Den Männern, die das Parlamentsgebäude bewachten, ob in Uniform oder nicht, widerstrebte es, Dodger und Simplicity Eintritt zu gewähren, vielleicht deshalb, weil sie französische Spione sein konnten – oder gar russische. Dodger war weder das eine noch das andere, aber anstatt den Wächtern zu sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollten – was der frühere Dodger getan hätte, der Dodger ohne Simplicity am Arm –, stand er einfach nur da, bemühte sich, möglichst groß auszusehen, und sagte: »Ich bin Mister Dodger und möchte zu Mister Charlie Dickens.«
Dies bewirkte den einen oder anderen Lacher, aber Dodger blieb weiterhin aufrecht stehen und starrte die Männer an, und schließlich sagte einer von ihnen: »Dodger? Ist das nicht der Mann, der heute Morgen den teuflischen Friseur überwältigt hat, drüben in der Fleet Street?« Der Mann, der als Erster gesprochen hatte, kam näher und sagte: »Es heißt, die Peeler hätten Angst gehabt, den Laden zu betreten. Offenbar findet eine Sammlung statt, und es sollen schon fast zehn Guineen zusammengekommen sein.«
Inzwischen hatte sich eine kleine Menschenansammlung gebildet, und Dodger konnte nur wiederholen: »Ich möchte in einer wichtigen Angelegenheit zu Mister Dickens.« Dann sagte er sich, dass er nur warten, die ihm dargebotenen Hände schütteln, nicken und lächeln musste, bis jemand Charlie holte.
Das ging in Ordnung, und ein Mann – ein sehr adretter, eleganter Mann – erschien plötzlich und sagte mit aufrichtiger Schärfe: »Wenn dies der Held ist – der doppelte Held der Fleet Street, sofern man den Zeitungen vertrauen darf –, welchen Dienst erweisen wir ihm dann anlässlich seines Besuchs? Was habt ihr euch nur gedacht?«
Dem letzten Wort verlieh der Mann eine besondere Betonung, und die Leute klatschten, und einige machten Bemerkungen in der Art von: »Wohl gesprochen, Mister Disraeli, wie wahr, wie wahr! Wo bleiben nur unsere Manieren?« Und einer von ihnen sagte: »Nun, ich weiß nicht, wie Sie das sehen, Gentlemen, aber meiner Meinung nach handelt es sich bei einem Helden wie diesem um einen Mann, der das grausige Rasiermesser des Mörders gewiss noch immer bei sich hat.« Die Worte versetzten Dodger einen Stich, und er malte sich aus, was geschehen mochte, wenn man ihn hier, an diesem Ort, mit dem Messer erwischte. Dann lachte der Mann, der das Rasiermesser erwähnt hatte, und fügte hinzu: »Allein der Gedanke, ha!«
»Allein der Gedanke«, murmelte Dodger und lachte ebenfalls, allerdings eher gezwungen.
Und so kamen Dodger und Simplicity ins Parlament, tatsächlich begleitet vom Rasiermesser und von einer Lüge, wogegen nichts einzuwenden war, denn Lügen hatten viele Leute ins Parlament gebracht. Dodger wusste noch immer nicht, warum er Sweeney Todds Rasiermesser in dem ganzen Durcheinander an sich genommen hatte. Irgendwie hatte er das Gefühl, es sei bei ihm derzeit am besten aufgehoben. Bevor er jedenfalls in dieser Hinsicht etwas unternehmen konnte, wurde Mister Dickens gerufen und traf kurze Zeit später ein. Er schüttelte Dodger theatralisch die Hand, musterte Simplicity und fragte: »Sind Sie etwa die junge Dame, die vor drei Nächten verprügelt wurde?« Dann betonte er, Dringendes mit dem jungen Kavalier besprechen zu müssen, was auch immer das bedeuten mochte.
Sie schritten durch Flure, die mit dicken Teppichen ausgelegt waren, und erreichten einen kleinen Raum mit einem Tisch. Während Dickens Stühle und Sessel zurechtrückte und Simplicity beim Platznehmen half, behielt Dodger Mister Disraeli im Auge. Er erinnerte ihn irgendwie an einen sehr viel jüngeren Solomon oder an eine Katze, die eine Untertasse mit Milch gefunden hat und jeden einzelnen Tropfen genießt. Er war … ja, das traf es gut: Er war ein Dodger, kein Dodger wie Dodger, aber eine andere Art von Dodger, und man musste selbst Dodger sein, um dies zu erkennen. Ein schlauer Mann und bewaffnet mit einer Zunge, die vielleicht noch Schlimmeres anrichten konnte als ein Messer. Ein außerordentlich gewiefter Typ und ganz klar ein Geezer.
Dodgers und Mister Disraelis Blicke trafen sich, und Mister Disraeli zwinkerte – vielleicht die Anerkennung eines Dodgers einem anderen gegenüber. Dodger lächelte, zwinkerte aber nicht, denn ein junger Mann konnte in Schwierigkeiten geraten, wenn er einem Gentleman zuzwinkerte. Bis zu diesem Moment hatte er Unbehagen empfunden, hervorgerufen von einer Umgebung mit Statuen, Teppichen, die jedes Geräusch schluckten, und vielen Bildern an den Wänden, den Porträts älterer Herren mit weißem Haar und verkniffenen Gesichtern, als litten sie an Verstopfung. Ihre wortlosen Blicke schienen ihm zu sagen, dass er klein und unbedeutend war, nicht mehr als ein Wurm. Disraelis Zwinkern brach den Bann und teilte ihm mit, dass es in diesem Gebäude nicht viel anders zuging als in einem der überfüllten Mietshäuser, die Dodger kannte. Es mochte größer, wärmer und besser eingerichtet sein, und die Menschen, die sich hier aufhielten, waren eindeutig besser ernährt, den dicken Bäuchen und roten Nasen nach zu urteilen. Durch das Zwinkern indes nahm Dodger nun eine weitere Ansammlung von Leuten zur Kenntnis, die um die besten Plätze rangelten, nach Macht und einem besseren Leben strebten, wenn nicht für alle, so zumindest für sie selbst.
Dodger grinste, während er diesen Gedanken festhielt wie einen magischen Ring, der ihm Macht verlieh und von dessen Vorhandensein sonst niemand wusste. Aber auf dieses gute Gefühl folgte ein schlechtes: Hier wimmelte es überall von Worten und Büchern, und derzeit fand er keine Worte.
Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter, und Charlie sagte: »Mein Freund, wir müssen uns um eine wichtige Angelegenheit kümmern. Vor meinem guten Freund Mister Disraeli kannst du offen sprechen. Er ist ein aufstrebender Politiker, in den wir große Hoffnungen setzen und der das gegenwärtige Problem kennt. Übrigens, wie geht es dir? Erfrischungen gefällig?« Während Dodger noch nach Worten suchte, nickte Simplicity höflich, und Charlie ging zur Tür und zog an einem Glockenstrang. Auf der Stelle erschien ein Mann, flüsterte kurz mit Charlie und ging wieder.
Charlie setzte sich in einen bequemen Sessel, und Disraeli folgte seinem Beispiel. Letzterer faszinierte Dodger. Er kannte das Wort insinuieren nicht, aber mit dem Gedanken dahinter war er vertraut. Mister Disraeli insinuierte sich selbst – in gewisser Weise verließ er einen Ort nicht, bis er tatsächlich ganz woanders war. Das macht ihn gefährlich, dachte Dodger, und dann fiel ihm ein, was er bei sich trug.
Während der Bedienstete noch unterwegs war, um etwas zu trinken zu holen, sagte Charlie: »Um Himmels willen, junger Mann, setz dich, die Stühle und Sessel beißen nicht! Ich bin hocherfreut, dass die Erholung der jungen Dame so gute Fortschritte macht – das ist wirklich eine gute Nachricht.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Disraeli, »aber wer ist die junge Dame eigentlich? Ist sie …? Wäre jemand so freundlich, mich ihr vorzustellen?«
Er stand auf, und Charlie erhob sich ebenfalls, führte Disraeli zu Simplicity und sagte: »Miss … Simplicity, darf ich Ihnen Mister Benjamin Disraeli vorstellen?«
Auf der Stuhlkante sitzend, beobachtete Dodger das Geschehen mit einem gewissen Staunen. In Seven Dials war so etwas nicht üblich. Dann sagte Charlie: »Ben, Miss Simplicity ist die Dame, über die wir gesprochen haben.«
Und mit zuckersüßer Stimme fragte Simplicity: »Was wurde über mich gesprochen, wenn ich fragen darf?«
Dodger wäre fast aufgesprungen, bereit, Simplicity falls notwendig zu verteidigen, aber Charlie sagte recht scharf: »Bleib sitzen, Dodger! Dies solltest du besser mir überlassen. Du kannst gern deine Meinung äußern, wenn du möchtest.« Er wandte sich an Simplicity. »Das gilt natürlich auch für Sie. Hier in England sieht man die Situation folgendermaßen, Miss Simplicity. Sie haben im Ausland gelebt, zusammen mit Ihrer Mutter, offenbar einer Englischlehrerin. Nach ihrem bedauernswerten Ableben haben Sie irgendwann in jüngerer Vergangenheit einen Prinzen aus einem der deutschen Länder geheiratet.« Charlie sah die junge Frau so an, als befürchte er eine Explosion, aber sie nickte nur, und er fuhr fort. »Wir wissen auch, dass Sie nicht viel später flohen und hier in England erschienen – wo Ihre Mutter geboren wurde.«
Simplicity starrte ihn an und erwiderte: »Ja. Und ich bin geflohen, weil sich mein Mann unmittelbar nach der Heirat als eine wehleidige Jammergestalt entpuppte. Er versuchte sogar, mir die Schuld an unserer sogenannten Ehe zu geben, ein Trick, meine Herren, der so alt ist wie die Welt.«
Dodger bemerkte, dass Disraeli zum Himmel aufgeblickt hatte – beziehungsweise zur Zimmerdecke. Selbst Charlie wirkte ein wenig betreten, ging aber nicht darauf ein und fuhr fort: »Inzwischen wissen wir aus Quellen, die ich hier nicht nennen möchte, dass zwei Landarbeiter, die Zeugen der Trauung waren, tot aufgefunden wurden. Und der Priester, der die Zeremonie durchführte, scheint eines Tages ausgerutscht zu sein, als er das Dach seiner Kirche inspizierte. Er überlebte den Sturz nicht.«
»Das muss Pater Jakob gewesen sein«, murmelte Simplicity mit blasser Miene. »Er war ein anständiger Mann, und mir scheint, dass ein Priester nicht einfach so vom Dach seiner Kirche fällt. Die Zeugen waren Heinrich und Gerta. Das Dienstmädchen, das mir die Mahlzeiten brachte, erzählte mir von ihnen. Offenbar sind Sie im Moment ein wenig um Worte verlegen, Sir, aber vermutlich wollen Sie mir auf die langatmige britische Art und Weise erklären, dass mein Mann seine Frau zurückhaben möchte. Abgesehen von dem Priester waren Heinrich und Gerta die einzigen Menschen, die Kenntnis von unserer Hochzeit hatten, und jetzt sind sie tot. Dies« – sie zog den goldenen Ring vom Finger und hob ihn hoch – »ist der einzige Hinweis auf meine Ehe. Ich glaube, Sir, Sie versuchen mir klarzumachen, dass mein Mann – beziehungsweise sein Vater – diesen Ring zurückhaben will, und zwar um jeden Preis.«
Disraeli und Charlie wechselten einen Blick, und Disraeli sagte: »Ja, Madam, das nehmen wir an.«
»Aber wissen Sie, Sir, es gibt noch einen weiteren Beweis für die Ehe. Damit meine ich mich selbst, Sir. Ich werde auf keinen Fall zurückkehren, denn ich weiß, dass ich dann einfach verschwinden könnte. Falls ich überhaupt die Reise überleben würde. Eine Reise per Schiff, meine Herren. Und nachdem ich der einzige übrig gebliebene Ehebeweis bin … wie leicht wäre es dann, ihn bei der Überfahrt im Meer zu versenken.«
Simplicity steckte sich den Ring wieder an den Finger und wandte sich mit großem Ernst an Disraeli und Charlie. »Zwei sehr nette Menschen hier in England, die meinen wahren Namen nicht kennen, nannten mich Simplicity, aber ich bin erheblich komplizierter. Ich weiß, dass mein Schwiegervater überaus zornig war, als er erfuhr, dass sein Sohn und Erbe geheiratet hatte, angeblich aus Liebe, eine Frau, die nicht einmal zur Zofe taugte, geschweige denn zur Prinzessin. Nun, meine Herren, so steht es in Märchen geschrieben, und bei der ersten Begegnung mit meinem Mann dachte ich, für mich ginge ein Märchen in Erfüllung. Bald musste ich mich folgender Wahrheit stellen: Prinzen und Prinzessinnen spielen in der europäischen Politik eine gewisse Rolle, wenn es um Staatsangelegenheiten geht. Die Leute glauben, wenn unsere Prinzessin euren Prinzen heiratet, dann gibt es keinen Krieg zwischen zwei Ländern, die sonst vielleicht ihre Truppen in Marsch gesetzt hätten. Und mein eitler, dummer Mann – und meine Dummheit, weil ich ihm glaubte – vereitelten eine gute Gelegenheit für Friedensverhandlungen.«
Dodger starrte Simplicity mit offenem Mund an. Eine Prinzessin? Man musste Ritter oder ein ähnlich feiner Pinkel sein, um eine Prinzessin zu retten, oder etwa nicht? Charlie und Disraeli bewegten sich unruhig in ihren Sesseln. In diesem Moment klopfte es leise an der Tür, und ein Mann mit Kaffee und kleinen Kuchenstücken trat ein.
»Ich glaube, Sir, ich bin so etwas wie ein politischer Flüchtling«, sagte Simplicity, als sie wieder allein waren. »Und es gibt Leute in diesem Land, die mir Böses wollen. Zweimal seit meiner Ankunft in England haben sie versucht, mich zu entführen, und ich verdanke es Dodger – und auch Ihnen, Mister Dickens –, dass ich heute hier bin und nicht auf einem Schiff, das mich zu meinem Mann zurückbringt. Meine Mutter, die tatsächlich Engländerin war, hat mir erzählt, dass in England alle Menschen frei sind. Ich bliebe sehr gern hier, Sir, und ich glaube, ich kann auch hier eine Person von gewissem Wert sein, obgleich ich selbst in diesem Land um meine Sicherheit fürchten muss. Doch für den Fall, dass ich zur Rückkehr gezwungen bin, rechne ich mit dem Schlimmsten. Ich bin nirgends sicher, meine Herren, weshalb ich mich recht hilflos fühle. Selbst hier in England bin ich bedroht, in einem Land, in dem angeblich kein Mann Sklave sein muss. Ich hoffe, meine Herren, das gilt auch für Frauen.«
Charlie trat an den Kamin, lehnte sich gegen den Sims und fragte: »Was hältst du davon, Ben?«
Mister Disraeli wirkte wie ein Mensch, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Seine scharfe Zunge schien ein wenig an Schärfe eingebüßt zu haben, denn er zögerte, bevor er sagte: »Nun, Madam, ich bedauere sehr, dass Sie sich in einer solchen Lage befinden. Aber uns, das heißt der britischen Regierung, wurde versichert, dass Ihnen niemand ein Leid zufügt, wenn Sie zurückkehren.«
Dodger erhob sich unvermittelt. »Kann man solchen Versicherungen trauen?«, warf er ein. »Außerdem ist ein Leid zufügen eine Sache und einsperren, wo einen niemand sieht eine andere. Ich meine, ihr Typen kennt euch doch mit Worten aus. Es lauert jede Menge Unheil hinter kein Leid zufügen.«
»Aber wie sollen wir Miss Simplicitys Sicherheit garantieren, solange sie in unserem Land weilt?«, fragte Disraeli. »Weder die Regierung, von der wir hier sprechen, noch unsere eigene können bei dieser Angelegenheit so ohne Weiteres intervenieren. Was aber keineswegs bedeutet, dass beide Seiten nicht auf die Dienste Dritter zurückgreifen, um, sagen wir, ihre Interessen wahrzunehmen. Wenn Miss Simplicity zu Schaden käme, während sie sich in unserem Land aufhält, würden sich dadurch … Probleme für die Beziehungen zwischen den beiden betroffenen Regierungen ergeben.« Er schluckte und schien zu fürchten, zu viel gesagt zu haben.
Dodger wandte sich an Charlie. »Deshalb habe ich … ich meine, haben wir uns die Freiheit genommen, Simplicity aus dem Haus von Mister und Missus Mayhew zu holen und fortzubringen. Es war sehr freundlich von den Mayhews, Simplicity zu helfen, und wir möchten vermeiden, dass ihnen etwas zustößt. Wer auch immer die Leute sind, die nach Simplicity suchen – ich glaube nicht, dass es sich um besonders nette Zeitgenossen handelt. Und ich darf Ihnen versichern, Sir, dass ich diese Sache nicht ruhen lasse. Wenn ich die Kerle finde, die sie so grausam misshandelt haben, und wenn sie dafür bezahlen … Dann muss Simplicity nicht zurück, oder? Ich beschütze sie.«
Mister Disraeli rutschte in seinem Sessel hin und her und warf Charlie einen kurzen Blick zu, bevor er erwiderte: »Nun, wissen Sie, junger Mann, es ist alles ziemlich kompliziert. Die fragliche Regierung verlangt die Rückkehr der jungen Dame, die schließlich verheiratet und somit rechtmäßiger Besitz ihres Mannes ist. Es gibt hier bei uns, das will ich nicht verhehlen, gewisse Leute, die es für vernünftig halten, sie um des Friedens zwischen unseren Nationen willen zurückzuschicken.« Er sah, wie Dodger den Mund öffnete, um zu protestieren. »Sie sollten wissen, Mister Dodger, dass wir in letzter Zeit genug Kriege geführt haben – was Ihnen insbesondere nach der Begegnung mit Mister Todd klar sein dürfte –, und zu viele dieser Kriege brachen aufgrund irgendwelcher Nichtigkeiten aus. Bestimmt verstehen Sie, warum diese Angelegenheit so schwierig ist.«
Schwierig?, dachte Dodger. Ärger brodelte in ihm auf. Diese Männer behandelten Simplicity nicht wie eine lebendige Person, sondern wie eine Figur auf dem Spielbrett der Politik. Selbst beim Würfeln gab es größere Aussichten auf Gewinn! Plötzlich befand sich sein Gesicht dicht vor dem von Benjamin Disraeli, der sich in seinem Sessel so weit wie möglich zurücklehnte. »Hier ist nichts schwierig, Sir, überhaupt nichts!«, rief er. »Eine Frau, die von ihrem Alten verprügelt wurde und nicht erneut verprügelt werden will, kehrt nicht dorthin zurück, wo sie weitere Prügel riskiert. Meine Güte, bei uns passiert das dauernd, und niemand wackelt mit dem Finger und erwartet vom Alten, dass er seine Unterhosen plötzlich selbst wäscht.«
Bevor Disraeli etwas sagen konnte, kam ein Kommentar von Charlie. »Ben, es sollte dir möglich sein, die Entscheidung darüber noch etwas hinauszuzögern und uns allen Gelegenheit zu geben, über unsere nächsten Schritte nachzudenken. Aber es gibt einen Punkt, der sofort geklärt werden muss. Dodger wohnt in Seven Dials bei einem älteren Herrn und einem … bemerkenswerten Hund. Die Unterkunft ist kein geeigneter Aufenthaltsort für eine junge Dame, und es besteht kein Zweifel, dass wir es mit einer Dame zu tun haben. Noch dazu mit einer Dame, die um ihr Leben fürchtet. Im schlimmsten Fall könnte sie sogar am helllichten Tag umgebracht werden, denn unser Dodger ist zwar schnell, aber nicht imstande, überall gleichzeitig zu sein. Deshalb müssen wir auf der Stelle entscheiden, verstehst du? Wir müssen entscheiden, Ben, wo diese Dame – eine Prinzessin, Ben – abends ihren Kopf zur Ruhe bettet, in der Gewissheit, dass sie am nächsten Morgen noch einen hat. Wir beide kennen da eine Person, an die wir uns unter solchen Umständen wenden können.«
Disraeli wirkte wie ein Mann, dessen Füße brannten und dem gerade jemand einen Eimer Wasser reichte. »Ich nehme an, du meinst Angela.«
»Aber natürlich.« Charlie wandte sich an Dodger, der wie ein Wächter neben Simplicity stand, bereit, sie gegen alles und jeden zu verteidigen. »Wir haben eine nützliche Freundin, die gewiss bereit ist, Miss Simplicity Obdach und auch Sicherheit zu gewähren. Ich bin mir völlig sicher, dass sie der Situation gewachsen ist, denn ich halte sie für eine Frau, die sich nie darum scheren muss, was Politiker und selbst Könige denken. Mit der Kutsche könnten wir in einer Stunde bei ihr sein. Ich begleite Miss Simplicity und den jungen Mann, um alles zu erklären.«
»Woher soll ich wissen, ob ich dir trauen kann, Charlie, selbst wenn jene geheimnisvolle Frau Vertrauen verdient?«, fragte Dodger.
»Nun«, erwiderte Charlie, »in mancher Hinsicht kannst du mir wahrscheinlich nicht trauen. Ich habe dir die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit ist ein Nebel, wie du weißt. Aber hältst du es wirklich, wirklich für möglich, dass ich bei dieser Angelegenheit nicht vertrauenswürdig bin? Wohin willst du diese junge Dame sonst bringen? In die Kanalisation?«
Bevor einer der Anwesenden ein weiteres Wort äußern konnte, erhob sich Simplicitys laute, feste Stimme. »Ich traue dir, Dodger. Vielleicht solltest du ebenfalls ein wenig Vertrauen haben.«
Beim Parlamentsgebäude standen immer Kutschen bereit, und bald waren sie nach Westen unterwegs, soweit Dodger das feststellen konnte.
Sie fuhren schweigend dahin, bis Simplicity sagte: »Mister Dickens, Ihr junger Freund Mister Disraeli gefällt mir nicht sonderlich. Er glaubt bei jeder Frage zwei Seiten zu sehen. Er schwebt gewissermaßen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Bei ihm ist alles wie … wie ein Kleidungsstück, das man ausschüttelt und wieder anzieht. Und meine Mutter sagte immer, solche Leute seien zwar unschuldig, aber gefährlich.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Ich bitte um Entschuldigung, aber ich glaube, meine Worte entsprechen der Wahrheit.«
Charlie seufzte. »Die Politik dürfte zu dem Zweck erfunden worden sein, Kriege zu verhindern, und in dieser Hinsicht sind Politiker nützlich, meistens. Mehr ist leider nicht anzuführen, soweit ich das sehe. Allerdings sind Ben aufgrund seiner Stellung oftmals die Hände gebunden, und bei einigen Vorkommnissen möchte er nicht, dass seine Beteiligung daran bekannt wird. Es mag euch beide überraschen, dass sich in unserem Land Agenten fremder Staaten herumtreiben, so wie wir Leute losschicken, die sich in anderen Ländern für uns umsehen und umhorchen. Beide Seiten wissen davon, und seltsamerweise tragen auch diese Aktivitäten dazu bei, dass der Frieden erhalten bleibt. Wenn allerdings Könige und Königinnen bedroht sind«, fügte Charlie hinzu, »kann ein Bauer gewinnen.«
Das alles war neu für Dodger, und er fragte: »Wir spionieren also ständig unsere Feinde aus?«
Leises Lachen erklang in der dunklen Kutsche. »Im Allgemeinen nicht, Dodger, denn wir wissen, was unsere Feinde denken; es sind unsere Freunde, vor denen wir auf der Hut sein müssen. Man kann es mit einer Wippe vergleichen. An einem Tag sind unsere Feinde vielleicht unsere Freunde, und am nächsten werden unsere Freunde zu Feinden. Oh, alle wissen von den Agenten. Die Agenten wissen von den Agenten. Ehrlich gestanden bin ich nicht sicher, was Diplomatie in dieser Hinsicht ausrichten kann. Simplicity bekäme zweifellos die Erlaubnis, hier in England zu leben, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass die Angelegenheit damit erledigt wäre, denn die andere Regierung scheint auf Betreiben ihres Schwiegervaters sehr hartnäckig zu sein. Vielleicht könnten wir sie auf ein Schiff nach Amerika oder vielleicht nach Australien schmuggeln, doch ich fürchte, diese Möglichkeit ziehe ich allenfalls als Romanschriftsteller in Betracht.«
»Amerika?«, entfuhr es Dodger. »Davon habe ich gehört. Dort wimmelt es von Wilden. Keinesfalls darf Simplicity dorthingeschickt werden! Sie hätte überhaupt keine Freunde! Und was Australien betrifft … Darüber weiß ich nicht viel, aber Solomon hat mir erzählt, dass dieses Land auf der anderen Seite der Welt liegt. Und das bedeutet meiner Meinung nach, dass die Leute dort auf dem Kopf gehen. Selbst wenn wir sie auf ein Schiff brächten, es bliebe nicht unbemerkt, wie dir sicher klar ist, Charlie. Es gibt Leute, die alles beobachten, was im Hafen geschieht. Ich war einer von ihnen.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass wir sie gut verkleiden könnten«, wandte Charlie ein. »Oder wir halten uns bedeckt und warten ab, bis der Schwiegervater einen Schlaganfall erleidet. Nach allem, was Disraeli herausgefunden hat, lässt sich mit dem recht unangenehmen Sohn leichter fertigwerden.«
Dodger hörte aufmerksam zu. Simplicity war mitleidlos zusammengeschlagen worden, und anschließend war sie sehr schwach gewesen. Auf diese Weise hatte er immer an sie gedacht, aber plötzlich regte sich eine dunkle Erinnerung in ihm. »Charlie«, sagte er, »jemand hat mir einmal von den Römern erzählt, die die Kanalisation gebaut haben. Damals gab es eine Frau, die Jagd auf die Römer machte, mit Streitwagen, deren Räder Klingen hatten und ihnen die Beine abschnitten. Du kennst dich doch gut mit Büchern aus … Weißt du, wie die Frau hieß?«
»Boudicca«, antwortete Charlie. »Und ich glaube, ich verstehe, worauf du hinauswillst. Miss Simplicity ist eine junge Frau, die weiß, was sie will. Sie sollte nicht gezwungen sein, vor ihren Gegnern wegzulaufen.«
Die Kutsche wurde langsamer und blieb vor einem sehr großen und sehr hell erleuchteten Haus stehen. Charlie klopfte an, und ein Butler öffnete. Einige Worte wurden geflüstert, und kurze Zeit später warteten Dodger und Simplicity in einem hübschen kleinen Zimmer, während Charlie mit dem Butler davoneilte, der offenbar Geoffrey hieß.
Kaum eine Minute war vergangen, als Charlie in Begleitung einer Lady zurückkehrte, die er als Miss Angela Burdett-Coutts vorstellte. Sie schien recht jung zu sein, fand Dodger, kleidete sich aber wie eine ältere Frau, und ein Blick in ihr Gesicht genügte, um Dodger einen messerscharfen Verstand zu verraten. Es war wie bei Charlie. Er wusste sofort, dass er dieser Frau gegenüber ehrlich sein musste oder besser schweigen sollte. Sie sah aus wie eine Person, die sich durchzusetzen verstand und bei Auseinandersetzungen immer gewann.
Sie streckte die Hand aus. »Sie müssen Simplicity sein, meine Liebe, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Sie wandte sich an Dodger. »Und Sie sind der Held der Fleet Street. Charlie hat mir von Ihren Taten beim Chronicle erzählt. Alle reden über Ihre Unerschrockenheit heute Morgen. Glauben Sie mir: Ich weiß, was vor sich geht – die Menschen können sehr mitteilsam sein. Zunächst einmal kommt es darauf an, dass dieses Mädchen …«, Angela korrigierte sich, »… ich meine, dass diese junge Frau eine Mahlzeit und die Möglichkeit erhält, in einem warmen und vor allem sicheren Bett zu schlafen.« Sie fügte hinzu: »Ohne meine Erlaubnis betritt niemand dieses Haus, und jeder Eindringling mit bösen Absichten würde sich wünschen, nie geboren zu sein – oder dass ich nie geboren wäre. Simplicity ist herzlich willkommen … als Tochter einer alten Freundin aus diesem Land, und sie bleibt bei mir, bis sie gelernt hat, in dieser sündhaften Stadt zurechtzukommen. Ich bin sicher, dass Sie, Mister Dodger, reichlich zu tun haben. Helden sind immer beschäftigt, habe ich herausgefunden, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie morgen Abend an meiner Dinnerparty teilnehmen könnten.«
Dodger hörte sich dies alles mit offenem Mund an, bis sich Charlie an ihm vorbeischob und sagte: »Liebe Angela, könnte der junge Mann morgen Abend seinen Freund und Mentor Solomon Cohen mitbringen? Er ist ein ausgezeichneter und renommierter Hersteller von Schmuck und Uhren.«
»Großartig. Ich würde mich freuen, ihn kennenzulernen. Ich glaube, ich habe von ihm gehört. Was dich betrifft, Charlie … Du bist selbstverständlich ebenfalls eingeladen, das weißt du ja, und ich spräche gern unter vier Augen mit dir, wenn Mister Dodger gegangen ist.«
Die letzten Worte brachten eine gewisse Endgültigkeit zum Ausdruck, und Dodger stellte fest, dass er die Hand gehoben hatte. Da sie schon einmal oben war, sagte er: »Entschuldigen Sie, Miss, dürfte ich sehen, wo Miss Simplicity schlafen wird?«
»Warum, wenn ich fragen darf?«
»Wissen Sie, Miss, ich kann durch die meisten Fenster in dieser Stadt einsteigen, und wenn ich dazu in der Lage bin, so dürfte auch jemand dazu imstande sein, der fieser ist als ich, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Er rechnete mit Tadel, aber stattdessen schenkte ihm Angela ein breites Lächeln. »Sie erkennen keinen Herrn an, nicht wahr, Mister Dodger?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Miss, aber ich möchte mich vergewissern, dass Simplicity sicher aufgehoben ist.«
»Ausgezeichnet, Mister Dodger. Wie Sie wünschen. Ich werde Geoffrey anweisen, Ihnen das Zimmer und die Eisenstäbe am Fenster zu zeigen. Auch ich mag keine Eindringlinge, und ich frage mich gerade, ob ich nicht Sie oder einen Ihrer Kollegen damit beauftragen sollte, nach einem bisher unentdeckt gebliebenen Weg ins Haus zu suchen. Vielleicht können wir diese Frage morgen erörtern. Jetzt muss ich mit Charlie sprechen.«