1.


Am Samstag kam die Post ziemlich früh. Hunt war wieder im Internet, versuchte mehr über ihre verschiedenen Versicherungspolicen herauszufinden; er suchte jetzt nicht nur nach dem eigentlichen Namen der Versicherungsgesellschaft, sondern nach den Bezeichnungen der einzelnen Policen selbst, verglich sie mit dem Text, den er von vergleichbaren Angeboten, von Versicherungsgesellschaften aus dem Internet, vorliegen hatte. Er hörte das Klappern der Briefkastenklappe, erwartete aber nichts Wichtiges; also wartete er, bis Beth ihn zum Mittagessen rief, ehe er die Haustür öffnete und die Post aus dem Kasten holte.

Es waren so viele Postkarten und Briefumschläge, dass sie nicht alle in den Briefkasten passten, und so hatte ihr Briefträger den Rest in drei säuberlichen Stapeln neben die Haustür gestellt.

Was war das denn? Hunt griff nach einer Postkarte, die einen Obdachlosen zeigte, der neben einem toten Hund im Rinnstein saß. Auf der Rückseite war eine computer-handschriftliche Bemerkung, die Hunt riet, seinen Versicherungsvertreter anzurufen.

Seinen Versicherungsvertreter.

Hastig sammelte Hunt die ganze Post ein, brachte sie ins Haus und ließ sie auf den Couchtisch fallen. Dann griff er nach einem Briefumschlag und öffnete ihn - und noch bevor er das tat, stellte er fest, dass der Umschlag keinen Absender trug. Und natürlich befand sich ein Flugblatt darin, das für eine Arbeitsplatzversicherung warb und deren Vorzüge pries. Hunt machte sich daran, die anderen Umschläge zu öffnen, und rechnete mit einer ganzen Reihe verschiedener Policen, die ihnen angeboten wurden, doch zu seiner Überraschung waren alle Postkarten und Briefe identisch: insgesamt dreißig Werbungen für die Arbeitsplatzversicherung aus dem Angebot der Insurance Group. Nichts davon warb für irgendeine andere Versicherung, die Beth und Hunt noch nicht abgeschlossen hatten.

Hunt dachte an Edward, der jetzt im Krankenhaus lag, weil er keine Zusatzversicherung für körperlich Arbeitende abgeschlossen hatte. Nur seine Leibesfülle und sein guter Allgemeinzustand hatten Hunts Freund und Kollegen davor bewahrt, ernsthaftere Verletzungen davonzutragen oder gar ums Leben zu kommen. Aber auch so würde Edward mehrere Tage im Krankenhaus verbringen müssen; danach musste er noch mindestens drei Wochen im Bett bleiben und sich anschließend einem ganzen Rattenschwanz an Physiotherapiestunden unterziehen, bevor er wieder auf die Beine kam und arbeiten konnte.

Der Versicherungsvertreter - daran zweifelte Hunt keine Sekunde - hatte ursprünglich etwas sehr viel Übleres im Schilde geführt.

Beth kam aus der Küche. »Ich habe gesagt, wir können jetzt essen ...«, setzte sie an. Dann sah sie die Post, die sich auf dem kleinen Couchtisch stapelte, und bemerkte Hunts Gesichtsausdruck.

»O Gott«, stieß sie hervor.

Hunt nickte und reichte ihr wortlos eines der Flugblätter. Ein weiteres nahm er sich selbst, und schweigend lasen beide den Text durch.

Schließlich ließ Hunt sein Flugblatt sinken. »Wir müssen diese Zusatzversicherung abschließen«, sagte er, »sonst sind wir unsere Jobs los. Und dann sind wir beide arbeitslos.«

»Es ist mir völlig egal, ob ich meinen Job verliere oder nicht«, sagte Beth stur. »Ich finde schon was Neues.«

»Vielleicht aber auch nicht.«

»Das werde ich dann ja sehen.«

»Einer von uns muss doch einen Job behalten«, beharrte Hunt. Der Grund dafür war der gleiche wie bei allen anderen Ehepaaren in Amerika: die Versicherungen. Nur mussten Hunt und Beth in ihrem speziellen Fall ihre monatlichen Beiträge bezahlen, weil sie sonst krank und obdachlos würden und im Gefängnis landeten - paradoxerweise ihnen würde alles das passieren, wovor ihre Versicherungen sie schützten.

Beth verstand, ohne dass er es hätte aussprechen müssen. »Dann lieber du«, sagte sie. »Du magst deinen Job wenigstens noch.« Frustriert fuhr sie sich durchs Haar. »Ich habe sowieso schon daran gedacht aufzuhören. Das wird mir alles zu viel.«

»Du könntest kündigen«, sagte Hunt freudlos.

Sie drehte sich zu ihm um. »Das ist ja das Heimtückische daran. Hast du dieses Flugblatt durchgelesen? Die Arbeitsplatzversicherung garantiert, dass man keinesfalls den Spaß an seiner Arbeit verliert, dass man nicht durch die Firmenpolitik oder durch irgendwelche persönlichen Umstände beeinträchtigt wird und dass man in einem Job glücklich wird, den man richtig gerne macht. Das richtet sich genau an mich. Und ich weiß immer noch nicht, ob das als Anreiz oder als Drohung aufzufassen ist. Weißt du, warum? Weil es sich für mich wirklich gut anhört. Und das erschreckt mich fast zu Tode.«

»Ich werde diese Versicherung nur für mich abschließen«, erklärte Hunt. »Wir werden ja sehen, was passiert. Und ich werde warten, bis dieser Kerl mich dazu drängt. Ich werde mich nicht freiwillig melden. Wenn wir zu viele Versicherungen abschließen, verschulden wir uns noch.«

Aber gab es überhaupt eine Möglichkeit, das zu verhindern? Del Daley hatte es versucht, und dafür war er ins Gefängnis gekommen. Und dann war er umgebracht worden.

Aber war Del wirklich das, was er zu sein schien?

War das überhaupt irgendjemand?

Vielleicht wäre es das Beste, einfach zu gehen. Die Siebensachen zu packen und im Schutz der Nacht zu verschwinden. Aus einer Laune heraus war Hunt nach Tucson gekommen, und genau so konnte er auch wieder gehen. Beth und er konnten ihr Zeug zusammenpacken und einfach aufbrechen. Niemanden darüber informieren, keine Nachrichten hinterlassen, einfach unter anderen Namen in einen anderen Staat ziehen. Sie konnten Jobs in einem Hotel in Colorado annehmen oder auf einer Farm in Nebraska, oder sie konnten irgendwo in Pennsylvania als Verkäufer anfangen.

Aber sie hätten immer noch die gleichen Fingerabdrücke, die gleichen Gesichter. Man konnte sie nachverfolgen. Hunt erinnerte sich daran, wie dieser Versicherungsvertreter zum ersten Mal ins Haus gekommen war und seine ersten Überschlagsrechnungen angestellt hatte. Er hatte vor sich hin gemurmelt, während er die Formulare durchgegangen war, doch Hunt hatte gehört, was er gemurmelt hatte, und er wusste ihre Geburtsdaten und Geburtsorte, kannte ihre bisherigen Beziehungspartner, wusste einfach alles über sie.

Hunt hatte das Gefühl, sie beide könnten sich genauso gut drastischen Gesichtsoperationen unterziehen und sich falsche Pässe besorgen, könnten sich mit Säure jeden Tag aufs Neue ihre Fingerkuppen verätzen und in die Wildnis von Kanada ziehen - der Versicherungsvertreter würde immer noch vor ihrer Tür erscheinen und ihnen eine Termitenversicherung für ihre Blockhütte anbieten.

Nein, das war kein Problem, vor dem sie einfach würden fortlaufen können.

Schweigend aßen sie, hörten das Gebrüll der verzogenen Bälger der Bretts von nebenan, und doch waren beide ganz in Gedanken versunken.

»Was meinst du wohl, in was für einem Haus der wohnt?«, fragte sich Beth laut. »Meinst du, der hat Frau und Kinder? Setzt der sich abends aufs Sofa und schaut Alle lieben Raymond?«

Hunt erkannte, dass er sich das unmöglich vorstellen konnte. Er fragte sich, wie der Versicherungsvertreter in einer ganz normalen Situation wirken mochte, versuchte sich vorzustellen, dass dieser Mann einen ganz normalen Tagesablauf hatte wie all die anderen Menschen in der Alltagswelt, doch es gelang ihm einfach nicht. Wenn er sich das Haus vorstellte, in dem dieser Mann wohnte, sah er vor dem geistigen Auge ein heruntergekommenes Herrenhaus - die Art von Gebäude, bei dem man sofort an Spuk und Poltergeister denkt. Wenn Hunt sich die Inneneinrichtung vorstellte, sah er eine Umgebung, in der sich Ebenezer Scrooge wohlgefühlt hätte: ein stockfinsteres Haus, in dem nur eine einzige, nackte Glühbirne über einem alten Holztisch brannte, auf der ganze Stapel von Versicherungspolicen lagen.

»Ich sollte ihm hinterhergehen, wenn wir ihn das nächste Mal sehen«, schlug Hunt vor. »Mal sehen, wohin er geht. Ob nun nach Hause oder in sein Büro, auf jeden Fall würde ich dann wenigstens etwas über ihn erfahren.«

»Aber wenn er dich sieht? Wenn er dich erwischt?«, warf Beth besorgt ein. »Der Gedanke gefällt mir gar nicht.«

Die Wahrheit war, dass der Gedanke auch Hunt nicht gefiel. Und er konnte sich nur zu leicht vorstellen, dass sein Foto dann plötzlich zwischen den Akten all der anderen als vermisst gemeldeten Personen auftauchte - entführt und für alle Zeiten in den Kellerräumen eines labyrinthartigen Versicherungsgebäudes eingesperrt, gefesselt und gefoltert und schließlich zurückgelassen, weil man ihn für tot hielt. Oder, was noch wahrscheinlicher war: Hunt hätte plötzlich einen Unfall, der praktischerweise nicht durch seine zahlreichen Policen abgedeckt wäre.

»Vielleicht verschwindet der Kerl, wenn wir gar nicht reagieren«, schlug Beth vor. »Vielleicht nimmt er sich dann jemand anderen vor und lässt uns in Ruhe.«

So würde es nicht kommen, und das wussten beide.

Aber sie konnten ja immer noch hoffen.

Nach dem Essen fuhren sie zuerst zum Gartencenter, dann zu Barnes & Noble, wo Beth in aller Ruhe die Kochbuchabteilung durchstöberte, während Hunt sich mit CDs beschäftigte und in ein paar Alben hineinhörte.

Als sie zurückkehrten, wartete der Vertreter schon auf sie. Geduldig stand er auf der Veranda und lächelte, als sie den Wagen auf die Auffahrt lenkten.

Beth sah genau so verängstigt aus, wie Hunt sich fühlte, doch er nestelte an seinem Sicherheitsgurt und blickte daran herunter. »Steig noch nicht aus! Lass ihn warten! Mal sehen, wie lange er dieses Lächeln aufrechterhalten kann.«

Lange, wie sich herausstellte. Beth gab vor, irgendetwas in ihrer Handtasche zu suchen, Hunt drehte sich um und tat lange Zeit so, als suche er etwas auf der Rückbank, bevor er das Handschuhfach öffnete und dessen Inhalt durchwühlte. Und immer noch lächelte der Mann, ließ sich keinerlei Ungeduld anmerken. Bald fiel ihnen nichts mehr ein, womit sie sich hätten beschäftigen können, statt aus dem Wagen zu steigen. Und so öffneten sie, langsam und zögerlich, die Türen. Hunt ging zum Kofferraum und öffnete ihn. Verborgen durch die Kofferraumhaube, ließen sie sich sehr viel Zeit beim Ausräumen ihrer Einkäufe.

Und der Vertreter lächelte immer noch.

»Haben Sie über die Arbeitsplatzversicherung nachgedacht?«, fragte er, als Beth und Hunt schließlich gemächlich die Auffahrt heraufgeschlendert kamen. »Den Job zu verlieren, kann für ein Ehepaar hart sein, sehr hart. Unseren Erhebungen zufolge belastet etwas Derartiges eine Beziehung sogar mehr als Untreue.«

Weder Beth noch Hunt antwortete ihm.

»So etwas macht schönen Wochenenden, an denen man bummeln geht oder sich entspannt, ein schnelles und schmerzliches Ende. Wenn man arbeitslos ist, verbringt man das Wochenende nämlich damit, die Kleinanzeigen durchzugehen, und man bleibt zu Hause, um nicht Geld für Benzin und andere Luxusgüter auszugeben.« Leise lachte der Versicherungsvertreter. »Nein, in diese Lage möchte ich wirklich nicht geraten. Immer schön Geld in der Tasche und erwerbstätig. Nur so kann man das Leben genießen, was?«

Hunt ließ einen Sack Blumenerde vor das Beet fallen, trat auf die Veranda, stellte sich unmittelbar neben den Versicherungsvertreter und schaute ihm fest in die Augen. Sie waren beide gleich groß, wie Hunt jetzt zum ersten Mal feststellte; es war beinahe so, als würde man in den Zerrspiegel in einem Lachkabinett schauen und ein groteskes Abbild seiner selbst sehen. Die beiden Männer hatten eigentlich keine Ähnlichkeit und waren nur annähernd gleich groß, und doch schien es irgendeine nicht näher zu bezeichnende, unterschwellige Ähnlichkeit zu geben, sodass Hunt sich sehr unwohl in seiner Haut fühlte.

»Ich weiß, dass wir das bereits angesprochen hatten, aber ich hielt es für an der Zeit, eine Entscheidung zu fällen.« Der Vertreter grinste. »Darf ich Sie beide also für eine Arbeitsplatzversicherung vormerken?« Er stand praktisch schon auf den Zehenspitzen.

»Nein ...«, setzte Beth an.

»Wir hätten gerne noch mehr Informationen, ehe wir uns endgültig entscheiden«, unterbrach Hunt sie. »Haben Sie eine Ausfertigung der Police dabei, die wir uns einmal anschauen könnten?«

Einen Augenblick lang schien der Vertreter aus dem Konzept gebracht. »Ich habe keine Police dabei«, gab er zu. »Nur ein Antragsformular.«

Jetzt hab ich dich!

Hunt versuchte den Augenblick genüsslich in die Länge zu ziehen. »Na ja, vielleicht könnten Sie eine mitbringen, wenn Sie das nächste Mal vorbeischauen, sodass wir Gelegenheit haben, mal einen Blick hineinzuwerfen, und dann können wir uns ja darüber unterhalten.«

Offensichtlich war dem Versicherungsvertreter so etwas bisher noch nie untergekommen. Wenn das Spiel schon so lange lief, hätten die Kunden so niedergeschlagen sein müssen, dass sie brav das Geld für jede neue Versicherungsleistung abdrückten, die man ihnen anbot!

»Ich kann Ihnen sämtliche Fragen zu den Details der Policen gleich hier beantworten«, sagte der Vertreter. »Ich weiß alles, was man darüber wissen kann.«

»Wir hätten es lieber schriftlich«, meldete sich jetzt Beth zu Wort, die genau verstanden hatte, worum es hier ging. »Sie wissen ja, wie das ist.«

Die Miene des Vertreters verfinsterte sich. »Ja, ich weiß, wie es ist, wenn Leute plötzlich nicht mehr die Hypotheken für ihr Haus bezahlen können, weil sie entlassen wurden. Ich weiß, wie es ist, wenn Autos und Möbel gepfändet werden, weil kein Geld mehr hereinkommt und die Rechnungen nicht bezahlt werden können.« Er beugte sich ein wenig vor. »Manchmal passiert so etwas einfach.« Er schnippte mit den Fingern. »Die Laune eines Geschäftsführers oder eines unmittelbaren Vorgesetzten kann einer vielversprechenden Karriere ein abruptes Ende bereiten. Das habe ich schon oft erlebt, und ich möchte nicht, dass es auch Ihnen so ergeht.«

»Dann vielleicht das Antragsformular«, setzte Hunt nach. »Ist eine Beschreibung der zugehörigen Versicherung dabei, und was genau die umfasst?«

»Eine detaillierte Beschreibung«, ergänzte Beth.

»Ich kann Ihnen erzählen, was sie umfasst. Sie bietet einen garantierten Arbeitsplatz. Ihren derzeitigen Job mit Ihrem derzeitigen Gehalt zu den derzeit gültigen Bedingungen. Sie werden nicht heruntergestuft, entlassen oder von der Arbeit freigestellt, und ihre Stelle wird nicht gekürzt, gestrichen oder an externe Arbeitskräfte vergeben.«

»Es besteht aber auch nicht mehr die Möglichkeit eines beruflichen Aufstiegs?«, fragte Beth nach. »Ich säße für immer auf der gleichen Stelle fest?«

»Sie können jederzeit aufsteigen, aber Sie werden niemals absteigen. Garantiert.« Jetzt war er wieder ganz der Alte, und mit schmeichlerischer, gut einstudierter Kundenverbindlichkeit ging er detailliert auf die einzelnen Vertragsbedingungen und Klauseln der Versicherungsleistungen ein, wurde immer selbstsicherer und enthusiastischer, je länger er sprach, bis seine Augen funkelten und ein glückliches Lächeln auf seinen Lippen lag. »Ich würde diese Chance sofort ergreifen, wenn ich Sie wäre«, verriet er ihnen. »Im Vertrauen gesagt - diese Versicherung wird nur für eine begrenzte Zeit angeboten. Wie es bei derart speziellen Deckungskonzepten häufig der Fall ist, bieten wir diese Police nur einigen wenigen Kunden an. Sobald die Zielvorgabe der Abschlüsse erreicht ist, wird das Angebot beendet, und die betreffende Versicherungsleistung wird nicht mehr angeboten.

»Also ...«, er blickte von Hunt zu Beth und wieder zurück, »ich brauche Ihre Entscheidung jetzt.«

Hunt hatte keine Wahl, hatte keine weiteren Hinhaltetaktiken mehr parat, und so sagte er, auch wenn er es zutiefst verabscheute: »Ich nehme sie.«

»Und Mrs. Jackson ebenfalls, nehme ich doch wohl an?«

Hunt wusste nicht, ob Beth sich immer noch an ihren ursprünglichen Plan halten wollte - nach diesem effektiven und einschüchternden Sermon, den sie gerade über sich hatten ergehen lassen müssen. Doch Beth schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie kühl.

Der Versicherungsvertreter schien sie nicht gehört zu haben. »Zwei Arbeitsplatzversicherungen für je zehn Dollar im Monat ...«

»Eine Police«, erklärte sie lauter. »Ich werde für mich keine abschließen. Mein Job ist sicher.«

Jetzt schlich sich ein Hauch von Verzweiflung in das Lächeln des Vertreters. »Wie ich Ihnen schon zu erklären versucht habe, kann sich so etwas jederzeit ändern.«

»Das Risiko gehe ich ein«, gab Beth zurück, und in dem Augenblick war Hunt so stolz auf sie, dass er hätte platzen können. Es war nur ein kleiner Sieg, aber immerhin ein Sieg, und er wurde dadurch noch viel süßer, dass sie dafür keinerlei Kompromisse hatten eingehen müssen. Er hatte nachgeben müssen, Beth aber nicht - und so lächerlich und schwülstig es klingen mochte, Hunt hatte das Gefühl, als hätten sie gerade einen boshaften, komplizierten und sorgsam ausgetüftelten Plan durchkreuzt.

»Das werden Sie bedauern«, sagte der Vertreter. Sein Tonfall war nonchalant, doch die tödliche Ernsthaftigkeit seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Das glaube ich nicht. Übrigens ...«, fragte Beth, »wie heißen Sie eigentlich? Das steht nicht auf Ihrer Karte.«

»He, du! Jackson!«

Sie wurden von einem lauten Ruf aus dem Vorgarten des Nachbarn unterbrochen, und ihre Aufmerksamkeit galt mit einem Mal nicht mehr dem Versicherungsvertreter. Hunt blickte an Beth vorbei und starrte auf die Gestalt, die ihn mit rauer Stimme rief. Streitlustig stapfte Ed Brett durch den Vorgarten seines Grundstücks auf sie zu. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt, und seine Miene verriet blanken Hass. An der Grenze seines Grundstücks blieb er stehen. »Perversling!«, schrie er und zeigte auf Hunt. »Ich will, dass du aus dieser Gegend verschwindest!«

»O Gott«, murmelte Hunt.

Das hatte Brett gehört. »Wage es ja nicht, den Namen des Herrn zu missbrauchen!« Er stapfte weiter, einfach in Beths Vorgarten hinein, bis er die Auffahrt erreicht hatte. Dort blieb er stehen und hämmerte mit der Faust auf die Motorhaube des Saab.

Zornig kam Hunt von der Veranda. »Runter von unserem Grundstück!«, rief er.

»Hunt!«, warnte Beth ihn.

»Was willst du denn dagegen machen, hä? Du bist doch nicht einmal Manns genug, mit einer richtigen Frau klarzukommen, deswegen musst du kleine Kinder befummeln! Und du glaubst, du kannst es mit mir aufnehmen? Das will ich doch mal sehen, Jackson!«

Oh Scheiße. War ja klar. Die Vorwürfe des Kindesmissbrauchs. Irgendwie hatte Brett davon erfahren. Hastig blickte Hunt die Straße auf und ab. Wie viele andere wussten noch davon? Wie viele von denen glaubten es?

»Und was willst du als Nächstes tun, hä? Willst du meine Jungen vernaschen? Ich will, dass du aus dieser Gegend verschwindest, Jackson. Du und deine Schlampe! Wir brauchen keine Perverslinge, die Tür an Tür mit uns wohnen.«

Hunt ging weiter auf ihn zu. Er war noch nie ein Mann gewesen, der sich gerne auf Körperkraft verließ, und seit der Grundschule hatte er sich mit niemandem mehr geprügelt, aber jetzt war er bereit, diesem Blödmann eine Tracht Prügel zu verpassen. »Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich habe noch nie, noch nie ein Kind unsittlich berührt. Und wenn du noch einmal so über meine Frau sprichst, prügle ich dir die Scheiße aus dem Leib!«

Hunt sah, dass hinter Ed Brett dessen Frau durch den Vorgarten gehuscht kam. Aus dem Wohnzimmer heraus feuerten Bretts Bälger ihren Vater an. »Mach ihn kalt!«, schrie einer der beiden.

Hunt spürte, wie ihn etwas am Arm berührte, und hielt inne. Beth zupfte an seinem Ärmel. »Lass es gut sein«, sagte sie. »Das sind doch Volltrottel. Wen interessiert schon, was die denken?«

Bretts Gesicht war purpurrot. »Wen nennst du einen Volltrottel?«

»Ja!«, schrie seine Frau und stellte sich neben ihn. »Wir vergewaltigen keine Kinder!«

»Niemand ...«, setzte Hunt an, als Brett ihm plötzlich einen Stoß vor die Brust versetzte, sodass Hunt fast zu Boden gestürzt wäre. Sofort hatte er sich wieder gefangen, bereit, diesem Neandertaler ordentlich eine zu verpassen, doch Beth hielt ihn zurück. »Nein!«, rief sie. »Hör auf! Lass dich nicht reizen!«

»Brauchst du das kleine Frauchen, das dich beschützt, du Weichei?«

Beth wandte sich zu ihrem Nachbarn um. »Er ist viel mehr Mann, als du jemals sein wirst, du widerlicher Fettkloß!«

Sally Brett rannte auf sie zu. »Nimm das zurück, du Schlampe!«

Und schon waren die Frauen zugange. Sally Brett kämpfte wild wie ein Tier, fuchtelte mit den Armen, biss und trat um sich. Doch Beth war flinker und stärker, und sie duckte sich und schnellte zurück, wich aus und schlug zu.

»Ich kratz dir die Augen aus!«, kreischte Sally Brett.

Ihre Ehemänner rissen sie auseinander, Beth immer noch in Kampfposition. Sally Brett wehrte sich jetzt wie eine Straßenkatze gegen ihren Mann. »Niemand will euch hier in der Nachbarschaft haben«, sagte Ed Brett, als die beiden sich wieder auf ihr eigenes Grundstück zurückgezogen hatten. »Macht euch vom Acker!«

»Leck mich!«, rief Hunt und ging mit Beth zurück auf ihre Veranda.

»Unterzeichnen Sie hier«, sagte der Vertreter und hielt ihm einen Stift und ein Klemmbrett hin.

Wütend setzte Hunt seine Unterschrift auf das Papier, ohne es auch nur zu lesen.

»Übrigens gibt es einen Nachtrag zu Ihrer Immobilienversicherung, den wir die ›Gute-Nachbarschafts-Police‹ nennen«, sagte der Vertreter freundlich. »Ich weiß nicht, ob Sie das schon gelesen hatten. Aber ich werde dafür sorgen, dass dieser Zusatz in Kraft tritt.« Er lächelte sie an. »Einen schönen Tag noch.«

Mit fröhlichem Pfeifen schlenderte der Versicherungsvertreter über den Rasen zum Bürgersteig.

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