4 Dodger entdeckt eine neue Verwendung für einen Fleet-Street-Nagel und bekommt eine Tasche voller Zucker


In der Fleet Street herrschte wegen der vielen Zeitungen immer rege Betriebsamkeit, Tag und Nacht, und heute floss der Fleet nicht in der Straßenmitte, sondern sickerte eher vor sich hin. Dodger hatte einiges über die Abwasserkanäle des Fleet gehört, insbesondere die Geschichte von dem Schwein, das dem Schlachter entkam und in die Tunnel gelangte, von wo aus es andere Kanäle und Röhren erreichte. Und da es dort unten für ein Schwein Nahrung im Überfluss gab, wurde es ungeheuer dick und garstig. Vielleicht wäre es lustig gewesen, nach ihm zu suchen, allerdings … Möglicherweise hätte der Spaß beim Finden aufgehört, denn die Biester hatten Hauer. Derzeit, so hatte man ihm erzählt, waren die einzigen Ungeheuer der Fleet Street die Druckmaschinen, die so heftig stampften, dass der Boden erzitterte. Jeden Tag wollten sie gefüttert werden – mit einer Mahlzeit aus Politik, grausigen Morden und Todesfällen.

Natürlich gab es noch andere Ereignisse, aber alle waren scharf auf einen grausigen Mord, nicht wahr? Und überall auf der Straße zogen Männer Rollwagen, trugen Papierstapel oder liefen in furchtbarer Eile mit Papierstücken in der Hand umher, um der Welt zu erklären, was geschehen war, warum es geschehen war, was hätte geschehen sollen und manchmal, warum es nicht geschehen war, obwohl es sich sehr wohl zugetragen hatte. Und natürlich, um allen mitzuteilen, wer auf grausige Weise ermordet worden war. Es schien drunter und drüber zu gehen, und in diesem Durcheinander musste Dodger den Chronicle finden, wobei erschwerend hinzukam, dass er nicht gut lesen konnte, vor allem keine so langen Worte.

Schließlich wies ihm ein Drucker mit einem viereckigen Hut den Weg und warf ihm dabei einen Blick zu, der besagte: Wag bloß nicht, hier etwas zu stehlen! Dodger fand das ziemlich beleidigend, denn Toshen war kein Stehlen, und das sollten doch eigentlich alle wissen, oder? Zumindest wussten es alle Tosher.

Er band Onan an einem Geländer fest und vertraute darauf, dass ihn wegen des Geruchs niemand stehlen würde. Dann stieg er die Stufen zum Morning Chronicle hoch, wo er verständlicherweise von einem der Männer angehalten wurde, deren Aufgabe darin bestand, Leute wie ihn anzuhalten. Sein Job schien ihm zu gefallen, und er trug einen Hut, der das bewies, und das Gesicht darunter sprach: »Leute wie du haben hier nichts verloren, Junge. Verschwinde und geh woanders klauen in deinem grässlichen Anzug! Ha, siehst aus, als hättest du ihn von einem Toten!«

Dodger achtete darauf, seinen Gesichtsausdruck nicht zu verändern, aber er straffte die Schultern und sagte: »Mister Dickens erwartet mich. Er hat mich mit einer Mission beauftragt.« Während ihn der Mann noch groß anstarrte, holte Dodger Charlies Visitenkarte hervor. »Und er hat mir seine Karte gegeben und mir gesagt, dass ich zu ihm kommen soll. Kriegen Sie das in Ihren Kopf, Mister?«

Der Türsteher warf ihm einen finsteren Blick zu, doch der Name Dickens zeitigte aus irgendeinem Grund Wirkung, denn ein anderer emsig wirkender Mann kam, starrte Dodger an, starrte auf die Karte, starrte Dodger noch einmal an und sagte: »Komm rein, aber stiehl nichts!«

»Danke, Sir, ich werde mir alle Mühe geben«, versprach Dodger.

Der Mann führte ihn in einen kleinen Raum mit Schreibtischen und Büroangestellten, die alle den Eindruck erweckten, mit überaus wichtigen Aufgaben beschäftigt zu sein. Der Angestellte am nächsten Schreibtisch – er schien den anderen Anweisungen zu erteilen – beobachtete ihn wie ein Frosch eine Schlange, die Hand dicht neben einer Glocke.

Dodger setzte sich auf die Bank neben der Tür und wartete. Es kam bereits Nebel auf – das war um diese Tageszeit immer der Fall –, und erste Schwaden krochen durch die offene Tür. Sie erschienen Dodger manchmal wie eine luftige Version der Themse, und sie wogten und schimmerten, als hätte jemand einen Eimer voller Schlangen auf der Straße ausgeleert. Meistens war der Nebel gelb, aber er konnte auch schwarz sein, insbesondere dann, wenn die Ziegeleien arbeiteten. Der nächste Angestellte stand auf, richtete einen argwöhnischen Blick auf Dodger und schloss die Tür. Dodger schenkte ihm ein fröhliches Lächeln, das den Mann ärgerte und damit seinen Zweck erfüllte.

Hier gab es ohnehin nicht viel zu finden, es sei denn, man hatte es auf Papier abgesehen. Davon gab es überall mehr als genug, und hinzu kamen Aktenschränke, Becher, der Geruch von Tabak und Bücher mit Zetteln darin, offenbar als Markierung für bestimmte Stellen. Dodger bemerkte etwas Sonderbares: einen großen Nagel auf jedem Schreibtisch. Was hatte es damit auf sich? Bei jedem dieser Nägel wies die Spitze nach oben; unten waren sie auf einem Stück Holz befestigt. Aber warum sollte man dreißig Zentimeter lange Nägel so aufstellen, dass sich jemand daran verletzen konnte?

Er deutete auf einen davon, wandte sich an den nächsten Angestellten und fragte in einem Tonfall, der nur unschuldige Neugier zum Ausdruck brachte: »Entschuldigen Sie, Mister, was bedeuten diese Nägel?«

Der junge Mann grinste höhnisch. »Weißt du denn gar nichts? Damit schaffen wir mehr Ordnung auf unseren Schreibtischen. Auf den Nagel spießen wir die Angelegenheiten, die erledigt sind oder die wir nicht mehr brauchen.«

Dodger dachte darüber nach und fragte dann: »Warum schmeißen Sie den fertigen Kram nicht einfach weg, anstatt alles zuzumüllen?«

Der Angestellte bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Bist du dumm? Angenommen, später wird eine Sache wieder wichtig. Dann müssen wir nur auf dem Nagel suchen.«

Während dieses Wortwechsels hoben die anderen Angestellten kurz die Köpfe und setzten dann ihre Arbeit an den Aufgaben fort, die zu erledigen waren. Zuvor aber musterten sie Dodger und gaben ihm wortlos zu verstehen, dass er hier nicht wichtig war, im Gegensatz zu ihnen. Ihm fiel auf, dass ihre Kleidung kaum besser war als seine mehrmals gebrauchten Sachen, aber er hielt es für ratsam, auf einen entsprechenden Hinweis zu verzichten.

Und so begnügte er sich damit zu warten. Bis ein Mann mit einer Maske, die sein halbes Gesicht bedeckte, durch die Tür stürmte – der Türsteher war in eine nahe Gasse pinkeln gegangen, hastete gerade zurück und fummelte dabei an den Knöpfen seines Hosenschlitzes herum. Der Maskierte richtete ein Messer auf den obersten Angestellten und rief: »Her mit dem Geld, oder ich schlitze dir den Bauch auf! Und niemand rührt sich!«

Es war ein großes Messer, ein Brotmesser mit Wellenschliff, wie geschaffen für einen Haushalt, in dem ein Laib Brot aufgeschnitten werden sollte, aber nicht minder gut geeignet, einen Menschen zu durchbohren, fand Dodger. In der sich ausbreitenden entsetzten Stille wurde ihm klar, dass der Maskierte die größte Angst ausstand, während er alle Angestellten gleichzeitig im Auge zu behalten versuchte. Dem neben der Tür sitzenden Jungen schenkte er keine Beachtung.

Dodger dachte: Er weiß nicht, was er tun soll, und glaubt vielleicht, einen dieser Trottel, die ihn anstarren und sich in die Hose machen, niederstechen zu müssen. Und er weiß auch, was mit ihm passiert, wenn er jemanden absticht – dann endet er im Gefängnis Newgate und baumelt dort am Galgen. Diese Gedanken rauschten wie ein Eisenbahnzug durch Dodgers Kopf, und gewissermaßen im Schaffnerabteil reiste die Erinnerung an diese Stimme und den mit ihr einhergehenden Geruch nach Gin. Und er wusste, dass der Mann eigentlich gar kein schlechter Kerl war, und er wusste auch, was ihn zu einer derartigen Verzweiflungstat getrieben hatte.

Dodger sah nur eine Möglichkeit. Er riss den Nagel vom nächsten Schreibtisch und hielt ihn so an den schweißfeuchten Hals des Mannes, dass die Spitze in die Haut piekte. Dann raunte er dem Möchtegerndieb mit gedämpfter Stimme ins Ohr: »Lass das Messer fallen, jetzt sofort, wenn du nicht durch drei Nasenlöcher atmen willst. Sieh mich an – ich bin’s, Dodger! Du kennst mich. Dodger, kapiert?« Lauter sagte er: »So etwas dulden wir hier nicht, du Mistkerl!«

Er konnte die Erleichterung des Mannes geradezu riechen, und zweifellos roch er reichlich Gin, als er ihn nach draußen in den Nebel zerrte. Die Angestellten schrien Zeter und Mordio, und Dodger rief: »Ich halte ihn fest, keine Sorge!« Schnellen Schrittes ging er weiter, zerrte den Mann am Türsteher vorbei, der roten Zorn im Gesicht hatte, und in die nächste Gasse, wo er den verhinderten Dieb – der, so sollte an dieser Stelle betont werden, ein wenig durch sein Holzbein mit dem Metallstück am Ende behindert war – in eine dunkle Ecke drückte.

Die Gasse roch wie alle Gassen, vor allem nach Verzweiflung und Ungeduld und inzwischen auch nach Onan, der gerade eine Duftmarke gesetzt und den Gassengerüchen damit einen preisverdächtigen Gestank hinzugefügt hatte. Zum Glück legte der Nebel eine Decke darüber. Es stank natürlich, aber das galt auch für den Mann, der offenbar nicht nur seine Blase entleert hatte.

Zufrieden hörte Dodger ein Geräusch, das nur von einem zu Boden fallenden Messer stammen konnte. Er trat es in die Dunkelheit, packte den Mann am Kragen, zog ihn zum anderen Ende der Gasse, über die Straße und in eine Ecke.

»Holzbein Higgins!«, sagte er. »Der Schlag soll mich treffen, wenn du nicht der dümmste Dieb bist, dem ich je begegnet bin. Wenn du noch einmal einen so verdammten Mist baust, wird es damit enden, dass die Gefängniswärter unter deinen baumelnden Beinen singen, du Blödmann!« Dodger schniefte und stöhnte. »Verflixt und zugenäht, Holzbein, auf was hast du dich da bloß eingelassen? Und überhaupt … Wann hast du dich das letzte Mal gewaschen? Oder im Regen gestanden – oder deine Hose gewechselt?« Er sah in zwei Augen voller Katarakte und seufzte. »Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?«

Holzbein Higgins brummte etwas davon, kein Bettler sein zu wollen, und Dodger hätte es fast mit ihm aufgegeben. Doch vor dem inneren Auge sah er noch einmal den sterbenden Opa.

»Hier hast du einen Sixpence«, sagte er. »Damit solltest du was in den Magen kriegen und außerdem einen Platz in der Penne, wenn du’s nicht vertrinkst. Also gut, du armer Irrer, mach dich auf die Socken! Niemand ist hinter dir her. Bleib einfach in Bewegung und verlass dieses Viertel! Ich habe dich nie zuvor in meinem Leben gesehen, ich weiß nicht, wer du bist, und du scheinst es ebenfalls nicht zu wissen, so wie du aussiehst, du armer alter Teufel.« Dodger seufzte erneut. »Hör mal, wenn du was überfallen willst, solltest du nicht vor den Geschäftsstunden losschlagen, sondern danach, klar?«

Und das war’s. Dodger kehrte zum Chronicle zurück, und als er dort eintraf, war bereits ein Polizist da, und die Angestellten gaben ihm eine Beschreibung des Übeltäters, in der allerdings jeder Hinweis auf ein Holzbein fehlte. Ihre Version von Higgins schien gefährlicher zu sein als die, die Dodger kannte, und aus dem Brotmesser war doch tatsächlich ein Schwert geworden. Der Polizist bemühte sich, alle Einzelheiten zu notieren, was aber nicht leicht war, da die Angestellten durcheinanderredeten und er außerdem sehr langsam schrieb, wobei er Dodger im Auge behielt. Mit dem Schreiben haperte es bei ihm, aber er verstand sich sehr gut darauf, Leute wie Dodger zu erkennen.

Der wusste, was nun kam, und dann kam es tatsächlich, als der Polizist auf ihn deutete und fragte: »Dieser Herr war ein Komplize, ja?«

Die Angestellten sahen Dodger an, und etwas widerstrebend sagte ihr Chef: »Äh … nein, offen gestanden hat er den Übeltäter mit einem Büronagel bedroht und ihn verjagt.«

Der Polizist gefiel Dodger immer weniger, denn er sagte fröhlich: »Oh, dieser junge Mann war ebenfalls bewaffnet?«

»Äh … nein«, erwiderte der oberste Angestellte. »Ich meine einen Büronagel. Wir haben auf jedem Schreibtisch einen stehen.«

Die Treppe neben der Tür knarrte, und eine neue Stimme erklang. »Dieser junge Mann arbeitet für mich, Constable, und ich möchte hinzufügen, dass Mister Dodger mein volles Vertrauen genießt. Offenbar ist er ein Held von epischen Ausmaßen, der den Chronicle gerade davor bewahrt hat, von einem Schwerverbrecher ausgeplündert zu werden. Vermutlich sollte man ihn mit einer Medaille ehren – ich werde mit dem Herausgeber darüber sprechen. Derweil, meine Herren, hat Mister Dodger vertrauliche Informationen für mich, und ich würde gern mit ihm das Kaffeehaus aufsuchen und hören, was er zu berichten hat. Wenn Sie also so freundlich wären, uns beide zu entschuldigen …«

Charlie nickte dem Polizisten zu und ging los, gefolgt von dem verdutzten Dodger. Onan tappte hinter ihnen her, vielleicht in der Hoffnung, dass Dodger einen Weg durch den Nebel nahm, der früher oder später zu einem Knochen führte. Das Leben hielt für Onan selten die Belohnungen bereit, die er sich wünschte, und als Dodger ihn an einem Laternenpfahl festband, wurde klar, dass dies ein weiterer Beweis dafür war. Dodger beschloss, dem Hund bei nächster Gelegenheit einen anständigen Knochen zu besorgen.

Er hatte noch nie Kaffee getrunken, aber Solomon meinte, es sei nur schmutziges Wasser, und er konnte ihn sich ohnehin nicht leisten. Im Kaffeehaus gab es jede Menge davon, und der Raum war voller Leute und voller Stimmen – es ging ziemlich laut zu.

Charlie drückte Dodger auf einen Stuhl, setzte sich neben ihn und sagte: »Niemand hört, was du sagst, denn hier reden alle gleichzeitig, und diejenigen, die gerade nicht reden, schweigen nur, weil sie überlegen, was sie als Nächstes sagen sollen. Hat es einen Sinn, nach den Hintergründen der kleinen Episode zu fragen, die sich gerade beim Chronicle abgespielt hat, oder sollten wir es in den Schleier des Geheimnisvollen hüllen? Übrigens, hast du jemals von einem Mann namens Napoleon gehört? Nimm ruhig mehr Zucker, und wenn die Schale leer ist, bringt man uns eine neue. Diese neuen Zuckerwürfel sind wirklich toll, nicht wahr?«

Dodger hörte damit auf, sich die Taschen mit den gerade erwähnten Zuckerwürfeln vollzustopfen. »Napoleon, ja«, sagte er. »Ein Franzmann, General oder so. Deshalb haben wir alte Knacker auf den Straßen, die betteln, manchmal mit einem Messer, stimmt’s?«

»Nun«, sagte Charlie, »er war unter anderem dafür berühmt, was er über seine Generäle sagte. Angeblich kam es ihm bei ihnen vor allem auf Glück an. Und du, Mister Dodger, scheinst das Glück auf deiner Seite zu haben, denn etwas an dieser kurzen Eskapade stinkt ebenso zum Himmel wie uralter Käse. Ich glaube, ich verstehe dich, Dodger, und deshalb werde ich dem Herausgeber eine kleine Ehrung empfehlen, zu der vielleicht auch ein halber Sovereign oder zwei gehören. Allerdings werde ich ihn auch darauf hinweisen, dass er deinen Namen besser nicht in die Zeitung setzt, denn unter Umständen könntest du in Zukunft nur mit Mühe Freunde finden. Wenn man in den Schatten lebt wie du, macht es sich nicht gut im Curriculum Vitae, der Polizei zu helfen. Du hast Glück, Dodger, und je mehr du mir hilfst, desto mehr Glück wirst du haben.« Seine Hand glitt in die Tasche, und Dodger vernahm das unverwechselbare Klimpern von Münzen. »Was hast du herausgefunden?«

Dodger erzählte ihm von der Kutsche und der jungen Frau. Charlie hörte aufmerksam zu.

Als er fertig war, fragte Charlie: »Sie hat also kein Wappen an der Tür gesehen? Und welche Art von Ausländisch meinte sie? Französisch? Deutsch?«

Zu Charlies großer Überraschung erwiderte Dodger mit fester Stimme: »Mister Charlie, ich weiß, wie die Wappen an den Kutschen aussehen, und ich erkenne die meisten Sprachen. Aber wissen Sie, in diesem Fall ergeht es mir wie Ihnen. Ich habe es mit einer Informantin zu tun, die nicht schlau genug ist, allzu viel zu bemerken.«

Charlie maß Dodger mit traurigem Blick. »Du bist eine Art Tabula rasa, Dodger, ein unbeschriebenes Blatt. Du bist intelligent, o ja, aber leider hast du kaum Gelegenheit, deine Intelligenz unter Beweis zu stellen. Es bekümmert mich, ja, es bekümmert mich wirklich, aber ich sehe auch, dass du so vernünftig warst und dir neue Kleidung beschafft hast – das Beste, was ein Gebrauchtladen zu bieten hatte.« Er lächelte, als er Dodgers Gesichtsausdruck sah, und fuhr fort: »Was? Glaubst du etwa, Leute wie ich wüssten über solche Läden nicht Bescheid? Glaub mir, mein Freund, in dieser Stadt gibt es nur wenige Tiefen, die ich nicht ausgelotet habe. Aber um zu etwas Erfreulicherem überzugehen … Du hörst sicher gern, dass sich die junge Dame, die du gerettet hast, gut erholt. Soweit ich weiß, wurde sie bisher noch nicht als vermisst gemeldet, obgleich es Anzeichen dafür gibt, dass sie keine Obdachlose ist. Ihr Verschwinden hätte also gemeldet werden sollen. Verstehst du? Sie kann noch nicht sehr gut sprechen – offenbar ist sie nicht imstande zu erklären, was ihr widerfuhr –, aber sie scheint Englisch zu verstehen. Ich halte sie für eine Ausländerin, und zwar für eine ganz besondere Ausländerin. Warum ich dieser Meinung bin, kann ich allerdings noch nicht sagen. Außerdem nehme ich an, dass höheren Orts wegen ihr einige Aufregung herrscht. Das Wappen ihres Rings gibt Anlass zu einigen interessanten Fragen, und mein Freund Sir Robert Peel ist sehr umsichtig, weshalb ich vermute, dass sich etwas abspielt. Wie du weißt, schreibe ich für Zeitungen, aber nicht alles, was ein Zeitungsjournalist weiß, wird auch gedruckt.«

Etwas spielt sich ab, dachte Dodger. Wenn dies ein Spiel war, dann musste er daran teilnehmen und gewinnen. Aber welches Spiel führte dazu, dass eine junge Frau auf so grausame Weise zusammengeschlagen wurde? Ein solches Spiel musste er beenden. Im lauten Kaffeehaus, umgeben von Tabakrauch, wurde er ein wenig verlegen, als er ein Gebet murmelte, das der Lady galt: »Ich bin dir nie begegnet, Lady, aber du kennst Opa, und ich hoffe, er ist bei dir. Tja, ich bin Dodger, und Opa hat mich zum König der Tosher gemacht, und ein bisschen Hilfe von dir würde gewiss nicht schaden. Besten Dank im Voraus, dein Dodger.«

Der Lärm im Kaffeehaus war inzwischen so groß geworden, dass er kaum die eigenen Gedanken hörte, geschweige denn eine Antwort der Lady oder eine Ergänzung von Charlies bisherigen Ausführungen, aber Dodger versuchte trotzdem, noch einige Worte an ihn zu richten. »Wenn niemand eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat … Es bedeutet vielleicht, dass die junge Frau noch gar nicht vermisst wird oder dass die betreffenden Leute hoffen, sie vor allen anderen zu finden, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Du bist wirklich eine Entdeckung, mein lieber Dodger! Unter uns: Ich mag die Polizei, obwohl du das vielleicht ein bisschen anders siehst. Aber was ich an den Polizisten schätze – zumindest an einigen von ihnen: dass das Gesetz für alle gelten sollte, nicht nur für die Armen. Ich weiß, dass sie in bestimmten Vierteln der Stadt nicht beliebt sind, und allgemein gesprochen könnte ich hinzufügen, dass es hohe Stellen gibt, wo man ihnen noch ablehnender gegenübersteht.« Charlie zögerte. »Dein Informant berichtet also, dass die junge Dame aus einer Kutsche floh, aus einer noblen noch dazu. Finde die Kutsche, mein Freund, und jene, die sie für dieses schändliche Treiben zur Verfügung stellten. Dann könnte sich die Welt zum Besseren wenden, insbesondere für dich.«

Wieder klirrten Münzen, und Charlie legte zwei halbe Kronen auf den kleinen Tisch. Er lächelte, als sie auf der Stelle in Dodgers Tasche verschwanden.

Er sagte: »Da fällt mir ein, mein Kollege und Freund Mister Mayhew und seine Frau würden sich freuen, dich wiederzusehen, und darf ich morgen vorschlagen? Sie glauben, dass du ein Engel bist, wenn auch einer mit schmutzigem Gesicht, von freundlichem Wesen und möglicherweise in Erwartung einer ansehnlichen Karriere. Ich hingegen halte dich, wie du weißt, für einen Schlingel und Taugenichts erster Güte, voller List und Tücke. Kurz gesagt, ich sehe in dir einen schlauen Burschen, der zu allem bereit ist, um seine Ziele zu erreichen. Aber dies ist eine neue Welt, wir brauchen neue Menschen. Wer bist du wirklich, Dodger, und was ist deine Geschichte? Wenn du nichts dagegen hast, dass ich danach frage.« Er richtete einen neugierigen Blick auf Dodger.

Dodger hatte nichts dagegen, aber die Welt bewegte sich plötzlich zu schnell, und so erwiderte er: »Wenn ich es Ihnen erzähle, Mister … Versprechen Sie dann, es nicht weiterzusagen? Kann ich Ihnen vertrauen?«

»Ich gebe dir mein Ehrenwort als Journalist«, sagte Charlie. Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Streng genommen sollte die Antwort Nein lauten, Dodger. Ich bin Schriftsteller und Journalist, was ein recht seltsamer Bund ist. Wie dem auch sei, ich setze große Hoffnungen in dich, erwarte mir viel von dir und möchte den von dir erzielten Fortschritten auf keinen Fall im Weg stehen. Entschuldige …« Charlie holte einen Stift und ein winziges Notizbuch hervor, kritzelte einige Worte, sah dann auf und lächelte verlegen. »Ich bitte um Verzeihung, es ist eine kleine Angewohnheit von mir, ich schreibe mir gelegentlich bestimmte Ausdrücke auf, bevor ich sie wieder vergesse. Bitte fahr fort!«

»Nun«, sagte Dodger leicht verunsichert, »ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Ich war ein Findelkind, wissen Sie. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Besonders groß war ich als Knabe nicht, und meine Kindheit war leider von Fieslingen bevölkert. Ich lernte, ihnen auszuweichen, mich am Rand des Geschehens zu halten und unauffällig zu sein. Einige der größeren Jungen lachten über meinen wahren Namen, und wenn ich mich beklagte, schlugen sie mich zu Boden. Aber nach einer Weile hörte das auf, als ich größer wurde, und dann schikanierten sie mich erneut, einfach so! Und ich dachte mir schließlich, he, ich hab genug davon, und ich schnappte mir einen Stuhl und zeigte es ihnen damit.« Er legte eine kurze Pause ein und erinnerte sich an den Augenblick der gerechten Strafe für alle Versündigungen. Selbst der Aufseher hatte ihn nicht bändigen können. »An jenem Tag landete ich auf der Straße, wo das Leben wirklich begann.«

Charlie hörte der sorgfältig gekürzten Version aufmerksam zu. »Bemerkenswert, Dodger. Aber deinen Namen hast du mir noch nicht genannt.« Dodger hob die Schultern, schien sich in sein Schicksal zu fügen, nannte seinen Namen und erwartete lautes Lachen. Stattdessen hörte er: »Oh, ich verstehe. Ja, natürlich, das erklärt einiges. Was diese Angelegenheit betrifft, bleiben meine Lippen selbstverständlich versiegelt. Doch gestattest du mir, nach dem weiteren Verlauf deines Lebens zu fragen?«

»Wollen Sie dies in Ihrem kleinen Notizbuch aufschreiben, Mister?«

»Keineswegs, junger Freund. Es ist reine Anteilnahme an den Menschen, die mich zum Fragen veranlasst.«

Man erzähle nie jemandem mehr, als er unbedingt wissen muss. An diese Devise glaubte Dodger. Aber nie zuvor in seinem Leben war er einem Außenstehenden begegnet, der so schnell sein Vertrauen gewann, und deshalb beschloss er in dieser neuen Welt, die sich ständig veränderte, seine übliche Zurückhaltung aufzugeben.

»Ich bin bei einem Kaminkehrer in die Lehre gegangen, weil ich so dünn war, wissen Sie«, sagte er, »und nach einer Weile bin ich weggelaufen, aber vorher bin ich durch den Kamin in ein Schlafzimmer geklettert, in ein piekfeines Schlafzimmer, und hab einen Diamantring vom Nachtschränkchen stibitzt. Und ich sage Ihnen, Sir, das mit dem Weglaufen war die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe, denn Kamine und Schornsteine sind nicht die richtige Umgebung für einen Heranwachsenden. Der Ruß … man kriegt ihn überallhin, Sir, überallhin. Er gerät in alle Fugen und Ritzen, Sir, und er ist gefährlich. Setzt dem Piepmatz auf scheußliche Weise zu, und das weiß ich, weil ich einige Jungs kenne, die beim Kaminkehren geblieben sind, und sie waren echt übel dran. Aber dank der Lady bin ich rechtzeitig entkommen.« Dodger hob abermals die Schultern und fuhr fort: »So war das Leben. Was den Diamantring betrifft … Als ich ihn zum Hehler brachte, sagte der, ich hätte Talent, und er legte mir nahe, ein Snakesman zu werden. Das ist …«[2]

»Ich weiß, was ein Snakesman ist, Dodger. Aber wie bist du von dort aus zum Toshen gekommen, wenn ich fragen darf?«

Dodger holte tief Luft und atmete die Asche der Vergangenheit. »Ich geriet wegen einer gestohlenen Gans in Schwierigkeiten und wurde gejagt, nur weil Federn an mir klebten, und deshalb versteckte ich mich in der Kanalisation, verstehen Sie? Die Verfolger schafften es nicht bis nach unten, weil sie zu dick und auch zu betrunken waren, meiner Meinung nach. Dann fand ich das mit dem Toshen heraus und … Nun, das wär’s auch schon, mehr oder weniger.«

Er hielt in Charlies Gesicht nach mehr als einem unverbindlichen Blick Ausschau, und dann schien der Mann aufzuwachen und sagte: »Und was wäre mit einem anderen Namen aus dir geworden, Dodger? Mit einem Namen wie Master Geoffrey Smith zum Beispiel oder Master Jonathan Baxter?«

»Ich weiß nicht, Sir. Wahrscheinlich eine ganz gewöhnliche Person, Sir.«

Daraufhin lächelte Charlie und sagte: »Ich glaube eher, dass du eine sehr ungewöhnliche Person bist, mein Freund.«

War das Lächeln auf Charlies Gesicht tatsächlich echt? Bei Charlie konnte man nicht sicher sein, und so blieb diese Frage unbeantwortet, als sie das Kaffeehaus verließen und getrennte Wege gingen. Charlie ging wohin auch immer, und Dodger kehrte in seine vertraute Welt zurück. Unterwegs kaufte er bei einem Schlachter kurz vor Ladenschluss einen saftigen Knochen für Onan, der ihn sabbernd im Maul heimtrug.

Kein schlechter Tag, fand Dodger, als er die Treppe zur Mansarde hochstieg. Er beendete ihn mit mehr Geld als am Morgen, ganz zu schweigen von einer Tasche voller Zucker.

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