Die Handlung von Dodger ist im ersten Viertel von Königin Viktorias Herrschaft angesiedelt, in einer Zeit, als Heerscharen von Entrechteten nach London und in die anderen großen Städte kamen. Für die Armen – und die meisten Leute waren arm – war das Leben in London damals äußerst schwer. Traditionsgemäß scherte sich kaum jemand um alle jene Menschen, die in bitterer Armut leben mussten, doch schließlich gab es unter den Bessergestellten einige, die der Meinung waren, dass die Öffentlichkeit von dem Elend erfahren sollte. Zu diesen gehörten natürlich Charles Dickens und sein nicht ganz so bekannter Freund Henry Mayhew. Dickens ging auf indirekte Art und Weise vor, indem er die Realität in seinen Romanen aufzeigte, Henry Mayhew und seine Bundesgenossen jedoch publizierten die Fakten, sammelten Daten und legten statistische Übersichten an. Höchstpersönlich streifte Mayhew durch die Straßen, sprach mit kleinen Waisenmädchen, die Blumen verkauften, mit Markthändlern, alten Frauen und Arbeitern aller Art, unter ihnen Prostituierte. Nach und nach legte er so die schmutzige Schattenseite der reichsten und mächtigsten Stadt der Welt frei.
Sein Werk Die Arbeiter von London und die Armen von London sollte in jeder Bibliothek stehen, wenigstens um zu zeigen: Für wie schlecht man die gegenwärtige Lage auch halten mag, vor gar nicht allzu langer Zeit war alles noch viel schlechter.
Der Leser kennt vielleicht Gangs of New York, den kriminalhistorischen Roman, den Herbert Asbury 1928 schrieb und der 2002 von Martin Scorsese verfilmt wurde. London war schlimmer und wurde noch schlimmer, je mehr Hoffnungsvolle kamen, um in der großen Stadt ihr Glück zu suchen. Mayhews Werk ist gekürzt, neu geordnet und gelegentlich in kleineren Bänden gedruckt worden. Doch das Original ist kein hartes Stück Lesearbeit, und wer das Genre mag, findet hier Fantasy mit reichlich realistischem Schmutz.
Und deshalb widme ich dieses Buch Henry Mayhew.
Dodger ist eine erfundene Figur, wie auch viele der Personen, denen er begegnet, obwohl solche Menschen damals in London arbeiteten, lebten und starben.
Disraeli gab es wirklich, ebenso natürlich Charles Dickens und Sir Robert Peel, der die Metropolitan Police in London gründete, die erste uniformierte Polizeitruppe im Vereinigten Königreich, und gleich zweimal Premierminister wurde. Seine Peeler ersetzten tatsächlich die alten Bow-Street-Jungs, die vor allem Diebesfänger waren und nicht in dem Ruf standen, sonderlich tapfer zu sein. Die Peeler waren aus ganz anderem Holz geschnitzt, denn bei ihnen handelte es sich um Männer mit militärischer Erfahrung.
Ich nehme an, der Leser hat hier und dort einige historische Persönlichkeiten wiedererkannt. Die außergewöhnlichste von allen war Miss Angela Burdett-Coutts, die das Vermögen ihres Großvaters erbte, als sie noch sehr jung war, und dadurch zur reichsten Frau der Welt wurde, die eine oder andere Königin nicht mitgezählt. Sie war eine ganz erstaunliche Frau, die dem Herzog von Wellington tatsächlich einen Heiratsantrag machte. Aber was ich zumindest für wichtiger halte: Sie verbrachte den größten Teil ihrer Zeit damit, ihr Geld wegzugeben.
Dabei war sie durchaus streng, denn Miss Coutts half vor allem jenen, die sich selbst halfen, und zu diesem Zweck gründete sie die Lumpenschulen, die Kindern und auch älteren Leuten die Möglichkeit gaben, eine gewisse Bildung zu erwerben, woher sie auch kamen und wie arm sie auch waren. Sie half bei der Gründung kleiner Unternehmen, spendete den Kirchen Geld – aber nur, wenn sie den Armen auf praktische Art halfen – und war alles in allem ein Phänomen. Sie spielt eine wichtige Rolle in diesem Roman, und da ich ihr keine Fragen stellen konnte, musste ich, was ihre Reaktionen in bestimmten Situationen betraf, von einigen begründeten Annahmen ausgehen. Eine so reiche unverheiratete Frau muss gewusst haben, was sie wollte, und bestimmt ließ sie sich von nichts so leicht ins Bockshorn jagen.
Die Römer haben die Londoner Kanalisation gebaut, und im Lauf der Generationen wurde sie immer wieder notdürftig repariert. Die Abwasserkanäle waren hauptsächlich für Regenwasser bestimmt und nicht für menschliche Fäkalien, die sich in Senkgruben und Faulbehältern sammelten. Wenn die überliefen, weil es einfach zu viele Menschen gab, breiteten sich Cholera und andere schreckliche Krankheiten aus.
Es gab tatsächlich Tosher, deren Leben alles andere als glamourös war, aber das galt auch für die Schlammkriecher und jungen Kaminkehrer, die ganz eigene scheußliche Krankheiten bekamen. Dodger konnte von Glück sagen, dass er bei einem Mann wohnen durfte, der auf eine viertausendjährige Tradition gesunder Ernährung zurückblickte. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich, wie vor vielen Jahren auch Mark Twain, den Dingen hier und dort ein wenig Glanz verliehen habe.
Das war bei Joseph Bazalgette nicht nötig, der in diesem Buch als enthusiastischer junger Mann erscheint. Er gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten unter den Geometern und Ingenieuren, die einige Zeit nach dem Ende von Dodgers Geschichte das Gesicht und vor allem den Geruch von London veränderten. Die neue Londoner Kanalisation war eins der technologischen Wunder der neuen Eisenzeit, und mit etwas Wartung hier und dort existiert sie noch heute.
Der von Mister Todd erwähnte Boney ist natürlich Napoleon Bonaparte, und wenn der Leser nicht weiß, wer dieser Mann war, so kann er getrost dem Internet vertrauen, das ihm gern Auskunft gibt.
Eine Anmerkung zu den Münzen. Es ist sehr schwierig, das vordezimale britische Münzgeld Generationen zu erklären, die nie damit zu tun hatten. Es fällt selbst mir schwer, und ich bin damit aufgewachsen. Ich könnte lange über Geldstücke reden wie Thrupence Ha’penny, Tanners, Crowns und Half Crowns und darüber, wie das alles vor allem amerikanische Touristen in den Wahnsinn trieb. Ich kann nur sagen: Es gab Münzen aus Bronze in verschiedenen Größen, und diese Münzen hatten den geringsten Wert. Dann gab es Münzen aus Silber, die, wie man leicht errät, die mittleren finanziellen Plätze belegten. Schließlich waren noch welche aus Gold im Umlauf, und die waren … nun, Gold wert. Zu Dodgers Zeiten bestanden sie tatsächlich aus Gold und sahen nicht nur so aus wie die heutigen angeblichen Goldmünzen, grummel grummel jammer. Aber ganz ehrlich, die alte Währung hatte eine gewisse Realität, an der es der heutigen leider mangelt. Die Münzen von heute, sie haben nicht das Leben ihrer Vorgänger.
Dann gab es da noch das wundervolle Thrupenny bit, ganz schwer in der Tasche eines kleinen Kinds … Nein, hier sollte ich besser aufhören, denn wenn ich weitermache, rede ich früher oder später von Groats und Half Farthings, und dann muss mich jemand erschießen.
Wenn man Slang mag und sich näher damit beschäftigt, macht man interessante Entdeckungen. Nehmen wir zum Beispiel das Wort crib (im Deutschen u. a.: Krippe, Zuhause, Behälter), mit dem früher ein Gebäude gemeint war beziehungsweise der Ort, wo man wohnte. Vor kurzer Zeit ist dieses Wort aus irgendeinem Grund in den Sprachgebrauch der englischsprachigen Länder zurückgekehrt.
Viktorianischer Slang, und davon gab es ziemlich viel, kann wie ein Minenfeld sein. Wenn man die Welt aus Dodgers Perspektive sieht, kann man nicht posh (etwa: fesch) sagen, denn dieses Wort gab es noch nicht. Aber man kann nobby (etwa: piekfein, schick) sagen. Es wäre möglich gewesen, dieses Buch ganz mit Slang aus der viktorianischen Zeit zu füllen, aber früher oder später … Nun, es sollte kein Lehrbuch über Slang werden, und deshalb habe ich mich auf ein paar Ausdrücke beschränkt, die mir besonders gefallen. Leider fand ich keine geeignete Stelle für meinen Lieblingsausdruck, der da lautet: tuppence more and up goes the donkey, denn unglücklicherweise ist er ein bisschen zu modern. (Es ist eine vulgäre Straßensprech-Bezeichnung dafür, möglichst viel Geld aus etwas herauszuschlagen, bevor man eine Leistung erbringen muss. Sie geht auf einen Schausteller zurück, der einen Esel auf eine Stange oder eine Leiter klettern lassen wollte. Doch vor diesem Kunststück, das nie gezeigt wurde, musste zuerst bezahlt werden, und meistens hieß es dabei: »Noch zwei Pence, und der Esel klettert hoch.«)
Zwar ist Dodger nicht besonders lang, aber ich habe oft auf die Hilfe von Freunden mit besonderen Fachkenntnissen zurückgegriffen. Mein Dank gebührt Jacqueline Simpson, Bernard Pearson, Colin Smythe und Pat Harkin, die mich vor Fehlern bewahrten. Wo es dennoch Fehler gibt, sind sie ganz allein meine Schuld.
Ich muss gestehen, dass ich die historischen Fakten hier und dort ein wenig verbiegen und zurechtrücken musste. Wer sich mit Geschichte auskennt, weiß vermutlich, dass Tenniel das erste Punch-Cover nicht vor 1850 illustrierte und Sir Robert Peel Home Secretary (Innenminister) war, bevor Viktoria den Thron bestieg. Aber diese von mir vorgenommenen Änderungen fallen nicht sonderlich schwer ins Gewicht. Übrigens war es höllisch mühsam herauszufinden, wo sich die Redaktionsbüros des Morning Chronicle befanden. Offenbar sind sie damals mehrmals umgezogen, und deshalb habe ich sie für Dodger in der Fleet Street untergebracht – das wäre ohnehin die richtige Örtlichkeit dafür gewesen. Dodger ist kein historischer Roman, sondern ein Roman mit historischem Hintergrund, der Spaß machen und wenn möglich ein wenig Interesse an der Ära wecken soll, die Henry Mayhew und seine Helfer so gut beschrieben haben.
Bei bestimmten Personen habe ich mir zwar einige Freiheiten erlaubt, die auch ihre Reaktionen in gewissen Situationen betreffen, aber den Schmutz, das Elend und die Hoffnungslosigkeit der Armen, die sich irgendwie durchschlugen, oft indem sie sich selbst halfen, habe ich nicht verändert. Es war auch eine Zeit ohne Bildung für alle, ohne Gesundheitsschutz und ohne die sozialen Absicherungen und Regeln, die heute für uns selbstverständlich sind. Und es war eine Zeit, die Platz bot für schlaue und clevere Dodgers beiderlei Geschlechts.
Terry Pratchett, 2012