11 Dodger putzt sich heraus, und Solomon bekennt Farbe


Solomon hatte auf ihn gewartet und nicht zum Nachbarschaftspublikum gehört, weil kein Zimmer der Mansarde zur Straße hinaus lag. Durch die Fenster sah man nur einige Lagerhäuser, und Solomon fand diesen Anblick wesentlich erfreulicher als so manches, was man auf der Straße beobachten musste. Sie wechselten in der Dunkelheit nur einige wenige Worte, bevor Dodger auf seine Matratze sank und die Kerze ausgeblasen wurde.

Während er sich in die Decke kuschelte, im wohligen Wissen, einen guten Tag hinter sich zu haben, beobachtete Dodger die eigenen dahinziehenden Gedanken. Kein Wunder, dass sich die Welt drehte – es gab so viele Veränderungen. Wie lange war es her, dass er einen Schrei gehört und aus der schäumenden Kanalisation gesprungen war … wie viele Tage lag das zurück? Er zählte drei Tage. Drei Tage! Die Welt schien sich zu schnell zu bewegen und über Dodger zu lachen, weil er nicht mithalten konnte. Na schön, dann lief er ihr eben hinterher und nahm alles, wie es kam. Am nächsten Tag erwartete ihn eine wundervolle Dinnerparty, bei der er Simplicity wiedersehen würde. Als er langsam in den Schlaf sank, dachte er daran, dass es bei allem in erster Linie auf den Schein ankam, und damit lernte er besser umzugehen. Er schien ein Held zu sein, ein kluger junger Mann, und vertrauenswürdig. Dieser Schein täuschte alle, und am beunruhigendsten war der Umstand, dass er selbst davon getäuscht wurde, dass er allmählich glaubte, ein anderer zu sein oder ein anderer sein zu können. Mit diesem seltsamen Gedanken im Kopf schlief er ein.

Am folgenden Morgen sah sich der Mann, dessen Aufgabe darin bestand, die Tür der Coutts-Bank aufzuschließen, einem älteren jüdischen Herrn gegenüber, der einen verschlissenen Gabardinemantel trug und in dessen Augen geschäftlicher Eifer leuchtete. Diese Erscheinung schob sich an ihm vorbei, gefolgt von einem jungen Mann in einem schlecht sitzenden Anzug sowie einem stinkenden Hund. Einige andere Kunden klagten murmelnd darüber, dass man arme Leute hereinließ, bis sich herausstellte – nachdem alle Münzen über dem Wert von einem Sixpence gezählt und quittiert waren –, dass es sich um arme Leute mit viel Geld handelte.

Eine Empfangsbestätigung und ein hübsches Sparbuch wurden übergeben, und die kleine Gruppe verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das Rote Meer schloss sich, die Planeten sprangen in ihre gewohnten Umlaufbahnen zurück, erstgeborene Kinder spielten wieder, und mit der Welt war alles in Ordnung. Allerdings enthielt ein Teil dieser Welt einen von Mister Coutts Seniorpartnern, dem klar wurde, dass er sich auf einen Zinssatz eingelassen hatte, den die Bank nur selten gewährte, der ihm jedoch als geringer Preis dafür erschienen war, Solomon aus dem Gebäude zu bekommen, bevor jener die Geldverleiher hinausgeworfen hätte. Eine solche Vorstellung war natürlich absurd und in jeder Hinsicht unbegründet, aber beim Feilschen setzte sich Solomon immer durch, und die anderen blieben reichlich benommen zurück.

Kaum hatten die drei die Bank verlassen, erinnerte Dodger Solomon ziemlich widerstrebend daran, dass man ihn im Büro des Punch-Magazins erwartete, damit irgendein Künstler sein Gesicht zeichnen konnte.

Mister Tenniel erwies sich als junger Mann, kaum älter als Dodger, dessen braunes Haar ein wenig ins Rote tendierte. Dodger nahm vor ihm Platz, und sie unterhielten sich, während der Künstler zeichnete. Es war gar nicht so schwierig, von Mister Tenniel gezeichnet zu werden, aber es konnte manchmal recht beunruhigend sein, denn Mister Tenniel zeichnete und zeichnete mit seinem Stift, und dann warf er Dodger plötzlich einen Blick zu, der ihn regelrecht durchbohrte – der ihn festheftete wie einen Schmetterling –, und dann zeichnete er weiter. Nur der obere Teil seines Kopfs war zu sehen, wenn er sich über die Arbeit beugte. Unterdessen trank Solomon Kaffee und blätterte in einer Ausgabe des Punch-Magazins, das man ihm freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte.

Dodger staunte, dass es gar nicht so lange dauerte, ihn zu zeichnen. Mister Tenniel nahm noch einige Korrekturen an dem Bild auf seiner Staffelei vor und drehte es dann mit einem Lächeln zu Dodger hin. »Ich bin sehr zufrieden damit, Mister … Darf ich Sie Dodger nennen? Ich glaube, ich habe das Wesentliche Ihrer Persönlichkeit gut eingefangen. Natürlich muss ich noch einige Details hinzufügen, damit die Leser einen Eindruck des Geschehens in dem Friseursalon gewinnen. Und ich muss auch Mister Sweeney Todd zeichnen, denn die Leute wollen beides, den Helden und den Schurken.«

Dodger schluckte. »Aber Mister Todd war eigentlich gar kein Schurke …«, begann er.

Tenniel unterbrach ihn, indem er mit seinem Stift winkte. »Talavera soll richtig schlimm gewesen sein, wie ich hörte. Es heißt, Wellington schickte seine Männer einfach ins gegnerische Kanonenfeuer, einen nach dem anderen, wodurch es zu großen Verlusten kam. Man kann nur hoffen, dass alle diese Toten das Opfer wert waren, wenn so etwas überhaupt möglich ist.« Er schüttelte Dodger die Hand und fuhr fort: »Mister Dickens hat mir erzählt, was in der Fleet Street passierte, und es ist doch bemerkenswert, wie sehr die Wahrnehmung der Wahrheit in der Öffentlichkeit seit einiger Zeit zum Makabren neigt, nicht wahr? Der gewöhnliche Bürger, so scheint es, liebt nichts mehr als einen grausigen Mord.« Er zögerte und fügte hinzu: »Stimmt irgendetwas nicht, Mister Dodger?«

Tenniel hatte Dodger beim Zeichnen immer wieder sehr aufmerksam gemustert, und der hatte die Gelegenheit genutzt, sein Gegenüber ebenfalls zu beobachten. Dabei war ihm etwas aufgefallen – etwas schien nicht ganz in Ordnung zu sein. Es dauerte eine Weile, bis er es richtig erkannte und Worte dafür fand.

Es machte Dodger verlegen, beim Starren ertappt worden zu sein, und er beschloss, ganz offen zu sein. »Ich glaube, mit Ihrem linken Auge stimmt was nicht, oder? Ich hoffe, es behindert Sie nicht zu sehr bei Ihrem Beruf.«

Das Gesicht des Künstlers erstarrte, geriet dann wieder in Bewegung und zeigte ein schiefes Lächeln. »Die Narbe ist sehr klein, und ich glaube, Sie sind der Erste, der sie bemerkt. Sie geht auf einen kleinen Unfall während meiner Kindheit zurück.«

Dodger betrachtete das lächelnde Gesicht und dachte: Nein, ich glaube, so klein war der Unfall nicht.

»Charlie hatte recht damit, was er neulich sagte.«

»Ach? Mmm, und was hat Charlie neulich über meinen Freund Dodger gesagt, wenn ich fragen darf?«, grollte Solomon, stand auf und ließ das Magazin in einer Tasche seines Mantels verschwinden. »Ich erführe es gern.« Er lächelte natürlich, aber aus den Worten war ein gewisser Ernst herauszuhören.

Tenniel hörte ihn, errötete und erwiderte: »Da ich schon einmal ins Fettnäpfchen getreten bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Aber bitte weisen Sie Mister Dickens nicht darauf hin, dass ich es erwähnt habe, ja? Er sagte: ›Mister Dodger ist so gewieft, dass man ihn eines Tages auf allen Kontinenten kennen wird, vielleicht als Wohltäter der Menschheit – oder als charmantesten Halunken, der je am Galgen endete.‹«

Mister Tenniel wich verblüfft einen Schritt zurück, als Solomon lachte und sagte: »Nun, Mister Dickens ist zumindest ein guter Menschenkenner, und bei Leuten wie ihm finde ich Direktheit bewundernswert. Aber sollten Sie ihm vor mir begegnen, so richten Sie ihm bitte aus, dass Solomon Cohen dafür sorgen wird, dass sich die erste Möglichkeit durchsetzt. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Sir, aber bitte entschuldigen Sie uns jetzt, denn ich muss diesen jungen Halunken zu einer Örtlichkeit begleiten, wo er sauberer wird als jemals zuvor in seinem Leben, denn heute Abend erwartet man uns bei einer sehr wichtigen Dinnerparty in West End. Guten Tag, Sir, und danke, aber wir müssen wirklich los.«

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte Solomon: »Vergeuden wir keine Zeit, Dodger! Weißt du, wie erpicht ich aufs Baden bin? Nun, heute genehmigen wir uns ein türkisches Bad mit allem Drum und Dran.«

Das war neu für Dodger, aber Solomons Weisheit in Hinsicht auf elementare Hygiene hatte ihn bisher am Leben erhalten, und deshalb kam es für ihn nicht infrage, den alten Knaben in dieser Angelegenheit zu enttäuschen. Er widersprach auch deshalb nicht, weil er einen Ausbruch rechtschaffener Entrüstung vermeiden wollte, der vielleicht dazu geführt hätte, dass er am Ohr durch die Straßen gezogen worden wäre. Er mochte nicht zum Gespött des ganzen Viertels werden und hielt es deshalb für geraten, sich zu fügen. Also machte er gute Miene zum bösen Spiel und folgte Solomon hinaus in den schmutzigen Nieselregen, zunächst zu einem Laternenpfahl, an dem sie Onan festgebunden hatten, in dem sicheren Wissen, dass niemand auf den Gedanken kam, ihn zu stehlen.

Dodger fühlte sich besser, als er über das Wort türkisch nachdachte. Jemand, vielleicht Ginny-Komm-Spät – ein Mädchen mit einem Lachen, bei dem man erröten konnte (sie waren sich einmal sehr nahe gewesen) –, hatte ihm einmal von der Türkei erzählt, ihm Vorstellungen von tanzenden Mädchen und sehr leicht bekleideten dunkelhäutigen Frauen vermittelt. Offenbar erteilten sie Massagen mit besonderer Präsenz, was sehr verlockend klang, obwohl … Ginny-Komm-Spät konnte praktisch alles als sehr verlockend schildern. Als er Solomon darauf angesprochen hatte – zu jenem Zeitpunkt war Dodger viel jünger und naiver gewesen –, hatte der alte Mann erwidert: »In den Ländern des Orients bin ich nicht weit herumgekommen, aber ich fürchte, in Hinsicht auf die besondere Präsenz versprichst du dir zu viel. Vermutlich meinst du Essenz, was sich auf angenehm duftende Salben und Öle beziehen dürfte. Warum fragst du danach?«

Der junge Dodger hatte erwidert: »Oh, nur so. Irgendjemand hat darüber gesprochen.« Doch wie man es auch drehte und wendete, derzeit weckte das Wort türkisch Vorstellungen von orientalischen Verlockungen, und deshalb war er recht optimistisch, als sie sich den türkischen Bädern in der Commercial Road näherten.

Natürlich gab es überall Badehäuser, die oft sogar von den ganz Armen benutzt wurden, wenn man »die Dreckkruste loswerden musste«, wie es einmal eine alte Frau Dodger gegenüber genannt hatte. Oft ging es mit den Bädern ebenso zu wie überall auf der Welt, im Sinne von: Je mehr man bezahlte, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass man das heißeste und sauberste Wasser bekam und dass es durchsichtig war, bevor die Seife hinzugegeben wurde. Dodger wusste: Das Wasser, in dem die feinen Leute gebadet hatten, gelangte manchmal in die Becken, die für die Mittelschicht bestimmt waren. Anschließend setzte es die Reise zu den großen Gemeinschaftsbecken für die Unterschicht fort, wo es zumindest noch mit etwas Seife ankam, was eine Ersparnis bedeutete, wenn man es von der positiven Seite betrachtete. Zwar würde man wahrscheinlich nie mit Bürgermeistern, Rittern und Baronen an einem Tisch sitzen, aber wenigstens teilte man das Bad mit ihnen und war deshalb ein stolzer Londoner.

Aus dem Nieseln wurde richtiger Londoner Regen, der schmutzig war, bevor er den Boden erreichte und der Stadt zurückgab, was zuvor aus ihren Schornsteinen aufgestiegen war. Die Luft schmeckte so, als lecke man einen dreckigen Penny ab.

Einige Stufen führten zur Tür des Badehauses hinauf, und sonst wies nichts auf irgendeine Besonderheit hin, leider auch nicht auf freizügige Präsenzen irgendeiner Art. Doch im Innern des Gebäudes wurden sie von einer Dame begrüßt, was Dodgers Stimmung wieder hob, obwohl der Umstand, dass sie recht alt war und ihre Oberlippe den Anflug eines Schnurrbarts zeigte, sein Hochgefühl sogleich wieder dämpfte. Zwischen ihr und Solomon fand ein kurzes, leises Gespräch statt. Der alte Knabe feilschte selbst über den Preis für ein Brötchen, doch in der alten Frau schien er seinesgleichen gefunden zu haben, denn ihr Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass der Preis zur bekannten Kategorie Entweder du bezahlst, oder du kannst gehen gehörte und dass Solomon, soweit es sie betraf, ruhig gehen konnte, und zwar möglichst weit weg.

Solomon musste bei seinen Bemühungen, bei allem einen möglichst geringen Preis herauszuschlagen, nur selten Niederlagen hinnehmen, und Dodger hörte ihn »Isebel« murmeln, bevor er für die Schlüssel von zwei Spinden bezahlte. Natürlich geschah es nicht zum ersten Mal, dass Dodger ein öffentliches Bad aufsuchte, aber er hoffte, dass sich dies als abenteuerlicher herausstellte – er wäre durchaus bereit gewesen, sich mit Öl massieren zu lassen.

In große Handtücher gehüllt, schritten sie über einen marmornen Boden und betraten einen großen Raum, der einer Hölle glich, entworfen von einem Baumeister, der den Menschen eine zweite Chance geben wollte. Die Halle war voller seltsamer Echos, die entstanden, wenn Dampf, Stein und Menschen zusammentrafen. Dodger musste enttäuscht feststellen, dass sich weit und breit keine leicht bekleideten Orientalinnen blicken ließen, wohl aber die schattenhaften Gestalten von Männern, die undeutlich durch den Dampf zu erkennen waren. An dieser Stelle legte ihm Solomon eine Hand auf die Schulter und flüsterte: »Wenn ich dir einen Rat geben darf … Gib auf die warmen Jungs acht! Oder gib besser nicht auf sie acht, wenn du verstehst, was ich meine.«

Dodger verstand den Hinweis nicht, bis bei ihm der Groschen – beziehungsweise der Penny – fiel. Als sie ins nächste Becken traten, sagte er: »Ich bin nicht zum ersten Mal in einem öffentlichen Bad, aber ich glaube, dies ist das beste. Und die warmen Jungs haben mich bisher nicht gestört.«

»Gott scheint sie nicht leiden zu können«, erklärte Salomon, als ihnen heißes Wasser an den Beinen hochstieg. »Der Grund dafür ist mir nicht ganz klar, denn mir scheint, dass sie einem kleinen Planeten einen Gefallen erweisen, indem sie ihn nicht mit unnötig vielen Menschen bevölkern.«

Es gab nicht nur ein Bad im Badehaus, sondern mehrere: Schwitzbäder, kalte Bäder und heiße Bäder. Mit ihnen in das Becken trat ein ebenfalls in Handtücher gehüllter Mann mit Armmuskeln, so dick wie mancher Oberschenkel, und fragte mit einer Stimme wie eine Schleifmühle: »Wünscht jemand der Herren eine Massage? Sehr gut, sehr gründlich, tut gut, und nachher fühlen Sie sich pudelwohl, ja?«

Dodger sah Solomon an, der ihm riet: »Du solltest es versuchen, unbedingt. Sie gehen hier recht forsch zu Werke, aber nachher fühlst du dich tatsächlich besser.« Er nickte dem Mann zu. »Ich nehme die Massage zusammen mit meinem jungen Freund. Wir können uns gemeinsam entspannen und dabei unterhalten.«

Letztendlich empfand Dodger die Massage gar nicht als entspannend, es sei denn, er berücksichtigte die Erleichterung, als sie schließlich vorbei war. Während die beiden Masseure kneteten und trommelten, ohne sich ansonsten um ihre Opfer zu kümmern, lud er seine Gedanken bei Solomon ab, gelegentlich untermalt von einem »Autsch«.

»Ich bin froh, dass Simplicity in Sicherheit ist«, sagte er. »Aber sie wird sich jedes Mal in Gefahr begeben, wenn sie das Haus verlässt, und so, wie ich das sehe, will ihr vonseiten der Regierung keiner wirklich helfen (au!).«

»Mmm«, erwiderte Solomon. »Das liegt daran, dass mmm Regierungen meist an das ganze Volk denken – einzelnen Personen schenken sie keine besondere Aufmerksamkeit. Zweifellos glauben manche, Simplicitys Rückkehr werde die Spannungen zwischen zwei Ländern abbauen. Und tatsächlich, obwohl ich das nicht gern sage, wäre es eine christliche Tat, denn immerhin ist sie eine Ehefrau vor Gott. Obwohl Gott manchmal wegsieht, worauf ich ihn mehrmals hingewiesen habe. Viele sind der Ansicht, dass die Wünsche des Ehemanns mmm wichtiger sind als die der Ehefrau.«

»Der Kerl gestern Abend arbeitete für einen Mann namens Schlauer Bob, der (autsch!) an Simplicity und mir interessiert ist«, sagte Dodger zwischen mehreren hammerharten Schlägen. »Er will wissen, wo sie ist, also muss Geld für ihn drin sein. Kennst du ihn? Ich habe gehört, er ist Anwalt oder so.«

»Schlauer Bob«, murmelte Solomon. »Mmm, ich glaube, ich habe von ihm gehört. Und ja, er ist Anwalt – für Kriminelle, könnte man sagen. Ich meine nicht, dass er sie vor Knast und Galgen bewahrt oder so. Das macht er natürlich auch, aber er ist eher mmm ein Mittelsmann, um es mal so auszudrücken. Jemand tritt an ihn heran und sagt zum Beispiel: ›Ich möchte, dass dem oder jenem in unserer Stadt etwas zustößt.‹ Niemand redet von Mord oder vom Abschneiden eines Ohrs, und trotzdem wird eine solche Botschaft übermittelt – mit einem Blick oder einer kurzen Berührung der Nase. Etwas in der Richtung, damit der Schlaue Bob behaupten kann, nichts von der Sache zu wissen und keine Ahnung zu haben, warum ein Esszimmer voller Blut ist.« Solomon seufzte. »Du glaubst, seine Leute haben Miss Simplicity verprügelt?«

»Ja, und nun muss ich ihn finden«, erklärte Dodger. »Sobald wir die Angelegenheit heute Abend hinter uns gebracht haben. Der Bursche (autsch!) hätte mir gestern Abend sagen sollen, wo ich den Schlauen Bob finde. Aber ich hab ihm zwischen die Beine getreten und darüber alles andere vergessen. Außerdem hab ich ihm ordentlich eins auf den Zinken gegeben und die Nase im Gesicht verteilt, sodass er nur noch grunzen konnte.«

»Lass dir das eine Lehre sein«, sagte Solomon. »Gewalt ist nicht immer das angemessene Mittel.«

»Solomon, du hast einen sechsschüssigen Revolver zu Hause«, erwiderte Dodger.

»Mmm, ich habe nicht immer gesagt.«

»Wenn du weißt, wo ich ihn finde, dann verrat es mir, denn morgen mache ich mich ohnehin auf die Suche nach ihm«, verkündete Dodger. »Vielleicht glaubt er, dass jemand Simplicitys Tod begrüßen würde. Nicht weil dieser Jemand sie hasst, sondern weil sie (au!) im Weg ist.«

Diese Worte brachten Dodger ein langes Mmm von Solomon ein, und er führte es zunächst auf ein besonders festes Kneten durch den Masseur zurück. Dann sagte Solomon leise: »Nun, Dodger, vielleicht hast du dich gerade einer Lösung des Problems angenähert. Sorg dafür, dass der Fremde oder die Fremden Simplicity für tot halten. Niemand jagt einem Toten hinterher. Mmm, es ist natürlich nur so ein Gedanke. Es gibt keinen Anlass, ihn ernst zu nehmen.«

Dodger drehte den Kopf und sah, dass Solomons Augen glänzten. »Wie meinst du das?«

»Ich meine, Dodger, dass du ein einfallsreicher junger Mann bist, und ich habe dir einen Anstoß gegeben, über den es nachzudenken gilt. Überleg es dir gut! Bekanntlich sehen die Menschen nur das, was sie sehen wollen.«

Eine Faust donnerte auf Dodger herab, aber er bemerkte es kaum, denn in seinem Kopf geriet allerlei in Bewegung und verlangte seine Aufmerksamkeit. Er sah Solomon noch einmal an und nickte.

Solomon kam wie ein Wal nach oben und klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Zeit zu gehen, junger Mann! Man kann auch zu sauber werden.«

Als sie sich abgetrocknet hatten und vor ihren Spinden standen, sagte Solomon: »Wir sollten uns hier für eine Weile hinsetzen und etwas trinken. Es ist nicht ratsam, nach einer gründlichen Massage sofort auf die Straße zu gehen – wir könnten uns eine Erkältung holen. Anschließend bringe ich dich in die Savile Row, wo alle wichtigen Männer ihre Garderobe kaufen. Die Zeit ist knapp, aber gestern Abend habe ich einen Jungen zu meinem Freund Izzy geschickt, der sich um dich kümmern wird. Sein Geschäft ist alles andere als ein Gebrauchtladen, und ich bin sicher, dass er etwas Geeignetes für den Freund eines Freunds hat, der ihn in Sicherheit schleppte, als er von den Kosaken angeschossen wurde.« Er fügte hinzu: »Das will ich ihm raten. Ich bin mit ihm eine Meile weit durch den Schnee gelaufen, und keiner von uns dreien trug Stiefel, weil wir mitten in der Nacht aus dem Bett mussten. Danach trennten sich unsere Wege, aber ich werde mich immer an den jungen Karl erinnern – ich glaube, ich habe ihn schon einmal erwähnt, nicht wahr? –, der mir sagte, alle Menschen seien gleich, aber unterdrückt, wobei sie das Drücken manchmal selbst übernehmen. Wenn ich darüber nachdenke … Er sagte noch viel mehr. Hatte den schlimmsten Haarschnitt, den ich je gesehen habe, und auch Feuer in den Augen. Erinnerte mich an einen hungrigen Wolf.«

Dodger hörte nicht zu. »Die Savile Row liegt in West End«, sagte er wie einer, der vom Ende der Welt spricht. Er fuhr fort: »Brauche ich wirklich feine Klamotten? Mister Disraeli und seine Freunde … Sie wissen doch, wer ich bin, oder?«

»Mmm, oh, und wer mmm bist du genau, mein Freund? Ihr Untergebener? Ihr Angestellter? Oder ein Gleichgestellter, wie ich meine? Das hätte zweifellos der junge Karl gesagt, und vermutlich sagt er es noch immer. Es sei denn, er lebt nicht mehr.« Dodger richtete einen fragenden Blick auf Solomon, der rasch erklärte: »Mmm, wenn man den Menschen immer wieder sagt, dass sie unterdrückt werden, bekommt man meiner Erfahrung nach Feinde auf beiden Seiten: die Unterdrücker, die das Unterdrücken nicht lassen wollen, und die Unterdrückten, die nicht hören möchten, dass sie unterdrückt sind. In dieser Hinsicht können sie ziemlich unangenehm werden.«

Fasziniert fragte Dodger: »Bin ich unterdrückt?«

»Du? Wahrscheinlich nicht, mein Junge, und du scheinst auch deine Mitmenschen nicht nach unten zu drücken, was eine begrüßenswerte Einstellung ist. Aber an deiner Stelle dächte ich nicht zu viel an Politik, das könnte dich krank machen. Was die Leute betrifft, denen wir heute Abend begegnen werden … Ich nehme an, dass viele von ihnen, wenn nicht alle, beträchtlich reicher sind als du. Aber nach allem, was ich über die Gastgeberin weiß, bedeutet das noch lange nicht, dass sie sich für wesentlich besser halten als dich. Geld macht Menschen reich, aber die Annahme, dass es sie auch besser macht – oder schlechter –, ist ein Trugschluss. Menschen sind, was sie tun und was sie hinterlassen.« Solomon leerte seine Kaffeetasse. »Da es ein weiter Weg ist und mir die Beine wehtun, nehmen wir eine Kutsche und verhalten uns wie die Gentlemen, die wir sind.«

»Aber das kostet viel Geld!«

»Und? Soll ich den ganzen weiten Weg durch den Regen zu Fuß gehen? Wer bist du, Dodger? Du bist ein König unendlichen Raums, vorausgesetzt, der betreffende Raum ist unterirdischer Natur. Du bist ein Mann, der seinen Lebensunterhalt bestreitet, indem er verlorenes Geld findet, und da du ein gutes Auge dafür hast, steckt etwas von einem ewigen Kind in dir. Ohne Verantwortung macht das Leben Spaß, aber nun übernimmst du Verantwortung. Du hast Geld, Dodger – dein neues Sparbuch beweist es. Und du hoffst, eine junge Dame für dich zu gewinnen, mmm ja? Das ist gut für einen Mann, denn Verantwortung ist der Amboss, auf dem ein Mann geschmiedet wird.«

Kaum hatten sie das Gebäude verlassen, musste Solomon eine ältere Frau retten, die Onan hatte streicheln wollen. Er half ihr, sich abzuklopfen, und als ihr Kleid etwas sauberer und sein Taschentuch wesentlich schmutziger war, rief er eine Kutsche, die anhielt, ohne dass der Kutscher es wollte – die Hufe des Pferds schlugen Funken auf dem Kopfsteinpflaster.

Als sie drinnen auf den Kissen saßen und dem klebrigen Londoner Regen entkommen waren, der jenseits der Fenster herabströmte, lehnte sich Solomon zurück und sagte: »Ich habe nie richtig verstanden, warum diese Leute ihren Kunden gegenüber so feindselig sind. Man sollte meinen, dass sich die Arbeit eines Kutschers vor allem für Männer eignet, die Menschen mögen, oder?«

Es schüttete regelrecht, und der Himmel hatte die Farbe einer gequetschten Pflaume. Ein solcher Tag war nicht gut für einen Tosher, aber die Nacht konnte vielversprechend sein, und Dodger hoffte, nach der Dinnerparty vielleicht dorthin zurückkehren zu können, wohin er gehörte – in die Kanalisation. Dann fiel ihm Solomons jüngster Vortrag ein, und in Gedanken fügte er hinzu: der Ort, wo ich manchmal sein möchte.

Er fühlte die Notwendigkeit einer Rückkehr dorthin, denn einmal mehr war er sich seiner selbst nicht sicher. Natürlich war er immer noch Dodger, aber welche Art von Dodger? Eins stand fest: Der Dodger von vor einer Woche war er gewiss nicht mehr. Und er dachte: Wenn wir Menschen uns so schnell verändern, wie können wir dann überblicken, was wir bekommen und was wir verlieren? Ich meine, heutzutage steige ich einfach in eine Kutsche, alles kein Problem. Ich bin ein junger Mann, der in Kutschen durch die Gegend fährt, nicht mehr der Bursche, der ihnen mit halb aus der Hose hängendem Hintern nachrannte und sich an ihnen festzuhalten versuchte. Jetzt bezahle ich für die Fahrt. Würde ich den anderen Jungen wiedererkennen?

Der Regen wurde noch stärker – es schien immer mehr auf ein Unwetter hinauszulaufen, vergleichbar mit dem in der Nacht, als er Simplicity zum ersten Mal begegnet war. Der Kutscher vor ihnen war den Elementen ausgesetzt, was vielleicht etwas mit seiner Übellaunigkeit zu tun hatte, und in diesem Wolkenbruch musste er das Navigieren dem Pferd überlassen. Die Welt schien nur aus Regen zu bestehen, und gegen alle Regeln der Natur fiel ein Teil davon nach oben, weil unten einfach kein Platz mehr war.

Plötzlich hörte Dodger ganz leise jenes Geräusch, auf das er unbewusst seit Tagen horchte: ein Quietschen wie von leidendem Metall. Und es kam von vorn. Er sprang zur Schiebeplatte, die es den Fahrgästen erlaubte, mit dem Kutscher zu reden, falls er ihnen zuhören wollte. Wasser klatschte Dodger ins Gesicht, als er rief: »Wenn Sie die Kutsche vor uns überholen – die mit dem quietschenden Rad –, bekommen Sie eine Krone!«

Er erhielt keine Antwort – wie hätte er sie auch im Rauschen und Prasseln des Regens hören sollen? –, aber die Kutsche wurde plötzlich schneller, und ein verwunderter Solomon sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob wir eine Krone übrig haben.«

Dodger achtete nicht darauf. Wenn man aufgeweckt war und wusste, wonach es Ausschau zu halten galt, gab es in einer Kutsche viele Stellen, wo man Halt fand, wenn man aufs Dach klettern wollte, in diesem Fall sehr zum Ärger des Kutschers, der mit recht ausdrucksstarken Worten den auf seinem Gefährt herumkraxelnden jungen Emporkömmling verwünschte. Im Lärm des Unwetters, der von hingebungsvollen Kutscherflüchen untermalt wurde, beugte sich Dodger nach unten und sagte: »Bestimmt haben Sie von dem Mann gehört, der den teuflischen Friseur Sweeney Todd überwältigt hat, nicht wahr? Nun, Kumpel, dieser Jemand bin ich, Dodger. Können wir jetzt miteinander reden, oder soll ich sauer werden?« Dodger arbeitete sich etwas weiter nach unten, näher zum Kutschbock, und sagte: »Der Besitzer der Kutsche vor uns wird wegen versuchten Mords, Überfalls und wegen Körperverletzung gesucht. Wahrscheinlich hat er auch eine junge Frau entführt und ist schuld daran, dass sie ihr Kind verlor.«

Wasser strömte in allen Richtungen vom Kutscher, und er knurrte: »Zum Teufel auch!«

»Zum Teufel, da bin ich ganz Ihrer Ansicht«, erwiderte Dodger. »Und wenn ich den Kerl in die Finger kriege, bevor die Peeler ihn erwischen, wird er den Teufel kennenlernen, das steht fest, und übrigens ist bei dieser Sache eine dicke Belohnung für Sie drin.«

Der Kutscher versuchte, das Pferd zu bändigen, während ringsum Blitze zuckten, und warf Dodger einen Blick zu, in dem Zorn, Faszination und ungläubiges Staunen lagen. »Ach, Mister Unbekannt hat von dir also mehr zu befürchten als von den Peelern, wie? Die Burschen haben verdammt große Schlagstöcke, wie ich sehr gut weiß!« Er öffnete einen Mund, in dem offenbar nur noch ein einzelner Zahn steckte, und fügte hinzu: »Du spürst es, wenn sie etwas deutlich machen wollen, die Mistkerle!« Er spuckte und fügte dem Unwetter damit die Menge von etwa drei Regentropfen hinzu. Dann schenkte er Dodger einen mitleidigen Blick und ein weiteres fast zahnloses Grinsen. »Wie willst du schlimmer sein als die Peeler, du kleiner Bengel? Na, sag’s mir!«

»Ich? Die Peeler haben Regeln, aber ich lasse mich von Regeln nicht aufhalten. Und im Gegensatz zu den Peelern muss ich beim Schlagen nicht aufhören.«

Die Kutsche blieb stehen, was dem Kutscher Anlass gab, noch etwas heftiger zu fluchen. »Piccadilly Circus, Meister, wegen des Regens völlig verstopft. Um ganz ehrlich zu sein, ich hab nicht die geringste Ahnung, welche der Kutschen vor uns diejenige ist, hinter der du her bist, Chef, denn die Blödmänner kommen hier von allen Seiten. Ich schätze, es liegt an den verdammten Vierspännern. Sollten in der Stadt nicht erlaubt sein, Kutschen mit vier Pferden! Und die Leute latschen über die Straße, als ob sie ihnen gehört. Haben die denn keinen Verstand im Kopf?«

Das stimmte. Fußgänger eilten zwischen den stehenden Kutschen hin und her, und Piccadilly Circus war ein Muster aus Regenschirmen zwischen den sich gegenseitig blockierenden Kutschen. Die Pferde waren inzwischen der Panik nahe, und von den Seiten näherten sich weitere Kutschen und auch einige Karren und Brauereiwagen. Dann musste irgendwo in dem nassen heillosen Durcheinander aus gereizten Pferden und verwirrten Fußgängern jemand die Spitze seines Regenschirms in die Nase eines Pferds gestoßen haben, denn plötzlich entstand ein Zustand, der die Bezeichnung Chaos nicht verdiente, denn Chaos war ein viel zu harmloses Wort dafür. Tohuwabohu eignete sich vielleicht besser als Beschreibung der Lage. Der Kutscher kannte einen noch besseren Ausdruck dafür, der hier jedoch nicht wiedergegeben werden kann, weil er das Papier in Brand setzen würde.

Als sich die Umstände wieder beruhigten, sagte der Kutscher: »Wenn sie die Leute da rausholen wollen, müssen sie ein paar Kutschen wegziehen und den ganzen verdammten Rest zerlegen.« Im Anschluss an diese Worte kam die Sonne heraus und schien an einem Stück blauem Himmel, was alles noch schlimmer machte, denn daraufhin dampften plötzlich alle Menschen und Pferde, die bisher noch nicht gedampft hatten.

Dodger musste einsehen, wie aussichtslos es geworden war, die Kutsche mit dem quietschenden Rad zu finden. Solomon spähte aus dem Kutschenfenster, zeigte ihm seine große Taschenuhr und machte ihm damit klar, wie sehr die Zeit drängte. Dodger stöhnte innerlich. Wenn er jetzt nachgab und wenn dieses brodelnde Fiasko schließlich beseitigt war – was hoffentlich geschah, bevor weitere Kämpfe ausbrachen –, so bekam er vielleicht, nur vielleicht noch einmal Gelegenheit, das schreiende Rad irgendwo zu hören. Falls er vom Schlauen Bob nicht erfahren konnte, was er erfahren wollte. Doch derzeit schien es vor allem Solomon zu sein, dem nach Schreien zumute war.

Dodger sah den Kutscher an, hob die Schultern und sagte: »Wie viel, Mister?«

Überraschenderweise schenkte ihm der Mann ein schlitzohriges Grinsen und gestikulierte auf eine Weise, die andeutete, dass er den Fortschritt von Pferden gezogener Transportmittel in diesem Teil der Stadt für einen großen Haufen Bockmist hielt. »Bist du wirklich der Geezer, der Sweeney Todd überwältigt hat?«, fragte er dann. »Für mich siehst du wie ein Lügner aus, aber das gilt auch für alle anderen. Na ja, wie wär’s, wenn du deinen Namen auf diese Seite hier schreibst und hinzufügst, dass du den teuflischen Friseur erledigt hast? Dann sind wir quitt, einverstanden? Ich schätze nämlich, die Seite mit deinem Namen drauf könnte eines Tages viel wert sein.«

Hier ist wieder Charlies Nebel am Werk, dachte Dodger. Wenn die Wahrheit nicht so beschaffen war, wie man sie wollte, so verwandelte man sie einfach in eine andere Version der Wahrheit. Doch der Mann wartete geduldig mit Bleistift und Notizbuch. Dodger nahm beides entgegen und geriet ins Schwitzen, als er ganz langsam schrieb, Buchstabe für Buchstabe: Ich bins gewehsen der Swienieh Tott überwälltikt hat, Dodscher, und das is die Wahrhait.

Kaum hatte er Notizbuch und Stift dem Kutscher zurückgegeben, wurde er von Solomon zum Straßenrand gezogen. Der alte Mann versuchte verzweifelt, einen Regenschirm zu öffnen, ein heimtückisches schwarzes Ding, das Dodger an einen seit Langem toten, aber trotzdem sehr großen Raubvogel erinnerte, der einem das Auge auspicken konnte, wenn man nicht aufpasste. Dodger wies darauf hin, dass der Schirm derzeit nicht nötig war, höchstens als Schutz vor den Pferden, die taten, was Pferde regelmäßig tun, diesmal nur etwas mehr, weil sie noch immer in Panik waren.

Sie machten sich zu Fuß auf den Weg in die Savile Row. In den Nebenstraßen waren mehr Fußgänger unterwegs als sonst, was an dem Kutschenknäuel lag, das sie dankenswerterweise hinter sich gelassen hatten. Sie erreichten ihr Ziel feucht und warm, was manchmal schlimmer war als feucht und kalt, wenn es wie in diesem Fall auch Klebriges von Pferden enthielt: die saubere, glänzende Tür von Davies & Son, Savile Row Nummer 38. Onan ließen sie an einem Laternenpfahl zurück, diesmal mit einem eigens für diesen Zweck gekauften Knochen, der dafür sorgte, dass er dem Rest der Welt keine Beachtung schenkte.

Drinnen versuchte Dodger, der Menge feiner Kleidung gegenüber nicht allzu ehrfürchtig zu sein. Er wusste natürlich, dass es weitaus bessere Klamotten gab, als er jemals getragen hatte, doch es überwältigte ihn, so viele davon auf engstem Raum zu sehen. Er tat so, als wäre das alles für ihn ein gewohnter Anblick, befürchtete allerdings, dass der inzwischen zwar wieder saubere, aber noch immer überaus geruchsintensive Gebrauchtanzug einen Hinweis auf die Wahrheit gab. Und wenn schon. Im Grunde genommen ist ein Schneider ein Schneider, und der Rest ist nur Schein.

Schließlich gelangten sie in die Obhut von Izzy, der klein und dürr war, aber erfüllt von einer lauernden Kraft, die unter anderen Umständen eine Mühle angetrieben hätte. Er erschien wie ein Pfeil zwischen Dodger, Solomon und dem Mann, der die Tür geöffnet hatte, und sprach so schnell, dass Dodger nur verstand: Izzy würde sich um alles kümmern, hatte alles, und alles war in bester Ordnung, wenn man alles Izzy überließ, der immer und überall dafür sorgte, dass alles äußerst zufriedenstellend war, zu einem Preis, den sämtliche Beteiligten als durchaus annehmbar empfinden würden, vorausgesetzt natürlich, und diesem Punkt kam besondere Bedeutung zu, dass man Izzy seine Arbeit verrichten ließ. Er drängte Solomon und Dodger in einen der Umkleideräume, plapperte die ganze Zeit über und entschuldigte sich immer wieder wegen irgendwelcher Anlässe, die überhaupt keiner Entschuldigung bedurften.

Ein Maßband erschien an Dodgers Schultern, nachdem sanfte, aber doch nachdrückliche Hände ihn in die Mitte des Raums bugsiert hatten, wo Izzy ihn mit dem Blick eines Schlachters musterte, der einem besonders schwierigen Mastochsen entgegentritt. Der kleine Mann eilte um ihn herum und nahm mit der Ein-Satz-nach-vorn-und-dann-ein-Sprung-zurück-Methode Maß. Während dieses Tanzes waren die einzigen Worte, die er an Dodger richtete, Variationen von »Wenn Sie sich bitte hierher drehen würden, Sir«, und Sir hier und Sir da, bis Dodger dringend einer Erfrischung bedurfte. Es war auch nicht besonders hilfreich, als der hin und her huschende Izzy seinen Tanz schließlich unterbrach, den Mund in die Nähe von Dodgers linkem Ohr brachte und im Tonfall eines Mannes fragte, der sich nach dem Heiligen Gral erkundigt: »Wie kleidet sich der Herr?«

Die Frage stellte Dodger vor ein Problem, denn er hatte nie groß darüber nachgedacht, auf welche Weise er sich anzog. Er machte es einfach, und das war’s. Doch der kleine Schneider stand vor ihm, als erwarte er einen Hinweis auf das Versteck eines großen Schatzes. Deshalb überlegte Dodger und sagte: »Nun, gewöhnlich ziehe ich zuerst die Unterhose vom letzten Tag an, wenn sie nicht zu schmutzig ist, und dann kommen die Strümpfe … Nein. Halt, stimmt ja gar nicht! An den meisten Tagen streife ich erst das Unterhemd über und dann die Socken.« In diesem Moment durchquerte Solomon den Raum, und zwar mit der Geschwindigkeit eines Gottes, der den Gottlosen eine Lektion erteilen will. Aber er begnügte sich damit, Dodger etwas ins Ohr zu flüstern, was diesen zu der empörten Bemerkung veranlasste: »Woher zum Teufel sollte ich das wissen? Ich hab nie nachgesehen! Manches findet seinen Platz von allein, oder? Wie kann man einen Mann so etwas überhaupt fragen?«

Solomon lachte laut, und dann steckten er und Izzy, der offenbar niemals zur Ruhe kam und sich dauernd bewegte, die Köpfe zusammen. Sie führten ein leises Gespräch, wobei sie auf die Sprachen von ganze Europa und auch des Nahen Ostens zurückgriffen, bis Solomon schließlich abermals lachte und sagte: »Deine Glückssträhne dauert an, Dodger. Izzy meint, dass er uns ein wundervolles Geschäft anbieten kann. Offenbar hat ein anderer Schneider den Auftrag erhalten, an einem Gehrock und einem sehr eleganten marineblauen Hemd zu arbeiten, aber bedauerlicherweise unterlief einem von Izzys Mitarbeitern beim Messen ein dummer Fehler, der dazu führte, dass die Sachen dem Herrn, für den sie bestimmt waren, nicht mehr passen. Deshalb möchte dir mein Freund Izzy« – Solomons Blick ruhte die ganze Zeit über auf dem kleinen Schneider – »einen kleinen Vorschlag unterbreiten.«

Izzy sah erst Solomon an, wandte sich dann an Dodger und sagte wie jemand, der dem Löwen, der ihn zu fressen droht, einen Knochen zuwirft: »Ich könnte Ihnen einen sehr guten Preis für beide Kleidungsstücke anbieten, die glücklicherweise nur wenige Nadelstiche von Ihren Maßen trennen, junger Mann. Wie wäre es mit einem Rabatt von … fünfzig Prozent?«

Das kurze Zögern wies darauf hin, dass Izzy nicht ganz sicher war, und erschwerend kam für ihn hinzu, dass er Solomons ausdruckslosem Gesicht nichts zu entnehmen vermochte.

Das Feilschen hatte gerade erst begonnen, und Izzy behielt Solomon im Auge, als er klugerweise hinzufügte: »Ich bitte um Verzeihung, es sollten natürlich fünfundsiebzig Prozent sein … Entschuldigung, ich meine achtzig. Außerdem gebe ich zwei sehr elegante Unterhosen hinzu, ja?«

Solomon lächelte, und der Schneider wirkte wie ein Mann, der nicht nur wenige Meter vor dem Galgen begnadigt wurde, sondern obendrein eine gut gefüllte Geldbörse für das Missverständnis bekommen hat. Zwanzig Minuten später geleitete ein dankbarer Izzy Solomon und den Helden der Fleet Street nach draußen. Dodger trug das Paket mit seinen neuen feinen Klamotten, Solomon die Tasche mit den Unterhosen, und Izzy besaß nun einen Teil des Gelds, das für den Helden gesammelt worden war. Das Management hatte freundlicherweise den Regenschirm trocknen und bürsten lassen, und außerdem wartete eine Kutsche auf sie.

Nun, eigentlich wartete sie nicht, sondern rollte über die Straße, bis Solomon ihr in den Weg trat und den Finger Gottes hob. Das Pferd wurde langsamer, noch bevor der Kutscher die Zügel ziehen konnte, denn Pferde erkannten drohendes Unheil auf Anhieb. Dodger setzte Onan mitsamt seinem Knochen in die Kutsche, bevor der Kutscher protestieren konnte – Onan neigte dazu, an den Orten, wo er sich aufgehalten hatte, eine gewisse Onanhaftigkeit zu hinterlassen.

Als sie eingestiegen waren, sagte Solomon zu dem Mann auf dem Kutschbock: »Lock und Co in der Saint James Street, wenn ich bitten darf.« Dem erstaunten Dodger erklärte er: »Dort gibt es mit ziemlicher Sicherheit einen Hut für dich, mein Junge. Jeder, der jemand ist oder zumindest von anderen für jemanden gehalten wird, kauft dort seine Hüte.«

»Aber ich habe den Hut von Jacob!«

»Das gebrauchte Gebrauchtding? Es sieht aus wie ein Gegenstand, den jemand als Ziehharmonika verwendet und dann einem Clown gegeben hat. Du brauchst den Hut eines Gentlemans.«

»Aber ich bin kein Gentleman«, protestierte Dodger.

»Mit einem eleganten Hut für besondere Gelegenheiten bist du viel näher dran, einer zu werden.«

Und Dodger musste zugeben, dass der Gebrauchthut … nun, gebraucht war. Üblicherweise konnte ein Tosher mit Hüten nicht viel anfangen; viel zu leicht stieß er damit gegen eine Wand oder eine Decke und verlor sie vom Kopf. Oft trug er eine dicke Ledermütze, die verhinderte, dass er sich den Schädel zertrümmerte, wenn er in einem niedrigen Abwasserkanal zu schnell aufstand, und die sich leicht reinigen ließ.

Jeder trug einen Hut oder eine Mütze, aber die Hüte in dem Geschäft, das sie nun betraten, waren außergewöhnlich und manche von ihnen von enormen Ausmaßen. Natürlich deutete Dodger auf den größten, der aussah wie ein Ofenrohr und ihn mit einer Sirenenstimme rief, die nur er hören konnte. Ich glaube, der dort könnte mir gut stehen.

Als er sich im Spiegel betrachtete, dachte er: O ja, ein toller Typ. Um nicht zu sagen: Ein dufter Bursche, der zuvor vor allem Duft gewesen war, denn den wurde ein Tosher nicht los, sosehr man sich auch wusch und schrubbte – der Geruch klebte fest.

Wirklich, mit diesem tollen Hut würde er toll aussehen! Er stellte sich vor, wie beeindruckt Simplicity wäre, wenn er sich ihr damit präsentierte, und in dem neuen Anzug obendrein. Solomon hingegen betrachtete die Sache ein wenig anders, denn er hielt den Preis von 1 £ und 18 Shilling für maßlos übertrieben. Doch Dodger beharrte darauf. Zugegeben, es war eine Menge Geld für eine Kopfbedeckung, die er eigentlich gar nicht brauchte, aber hier ging es ums Prinzip. Er wusste nicht genau, um welches Prinzip, aber es war ein Prinzip, und das genügte. Außerdem hatte Solomon neulich bei der Arbeit an einer seiner kleinen Maschinen gesagt: »Dieses Ding braucht Öl.« Und, fuhr Dodger gnadenlos fort, am Tag vorher hatte der alte Mann darauf hingewiesen, dass dieses kleine Zahnrad Öl wollte.

»Also laufen Wollen und Brauchen aufs Gleiche hinaus«, erklärte Dodger.

Solomon zählte die Münzen sehr langsam und still und erwiderte dann: »Bist du sicher, dass du nicht als Jude geboren bist?«

»Ja, ich bin sicher«, sagte Dodger. »Ich habe nachgesehen. Aber danke für das Kompliment.«

Bevor sie nach Hause zurückkehrten, besuchten sie noch einen Friseur – einen ganz gewöhnlichen und vernünftigen Friseur, bei dem es keine Extras wie durchgeschnittene Kehlen gab. Allerdings geriet der gute Mann ein wenig durcheinander, als Solomon ihm mitteilte: »Es mag Sie beeindrucken, Sir, dass der junge Mann, den Sie gerade rasieren, jener Held ist, der den Taten des ruchlosen Mister Sweeney Todd ein Ende bereitete.«

Dieser Hinweis verursachte bei dem Friseur einen Panikanfall. Zwar dauerte er nur eine Sekunde lang oder weniger, aber so etwas ist nicht ratsam, wenn das scharfe Rasiermesser die Kehle eines Mannes berührt, und das Ergebnis war ein weiteres Tohuwabohu in der Nähe von Dodgers Hals. Der Schnitt war nicht groß, und das daraus hervorquellende Blut stand in keinem Verhältnis dazu. Es bewirkte hektische Aktivität mit Handtüchern und Alaun für die Wunde. Zweifellos würde eine Narbe zurückbleiben, was als Bonus gelten konnte, soweit es Dodger betraf – das Gesicht des Helden der Fleet Street würde ein Mal zeigen, das auf die Ruhmestat hinwies.

Als besagtes Gesicht sauber rasiert sowie das Haar gestutzt war und Solomon mit raschen Verhandlungen – geführt mit freundlicher, aber durchaus fester Stimme – Gratishaarschnitte für sechs Monate vereinbart hatte, ließen sie sich von einer weiteren Kutsche nach Hause bringen. Dort blieb ihnen gerade noch genug Zeit, sich zu waschen, anzuziehen und herauszuputzen.

Während sich Dodger mit einem Schwamm wusch – wobei er auch alle Spalten und Furchen berücksichtigte, denn immerhin war dies eine besondere Gelegenheit –, dachte ein Teil von ihm: Was müsste ich anstellen, um jemanden sterben und wieder auferstehen zu lassen? Auch ohne mich vorher in Gott zu verwandeln, meine ich.

Aus irgendeinem Grund erinnerte sich der Dodger in seinem Hinterkopf an die Würfelspielmänner und an den Mann mit der Erbse, die man nie, nie fand. Und über diesen Erinnerungen erklang Charlies Stimme und wies darauf hin, dass die Wahrheit ein Nebel war, in dem die Menschen sahen, was sie sehen wollten, und er gewann den Eindruck, dass sich um diese kleinen Bilder herum ein Plan entwickelte. Er achtete darauf, ihn nicht zu stören, aber in seinem Kopf war eindeutig etwas in Bewegung geraten, und er musste warten, bis es irgendwo Klick machte.

Wie versprochen passte die neue Kleidung maßgerecht, und Dodger bedauerte, dass er seine neue Pracht nur in einer kleinen Spiegelscherbe betrachten konnte. Dann schob er den Vorhang beiseite, um Solomon nach seiner Meinung zu fragen, und entdeckte einen Solomon in seiner ganzen Herrlichkeit.

Ein Mann, der sonst in bestickten Pantoffeln oder alten Stiefeln herumlief und einen abgewetzten schwarzen Gabardinemantel trug, hatte sich plötzlich in einen zwar altmodischen, aber doch sehr schicken Gentleman verwandelt, der eine feine schwarze Wolljacke, eine dunkelblaue Hose, lange dunkelblaue Strümpfe und alte, aber sehr gepflegte Schuhe mit funkelnden silbernen Schnallen trug. Am meisten beeindruckte Dodger das große dunkelblaue und goldene Medaillon an Solomons Hals. Er wusste, was die Symbole auf dem Medaillon bedeuteten, doch er hatte sie noch nie mit dem alten Mann in Verbindung gebracht. Sie waren das Siegel und das Auge in der Pyramide der Freimaurer. Solomon hatte auch seinen Bart gewaschen und in Form gebracht, und alles zusammen wirkte überaus eindrucksvoll.

Dodger wies mit einigen Worten darauf hin, und Solomon lächelte und sagte: »Mmm, eines Tages, mein Junge, nenne ich dir den Namen der Persönlichkeit, die so freundlich war, mir dies zu überreichen. Und darf ich dir mitteilen, dass du nach dem Waschen wie immer sehr gut aussiehst? Man könnte dich beinahe für einen echten Gentleman halten.«

Sehr vorsichtig gaben sie Onan sein Abendessen, und mit ähnlicher Vorsicht brachten sie ihn nach draußen, damit er dort erledigen konnte, was erledigt werden musste. Mit einem weiteren Knochen ließen sie ihn im Hundehimmel zurück und stiegen, gerade als der Abendnebel aufkam, in eine Kutsche, die sie nach Stratton Street Nummer eins, Mayfair, brachte.

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