gefragt. Doch Hunt war auch - trotz seines offensichtlichen Mangels an Ehrgeiz - viel intelligenter als Tad, und das sprach Beth schon eher an. Aber das Wichtigste war, dass Hunt sie glücklich machte. Sie war gerne mit ihm zusammen und freute sich jedes Mal darauf, ihn wiederzusehen. Ihre Gefühle für Hunt wurden immer stärker, und sie war fast sicher, dass sie es gemeinsam schaffen konnten.

Wäre es nach Beth gegangen, wären sie sofort zusammengezogen, aber sie hatte Verständnis dafür, dass Hunt zögerte, sich so schnell derart fest zu binden. Nach seiner Scheidung war er ein wenig misstrauisch, und das konnte man ihm schwerlich zum Vorwurf machen. Beth selbst jedoch verspürte keine derartige Zögerlichkeit, trotz ihrer eigenen, durchaus emotional belasteten Lebensgeschichte. Sie war schon immer bereit gewesen, Risiken einzugehen, und sie hatte sich schon immer gut darauf verstanden, notfalls rasche Entscheidungen zu fällen. Außerdem hatte sie schon am ersten Abend bei Stacy und Joel beschlossen, dass sie Hunt behalten wollte.

Eine schick gekleidete Frau, die durchaus ein Model hätte sein können, kam mit großen Schritten aus dem Victoria's Secrets und hätte Beth und Stacy beinahe umgerannt. Sie sprach in ihr Handy und nahm die beiden Frauen kaum wahr, während sie vorübereilte und währenddessen weitersprach. »Nein, Tristan«, sagte sie. »Nach dem Schwimmunterricht hast du Karate, und morgen musst du zum Werken ...«

»Hast du das gesehen?«, fragte Beth ungläubig.

»Hast du das gehört?«, gab Stacy zurück.

»Ja. Ihr Sohn tut mir leid.«

»Mir auch. Die Kinder heutzutage haben einen übervollen Zeitplan. Viele bekommen Ballettstunden, Klavierunterricht oder gehen in Sportvereine, um später die Chance auf ein Hochschulstipendium zu haben. Wir haben versucht, das alles bei Lilly auf ein Mindestmaß zu beschränken. Sie ist bei den Pfadfindern, und jetzt hat sie sich für die Schulband angemeldet. Zumindest so viel lässt sich kaum vermeiden.« Sie seufzte. »Das ist nicht mehr wie früher, als wir selbst noch Kinder waren. Die Mädchen heutzutage haben gar nicht mehr die Zeit, im Einkaufszentrum herumzuhängen oder zusammen zu Hause zu sitzen, zu tratschen und verschiedene Nagellackfarben auszuprobieren.«

»Ja, ist irgendwie schade. Kinder sollten auch ein bisschen Zeit haben, die nicht total verplant ist. Lasst Kinder doch Kinder sein!«

Stacy nickte. »Und die Zeit verfliegt so schnell. Mir kommt es vor, als wäre Lilly gestern noch in Windeln herumgelaufen. Und jetzt dauert es nur noch ein paar Jahre, dann ist sie ein Teenager.«

»Jedenfalls hast du bei deiner Tochter gute Arbeit geleistet. Sie ist ein prächtiges Mädchen.«

»Das ist sie.« Vielsagend blickte Stacy zu Beth hinüber. »Hast du schon mal an eigene Kinder gedacht?«

»Aber Stacy!«

Abwehrend hob sie die Hand. »Ich meine, ganz allgemein. Nicht konkret, und nicht unbedingt mit Hunt. Ich habe mich nur gefragt, ob du dich irgendwann in der Zukunft als Mutter siehst.«

»Weil meine biologische Uhr tickt?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Nein, das habe ich gesagt. Ja, natürlich habe ich schon darüber nachgedacht. Ganz allgemein, nicht konkret.« Sie hielt inne und lächelte. »Und in letzter Zeit auch nicht ganz so allgemein.«

»Aha!« Stacy grinste. »Hunt könnte schon der Richtige sein.«

»Valley Girl.«

»Was soll das jetzt heißen?«

»Am Ende von Valley Girl, als Nicolas Cage mit dem Mädchen den Abschlussball verlässt und die Band auf der Bühne ist. Da fängt die Sängerin - ich glaube, es war Josie Cotton - mit diesem Song an:He could be the one ...« Erst jetzt bemerkte Stacy die Verständnislosigkeit in Beths Miene. »'tschuldigung. War wohl vor deiner Zeit.«

»So viel jünger als du bin ich nun auch nicht!«

»Nimm jedes Kompliment mit, das du kriegen kannst.«

»Mommy!«, rief Lilly.

Als die beiden Frauen das Mädchen erreichten, spähte Lilly gerade durch die Fensterscheibe einer Zoohandlung und beäugte drei junge rote Kätzchen, die sich spielerisch über ein mit Teppich bezogenes Regal rollten.

»Kriege ich eine Katze?«

»Da musst du deinen Vater fragen«, sagte Stacy. »Und das weißt du auch.«

»Das heißt dann wohl nein.«

»Ich habe dir schon mal gesagt: Wenn du deinem Dad beweist, dass du die Verantwortung für eine Katze übernehmen kannst, wird er dir eine kaufen.«

»Aber ich kann ihm nicht beweisen, dass ich mich um ein Haustier kümmern kann, solange ich keins habe. Das ist doch ein Teufelskreis.«

Stacy lachte. »Ein Teufelskreis? Woher kennst du denn den Ausdruck?«

»Ich höre zu«, sagte Lilly. »Ich passe gut auf.«

»Kleine Kinder, große Ohren«, warnte Beth lächelnd.

»Was ist mit Hunt?«, fragte Stacy. »Meinst du, der mag Katzen?«

»Wird er schon«, versprach Beth. »Wird er schon.«


»Courtney!«

Beth stellte ihre Einkaufstaschen auf den Küchentisch und schaute sich nach der Katze um. Normalerweise begrüßte Courtney sie in dem Augenblick, da sie zur Tür hereinkam. Doch das Klappern des Schlüssels im Schloss und ihre Schritte hatten das Tier dieses Mal noch nicht angelockt, also rief Beth noch einmal: »Courtney!«

Aus dem Wohnzimmer war ein Miauen zu hören, und Beth folgte dem Geräusch. »Courtney?«, rief sie leise. Die Katze - eigentlich ein Kater, aber Beth hatte der Name Courtney so gut gefallen, dass sie über derartige Kleinigkeiten hinwegsehen konnte - saß vor dem Durchgang zum Flur, stocksteif, den Blick unverwandt auf das Schlafzimmer am anderen Ende der Diele gerichtet. Unwillkürlich lief Beth ein Angstschauer über den Rücken - eine Regung, die sie gar nicht zur Kenntnis nehmen wollte. »Was machst du denn?«, fragte sie und hob den Kater hoch. Courtneys Muskeln waren starr, fast zum Zerreißen gespannt. Beth hielt ihn sich vors Gesicht, schaute ihm in die grünen Augen. Erst jetzt entspannte er sich und maunzte sein Frauchen fröhlich an.

»Komm, holen wir uns ein Leckerchen.« Beth trug Courtney in die Küche zurück. Sie wusste nicht, warum das Tier so angespannt gewesen war und was es am Ende des Flures gesehen zu haben glaubte, doch es machte Beth nervös, und sie hatte Angst, nachzusehen.

Sie wünschte, Hunt wäre hier.

Das war ein weiterer Grund, warum sie sich so sehr wünschte, er würde bei ihr einziehen - auch wenn Beth es nur sich selbst gegenüber eingestanden hätte. In letzter Zeit hatte sie ein seltsames Gefühl, was dieses Haus betraf. Immer wieder gab es Augenblicke, in denen sie aufschreckte oder sich ohne jeden erkennbaren Grund unwohl fühlte. Wahrscheinlich kam es daher, dass sie zu lange alleine gelebt hatte. Doch es war immer noch beunruhigend, und sie fühlte sich viel besser, wenn Hunt bei ihr war.

»Schauen wir doch mal, was wir heute gekauft haben«, sagte sie, einfach nur, um eine Stimme zu hören, irgendeine Stimme, und wenn es ihre eigene war. Sie kramte in der ersten Tasche. »Neue Turnschuhe. Und neue Socken. Endlich.« Sie öffnete die zweite Tasche. »Jeans! Jetzt habe ich endlich wieder eine Hose, die mir passt!«

Irgendwo im hinteren Teil des Hauses - es hörte sich an, als käme es aus ihrem Schlafzimmer - war ein leises, stetiges Klopfen zu hören, wie Holz, das auf Holz trifft; in der Stille des Hauses erschien es Beth widernatürlich laut.

Courtney fauchte und machte einen Buckel; dann wich er von seinem Fressnapf zurück.

Da ist nichts, sagte sich Beth. Doch als sie die möglichen Ursachen für das Geräusch durchging - Wasserleitungen, spielende Kinder vor dem Haus, das Fundament, das sich ein wenig setzte, Ratten -, erschien ihr nichts davon plausibel.

Was wäre ihr denn plausibel erschienen?

Sie wehrte sich gegen diesen verrückten Gedanken, wollte gar nicht erst weiter darüber nachdenken. Aber sie dachte darüber nach. Und auch, wenn es helllichter Tag war, auch wenn alle Gardinen offen waren, erschien ihr das Innere des Hauses plötzlich finster und bedrohlich. Durch das Küchenfenster konnte sie die Außenwelt sehen: ihren Wagen, den Vorgarten ihrer Nachbarn, der Valdez, ein Flugzeug am Himmel. Normale, alltägliche Dinge, die Beth jedoch plötzlich eine Million Meilen weit entfernt zu sein schienen.

Sie öffnete eine Küchenschublade und nahm das große Tranchiermesser heraus. Sie umklammerte das Heft, ging aus der Küche durchs Wohnzimmer und nach kurzem Zögern in die Diele. Einen Augenblick hatte das Klopfen aufgehört - wie eine Grille, wenn jemand sich näherte -, doch fast sofort setzte es wieder ein. Nun erkannte Beth, woher das Geräusch kam: aus dem Gästezimmer.

Langsam ging sie weiter und versuchte, keinen Laut zu machen. Die Tür zum Gästezimmer war geschlossen, auch wenn Beth sie sonst immer offen ließ. Nun stand sie davor und lauschte dem Klopfen, das hinter der Tür zu hören war. Sie wusste nicht, was sie erwartete, doch unwillkürlich ging ihr eine Szene aus einem alten Kinderbuch durch den Kopf - eine Gruselgeschichte über ein Haus, in dem der Geist eines alten Schusters spukte. Beth stellte sich vor, wie sie das Zimmer betrat und in einer Ecke eine verschrumpelte Gestalt vorfand, ein weißhaariges Gespenst mit einem weißen Totenschädel anstelle eines Gesichts; die Gestalt saß an einem kleinen Tisch in einem uralten Stuhl und arbeitete wie besessen an einem Paar ebenso geisterhafter Schuhe.

Das Klopfen wurde allmählich leiser und verstummte dann völlig. Dann erklang es wieder mit voller Lautstärke - ein lautes, stetes Hämmern. Vor ihrem geistigen Auge sah Beth riesige grüne Fingerknöchel, die gegen die Tür pochten und Einlass begehrten.

Ihr Instinkt riet ihr, davonzulaufen und sofort das Haus zu verlassen, doch sie blieb stehen, zwang sich mit aller Kraft, nicht die Flucht zu ergreifen.

Sie riss sich zusammen, öffnete die Tür und trat ein.

Da war gar nichts.

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