Dodger eilte nach Hause, in gewisser Weise getragen von der Erinnerung an das Treffen und auch von den Worten, die Charlie ihm beim Verlassen des Hauses zugeflüstert hatte – wonach Angela mehr Geld besaß als jeder, der nicht König oder Königin war. Allerdings, eine piekfeine Party klang nach einer harten Nuss. Er ging ziemlich schnell, bis er den ersten Gullydeckel erreichte: einen Eingang zu seiner Welt. Einen Moment später war trotz der guten Klamotten eine deutliche Abwesenheit von Dodger zu beobachten, untermalt vom Geräusch des wieder an seinen Platz gerückten Gullydeckels.
Er orientierte sich nach Gefühl, mithilfe von Echos und natürlich anhand des Geruchs. Jede Kanalisationsröhre in der Stadt hatte ihren eigenen Geruch, und er konnte sie so gut unterscheiden wie ein Weinkenner verschiedene Jahrgänge. Unter Londons Straßen machte er sich auf den Weg nach Hause und änderte nur einmal die Richtung, als sein aus zwei Tönen bestehender Pfiff Antwort erhielt von einem Kollegen, der bereits in diesem Tunnel arbeitete. Draußen war es noch hell, was die Sicht in der Nähe eines gelegentlichen Gitterrosts verbesserte, und er kam mühelos voran – diesmal war nicht das kleinste Rinnsal zu entdecken. Fast geistesabwesend erforschten seine Finger im Vorbeigehen eine geheime Nische und fanden einen Sixpence, ein Zeichen dafür, dass jemand oder etwas über ihn wachte.
Oben in der komplizierten Welt erklangen die Geräusche von Hufen, Schritten und Kutschen, und dann, ganz plötzlich, hörte Dodger einen Laut, und er erstarrte: ein gespenstisches Quietschen wie von leidendem Metall, vielleicht hervorgerufen von einem Gegenstand, der an einem Rad feststeckte. Es war ein Quietschen, das über die Seele kratzte und das man nie wieder vergaß, hatte man es einmal vernommen.
Die Kutsche! Wenn er sehen konnte, wohin sie fuhr, fand er vielleicht die Männer, die Simplicity verprügelt hatten. Er freute sich bereits darauf, es den Mistkerlen heimzuzahlen.
Die Kutsche rollte oben über die Straße, und Dodger verfluchte den Umstand, dass der nächste Gullydeckel ein ganzes Stück entfernt war. Zum Glück befand er sich in einem einigermaßen sauberen Tunnel, was ihm dabei half, den gebrauchten Anzug zu schonen. Er lief durch die Kanalisationsröhre und wäre diesmal nicht einmal für einen Shilling stehen geblieben. Schließlich erreichte er den Kanaldeckel und holte die Brechstange hervor, doch gerade, als er den Deckel anheben wollte, hörte er das Klappern von Hufen und das Rasseln von Gurtzeug. Etwas Dunkles erschien über dem Gullydeckel, und das Licht des Tages verschwand hinter dem Geruch von Dung. Der Wagen eines Brauers blieb stehen und schien sich auf dem Deckel niederzulassen wie ein alter Mann, der nach langer Suche endlich einen Abort gefunden hat. Der Vergleich war so abwegig nicht, denn die Pferde vor dem Wagen hielten Ort und Zeitpunkt für geeignet, ihre Blasen zu entleeren. Es waren große Tiere, ein langer Nachmittag lag hinter ihnen, und deshalb war der Schauer nicht schon nach wenigen Augenblicken zu Ende, sondern lief auf ein längeres Duett für die Göttin der Erleichterung hinaus. Da der einzige Weg nach unten führte, gab es für Dodger bedauerlicherweise keine Möglichkeit, diesem ganz besonderen Regen auszuweichen.
In der Ferne wurde das Quietschen leiser und verschmolz immer mehr mit den anderen Geräuschen der Straßen. Hinzu kam das Rumpeln der Bierfässer, die nun von kräftigen Männern über eine Rampe gerollt wurden. Schon nach kurzer Zeit war vom quietschenden Rad der Kutsche nichts mehr zu hören.
Dodger kannte die Routine der Männer, die über ihm arbeiteten. Wenn sie alle leeren Fässer aus dem Pub geholt und durch volle ersetzt hatten, genehmigten sie sich hundertpro ein Pint Bier. Bei diesem fröhlichen Unterfangen würde ihnen der Wirt Gesellschaft leisten, angeblich um die Qualität des gelieferten Biers zu überprüfen, obwohl der wahre Grund lautete: Wenn Männer die ganze Zeit über schwere Fässer schleppen mussten, so hatten sie sich doch ein Bier verdient, oder etwa nicht? Dieses Ritual war vermutlich so alt wie das Bier selbst. Manchmal tranken die Männer von der Brauerei und der Wirt ein zweites Pint, wenn ihre Entschlossenheit, Aufschluss über die Qualität des Biers zu erlangen, besonders ausgeprägt war. Dodger roch es, trotz der Ausdünstungen der Pferde und obwohl er eine gewisse Menge an Pferdeessenz an sich trug; er bekam sogar Durst davon.
Er hatte den Geruch, der von den Brauereien in die Kanalisation herabwehte, immer gemocht. Ein Geezer namens Blinky, von Beruf Rattenfänger, hatte ihm einmal erzählt, dass die Ratten in der Kanalisation unter den Brauereien immer besonders groß und dick waren, und angeblich wurde mehr für sie bezahlt, weil so viel Angriffslust in ihnen steckte.
Dodger musste sich eingestehen, dass er die Kutsche nicht mehr einholen konnte. Die Männer weiter oben machten sich mit großer Gewissenhaftigkeit an die Überprüfung der Bierqualität. Zwar konnte er zum nächsten Gullydeckel laufen, aber bis er ihn erreichte, war die Kutsche sicher längst im Verkehr der Stadt verschwunden. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich über eine verpasste Gelegenheit zu ärgern.
Er ging trotzdem weiter, auch deshalb, weil die großen Zugpferde vor dem Brauereiwagen nicht nur Blasen hatten, die sie entleeren konnten – deshalb folgten ihnen einige Gassenkinder mit Eimer und Schaufel. Oft hörte man, wie sie ihre Ware bei den feineren Häusern anpriesen, wo die Leute Gärten hatten und Dünger brauchten. »Einen Penny der Eimer, Missus!«, riefen sie. »Gut zusammengetreten!«
Beim nächsten Gully kletterte Dodger nach oben und setzte den Weg durch das Labyrinth aus Straßen und Gassen fort, müde, hungrig und sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sein gebrauchter Gebrauchtanzug nicht einen Fleck hatte, sondern ganz und gar aus Flecken bestand. Jacob und seine Söhne verstanden sich ziemlich gut darauf, Kleidung zu reinigen, aber in diesem Fall erwartete sie harte Arbeit. Was für Dodger bedeutete, dass er auf seine Lumpen zurückgreifen musste.
Verdrossen ging er weiter und achtete dabei auf Köpfe, die plötzlich verschwanden, kaum dass er sie bemerkte, oder Leute, die ein bisschen zu schnell in eine Gasse traten. So verhielt sich ein Geezer. Ein Geezer wusste, dass sich die meisten Menschen auf der Straße um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, obwohl viele von ihnen die Gelegenheit wahrgenommen hätten, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Wonach Dodger Ausschau hielt, war das suchende, wachsame Auge, das Auge, das die Straße las wie ein Buch.
Derzeit schien die Straße frei zu sein, wenn man das von irgendeiner Straße sagen konnte, und Simplicity war vorerst in Sicherheit, tröstete sich Dodger. Allerdings verlöre sie diese Sicherheit, wenn sie das Haus verließ. Auf der Straße konnte Schreckliches passieren, selbst am helllichten Tag.
Ihm fiel ein, dass er sich vor nicht allzu langer Zeit als Blumenmädchen verkleidet hatte – damals war er jung genug gewesen, damit durchzukommen. Sein Haar hatte hübsch unter einem Kopftuch hervorgelugt, und es war nicht einmal sein eigenes Haar gewesen. Er hatte es sich von Mary Drehdichschnell geliehen, deren blondes Haar wie ein Pilz wuchs und auch so aussah. Aber sie verdiente gutes Geld damit, indem sie es alle paar Monate an die Perückenmacher verkaufte.
Es gab einen guten Grund für die Verkleidung: Die Blumenmädchen, von denen einige gerade erst vier Jahre alt waren, erhielten unerwünschte … Aufmerksamkeit von gewissen Herren. Die Mädchen, die im Frühling Veilchen und Osterblumen verkauften, waren ein anständiger Haufen, und Dodger mochte sie. Wenn sie größer wurden, mussten sie sich natürlich wie alle anderen ihren Lebensunterhalt verdienen, und bei den älteren von ihnen gab es gegen das eine oder andere Techtelmechtel vielleicht nichts einzuwenden, solange sie sowohl das Techtel als auch das Mechtel im Griff hatten. Doch sie wollten auf keinen Fall, dass ihre kleineren Schwestern in ähnliche Verstrickungen gerieten, weshalb sie Dodger um Hilfe baten.
Als sich die gut gekleideten Männer erneut bei den Blumenmädchen nach neuen Blumen umsahen, die sie pflücken und mit alkoholischen Getränken gefügig machen konnten, wurden sie auf diskrete Weise zu einem schüchternen kleinen Mauerblümchen geschickt, das in Wirklichkeit Dodger hieß.
Er musste zugeben, dass er die Rolle ziemlich gut gespielt hatte, denn ein Geezer musste auch ein Schauspieler sein, und so wurde Dodger zu einem besseren Mauerblümchen als die anderen Blumenmädchen, die – wie konnte es anders sein – geeignetere Qualifikationen dafür mitbrachten. Er hatte bereits recht viele seiner Veilchen verkauft, denn zu jener Zeit war er noch nicht im Stimmbruch gewesen und konnte tatsächlich als Jungfräulein durchgehen, wenn er wollte. Nach einigen auf diese Weise verbrachten Stunden erzählten ihm die Mädchen von einem besonders garstigen Burschen, der sich gern bei den Jüngsten von ihnen herumtrieb und gerade mit seinem hübschen Mantel, dem Gehstock und dem Klimpergeld in der Tasche unterwegs war. Und die Straße applaudierte, als ein plötzlich recht athletisches Blumenmädchen den schmierigen Mistkerl packte, ihn schlug und in eine Gasse zerrte, wo es dafür sorgte, dass er für eine Weile nichts mehr in seiner Tasche klimpern ließ.
Das war einer von Dodgers sehr guten Tagen gewesen, denn … Nun, zunächst einmal hatte er eine gute Tat für die Blumenmädchen vollbracht, was ihm gelegentlich einen Kuss und die eine oder andere Schmuserei wie zwischen guten Freunden einbrachte. Außerdem hatte er den Gentleman stöhnend in der Gasse zurückgelassen, nicht nur ohne dessen Unterhose[5], sondern auch ohne: eine Golduhr, eine Guinee, zwei Sovereigns, einige kleinere Münzen und einen Gehstock aus Ebenholz mit silbernem Besatz. Als Bonus kam hinzu, dass sich dieser Mann auf keinen Fall an die Peeler wenden würde. Und: Nach Dodgers bestem Schlag seit langer Zeit hatte der Bursche einen Goldzahn gespuckt. Dodger hatte ihn mitten in der Luft aufgefangen, was ihm zusätzlichen Applaus der Blumenmädchen einbrachte, und für eine Weile fühlte er sich wie der Hahn im Korb. Er hatte mit den älteren Mädchen Austernsuppe gegessen, und es war der beste Tag gewesen, den sich ein junger Mann wünschen konnte. Es lohnte sich immer, eine gute Tat zu vollbringen, obwohl dies vor der Rettung Solomons geschehen war, der gewisse Einzelheiten von Dodgers Handeln nicht gutgeheißen hätte.
Als Dodger praktisch schon zu Hause war, ließ er in seiner Wachsamkeit nach, und plötzlich landete eine Hand auf seiner Schulter. Sie griff erstaunlich fest zu, wenn man bedachte, dass ihr Eigentümer sie vor allem zum Schreiben benutzte.
»Mein lieber Dodger! Du würdest staunen, wie lange es gedauert hat, mit einer Kutsche hierherzugelangen. Und, wenn ich das sagen darf, die Kanalisation war nicht sonderlich freundlich zu deinem Anzug. Gibt es hier in der Nähe ein Kaffeehaus?«
Das bezweifelte Dodger, aber er wies darauf hin, dass man bei einer der Pastetenbuden vielleicht auch Kaffee bekam. »Wie er schmeckt, kann ich nicht sagen«, fügte er hinzu. »Ein bisschen wie die Pasteten, nehme ich an. Ich meine, um dort zu essen, muss man wirklich sehr hungrig sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
Schließlich führte er Charlie zu einem Pub, wo sie miteinander reden konnten, wo ihnen niemand zuhörte und wo sich kaum ein Taschendieb an Charlie heranmachte. Als Dodger eintrat, war er noch mehr Dodger als zuvor: Dodger im Quadrat, ein toffer und taffer Typ, Freund aller Slumbewohner. Er schüttelte dem Wirt namens Quince die Hand, außerdem auch einigen anderen Anwesenden, die einen zweifelhaften Ruf genossen und den Leuten, die alles beobachteten, ausrichten würden, dass dieses Revier Dodger gehörte, ihm allein.
Charlie nahm es hin, denn er wusste sicher: Dies waren die Slums, wo selbst die Peeler Vorsicht walten ließen und nie allein loszogen. Charlie gehörte ebenso wenig hierher wie Dodger ins Parlament – es waren zwei unterschiedliche Welten.
Eigentlich war London gar nicht so groß, wenn man genauer darüber nachdachte: eine Quadratmeile aus Labyrinthen, umgeben von weiteren Straßen, Menschen und … Gelegenheiten. Dann kamen die Außenbezirke und Vororte, die glaubten, Teil von London zu sein, aber das waren sie nicht, zumindest nicht für Dodger. Oh, manchmal verließ er die Quadratmeile – bis zu zwei Meilen weit wagte er sich über ihre Grenzen hinaus! – und schlüpfte dann ganz in die Rolle des Geezers. Er war freundlich zu allen, bei denen sich Freundlichkeit lohnte, und Geezer sprach zu Geezer. Die Geezer der Äußeren Öde, wie Dodger jene Straßen nannte, waren nicht unbedingt Freunde, aber man respektierte ihr Revier in der Hoffnung, dass sie ihrerseits das eigene Territorium respektierten. Man traf eine Vereinbarung mit Blicken, Annahmen und der einen oder anderen Geste, die kaum Worte benötigte. Aber es war alles Schau, ein Spiel … Und wenn er nicht Dodger war, fragte er sich manchmal, wer er sein mochte. Dodger, fand er, war viel stärker als er.
Dann und wann sah ein Gast im Pub zu Charlie herüber, richtete den Blick dann auf Dodger und wandte ihn sofort ab, weil er zu verstehen glaubte. Kein Problem, hab überhaupt nichts gesehen.
Als klar war, dass kein Krieg ausbrach, und als zwei Pints auf den Tisch gestellt worden waren – in sauberen Gläsern, immerhin hatte Dodger einen Gentleman mitgebracht –, sagte Charlie: »Junger Mann, nach unserem Besuch bei Angela bin ich in großer Eile zu meinem Büro zurückgekehrt, und dort habe ich herausgefunden, dass mein Freund Mister Dodger ein sehr reicher Mann ist.« Er beugte sich vor und fügte hinzu: »In meiner Tasche habe ich, sorgfältig eingepackt, damit nichts klimpert, fünfzig Sovereigns und noch ein bisschen Kleingeld obendrein. Es besteht sogar die Aussicht, dass es noch mehr werden könnte.«
Dodger brachte seinen Mund wieder unter Kontrolle und klappte ihn zu. Nach einigen Sekunden flüsterte er: »Aber ich bin kein Held, Charlie.«
Charlie hob den Zeigefinger vor die Lippen. »Sei vorsichtig mit deinem Protest!«, riet er. »Du weißt, wer und was du bist, und ich schätze, ich weiß es ebenfalls, obwohl ich glaube, dass ich großzügiger mit dir bin als du mit dir selbst. Die guten Bürger von London haben dieses Geld einem jungen Mann gespendet, den sie für einen Helden halten. Wer bist du, dass du ihnen den Helden nehmen willst, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass ein Held etwas bewirken kann?«
Dodger sah sich im Pub um. Niemand hörte zu, aber er senkte die Stimme trotzdem. »Und der arme alte Todd ist ein Schurke, wie?«
»Nun«, erwiderte Charlie, »ein Held könnte über den sogenannten Schurken sagen, er sei nichts weiter als ein trauriger, von Kriegserinnerungen gequälter Mensch. Er könnte hinzufügen, dass dieser Mensch nach Bedlam gehört und nicht an den Galgen. Wer könnte einem Helden widersprechen, wenn besagter Held auch noch mit einem Teil seines neuen Reichtums dafür sorgt, dass der arme Mann dort einen einigermaßen erträglichen Aufenthalt hat?«
Dodger stellte sich Sweeney Todd in Bedlam vor, irgendwo eingesperrt mit den Dämonen, die er in sich trug, ohne jede Annehmlichkeit, es sei denn, er bezahlte dafür. Ihm schauderte bei diesem Gedanken, denn ein solches Leben wäre schlimmer gewesen als der Tod am Galgen von Newgate, vor allem, weil sie das mit dem Knoten inzwischen richtig hinbekamen, damit das Genick sofort brach. Es ersparte allen Beteiligten im wahrsten Sinn des Wortes langes Herumhängen – die Freunde des Verurteilten mussten nicht mehr an seinen Beinen ziehen, um ihm zu einem schnellen Tod zu verhelfen. Ein guter Taschendieb, so hieß es, konnte große Beute beim Publikum machen, das ganz auf den Tanz am Strang konzentriert war. Dodger hatte es selbst einmal versucht und durchaus einiges dabei ergattert, aber erstaunlicherweise festgestellt, dass er sich schämte, ein solches Ereignis für die eigene Bereicherung auszunutzen. Daraufhin hatte er sich vom geschickt gestohlenen Geld getrennt und es zwei Bettlern gespendet.
»Niemand wird auf mich hören«, sagte er jetzt.
»Du unterschätzt dich, mein Freund. Und du unterschätzt die Macht der Presse. Schließ den Mund, bevor etwas hineinfliegt, und denk daran, dass du morgen das Büro des Punch-Magazins aufsuchen musst, damit Mister Tenniel dein Gesicht zeichnen kann. Unsere Leser möchten wissen, wie der Held des Tages aussieht.«
Charlie klopfte Dodger auf den Rücken, was er sofort bereute, als seine Hand eine noch immer nasse Stelle von Dodgers Anzug berührte.
»Die Kutsche«, sagte Dodger. »Ich habe sie noch einmal gehört. Und fast hätte ich sie auch gesehen. Ich finde die Kerle, Charlie. Sie werden Simplicity nicht noch einmal etwas antun.«
»Derzeit ist sie bei Angela gut aufgehoben.« Charlie lächelte. »Und ich denke, ich kann Ben noch einen Tag oder etwas länger ruhig halten, während ich weitere Ermittlungen anstelle. Wir sind ein Team, Dodger, ein Team! Das Spiel hat begonnen, und hoffentlich sind wir auf der Gewinnerseite.«
Damit verließ er den Pub und ging in Richtung der nächsten breiten Straße, wo vielleicht eine Kutsche wartete. Er ließ einen Dodger zurück, der mit wieder offenem Mund dastand und ein Vermögen in seiner Tasche trug. Nach einigen Sekunden verbündeten sich die Göttinnen der Realität und der Selbsterhaltung gegen ihn, und ein vermögender junger Mann rannte durch Seven Dials und hämmerte an Solomons Tür.
Er gab das vereinbarte Klopfzeichen und hörte Onans freudiges Bellen, gefolgt von Solomons Pantoffeln, gefolgt von den Geräuschen, die beiseitegeschobene Riegel verursachten. Dodger wusste, dass es im Tower von London – den er nie von innen sehen wollte – eine große Zeremonie der Wärter gab (die manchmal auch Beefeater genannt wurden), wenn sie des Nachts alles verschlossen. Aber wie kompliziert ihre Zeremonie auch sein mochte, vermutlich gingen sie nicht so sorgfältig und akribisch zu Werke wie Solomon, wenn er die Tür öffnete. Schließlich war sie offen.
»Oh, Dodger, bist ein bisschen spät dran. Schon gut, Eintopf ist besser, wenn man ihn länger ziehen lässt. Meine Güte, was hast du mit Jacobs fast neuem Anzug angestellt?«
Dodger zog die Jacke aus und hängte sie an einem Kleiderbügel auf, weil Solomon darauf bestand. Dann wandte er sich langsam um, öffnete die Börse, die Charlie ihm gegeben hatte, und ließ den Inhalt auf Solomons Arbeitstisch klimpern.
Er trat zurück und sagte: »Ich glaube, Jacob wäre mit mir einer Meinung, dass der Anzug derzeit nicht wichtig ist. Außerdem ist allgemein bekannt«, fuhr er fort und lächelte, »dass ein bisschen Pisse Kleidung nicht schadet, und ich denke, mit einem Teil dieses Gelds sollte sich alles in Ordnung bringen lassen, findest du nicht?« Und während der Mund des alten Knaben noch offen stand, fügte Dodger hinzu: »Ich hoffe, du hast noch Platz in deinen Schatullen.«
Und dann, als Solomon nur verdutzt dastand und keinen Ton von sich gab, dachte er, es sei vielleicht besser, sein Vermögen so bald wie möglich an einen anderen Platz zu bringen.
Eine Weile später standen zwei dampfende Teller mit Eintopf auf dem Tisch, und mehrere Säulen aus sorgfältig aufeinandergestapelten Münzen leisteten ihnen Gesellschaft. Sie waren nach ihrem Wert sortiert, von zwei halben Viertelpennys bis hin zu den Guineen und Sovereigns. Solomon und Dodger starrten auf die Stapel, als rechneten sie damit, dass sie irgendein Kunststück vollbrachten oder vielleicht verschwanden und dorthin zurückkehrten, woher sie gekommen waren.
Was Onan betraf … Er blickte bange von einem zum anderen und fragte sich, ob er irgendetwas angestellt hatte, was gewöhnlich der Fall war. Obwohl, bei dieser besonderen Gelegenheit war er bisher frei von Schuld.
Solomon hörte sehr aufmerksam zu, als Dodger von den Ereignissen im Friseurladen und allen anderen Abenteuern berichtete, bis hin zur Dinnerparty-Einladung von Miss Angela und dem gesammelten Geld, das ihm Charlie im Pub überreicht hatte. Manchmal hob der alte Mann den Finger, um eine Frage zu stellen, aber abgesehen davon blieb er still. Schließlich sagte er: »Mmm, es ist nicht deine Schuld, dass die Leute dich einen Helden nennen, aber es macht dir Ehre, dass du Mitleid mit Mister Todd hast und erkennst, welche ungeheuerlichen Erlebnisse ihn zu einem Ungeheuer machten. Dem auf einem Amboss geschmiedeten Eisen kann man nicht den Hammer zur Last legen, und Gott versteht gewiss, dass du den anderen die Situation zu erklären versucht hast. Mmm, ich wusste immer, dass die Menschen auf das Angesicht der Welt die Welt malen, die sie gern sähen. Deshalb erblicken sie manchmal erschlagene Drachen, und wo es Lücken gibt, werden sie von der Phantasie der Menschen gefüllt. Was das Geld angeht … Es dürfte der Versuch der Gesellschaft sein, sich besser zu fühlen. Eine heilsame Aktion mit der begrüßenswerten Nebenwirkung, dass sie dich zu einem reichen jungen Mann macht, der seinen Reichtum zur Bank bringen sollte. Du hast mir von einer Lady namens Angela Burdett-Coutts erzählt. Sie ist in der Tat steinreich, was sie dem überaus umfangreichen Erbe ihres Großvaters verdankt, und es wäre klug von dir, gute Beziehungen zu ihrer Familie zu knüpfen. Ich denke, du solltest dich an Mister Coutts Bank wenden und ihr dein Geld anvertrauen. Dort ist es sicher aufgehoben und bringt Zinsen.«
»Zinsen?«, fragte Dodger.
»Mehr Geld«, erklärte Solomon. »Es ist eine mmm erfreuliche Eigenschaft von viel Geld, dass es sich von allein vermehrt.«
Dodger richtete einen argwöhnischen Blick auf die Münzstapel. »Wie bringt es das zustande?«
Diesmal war das Mmm von Solomon besonders ausdrucksvoll, und er sagte: »In diesem Fall findet die Vermehrung anders statt. Mmm, es ist folgendermaßen. Angenommen, einer dieser neumodischen Eisenbahnleute, nennen wir ihn Mister Stephenson, hat einen Plan für eine wundervolle neue Maschine. Als ein Mann, der sich vor allem mit Bolzen und atmosphärischem Druck befasst, kennt er sich in der Geschäftswelt vielleicht nicht besonders gut aus. Mmm, Mister Coutts und seine Herren finden für ihn Unternehmer – damit bist in diesem Fall du gemeint –, die ihm genug Geld leihen, damit er seinen Plan verwirklichen kann. Mister Coutts schätzt die Vertrauenswürdigkeit eines Mannes ein und sorgt dafür, dass dein Geld sowohl für besagten Ingenieur als auch für dich arbeitet. Natürlich holt man Erkundigungen ein über den Mann mit den glänzenden Augen, den Ölflecken an der Hose und dem ihm anhaftenden Geruch von Kohlenstaub, um festzustellen, ob sich die Investition lohnt, aber Mister Coutts und seine Familie sind sehr reiche Leute, die nicht reich geworden sind, weil sie falsch geraten haben. Man spricht in diesem Zusammenhang von Finanzwirtschaft. Vertrau mir! Ich bin Jude – wir kennen uns mit solchen Dingen aus.«
Solomon strahlte fröhlich, doch Dodger sagte voller Unbehagen: »Für mich klingt das nach Glücksspiel. Und beim Glücksspiel kann man Geld verlieren.«
Unter dem Tisch winselte Onan, weil niemand ihn beachtete.
»Das kann man tatsächlich. Aber weißt du mmm, es gibt Glücksspiele und Glücksspiele. Nimm zum Beispiel Poker. Beim Pokern geht es darum, die Mitspieler zu beobachten, und darin bist du unglaublich gut. Du verstehst die Gesichter anderer Menschen zu deuten. Ich weiß nicht, warum du darin so gut bist; es ist ein Talent. In der Finanzwirtschaft verhält es sich ähnlich. Man muss die Leute einschätzen können, und Mister Coutts und Co sind darauf spezialisiert.«
»Das klingt so, als wären sie … andere Dodger«, sagte Dodger.
Solomon lächelte. »Mmm, das ist eine interessante Meinung, aber nicht unbedingt eine Ansicht, die du den Herren der Coutts-Bank gegenüber äußern solltest. Denk daran, es ist sehr schwer, mit einem schlechten Namen im Geschäft zu bleiben, und sie sind ohne Zweifel gut im Geschäft.« Er rümpfte die Nase, als die Gerüche der trocknenden Jacke allmählich Onans Beitrag zur Luft in der Mansarde überlagerten.
»Das mit dem Anzug tut mir leid«, sagte Dodger, aber Solomon winkte die Worte mit einem Pfuii beiseite.
»Mach dir wegen Jacob keine Sorgen«, sagte er. »Jacob wäre nie böse auf einen, der viel Geld ausgeben kann. Außerdem ist Pferdeurin gut für die Reinigung von Kleidung – eine Tatsache, die nicht jeder zu schätzen weiß, wenn auch allen sein fruchtiger, an Apfelmost erinnernder Geruch bekannt ist. Nun, ich schlage vor, dass wir zeitig zu Bett gehen, wenn du mit dem Abwasch fertig bist, denn morgen speisen wir mit wichtigen Persönlichkeiten, und es würde mich beschämen, wenn ich hören müsste: ›Seht nur das zu groß geratene Straßenkind, es hat überhaupt keine Manieren.‹ Sie werden sagen, dass es vielleicht weiß, wie man mit Messer und Gabel umgeht, aber keine Ahnung hat, was man mit einem mmm Fischheber anstellt. Und sie werden denken: Bestimmt schlürft er, wenn er seine Suppe isst. Was du, wenn du mir diese Bemerkung gestattest, ziemlich oft tust. Wenn Leute wie Mister Disraeli zugegen sind, musst du ein Gentleman sein, und mir scheint, dass mir mmm weniger als ein Tag bleibt, dich in einen solchen zu verwandeln. Geld allein genügt nicht.«
Dodger verzog das Gesicht, aber Solomon fuhr mit alttestamentarischer Bestimmtheit fort und hob den Finger der Rechtschaffenheit, als wolle er gleich die Zehn Gebote werfen. Was vermutlich zum Einsturz des Gebäudes geführt hätte, dessen Balken bereits unter dem Gewicht zahlreicher Familien ächzten und knirschten.
Solomon schob seinen Bart wie ein Vorauskommando nach vorn und sagte: »Dies ist eine Angelegenheit des Stolzes, Dodger, den ich habe und den du dir zulegen musst. Als Erstes suchen wir morgen früh Mister Coutts auf, und anschließend versuchen wir hier in London einen Friseur zu finden, der seinen Kunden die Haare schneidet und sie rasiert, ohne sie dabei umzubringen. Ich glaube, ich kenne einen.«
Bevor Dodger ein Wort sagen konnte, kam der Finger erneut nach oben, das Meer teilte sich, Donner grollte, der Himmel wurde dunkel, und die Vögel ergriffen die Flucht. Das geschah zumindest in der Mansarde, besser gesagt: in Dodgers Vorstellung.
»Widersprich mir nicht!«, forderte Solomon mit fester Stimme. »Wir sind hier nicht in der Kanalisation. Wenn es um Finanzwirtschaft, Bankwesen und Herausputzen geht, bin ich der Meister. Mit den Narben, die es beweisen. Ich muss dir sagen, dass ich dieses eine Mal in deinem Leben darauf bestehe. Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, mit deinem alten Freund zu streiten. Immerhin schreibe ich dir nicht vor, was du in der Kanalisation zu tun hast.«
Sein Finger bohrte nicht länger Löcher in die Luft. Das Meer strömte in die Lücke zurück, der Himmel zeigte wieder das friedliche, wenn auch schmutzige Glühen des Abends, und Blitz und Donner verschwanden aus der Welt von Dodgers Phantasie. Solomon schrumpfte zu seiner gewöhnlichen Größe und sagte: »Bring Onan bitte nach unten, damit er sein Geschäft erledigen kann. Anschließend machen wir den Laden dicht für die Nacht.«
Es gab noch ein bisschen Licht am Himmel, als Dodger Onan nach unten brachte. Wie es das Protokoll bei dieser Angelegenheit verlangte, ließ er Onan von der Leine und sah sich dann so um, als hätte er nicht die geringste Ahnung, was der Hund vorhatte. Einige Lichter zeigten sich, aber nicht viele, denn Kerzen waren ziemlich teuer. Es war das Universum von London, wobei die gelegentlichen Sterne – Kerzen am Fenster – einen Teil ihres Talgs an die undankbaren Straßen vergeudeten. Wenn man um diese Zeit eine Kerze am Fenster sah, so bedeutete dies, dass ein armer Teufel gestorben – oder vielleicht geboren war. Man stellte Lichter auf, wenn man die Hebamme gerufen hatte, und andere Lichter zeigten den Tod an. Wenn es die ungestümere Art des Todes war – jene Art, die die Aufmerksamkeit der Peeler weckte –, so brauchte man den Coroner und stellte eine zweite Kerze auf.
Daran dachte Dodger, als er Onan aufforderte, davon abzulassen, woran er gerade schnüffelte, und plötzlich läutete eine kleine Warnglocke in seinem Kopf, als er begriff: In der Dunkelheit hatte sich jemand lautlos angeschlichen und hielt ihm nun ein Messer an die Kehle.
»Es gibt da eine Person, deren Aufenthaltsort Sie kennen, Mister Dodger«, sagte jemand langsam und deutlich. »Wie ich hörte, haben einige Leute Angst vor Ihnen, weil Sie, wie es heißt, ein toller Bursche sein müssen, denn immerhin haben Sie Sweeney Todd überwältigt. Was mich betrifft … Ich sage, das kann nicht stimmen, denn man braucht nur zu warten, bis Sie abends nach draußen kommen, um ein wenig Luft zu schnappen, und darauf zu warten, dass der stinkende Köter das Kopfsteinpflaster für gesetzestreue Bürger wie mich noch schlüpfriger macht, als es ohnehin schon ist. Nehmen Sie’s nicht zu schwer, Mister Dodger. Routine hat so manchen armen Kerl in den Ruin getrieben, und Sie sollen ein gewiefter Bursche sein, wie man mir erzählte. Tja, jetzt gibt es hier nur Sie, mich und den Köter, und ihn wird es nicht mehr lange geben, wenn Sie mir gesagt haben, was ich wissen will, und wenn ich mit Ihnen fertig bin. Sie werden nicht mehr sein als ein sehr kurzer Schrei in diesem Drecksviertel. Sehr zur Zufriedenheit meines Auftraggebers Mister Schlauer Bob. Nun, dies wird geschehen, nachdem Sie mir den Aufenthaltsort des Mädchens genannt haben. Und wenn Sie nicht reden, schlitze ich Sie erst recht auf.«
Dodger hatte nicht einen Muskel gerührt, den Schließmuskel nicht mitgezählt. Aber als der Name Schlauer Bob durch sein Gehirn jagte, sagte er: »Ich kenne Sie nicht, und ich dachte, alle Leute in diesem Viertel zu kennen. Würden Sie mir sagen, wer Sie sind, Mister? Immerhin werde ich die Information wohl kaum weitergeben können, oder?«
Die Klinge berührte Dodgers Nacken. Onan würde zweifellos angreifen, wenn Dodger das Zeichen gab, aber ein Messer am Hals ist ein guter Anreiz für sorgfältiges Denken. Der Hals, so wusste Dodger, war stark und zäh und imstande, das Gewicht selbst eines großen Mannes auszuhalten, wie regelmäßig am Galgen von Tyburn bewiesen wurde. Manchmal ließ er sich auch schwer durchbohren, wenn man nicht sofort die richtige Stelle fand. Unglücklicherweise konnte man ihn leicht aufschneiden.
Der Fremde redete nicht mehr. Ohne den Atem, der über Dodgers Ohr strich, hätte er glauben können, dass niemand da war. All dies schoss Dodger mit hoher Geschwindigkeit durch den Kopf. Der Mann genoss es, dass Dodger hilflos war, ihm völlig ausgeliefert. Wer Zeit mit so etwas vergeudete, durfte nie hoffen, zu einem richtigen Geezer zu werden. Wenn ein richtiger Geezer einen tot sehen wollte, so war man sofort tot, ohne irgendwelche Umschweife.
Offenbar wollte der Fremde sein Opfer noch etwas mehr quälen, denn er sagte: »Ich mag es, wenn sich jemand Zeit lässt. Inzwischen dürfte Ihnen klargeworden sein, dass Sie sich aus meinem Griff nicht befreien können, Mister Dodger, und dass ich in der Lage wäre, einige Scheußlichkeiten mit Ihrem Hals anzustellen, bevor Ihr Köter Gelegenheit erhält, nach mir zu schnappen. Natürlich käme es zu einer kleinen Auseinandersetzung zwischen ihm und mir, aber mit Hunden wird man leicht fertig, wenn man sich mit ihnen auskennt und die richtige Kleidung trägt. Oh, ich habe nicht Jahre im Ring verbracht, ohne zu lernen, wie man selbst schwierige Kämpfe übersteht! Und ich weiß auch, dass Sie weder an Ihren Schlagring kommen noch an die Brechstange – nicht wie beim letzten Mal.« Der Mann lachte leise. »Nach unserer kleinen Begegnung während des Unwetters werde ich es richtig genießen. Vielleicht haben Sie gehört, dass inzwischen jemand Maßnahmen ergriffen hat, die dazu führten, dass mein Kollege seit jener Nacht nicht mehr unter den Lebenden weilt. Und Sie werden ihm gleich Gesellschaft leisten, schätze ich. Geben Sie mir die Information, die ich brauche, oder ich mache es so ungemütlich für Sie, dass es richtig ungemütlich wird.«
Dodger rang nach Luft. Dies war also einer der Männer, die Simplicity geschlagen hatten! Und der Schlaue Bob steckte dahinter! Er hatte von dem Mann gehört, ein Anwalttyp, sehr respektiert von den Leuten, die keinen Respekt verdienten. War er der Geezer, der mit Marie Jo geredet hatte?
Zorn stieg in ihm auf, eine schreckliche Wut, die sich zu einer glänzenden, schimmernden Gewissheit verdichtete, als ihm das Messer des Mannes trügerisch sanft über den Hals strich. Sie flüsterte: Der Bursche kommt nicht davon.
Niemand befand sich in der Nähe. Gelegentlich ertönte ein Schrei oder ein Ruf in der Dunkelheit, und manchmal drang ein geheimnisvolles Seufzen aus der Finsternis – die Musik der Nacht in den Slums. Aber derzeit waren Dodger und der Mann hinter ihm allein. »Sieht ganz so aus, als wäre ich in die Hände eines Profis geraten«, sagte Dodger.
»O ja«, bestätigte der Mann. »Ich schätze, das könntest du sagen.«
»Gut«, sagte Dodger, warf den Kopf zurück und hörte ein zufriedenstellendes Knirschen, das auf brechende Knochen hinwies. Einen Moment später fuhr er herum und trat. Es spielte keine große Rolle, wonach er trat und worauf. Ziele gab es genug, und in seinem Zorn trat er nach und auf praktisch alles. Bei einem Kampf um Leben und Tod ging es vor allem darum, am Leben zu bleiben, und wenn der Gegner mit einem Messer bewaffnet war, standen die Aussichten nicht sonderlich gut. Besser er mit blutiger Nase und reichlich blauen Flecken als man selbst nichts weiter als eine Erinnerung. Und lieber Himmel, der Kerl hatte getrunken, bevor er ihm aufgelauert hatte – keine gute Entscheidung, wenn man schnell sein musste. Aber dies war einer der Männer, die Simplicity geschlagen hatten, und dafür konnte es gar nicht genug Tritte geben.
Das Messer war zu Boden gefallen, und Dodger hob es auf und betrachtete den Mann im Rinnstein. »Die gute Nachricht lautet: In ein paar Monaten wirst du dich kaum mehr an diese Begegnung erinnern. Und die schlechte Nachricht: In etwa zwei Wochen musst du dir die Nase noch einmal von jemandem brechen lassen, damit du wieder wie dein altes hübsches Selbst aussiehst.«
Der Mann schniefte, und so wie er in der Düsternis aussah, schien sein Gesicht jetzt besser dran zu sein als vorher – es bestand aus Narben. Die Leute hielten ein lädiertes Gesicht für das Markenzeichen eines Boxers, doch da irrten sie. Ein lädiertes Gesicht wies auf einen Amateurboxer hin. Gute Boxer waren gern hübsch; es überraschte und verunsicherte ihre Gegner.
Dodger trat dem Liegenden mit aller Kraft zwischen die Beine und nutzte sein hingebungsvolles Stöhnen, um die Taschen zu durchsuchen, was ihm fünfzehn Shilling, ein Sixpence und mehrere Pennys einbrachte. Dann trat er den Burschen noch einmal, als Zugabe. Er zog ihm auch die Schuhe aus und sagte: »Ja, Mister, ich bin der Geezer, der dir beim Unwetter eine Abreibung verpasst hat. Der Geezer, der Sweeney Todd Auge in Auge gegenüberstand, und weißt du was? Ich habe sein Rasiermesser. Es spricht zu mir, o ja. Richte dem Schlauen Bob aus, dass er selbst kommen und mir seine Fragen stellen soll, klar? Ich bin kein Mörder, aber das brauche ich auch gar nicht zu sein, um dich windelweich zu prügeln, wenn ich dich noch einmal in dieser Gegend sehe oder wenn ich höre, dass du erneut eine Frau geschlagen hast. Dann könnte ich zum Mörder werden und dich ohne Schiff den Fluss hinunterschicken, und das meine ich verdammt ernst.«
Ringsum waren die Geräusche von Fenstern zu hören, die vorsichtig geöffnet wurden – vorsichtig deshalb, weil die Leute das Geschehen auf der Straße vielleicht gar nicht mitbekommen wollten, insbesondere wenn es sich um ein Geschehen handelte, über das die Peeler später Fragen stellten. In diesen schäbigen Vierteln brauchte man eine Blindheit, die man nach Belieben ein- und ausschalten konnte.
Dodger wölbte die Hände um den Mund und rief fröhlich: »Macht euch keine Sorgen, Leute, ich bin’s, Dodger, und jemand von außerhalb der Stadt, der mir dummerweise über den Fuß gestolpert ist!«
Mit dem Ausdruck von außerhalb der Stadt wies er darauf hin, dass sozusagen der Heimatboden verteidigt wurde – der größtenteils aus Dreck und den Resten von Onans letzten Mahlzeiten bestand –, und es schadete sicher nicht, alle in Kenntnis zu setzen, dass Dodger der Verteidiger war.
Im grauen Licht empfing er verhaltenen Applaus von allen bis auf Mister Slade, der Kahnführer von Beruf und nicht für seine freundlichen Worte bekannt war, denn immerhin musste er morgens sehr früh aufstehen. Offenbar lag ein schlechter Tag hinter ihm, denn er rief: »Na gut, und jetzt hau ab und geh ins Bett!«
Dodger hingegen beschloss, noch nicht ins Bett zu gehen. Er zog den Mann von seinem Heimatboden, wie es das Protokoll verlangte, und verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, ihn noch etwas weiter zu ziehen, ein ganzes Stück weg von dem Gebäude, in dem er wohnte, für den Fall, dass die Peeler Ermittlungen anstellen wollten. Er lehnte den Burschen an eine Mauer und flüsterte: »Du kannst wirklich von Glück sagen. Wenn du dich noch einmal blicken lässt, verpasse ich dir eine hübsche Rasur, mein Lieber – mit dem Rasiermesser von Sweeney Todd! Verstanden? Ich nehme an, das war ein Ja.« Dann pfiff Dodger Onan zu sich, aber erst nachdem der Hund an das Bein des Mannes gepinkelt hatte. Das war nicht geplant gewesen, aber Dodger hielt es für einen guten Abschluss der ganzen Angelegenheit.
Und dann … Dort stand Dodger, und er hatte das Gefühl, dass die Ereignisse des Abends einen letzten Schliff brauchten, ein kleines zusätzliches Detail, zu dem ein Geezer zurückblicken und auf das er stolz sein konnte – ein Detail, das seinem Ruf noch etwas mehr Glanz hinzufügte. Nach kurzem Nachdenken ließ er die erbeuteten Münzen klimpern, kehrte zu seiner Straße zurück, trat dort zu einer kleinen Tür und klopfte mehrmals.
Nach einer Weile öffnete eine Alte im Nachthemd und spähte argwöhnisch nach draußen. »Wer ist da? Ich hab kein Geld im Haus, musst du wissen.« Und dann: »Oh, du bist’s, der junge Dodger! Potz Blitz, ich habe dich an den Zähnen erkannt. Niemand hat so weiße Zähne wie du.«
Dodger sagte zur großen Überraschung der Alten: »Ja, ich bin’s, Missus Beecham, und ich weiß, dass Sie bisher kein Geld im Haus hatten, aber nun haben Sie welches.« Und er überließ ihren verblüfften Händen die Beute.
Es fühlte sich gut an, und die zahnlose Alte strahlte regelrecht in der Dunkelheit und sagte: »Gott segne dich, junger Mann. Morgen früh in der Kirche bete ich für dich.«
Das überraschte Dodger ein wenig – niemand hatte ihm jemals angeboten, für ihn zu beten. Die Vorstellung, dass ein Gebet für ihn gesprochen werden sollte, bescherte ihm willkommene Wärme an diesem kühlen Abend. Er hielt dieses Gefühl fest, als er mit Onan die lange Treppe zur Mansarde hochstieg.