16 Ein Brief kommt aus York, und das Geschick des Dodger gewinnt in höchsten Kreisen Anerkennung


Nebel, o ja, Nebel, der Nebel von London, für Dodger schien er zu einem bestimmten Zweck geformt zu werden, wenn Charlie und Sir Robert Peel miteinander sprachen. Es fanden einige Treffen bei Whitehall statt, und man stellte Dodger Fragen über seinen kleinen Ausflug in die Botschaft und die Unterlagen, die er mitgenommen hatte. Man hörte ihm aufmerksam zu, und es wurde gelegentlich genickt, als er erklärte, dass es ihm einfach nur darum gegangen war, demjenigen eins auszuwischen, der Simplicity und auch ihm das Leben so schwer gemacht hatte.

Den Schmuck, der mittlerweile in Solomons Schatullen lag – beziehungsweise jenen Teil, der noch nicht den Weg in die ihn willkommen heißenden Finger von Solomons Juwelierfreunden gefunden hatte –, erwähnte er nicht. Er wollte vermeiden, in Schwierigkeiten zu geraten, und erstaunlicherweise deutete alles darauf hin, dass er wegen nichts in Schwierigkeiten geraten würde.

Ein freundlich wirkender Typ mit weißem Haar und großväterlichem Gesicht schenkte ihm an einer Stelle ein strahlendes Lächeln und sagte: »Mister Dodger, offenbar haben Sie sich Zugang zur gut bewachten Botschaft einer fremden Macht verschafft und ihre Flure und Zimmer durchstreift, ohne bemerkt zu werden. Wie in aller Welt ist Ihnen das gelungen? Wären Sie vielleicht so gütig, uns das zu erklären? Und darf ich fragen, ob Sie die Möglichkeit hätten, diese ungewöhnliche Meisterleistung zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort zu wiederholen, wenn wir Sie darum bitten?«

Es dauerte eine Weile – und Charlie musste immer wieder erläuternd eingreifen –, die Voraussetzungen und Vorgehensweise eines Snakesman zu erklären. Die Darlegung endete damit, dass Dodger Charlie seine Uhr zurückgab, die er ihm nur zum Spaß gestohlen hatte, und sagte: »Möchten Sie, dass ich ein Spion werde?«

Diese Worte lösten bei den Anwesenden eine gewisse Unruhe aus, und alle Blicke richteten sich auf den weißhaarigen Herrn, der sagte: »Junger Mann, die Regierung Ihrer Majestät spioniert nicht, sie interessiert sich nur für dieses und jenes, und da sowohl Sir Robert als auch Mister Disraeli darauf hingewiesen haben, dass Sie zwar ein Schlingel sind, aber die richtige Sorte von Schlingel, von der wir mehr gebrauchen könnten, wäre der Regierung Ihrer Majestät möglicherweise daran gelegen, hin und wieder Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Obwohl, das möchte ich hinzufügen, sie leugnen würde, Ihnen jemals irgendwelche Aufträge erteilt zu haben.«

»Oh, das verstehe ich, Sir«, erwiderte Dodger fröhlich. »Es ist eine Art Nebel, nicht wahr? Über Nebel weiß ich Bescheid, Sir, das versichere ich Ihnen.«

Der weißhaarige Gentleman wirkte zuerst ein wenig gekränkt, doch dann lächelte er. »Mir scheint, Mister Dodger, was den Nebel betrifft, kann Ihnen niemand etwas beibringen.«

Dodger winkte frech und sagte: »Ich habe mein ganzes Leben im Nebel verbracht, Sir.«

»Nun, Sie brauchen mir nicht sofort eine Antwort zu geben, und ich schlage vor, Sie besprechen die Sache mit Ihrem Freund Mister Dickens, der als Journalist selbst so etwas wie eine Art Schlingel ist, wenn ich so sagen darf, und der, davon bin ich überzeugt, nur das Beste für Sie will. Was die Geschehnisse in der Kanalisation betrifft, Mister Dodger, gibt es einige beunruhigende Einzelheiten, die unter anderen Umständen eine genauere Untersuchung erfordert hätten, wäre da nicht die Tatsache, dass Sie den berüchtigten Ausländer zur Strecke gebracht haben, ein Umstand, der bei unseren europäischen Freunden auf große Erleichterung stoßen und ihnen gleichzeitig zeigen wird, was mit Mördern geschieht, die nach England zu kommen wagen. Ich nehme an, dass Sie mit einer Belohnung rechnen dürfen.«

Der weißhaarige Mann stand auf, wodurch die Anspannung im Zimmer schwand. Dodger sah die anderen lächeln, als der Mann, der ein wenig traurig wirkte, nun hinzufügte: »Es hat uns alle bestürzt, vom Tod der jungen Dame namens Simplicity zu erfahren, Mister Dodger, und ich möchte diese Gelegenheit nutzen, Ihnen mein Beileid auszusprechen.«

Dodger musterte den alten Mann, der vermutlich gar nicht so alt war und nur durch sein weißes Haar alt aussah. Er zweifelte nicht daran, dass das Gesicht vor ihm alles wusste oder zumindest so viel von allem wusste, wie man wissen konnte, und mit hundertprozentiger Sicherheit wusste es alles über die Verwendung des Nebels. Dies war ein Typ, dachte sich Dodger, dem auffallen musste, dass eine Frau, die man gerade erschossen hatte, nicht schon eine Woche lang tot sein konnte, miasmatische Effusionen hin oder her.

»Danke, Sir«, sagte er vorsichtig. »Die letzte Zeit ist nicht sehr angenehm gewesen. Ich habe daran gedacht, London für einige Zeit zu verlassen, um nicht ständig an meine Freundin erinnert zu werden.«

Und er weinte echte Tränen, was ganz einfach war, und es entsetzte ihn innerlich, und er fragte sich, ob es in dem jungen Mann namens Dodger etwas gab, das ganz und gar er selbst war, schlicht und rein, ohne das ganze Dodger-Drumherum. Tief in seiner Seele hoffte er, dass Simplicity den anständigen Dodger lieben und auf den Pfad der Tugend geleiten konnte, vorausgesetzt, er war nicht ganz so tugendhaft. Letztendlich drehte sich alles um den Nebel.

Er putzte sich die Nase mit einem weißen Taschentuch, das er geistesabwesend aus der Tasche eines anderen Herrn am Tisch gezogen hatte, und sagte: »Ich habe mir überlegt, nach York zu fahren, Sir, etwa für zwei Wochen.«

Dieser Hinweis bewirkte ein wenig Aufregung am Tisch, aber nach einer kurzen Diskussion kam man überein, dass Dodger, der ja kein Verbrechen begangen hatte – eher war das Gegenteil der Fall –, durchaus die Erlaubnis erhalten sollte, sich in York ein wenig zu entspannen, wenn er wollte.

Damit endete die Besprechung. Charlie legte Dodger die Hand auf den Arm, als sie den Raum verließen, und führte ihn recht schnell zu einem nahen Kaffeehaus, wo er sagte: »Mir scheint, alle Sünden sind vergeben, mein Freund, aber es ist natürlich äußerst schade, dass Miss Simplicity trotz deiner Bemühungen den Tod finden musste. Übrigens, wie geht es ihr?«

Dodger hatte etwas Derartiges erwartet, sah Charlie ausdruckslos an und erwiderte: »Simplicity ist tot, Charlie, wie du sehr wohl weißt.«

»O ja«, bestätigte Charlie und lächelte schief. »Wie dumm von mir, das zu vergessen!« Er lächelte erneut, und dann wurde sein Gesicht vollkommen leer. »Wir sehen uns bestimmt wieder, mein Freund. Ich muss sagen, in gewisser Weise war es ein Privileg, dich kennenzulernen. Über den Tod der armen Simplicity bin ich ebenso unglücklich, wie du es vielleicht bist. Welch ein tragisches Ende für eine junge Dame, um die sich kaum jemand kümmerte, abgesehen von dir. Und natürlich von Angela, die mir seltsam ungerührt erscheint. Ich bin sicher, dass du schon bald ein anderes Mädchen wie sie findest. Ja, ich könnte sogar darauf wetten.«

Dodger versuchte jeden Ausdruck aus seinem Gesicht zu verbannen, gab es dann aber auf, denn selbst der Ausdruckslosigkeit ließ sich etwas entnehmen. Er sah Charlie in die Augen und sagte langsam und deutlich: »Davon weiß ich leider nichts, Sir.« Und er zwinkerte.

Charlie lachte, und dann schüttelten sie sich die Hände und gingen getrennte Wege.

Am Tag nach der Besprechung verließ eine Kutsche London mit dem Ziel Bristol, an Bord eine bunte Mischung aus Fahrgästen. In diesem besonderen Fall aber hielt der Kutscher einen der Passagiere für den schlimmsten in diesem Jahr, und was die Sache noch unangenehmer machte, war der Umstand, dass es sich um eine Alte handelte, die mit brüchiger Stimme jammerte und sich dauernd über irgendetwas beschwerte: die Sitze, die Fahrt, das Wetter und vermutlich auch über die Mondphase. Als die Kutsche unterwegs für eine glücklicherweise recht schnelle Mahlzeit an einem Gasthaus anhielt, klagte die Alte nicht nur über jeden Teller, den man ihr vorsetzte, sondern auch über das Salz, das ihrer Meinung nach nicht salzig genug war. Außerdem setzte die zu stark nach Lavendel riechende alte Schachtel ständig einer jungen Dame zu, die offenbar ihre Enkeltochter war. Diese junge Frau lockerte die Atmosphäre in der Kutsche ein wenig auf, aber der Kutscher erinnerte sich vor allem an die zänkische Oma und war froh, als sie schließlich Bristol erreichten und er die Alte loswurde. Beim Aussteigen fiel sie fast aus der Kutsche, und natürlich beschwerte sie sich auch darüber.

Ein fröhlicher junger Mann besuchte kurze Zeit später einen Apotheker in Christmas Steps, in der Nähe des Stadtzentrums, und sprach mit ihm darüber, was sich mit Pigmenten und dergleichen anstellen ließ, und bei dem Gespräch fielen Worte wie Henna und Indigo. Wenig später mieteten eine hübsche junge Dame mit wundervollem rotem Haar und ein dunkelhaariger junger Mann eine Kutsche samt Kutscher, verließen die Stadt und fuhren zu den kargen grauen Mendip Hills, wo das Paar dem Kutscher mitteilte, dass es die Reise über die Mautstraße zum Pub von Star fortsetzen wolle, wo es eine Mahlzeit einnahm, die aus vorzüglichem Käse und so starkem Apfelwein bestand, dass man meinen konnte, er sei mit Löwenpisse aufgegossen worden. Er schien sehr lecker zu schmecken, denn selbst die junge Dame trank ein zweites halbes Pint von dem scharfen Zeug.

Am nächsten Tag ließ sich ein Mann im Pub, von Beruf Spediteur, von einer klimpernden Geldbörse dazu verleiten, das junge Paar zum kleinen Ort Axbridge auf der anderen Seite der Mendips zu bringen. Die beiden jungen Leute brachten die südlichen Hänge hinter sich und bezogen unweit der Wassermühle Quartier. Es war ein seltsames Arrangement, denn der junge Mann bestand darauf, dass die junge Dame im besten zur Verfügung stehenden Schlafzimmer unterkam, während er auf einer Strohmatratze vor der Tür schlief, unter einer Pferdedecke. Das führte zu gewissem Gerede bei den Frauen des Dorfs, wonach die Durchgebrannten (und dafür hielt man die beiden netten jungen Leute) darauf achteten, sehr vorsichtig zu sein, wie es anständigen Christen gebührte.

Ob anständige Christen oder nicht, sie waren tatsächlich vorsichtig. Wie durch Telepathie hatten sich Simplicity und Dodger geeinigt: Dieser Aufenthalt sollte ihnen beiden Gelegenheit geben, sich zu entspannen, Abstand zu gewinnen und sich an der Welt zu erfreuen. Und die Welt schien sich an ihnen zu erfreuen, denn sie gingen recht großzügig mit dem Geld um, und obwohl die junge Frau sehr bescheiden war, so wie es einer jungen Frau gebührte, nutzte sie jede Gelegenheit, mit anderen zu plaudern. Offenbar wollte sie unbedingt wie die Einheimischen sprechen lernen, mit ihrem Somerset-Akzent, den man vielleicht bukolisch nennen konnte, weil er so langsam war. Er war tatsächlich langsam, denn er betraf langsame Gesprächsinhalte wie Käse, Milch und die Jahreszeiten, wie Schmuggeln und das Brennen von feurigem Schnaps an Orten, die die Steuereinnehmer nicht aufzusuchen wagten – und an diesen Orten, wo die Sprache langsam blieb, konnten Denken und Tun sehr schnell sein.

Und Dodger lernte schnell, denn wer auf der Straße schwer von Begriff war, brachte es nicht weit. Zuerst bekam er Kopfschmerzen von einer Sprache, die sich um Korn und Kühe zu drehen schien, aber beim Lernen half ihm ein Getränk, das die Einheimischen Scrumpy nannten, und es dauerte nicht lange, bis er wie die anderen sprach. In seinem Kopf steckten plötzlich viele neue Worte, die für Uneingeweihte seltsam klangen, fast wie eine sanfte Melodie im Vergleich zu der harten, stakkatoartigen Sprache von London. Dodger dachte: Es gibt mehr Verkleidungsarten, als sich die Haare zu färben oder ein anderes Hemd anzuziehen.

Eines Morgens, als sie am Fluss entlangwanderten, sagte er zu Simplicity: »Ich habe dich nie zuvor danach gefragt. Warum hattest du das Quartett Glückliche Familie dabei?«

Der Somerset-Akzent geriet ein wenig ins Wanken, als Simplicity antwortete: »Mein Mutter hat es mir gegeben, und ich habe mir immer etwas gewünscht, das ganz allein mir gehört. Ich habe mir die Karten angesehen und gedacht, dass eines Tages alles besser würde. Und jetzt, nach all dem Leid, glaube ich, dass tatsächlich alles besser geworden ist.«

Ihr Strahlen und der kleine Vortrag erfreuten Dodgers Herz. Die Freude blieb, als sie den Weg fortsetzten.

Etwa um diese Zeit in London – einer Stadt, in der die Menschen so schnell sprachen, dass man nie sah, wohin das Geld verschwand – stieg eine Dame namens Angela in Seven Dials aus einer Kutsche, die von zwei kräftig gebauten Lakaien bewacht wurde, als besagte Dame die Treppe hinaufstieg und an die Tür der Mansarde klopfte.

Solomon öffnete und sagte: »Mmm, ah, Miss Angela, danke, dass Sie gekommen sind! Darf ich Ihnen grünen Tee anbieten? Ich fürchte, Sie müssen so mit uns vorliebnehmen, wie Sie uns hier antreffen, aber ich habe so gut wie möglich sauber gemacht, und am besten achten Sie nicht auf Onan. Nach einer Weile bemerkt man den Geruch nicht mehr, glauben Sie mir.«

Angela lachte und fragte: »Haben Sie Neuigkeiten?«

»In der Tat, mmm«, entgegnete Solomon. »Ich habe einen erstaunlich gut geschriebenen Brief von Dodger bekommen, aus York, wohin er sich zurückgezogen hat, weil ihn dort nichts an die arme Simplicity erinnert.«

Angela nahm die makellos saubere Tasse Tee entgegen und sagte: »York, was Sie nicht sagen. Durchaus angemessen, wie mir scheint. Hat sich sonst noch jemand nach Dodgers Aufenthaltsort erkundigt, wenn ich fragen darf?«

Solomon füllte vorsichtig die Tasse und erwiderte: »Diese Tassen stammen aus Japan, wissen Sie? Ich finde es erstaunlich, dass sie so lange durchgehalten haben wie ich.« Er sah auf und sagte mit unbewegter Miene: »Sir Robert war so freundlich, mir vor zwei Tagen zwei seiner Constables zu schicken, und natürlich musste ich ihnen alles erzählen, was ich weiß, wie es meine Pflicht als rechtschaffener Bürger ist.« Sein Lächeln wuchs in die Breite. »Ich denke immer, dass man Polizisten belügen sollte. Es ist so gut für die Seele und auch für die Polizisten.«

Angela schmunzelte und sagte: »Mister Cohen, es überrascht Sie vielleicht – oder auch nicht –, dass ich eine Nachricht von einer namenlosen Person bekommen habe, die mir eine Örtlichkeit in London und – ist das nicht aufregend? – auch einen Zeitpunkt nennt. Klingt nach Spaß, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Solomon. »Obwohl ich sagen muss, dass es in meinem Leben zu viel von solcherlei Spaß gab, weshalb ich lieber hier oben in meinen weichen Pantoffeln arbeite, wo ich nicht damit rechnen muss, dass Spaß meine Konzentration stört. Du liebe Zeit, was ist nur mit meinen Manieren? Ich habe hier köstliche Reiswaffeln, meine Teure. Sie stammen von Mister Chang und schmecken lecker. Bitte, bedienen Sie sich!«

Angela nahm eine Waffel und sagte: »Wenn Sie dem jungen Mister Dodger noch einmal begegnen sollten, so richten Sie ihm bitte aus, ich hätte Grund zu der Annahme, dass die Obrigkeit noch einmal mit ihm sprechen möchte, nicht weil er irgendetwas falsch gemacht hat, sondern weil er ihrer Meinung nach imstande ist, das eine oder andere sehr richtig zu machen, und das zum Wohle des Landes. Es steht ihm frei, das Angebot anzunehmen.« Sie zögerte einen Moment lang, bevor sie hinzufügte: »Wenn ich hier von Obrigkeit spreche, so meine ich die höchste aller Obrigkeiten.«

Solomon zeigte sich ungewöhnlich überrascht und fragte: »Und wenn Sie von der höchsten aller Obrigkeiten sprechen, meinen Sie …?«

»Nicht den Allmächtigen«, entgegnete Angela. »Zumindest nicht dass ich wüsste, aber fast: eine Dame, die Dodger gewisse Bereiche seines Lebens erleichtern könnte. Ich glaube, es handelt sich um eine Einladung, die nicht wiederholt wird, sollte sie unbeachtet bleiben.«

»Mmm, tatsächlich? In dem Fall sollte ich besser meinen guten Anzug von Jacob holen und ihn reinigen lassen, nicht wahr?«

Von Apfelwein, frischer Luft, Käse und Sternen einmal abgesehen: Das junge Paar freundete sich mit allen Bewohnern von Axbridge an und kostete auch Mauerfrüchte, die nach Auskunft der jungen Frau im Französischen escargot genannt wurden, während sie in Somerset Schnecken waren und nichts anderes zu sein versuchten.

Im Großen und Ganzen stellte das Paar für die Dorfbewohner ein liebenswertes Rätsel dar; jeder wusste etwas darüber zu erzählen, und jeder spekulierte auf seine oder ihre eigene Art und Weise. Die Frau, die sich um die Kirchenblumen kümmerte, hatte die beiden offenbar beim Fluss beobachtet, wie sie einigen Kindern ein Spiel zeigten, dass sie Glückliche Familie nannten. Ein Bauer hatte sie auf einem Tor sitzen sehen und berichtete davon, dass die junge Frau dem junge Mann offenbar das Lesen beibrachte, dabei immer wieder seine Aussprache und alles andere korrigierte, wie eine Schullehrerin, und der Bauer wies darauf hin, dass der junge Mann allem Anschein nach großen Spaß daran gefunden hatte. Dann sagte ein Kumpel des Bauern im Pub, er habe den jungen Burschen jeden Abend im weichen Gras liegen gesehen, wie er zu den Sternen hinaufblickte. Er sagte: »Man hätte meinen können, der arme Kerl sähe sie zum ersten Mal.«

Als sie sich am letzten Tag verabschiedeten, brachte sie einer ihrer neuen Freunde, der ein Pony und einen Pferdewagen besaß, die Straße hinauf zum Pub von Star. Er machte einen kleinen Umweg und zeigte ihnen eine Wiese mit einem Stein, der den Leuten zufolge – vermutlich den Leuten, die den vielen Apfelwein tranken – des Nachts manchmal lebendig wurde und tanzte.

Nachdem sie den Stein für den Fall, dass er einen kleinen Tanz für die Touristen aufführen wollte, eine Zeit lang beobachtet hatten, wandte sich Dodger an seine Freundin und sagte im besten rustikalen Ton von Somersetshire: »Ich schätze, wir sollten uns auf den Weg machen, meine Liebe.«

Sie lächelte wie die Sonne und erwiderte: »Wohin, mein Lieber?«

Dodger erwiderte das Lächeln und sagte: »London.«

Und sie sagte: »Wo die Leute so seltsam sind, nicht wie wir hier.«

Dann küsste sie ihn, und er küsste sie, und dann, mehr im Tonfall eines Londoners, fragte Dodger: »Glaubst du, dieser Stein kann tatsächlich tanzen?«

»Nun, Dodger«, entgegnete sie, »wenn es jemanden gibt, der einen Stein zum Tanzen bringen kann, so bist du das.«

Später trafen zwei junge Leute aus Somerset, die erstaunlicherweise genug Geld hatten, um mit der Kutsche zu reisen, von Bristol kommend in London ein. Völlig unbemerkt verschwanden sie in der Menge, und die junge Frau kam in einer Pension unter, während sich der junge Mann auf den Weg nach Seven Dials machte.

Am folgenden Morgen brach Dodger zu einem Spaziergang mit Onan auf und verschwand in der Kanalisation. Einem Beobachter wäre aufgefallen, dass er recht ernst wirkte und einen Beutel trug. Aber die einzigen Beobachter waren Ratten, und es ist fraglich, ob sie beurteilen können, wie ernst ein Mensch aussieht, oder ob sie überhaupt die Bedeutung von ernst kennen. Später wären sie vielleicht überrascht gewesen, ein Paar glänzender neuer Schuhe zu entdecken, versteckt hinter Unrat, an einer ausreichend hohen Stelle, um nicht vom Wasser erreicht zu werden.

Womit sich Dodger anschließend beschäftigte, sah niemand, aber gegen Mittag stand er auf der London Bridge und sah den Schiffen nach, als eine junge Frau mit langem Haar und einer Stimme, bei der es ihm im Nacken prickelte, ihn ansprach und fragte: »Entschuldigen Sie, Mister, können Sie mir vielleicht den Weg nach Seven Dials zeigen, wo meine Tante wohnt?«

Ein Beobachter – und sie wurden beobachtet – hätte gesehen, wie sich Dodgers Miene erhellte, und vielleicht hätte er auch gehört, wie er sagte: »Sind Sie neu in der Stadt? Prächtig! Bitte erlauben Sie mir, Sie ein wenig herumzuführen, es wäre mir ein Vergnügen.«

In diesem Moment hielt eine Kutsche an, sehr zum Ärger der Kutscher dahinter, aber die recht kräftig gebauten Männer auf dem Kutschbock dieser Kutsche scherten sich nicht darum. Eine Frau stieg aus, schenkte Dodger ein Lächeln, musterte die junge Dame aus Somerset und sagte nach einer fast forensischen Untersuchung: »Meine Güte, welche Überraschung, mein Freund, man könnte diese junge Dame fast für Simplicity halten! Aber leider wissen wir beide, dass sie unter schrecklichen Umständen ums Leben kam. Aber Sie, Mister Dodger, sind ganz offensichtlich ein ausgesprochen unverwüstlicher Gentleman. Da wir drei uns seltsamerweise auf dieser Brücke begegnen, erlauben Sie mir vielleicht, Sie und Ihre neue Freundin zum Friedhof von Lavender Hill zu bringen, denn dorthin wollte ich heute, da der Steinmetz den Grabstein für die arme Simplicity fertiggestellt hat.« Sie sah die junge Frau an und fragte: »Wie heißen Sie, junge Dame?«

Die Fremde lächelte und antwortete: »Serendipity, Missus.« Und Angela musste sich den Mund zuhalten, um nicht zu lachen.

Und so machten sie sich auf den Weg nach Lavender Hill, wo Blumen auf ein Grab gelegt und – was nicht überraschend kam – Tränen vergossen wurden. Und dann wurden Dodger und die junge Frau Serendipity bei einer anderen Brücke abgesetzt, wo der Glückliche-Familie-Mann seinen seltsamen Wagen aufgestellt hatte.

Der Wagen war eigentlich ein großer Käfig, der einen Hund, eine Katze, einen kleinen Pavian, eine Maus, zwei Vögel und eine Schlange enthielt, und alle lebten friedlich miteinander wie gute Christen, betonte der Mann.

»Warum in aller Welt frisst die Katze die Maus nicht, Dodger?«, fragte Serendipity.

»Nun«, sagte er, »der Alte ist bestimmt nicht geneigt, seine Geheimnisse zu verraten, aber wenn man die Tiere friedlich miteinander aufwachsen lässt, werden sie, so heißt es, zu einer glücklichen Familie. Aber es heißt auch: Sollte eine Maus, die der Schlange noch nicht vorgestellt wurde, durch dieses Gitter schlüpfen, würde sie schnell zu einer Mahlzeit der Schlange.«

Serendipity nahm Dodgers Hand, und sie gingen über die Brücken und sahen sich alle Darbietungen an: den Mann, der schwere Gewichte hob, die Würfelspieler und den Mann, der auf den Händen stehen konnte. Als London im goldenen Abendlicht schließlich zu einem heidnischen Tempel aus glänzender Bronze zu werden schien und die Themse sich gleichsam in einen zweiten Ganges verwandelte, gingen sie nach Hause, ohne dem Kasperletheater Beachtung zu schenken.

Der nächste Morgen begann mit einem ziemlichen Lärm auf der Straße. Als Dodger schlaftrunken zum Fenster wankte und hinabblickte, entdeckte er zwei Männer mit federgeschmückten Helmen und einen kleineren Mann, der einerseits wichtigtuerisch wirkte und sich andererseits in der Gegend zu fürchten schien, in der er sich befand. Dodger schaffte es, das Fenster zu öffnen, und rief: »Was wollen Sie, Mister?« Der kleinere Mann gefiel ihm nicht. Offenbar war er der Boss, denn wann immer man einen kleinen Mann zusammen mit einem großen sah, hatte der große nichts zu melden. Der kleine Mann fragte nun: »Kennen Sie einen Gentleman namens … Mister Dodger?«

Dodger schluckte und erwiderte: »Hab nie von ihm gehört.«

Der Mann sah zu ihm hoch. »Bedaure sehr, das zu hören, Sir. Aber wenn Sie vielleicht besagtem Mister Dodger begegnen, so richten Sie ihm bitte aus, dass Ihre Majestät Königin Viktoria ihn morgen Nachmittag im Buckingham Palace erwartet!«

Hinter Dodger sagte Solomon schläfrig: »Mmm, Dodger, einen Ruf Ihrer Majestät kann man nicht überhören.«

Und so gab es für Dodger kein Entkommen, weshalb er die Treppe hinunterstieg und auf die Straße trat. Dort kamen bereits Menschen zusammen, sehr zum Verdruss der beiden Männer mit den federgeschmückten Helmen, denn es kursierte das Gerücht, dass Dodger zum Galgen gebracht werden sollte, und hier und dort wurden Stimmen laut, die dazu aufforderten, dergleichen zu verhindern. Und außerdem: Wenn ein Gerücht die Runde machte, so blieb es nicht lange allein, denn Gerüchte lieben die Gesellschaft weiterer Gerüchte.

Dodger stand da, blinzelte und sagte: »Na schön, Mister, und jetzt sagen Sie mir die Wahrheit!«

Der inzwischen recht beunruhigte kleine Mann versuchte, Würde in einer Welt zu zeigen, die gar keine Würde kannte. Er reichte Dodger ein Dokument. »Finden Sie sich morgen um vier Uhr dreißig am Tor des Buckingham Palace ein. Sie können insgesamt drei Mitglieder Ihrer Familie mitbringen. Ich werde Ihrer Majestät natürlich mitteilen, dass Sie sich demütigst einverstanden erklären.«

Es folgte ein seltsamer, geheimnisvoller Tag, selbst als die Leute das Interesse verloren und ihren eigenen Angelegenheiten nachgingen – oder in einigen Fällen so vielen Angelegenheiten anderer Leute, wie sie stehlen konnten. Dodger begann ihn, indem er einen Spaziergang unternahm. Diesmal streifte er nicht durch die Kanalisation, sondern ging kreuz und quer durch London, und zwar in Begleitung von Onan, der voller Freude neben ihm hertappte und sich riesig freute, so lange draußen unterwegs sein zu dürfen. Schließlich führte der Weg, den Dodgers Beine beschritten – und die ihn besser kannten als er sich selbst – durch Covent Garden zur Fleet Street.

Charlie war nicht da, aber als Dodger um ein Gespräch mit dem Herausgeber bat und sagte, wer er war, wurde er sogleich nach oben geführt und erfuhr dort, dass seinem Konto weitere sieben Guineen gutgeschrieben worden waren. Woraufhin Dodger den Wunsch äußerte, das übrige Geld der Sammlung dafür zu verwenden, das Leben für Mister Todd erträglicher zu machen, der, soweit er wusste, im Hospital von Bedlam einsaß, einer Örtlichkeit, die sich nicht unbedingt für empfindliche Gemüter eignete.

Mister Doyle erklärte sich einverstanden und wollte darüber hinaus dafür sorgen, dass das Geld tatsächlich seiner Bestimmung zugeführt wurde. Dadurch fühlte sich Dodger besser. Nach diesem Gespräch setzte er seine Wanderung fort und unterbrach sie nur, um beim Metzger einen Knochen für Onan zu kaufen. Anschließend besuchte er einen Getränkeladen, besorgte sich dort eine Flasche mit gutem Brandy und ging damit zum Fluss, wo er sich von einem Fährmann zum Kai bei Four Farthings übersetzen ließ.

Der Coroner war nicht anwesend, aber sein Beamter versicherte, er werde das Geschenk weiterreichen, das angeblich von einer Alten stammte, die die Hilfe des Coroners empfangen und versprochen hatte, sich dafür erkenntlich zu zeigen. Was den Beamten zu der Bemerkung veranlasste, dass es um die Welt besser bestellt wäre, wenn alle Menschen ihr Wort halten würden. In Four Farthings gab es nicht viel, das nicht bald in den größeren Bezirken aufgehen würde, aber Dodger sah sich die Kirche von St. Never an, gewidmet einem wenig bekannten Heiligen, der für Belange zuständig war, die nie geschahen, vermutlich einer der Gründe, warum hier so viele junge Frauen beteten. Er warf einen Shilling in den Opferstock, hörte aber, wie die Münze auf Holz traf; vermutlich würde sie in dem Kasten lange Zeit allein bleiben.

Er fand genug Zeit für einen Umweg, der ihn zu Mister und Missus Mayhew führte, denen er die Hand schüttelte, ihnen für ihr Beileid und auch für die Hilfe dankte, die sie der kürzlich verstorbenen armen Simplicity gewährt hatten. Und die, wie Dodger betonte, zweifellos sehr dankbar gewesen wäre, wenn das Schicksal sie vor dem viel zu frühen Tod bewahrt hätte. In dieser Hinsicht sei er völlig sicher, fügte er hinzu, als hätte er es aus ihrem eigenen Mund gehört. Als ihn die Mayhews durch den Flur zur vorderen Tür führten, beschloss er einen weiteren Umweg und machte einen Abstecher zur Küche, wo er sogar für Missus Sharples ein fröhliches Lächeln erübrigte und einen dicken Kuss von Missus Quickly empfing.

Als er zur anderen Seite des Flusses zurückkehrte, fragte er sich, warum er dies alles unternahm, und das fragte sich vermutlich auch Onan, der einen der schönsten Tage seines Lebens erlebte – nie zuvor hatte er in einem Stück so lange und so weit laufen dürfen. Dodger fiel ein, dass es vielleicht eine Person gab, die ihm Antwort geben konnte. Das führte dazu, dass er erneut auf die Dienste eines Fährmanns zurückgriff und sich diesmal ein ganzes Stück stromaufwärts bringen ließ. Es folgten ein recht langer Fußweg zu Serendipitys Pension und dann eine Fahrt mit der Kutsche zum Anwesen einer gewissen Angela Burdett-Coutts. Die Tür wurde von einem überaus respektvollen Butler geöffnet, der sagte: »Guten Tag, Mister Dodger. Ich werde nachsehen, ob Miss Angela zu Hause ist.«

Angela erschien weniger als eine Minute später. Beim Kaffee berichtete Dodger von den Neuigkeiten und bat Serendipity, ihn in den Palast zu begleiten.

Serendipity nahm die Nachricht auf weibliche Art und Weise entgegen – sie geriet in Panik, weil sie nichts anzuziehen hatte. »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, meine Liebe«, warf Angela munter ein. »Wir könnten meinem Schneider einen Besuch abstatten. Es ist zwar sehr kurzfristig, aber bestimmt lässt sich etwas bewerkstelligen.« Sie wandte sich an Dodger. »Wenn ich an Kleider denke, fallen mir Ringe ein, und deshalb wäre ich Ihnen dankbar, Mister Dodger, wenn Sie mir Ihre Absichten erklären könnten. Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie beide verlobt. Wann soll daraus eine Ehe werden, wenn ich fragen darf? Ich persönlich habe nie den Sinn von langen Verlobungen verstanden, aber könnte es vielleicht … Schwierigkeiten geben?«

Dodger hatte lange über Serendipity und eine Heirat nachgedacht. Offiziell – als Simplicity – war sie noch verheiratet, aber wie sie selbst gesagt hatte: Gott konnte bei der Hochzeit kaum zugegen gewesen sein, denn sonst hätte er nicht zugelassen, dass sich Liebe in etwas so Schreckliches verwandelte. Dodger hatte Solomon gefragt, und der alte Knabe hatte sich das Kinn gerieben, einige Male »Mmm« gebrummt und dann erwidert, dass ein Allmächtiger, an den zu glauben sich wirklich lohne, zweifellos diese Ansicht teilen würde. Und wenn nicht, würde Solomon es ihm erklären. Und Dodger hatte gesagt: »Ich weiß nicht, ob Gott in der Kanalisation war, aber die Lady bestimmt.«

Immerhin, dachte er, würde der betreffende Prinz sicher schweigen, und die einzigen anderen Zeugen für die elende Hochzeit waren Simplicity und der Ring gewesen. Der Ring war verschwunden, und Simplicity ruhte in einem Grab. Welche Hinweise gab es, dass Simplicity jemals gelebt hatte? In gewisser Weise handelte es sich um eine andere Art von Nebel, und in diesem Nebel, so dachte sich Dodger, fand man vielleicht einen Weg zu einem sonnenhellen Hochland.

Jetzt sagte er mit fester Stimme: »Simplicity war verheiratet. Aber Simplicity ist tot. Jetzt habe ich Serendipity, eine ganz andere Frau, und ich werde ihr helfen. Aber auch ich bin jemand anderer, und bevor wir heiraten, muss ich mir eine Arbeit suchen, eine gute obendrein. Zum Toshen gehe ich nur noch als Hobby. Aber ich weiß gar nicht, wo ich richtige Arbeit finden soll.«

An dieser Stelle zögerte er, denn Angelas Lächeln sprach Bände, blieb derzeit aber undeutbar für ihn. »Nun, wenn ich den Gerüchten Glauben schenken darf, junger Dodger«, sagte sie, »so würde es mich gar nicht wundern, wenn Sie schon bald einen freundlichen alten Mann mit weißem Haar wiedersähen, der Ihnen vielleicht einen Urlaub im Ausland ermöglichen möchte. Herzlichen Glückwunsch, junger Mann, und Ihnen ebenfalls, Miss Serendipity.«

Am folgenden Tag traf die Kutsche pünktlich mit Serendipity an Bord ein. Als sie wieder losrollte, sagte Solomon, der alles über diese Dinge zu wissen schien: »Es ist natürlich eine private Audienz. Aber denk daran, dass Ihre Majestät das Sagen hat. Sprich nur, wenn du dazu aufgefordert wirst. Unterbrich die Königin auf keinen Fall, und dies möchte ich eigens betonen: Werd nicht vertraulich mit ihr. Hast du verstanden?«

Einige dieser Hinweise erhielt er auf dem Weg durch den Palast, der für den anderen, den früheren Dodger das lohnendste Ziel gewesen wäre, das er jemals gesehen hatte. Selbst Angelas Villa wirkte im Vergleich zu dieser Pracht völlig unbedeutend. Ein Raum folgte dem anderen, und es war ein überwältigendes Panorama für einen ehemaligen Snakesman, doch Dodger sagte sich, dass es aussichtslos gewesen wäre. Niemand hatte einen Sack, der groß genug war, um alle die Gemälde und prachtvollen Stühle fortzubringen.

Dann plötzlich betraten sie einen weiteren Raum, und die Königin und Prinz Albert waren da, und Dodger bemerkte überall Lakaien, die ganz still standen, wie gute Diebe, denn Bewegung bemerkten Menschen schnell.

Dodger hatte noch nie das Wort surreal gehört, hätte es aber verwendet, als der besonders feierlich gekleidete Solomon sich vor der Königin so tief verbeugte, dass sein Haar fast den Boden berührte. Es knackte leise, gefolgt von plötzlicher Stille, und Solomon winkte Dodger verzweifelt zu, der sofort Bescheid wusste. Er trat vor, schenkte Ihrer Majestät ein aufgeregtes Lächeln, schlang die Arme um Solomon, drückte ihm ein Knie in den Rücken und zog, woraufhin Solomon wieder aufrecht stehen konnte. Dann hörte er sich zu seinem Kummer sagen: »Bitte, entschuldigen Sie, Euer Majestät, er verrenkt sich den Rücken, wenn er so was macht, aber kein Problem, ich hab ihn wieder eingerenkt.«

Eine ziemlich gut aussehende Frau, fand Dodger, und natürlich piekfein, ganz klar. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, aber Prinz Albert sah Dodger an wie jemand, der einen Kabeljau in seinem Schlafanzug gefunden hat. Dodger wich einen Schritt von Solomon zurück und versuchte, unsichtbar zu werden, und nach einigen Sekunden sagte die Königin: »Mister Cohen, es ist mir eine große Freude, Sie schließlich kennenzulernen. Ich habe viele Geschichten über Sie gehört.« In einem nicht ganz so königlichen Tonfall fügte sie hinzu: »Sie haben doch keine Schmerzen, oder?«

Solomon schluckte und erwiderte: »Es ist nichts beschädigt, Euer Majestät, abgesehen von meiner Selbstachtung, und darf ich sagen, dass einige der Geschichten, die über mich im Umlauf sind, nicht der Wahrheit entsprechen?«

»Der König von Schweden erzählt eine besonders hübsche Anekdote«, meinte Prinz Albert.

Solomon errötete unter seinem Bart – Dodger konnte es gerade so eben erkennen – und sagte: »Wenn es dabei um das Rennpferd in der Hütte geht, Euer Königliche Hoheit, so muss ich gestehen, dass sich die Geschichte tatsächlich so ereignet hat.«

»Dennoch ist es mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte der Prinz. Er streckte Solomon die Hand entgegen, und Dodger beobachtete den Händedruck sehr genau und erkannte die freimaurerische Hand der Freiheit.

Die Königin sah ihren Gemahl an und sagte: »Nun, mein Lieber, das ist eine nette Überraschung für dich.« Es war ein freundlicher Satz, aber er enthielt auch einen Unterton, der darauf hinwies, dass zumindest dieses Gespräch beendet war. Sie wandte sich an Dodger und sagte: »Sie sind also Mister Dodger, ja? Wie ich hörte, werden Sie gut mit verzweifelten Kriminellen fertig. Es reden noch immer alle über Sweeney Todd. Das muss ein schrecklicher Tag für Sie gewesen sein.«

Dodger begriff, dass es vielleicht keine gute Antwort gewesen wäre, dies zu leugnen, obwohl jener Tag weniger schrecklich als erstaunlich gewesen war. Er suchte Zuflucht bei folgenden Worten: »Nun, Euer Majestät, da war er, da war ich, und da war das Rasiermesser, und das war’s eigentlich. Um ganz ehrlich zu sein, der arme Mann tat mir leid.«

»Das habe ich gehört«, sagte die Königin. »Es ist ein beunruhigender Gedanke, aber er gereicht Ihnen zur Ehre. Ich nehme an, die junge Dame neben Ihnen ist Ihre Verlobte, nicht wahr? Bitte kommen Sie näher, Miss Serendipity!«

Serendipity trat vor, und plötzlich fand sich Dodger außerhalb des Raums wieder. Er sah von oben darauf hinab und beobachtete, wie sich die Gesichter immer wieder veränderten. Und dann steckte er wieder in sich selbst, und alles war fröhlich, und jemand hatte gerade Tee gebracht, und die Anzeichen deuteten darauf hin, dass die Zusammenkunft zufriedenstellend verlief.

Wer würde es wagen, eine Königin zu belügen?, dachte er. Wie viel wusste sie? Was das betraf – wie gut war Prinz Albert informiert? Er stammte aus einem der deutschen Länder, nicht wahr? Doch dieser Gedanke führte Dodger zur Politik, und deshalb verscheuchte er ihn, und die Zeit kehrte zurück. Serendipity machte einen Knicks, der viel eleganter wirkte als Solomons Verbeugung, und alles schien gut zu sein.

»Wann soll die Hochzeit stattfinden, meine Liebe?«

Serendipity errötete und antwortete: »Dodger meint, dass er zuerst eine Arbeit finden muss, Euer Majestät. Deshalb wissen wir es noch nicht genau.«

»Bemerkenswert«, erwiderte die Königin. »Womit beschäftigen Sie sich, Mister Dodger, wenn Sie nicht gerade Verbrecher zur Strecke bringen?«

Dodger zögerte, und Solomon warf ein: »Er hilft mit, dass Abflüsse richtig funktionieren, Euer Majestät.«

Prinz Albert rollte mit den Augen und sagte: »Oh, Abflüsse. Die haben wir hier auch, und sie scheinen immer verstopft zu sein.«

Dodger öffnete den Mund, aber die Königin schien das Thema Abflüsse schnell beenden zu wollen und sagte rasch: »Nun, Sir, ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Arbeit, für die Sie sich schließlich entscheiden. Und jetzt …« Sie blickte zu einem Lakaien hinüber. »Wir glauben, dass Tapferkeit wie die Ihre belohnt werden sollte, und deshalb bitte ich Sie, vorzutreten und niederzuknien, mit einem Knie auf das Kissen dort, und es wäre vermutlich empfehlenswert, wenn Sie dabei den Hut abnähmen.« Ein Lakai näherte sich mit einem Schwert, einem sehr glänzenden noch dazu. Die Königin nahm es und sagte: »Wie lautet Ihr voller Name, Mister Dodger? Man hat mir mitgeteilt, dass Sie sich von Pip Stick verabschieden möchten.«

Dodger sah sie groß an, und dann sagte Serendipity: »Wenn Sie gestatten, Euer Majestät … Ich habe Jack immer für einen hübschen Namen gehalten.«

Jack Dodger, dachte Dodger. Es klang ein bisschen zu fein, warum auch immer. Die Königin richtete einen erwartungsvollen Blick auf ihn und sagte: »An Ihrer Stelle würde ich den Rat der jungen Dame beherzigen, Sir.« Sie sah Prinz Albert an und fügte hinzu: »Wie es alle vernünftigen Ehemänner tun sollten.«

Darauf konnte Dodger nur noch sagen: »O ja, danke.« Und dann strich ihm Luft über den Kopf, und das Schwert ruhte wieder in den Händen des Lakaien, und Sir Jack Dodger erhob sich.

»Du siehst irgendwie größer aus«, sagte Serendipity.

»In der Tat«, bestätigte die Königin. »Übrigens«, fuhr sie fort, »wie ich hörte, Sir Jack, haben Sie einen sehr intelligenten Hund.«

Dodger grinste. »O ja, Euer Majestät, Sie meinen Onan. Er ist ein guter Freund, aber natürlich konnten wir ihn nicht mitbringen.«

»Ganz recht«, sagte die Königin und räusperte sich. »Meinen Sie Onan, wie in der Bibel?«

Aus den Augenwinkeln beobachtete Dodger, wie Solomon einen Schritt zurückwich, aber er antwortete trotzdem: »O ja, Miss.«

»Warum haben Sie ihn so genannt?«

Nun, dachte Dodger, immerhin hat sie gefragt. Und so erklärte er es ihr[8], und die junge Königin sah ihren Gemahl an, dessen Gesicht ein Bild für die Götter war, und dann lachte sie und sagte: »Nun, wir sind amüsiert.«

Wie bei einem Uhrwerk verschwand der Tee so schnell, wie er gekommen war, und ein gewisses Signal gab zu erkennen, dass die Audienz ihr Ende erreicht hatte. Zutiefst erleichtert nahm Dodger Serendipity am Arm, führte sie fort und atmete auf, als sie den Raum verließen. Doch aus dem Aufatmen wurde Verlegenheit, denn der weißhaarige Mann, dem er schon einmal begegnet war, trat auf ihn zu und sagte: »Sir Jack, bitte, erlauben Sie mir, Ihnen als Erster zu gratulieren. Darf ich ein wenig von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen? Hatten Sie inzwischen Gelegenheit, über mein Angebot nachzudenken?«

»Er möchte, dass du ein Spion wirst«, murmelte Solomon hinter Dodger.

Der weißhaarige Mann stieß ein Geräusch aus, das wie »Ts, ts« klang, und er sagte: »Meine Güte, nein, Mister Cohen. Ein Spion, Sir? Gott bewahre! Ich versichere Ihnen: Die Regierung Ihrer Majestät hat nichts mit Spionen zu tun, o nein. Aber wir wissen Personen zu schätzen, die uns helfen, mehr über Zusammenhänge zu erfahren, für die wir uns … interessieren.«

Dodger nahm Serendipity zur Seite und fragte: »Was soll ich tun?«

»Ich denke, er will tatsächlich, dass du ein Spion wirst«, erwiderte Serendipity. »Man sieht es seinem Gesicht an, wenn er das Gegenteil behauptet. Mir scheint, für jemanden wie dich wäre es der ideale Beruf, obwohl du dann die eine oder andere Fremdsprache erlernen müsstest. Aber ich bin sicher, du kommst schnell damit zurecht. Ich spreche Französisch und Deutsch und kenne auch ein bisschen Latein und Griechisch. Es ist nicht allzu schwierig, wenn man sich ein wenig bemüht.«

Um nicht ganz so dumm dazustehen, sagte Dodger: »Oh, einige griechische Worte habe ich bereits gelernt. Sie lauten: Παρακαλώ μπορείτέ να μου πείτε που βρίσκονται η άτακτες κυρίες?«[9]

Serendipity lächelte und sagte: »Meine Güte, Dodger, du führst ein aufregendes Leben, nicht wahr?«

»Ich glaube«, erwiderte er, »das ist nur der Anfang, meine Liebe.«

Und so kam es, dass Jack Dodger zwei Monate später durch die Straßen von Paris schlenderte, verfolgt von der Gendarmerie. Er trug eine Tasche, die nicht nur Münzen und Anleihen enthielt, sondern auch ein Diadem, das einst Marie Antoinette gehört hatte und seiner Frau Serendipity sehr gut stehen würde, und – last but not least – die Pläne für einen ganz neuen Waffentyp. Überall erklangen Pfiffe, aber Dodger war nie dort, wo man ihn erwartete. Mit großer Genugtuung hatte er festgestellt, dass es auch bei den Franzmännern Abwasserkanäle gab, sogar ziemlich gute, was er von den Franzmännern gar nicht erwartet hätte, und so hopste, sprang und lief er zum sicheren geheimen Unterschlupf, den er am vergangenen Abend vorbereitet hatte, und vergnügte sich prächtig.

Загрузка...