15 In den Händen der Lady


Die Uhr tickte noch immer, und diesmal bedeutete ihr Ticken, dass es nicht mehr lange dauerte, bis es sieben wurde. Dodger überprüfte seine Vorbereitungen ein weiteres Mal und verließ die Kanalisation ein Stück entfernt, damit man ihn sah, wie er fröhlich zum Pub The Lion schlenderte.

Es überraschte ihn nicht, dort bereits Mister Bazalgette anzutreffen – er saß draußen auf einer Bank, gekleidet auf eine Art, die für eine Reise durch die Welt unter der Stadt geeignet erschien. Der junge Mann sah aus wie ein Kind, das auf den Beginn des Kasperletheaters wartete, und war mit verschiedenen Instrumenten und einem sehr großen Notizbuch ausgestattet. Darüber hinaus hatte er daran gedacht, eine eigene Laterne mitzubringen, obwohl Dodger bereits drei Laternen geliehen hatte, wofür es notwendig gewesen war, den einen oder anderen Gefallen einzufordern. Aber dazu waren Gefallen schließlich da.

Der junge Ingenieur trank ein Pint Ingwerbier und begann sofort ein Gespräch mit Dodger, bei dem es um das Wesen der Kanalisation ging, in Bezug auf die Menge des Wassers, die Dodger darin gesehen hatte, die Verbreitung von Ratten, die Gefahren des Aufenthalts und andere bedeutsame Einzelheiten für einen so begeisterten Gentleman wie Bazalgette.

»Freuen Sie sich darauf, Ihrer Lady zu begegnen, Mister Dodger?«, fragte er.

Dodger dachte: Ja, ihnen beiden. Aber er lächelte und sagte: »Ich habe sie nicht gesehen, kein einziges Mal. Aber manchmal, wissen Sie, wenn ich dort unten ganz allein bin, dann habe ich so ein Gefühl, als sei gerade jemand vorbeigegangen, und es gibt eine Veränderung in der Luft, und wenn ich dann den Blick senke, sehe ich die Ratten ganz schnell an mir vorbeilaufen, alle in dieselbe Richtung. Bei anderen Gelegenheiten sehe ich nichts weiter als ein altes Mauerstück, aber etwas scheint mir zu sagen, dass es sich vielleicht lohnt, hinter die zerbröckelnden Backsteine zu tasten. Also werfe ich einen Blick dorthin, und was finde ich? Einen Goldring mit zwei Diamanten! So ist es mir einmal passiert.« Er fügte hinzu: »Einige Tosher behaupten, die Lady gesehen zu haben, aber das soll passieren, wenn man stirbt, und ich habe noch nicht vor zu sterben. Allerdings, Sir, hätte ich nichts dagegen, sie jetzt zu sehen, wenn sie mir den Weg zu einem Tosheroon weist.«

Es folgte ein Gespräch über die legendären Tosheroone und wie sie entstanden. Zum Glück kam zu diesem Zeitpunkt eine Kutsche, die Charlie und Mister Disraeli absetzte, der ein wenig beunruhigt wirkte, wie viele vernünftige Bürger in der Nähe von Seven Dials. Charlie setzte ihn auf eine Bank, verschwand im Pub und kehrte kurze Zeit später mit einem Mann zurück, der ein Tablett mit zwei Pints trug, und Mister Bazalgette rieb sich die Hände und fragte: »Nun, meine Herren, wann brechen wir auf?«

»Sehr bald, Sir«, erwiderte Dodger. »Aber es gibt eine kleine Planänderung. Miss Burdett-Coutts möchte, dass uns einer ihrer Bediensteten begleitet, damit er Erfahrungen sammelt und sich verbessern kann.« Er fügte munter hinzu: »Vielleicht wird er eines Tages zu einem Ingenieur wie Sie, Sir.«

Dodger unterbrach sich, denn eine weitere Kutsche traf ein, mit zwei sehr kräftig gebauten Männern auf dem Kutschbock. Die Tür schwang auf, und es stieg der gerade erwähnte junge Mann aus, der an manchen Stellen etwas rundlicher erschien als andere junge Männer, und am Kiefer – ja, dachte Dodger – Rasierspuren aufwies. Simplicity und vielleicht auch Angela nahmen diese Sache sehr ernst; alle anderen zeigten sich gelassen.

Es war keine schlechte Verkleidung, und angesichts der vielen Essensreste neigten nicht wenige Bedienstete zu einer gewissen Molligkeit, aber wer Simplicity in einem Kleid gesehen hatte, wusste sofort, dass sie es sein musste. In Dodgers Augen hätte sie in dieser Aufmachung auch dann noch gut ausgesehen, wenn sie einen Bart getragen hätte. Aber in einem Punkt konnte er ihr nicht recht geben: Ihre Beine waren keineswegs dick! Nein, für Dodger waren es wundervoll geformte Beine, und er musste sich zwingen, den Blick von ihnen abzuwenden und sich ganz der bevorstehenden Aufgabe zu widmen.

Er wusste nicht, was Joseph Bazalgette dachte, aber vermutlich befand er sich im Geist schon in der Kanalisation, und bei der Dinnerparty hatte er von Simplicity ohnehin nicht viel gesehen. Und weil Angela zugegen war, sahen Charlie und Disraeli das, was sie sehen sollten. Es ist, so dachte Dodger, eine Art politischer Nebel.

Miss Coutts beugte sich aus dem Kutschenfenster und sagte: »Ich hole meinen jungen Bediensteten in anderthalb Stunden ab, meine Herren. Bitte geben Sie gut auf ihn acht, denn ich möchte seiner armen Mutter nicht mitteilen müssen, dass ihm etwas zugestoßen ist. Roger ist ein guter Junge und ziemlich scheu; er spricht nicht viel.« Bedeutungsvoll fügte sie hinzu: »Wenn er vernünftig ist.«

Das Fenster der Kutsche schloss sich wieder, und dann war Miss Angela verschwunden. »Nun, meine Herren«, sagte Charlie, »lassen sie uns gehen! Unser Schicksal liegt in deinen Händen, Dodger.«

In den schmutzigen Vierteln mussten alle Pläne besonders gründlich durchdacht sein, wusste Dodger. Deshalb warf er, kurz bevor sie aufbrachen, einige Viertelpennys auf den Boden, damit die Gassenkinder Besseres zu tun hatten, als ihnen zu folgen – die Möglichkeit, plötzlichen Reichtum zu ergattern, lenkte sie ab.

Dodger ging mit ausgreifenden Schritten, verlängerte den Weg durch einige schmale Gassen und kehrte in die Richtung zurück, aus der sie kamen, bis sie schließlich den zuvor ausgesuchten Gully erreichten, wo er seinen Begleitern in die Unterwelt von London verhalf, zuerst dem jungen Bediensteten, den Miss Burdett-Coutts ihnen geschickt hatte.

Als alle versammelt waren und auf die bröckeligen Ziegel und seltsamen Gewächse an den Wänden starrten, hob Dodger den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete seinen Begleitern, leise zu sein. Dann legte er einige Schritte zurück und stieß seinen aus zwei Tönen bestehenden Pfiff aus, der weit durch den Tunnel hallte. Er wartete, bekam jedoch keine Antwort. Er rechnete an diesem Tag nicht mit anderen Toshern, aber wenn Kollegen unterwegs gewesen wären, hätten sie geantwortet, denn es war ganz allgemein vernünftig zu wissen, ob andere in der Nähe arbeiteten.

»Und nun, meine Herren …«, sagte er flott. »Willkommen in meiner Welt! Wie Sie sehen, erscheint sie in diesem Licht manchmal geradezu golden. Es ist erstaunlich, wie der Sonnenschein seinen Weg hierher findet, nicht wahr? Was halten Sie davon, Mister Disraeli?«

Disraeli, der sich mit sehr passenden und nützlichen Stiefeln ausgestattet hatte, wie Dodger zu seinem Bedauern feststellte, rümpfte die Nase und sagte: »Den Geruch kann ich nicht unbedingt empfehlen, aber es ist nicht ganz so schlimm, wie ich dachte.« Das stimmte vermutlich, denn während der vergangenen Stunden hatte sich Dodger bemüht, diesen speziellen Abwasserkanal so gründlich sauber zu machen, wie er nie zuvor gewesen war. Nicht ohne Grund. Schließlich würde Simplicity darin entlanggehen.

»Früher war es besser, als die Leute noch keine Löcher von ihren Häusern aus gebohrt haben«, erklärte er fröhlich. »Achten Sie gut auf Ihre Schritte! Und eins ist wichtig: Wenn ich Sie bitte, etwas zu tun – tun Sie es sofort und ohne Fragen zu stellen!« Auf die letzten Worte war er stolz, denn sie fügten dem Unternehmen jene geheimnisvolle Dramatik hinzu, die er für angemessen hielt. Er ließ seine Begleiter eine Zeit lang weitergehen und sagte dann im schleimigen Ton eines Würfelspielers: »Hier haben wir eine bemerkenswerte Stelle, die manchmal recht freundlich zu Toshern ist.« Er wich zurück. »Mister Disraeli, sind Sie bereit, Ihr Glück als Tosher zu versuchen? Wie ich sehe, haben Sie den Blick auf ein Gebilde dort drüben bei dem Rinnsal gerichtet, das man großzügigerweise Sandbank nennen könnte. Eine gute Wahl, Sir, wenn ich das sagen darf, und ich möchte Ihnen nun diesen Stock reichen, damit Sie Ihr Glück versuchen.«

Die Gruppe trat vor, als Disraeli mit dem starren Lächeln eines Mannes, der kein Spielverderber sein will, aber sich lächerlich zu machen fürchtet, den Stock entgegennahm und sich vorsichtig der Ansammlung von Unrat näherte. Er ging in die Hocke und stocherte ein wenig herum, bis Dodger ihm zwei kleine Handschuhe reichte und sagte: »Versuchen Sie es damit, Sir. In bestimmten Fällen sehr nützlich.« Er glaubte, Disraeli lachen zu hören – der Mann schien durchaus Schneid zu haben. Er streifte die Handschuhe über, rollte die Ärmel hoch, fuhr mit einer Hand in die Ansammlung von Abfällen … und wurde von einem Klimpern belohnt.

»Hallo!«, rief Dodger. »Liegt hier etwa ein Fall von Anfängerglück vor? Dies scheint ein Geräusch von Münzen zu sein, ohne Frage. Lassen Sie sehen, was Sie gefunden haben!«

Die anderen kamen noch näher, als Disraeli fast benommen eine halbe Krone hochhob, so glänzend und sauber wie am Tag ihrer Prägung.

»Donnerwetter, Sir, Sie haben das Glück eines Toshers, kein Zweifel! Ich sollte Sie besser nicht noch einmal hierher mitnehmen, wie? An Ihrer Stelle würde ich es noch einmal versuchen, denn wo man eine Münze findet, liegt oft eine weitere. Immerhin sind für ein Klimpern zwei nötig, nicht wahr? Es hängt alles mit dem strömenden Wasser zusammen; man weiß nie genau, wo die Münzfunde enden.« Sie beugten sich vor, als Disraeli mit wesentlich mehr Enthusiasmus als zuvor im Unrat wühlte. Das Klimpern wiederholte sich, und er hob einen diamantenbesetzten Goldring hoch. »Meine Güte, Sir!« Dodger griff nach dem Ring, aber Disraeli zog die Hand zurück. Dann erkannte er seine Reaktion als schlechte Manieren und gestattete es Dodger, den Ring an sich zu nehmen. »Nun, Sir, er besteht aus Gold, so viel ist klar. Aber es sind keine echten Diamanten, nur solche aus Glas. Wirklich erstaunlich, Sir, das erste Mal beim Toshen, und schon haben Sie mehr verdient als ein Arbeiter an einem ganzen Tag.« Dodger richtete sich auf und sagte: »Ich glaube, wegen des Lichts sollten wir den Weg fortsetzen. Aber vielleicht möchte unser junger Mann hier den nächsten Versuch unternehmen. Wie wär’s, Master Roger? Sie könnten wie Mister Disraeli einen ganzen Tageslohn verdienen.«

Ein breites Lächeln belohnte Dodger, und Disraeli lächelte ebenfalls und sagte: »Ich habe nur Glück gehabt, oder?«

»Ja, Sir«, sagte Dodger. »Aber derzeit sind kaum Ratten unterwegs, und es ist nicht besonders nass. Ich meine, Sie erleben die Kanalisation von ihrer besten Seite.«

Bazalgette und Disraeli begannen mit einem Gespräch über die Konstruktion von Abwasseranlagen, wobei Ersterer gelegentlich ans Mauerwerk klopfte und Letzterer keine konkrete Meinung zu äußern versuchte, wie zum Beispiel die, dass man Geld für eine bessere Kanalisation ausgeben sollte. Charlie folgte ihnen, ein aufmerksamer Beobachter, der alles sah, alles zur Kenntnis nahm. Sein scharfer Blick schien überall gleichzeitig zu sein.

Sie wanderten durch den Abflusskanal und bückten sich dort, wo die Decke abgesunken war. Dodger deutete auf zwei gebrochene Backsteine und sagte: »Dies ist eine Stelle, wo vielleicht die eine oder andere Münze hängen bleibt. Man könnte es mit einem kleinen Damm vergleichen, sehen Sie? Das Wasser strömt vorbei, und schwere Gegenstände sitzen in der Falle. Diesmal sind Sie dran, Master Rogers. Ich habe ein weiteres Paar Handschuhe mitgebracht.« Mit einem Zwinkern reichte er sie dem Bediensteten von Miss Burdett-Coutts.

Voller Freude beobachtete er, wie Simplicity in die Hocke ging, die Steine begutachtete, ein wenig klopfte und plötzlich etwas fand. Sie rang nach Luft, ebenso wie Disraeli. »Ein weiterer goldener Ring?«, entfuhr es ihm. »Offenbar leben Sie hier unten auf großem Fuß, Mister Dodger. Herzlichen Glückwunsch, Miss Simplicity.«

Plötzlich war es still in der Kanalisation, abgesehen von einem gelegentlichen Tropfen. Schließlich räusperte sich Charlie und sagte: »Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie du diesen jungen Mann, so hübsch er auch sein mag, mit der betreffenden jungen Frau verwechseln kannst, Ben. Die Dämpfe hier unten müssen dir zu Kopf gestiegen sein, zusammen mit der Freude über deinen neuen Beruf.«

Disraeli hatte den Anstand zu erwidern: »Ja, in der Tat, du hast recht. Wie dumm von mir.« Joseph Bazalgette lächelte nur verwirrt wie ein Mann, der merkt, dass jemand einen Witz gerissen hat, den er nicht versteht. Er wandte sich wieder der Tunnelwand zu und setzte seine Untersuchungen fort.

Es war Charlie, der Dodger Sorgen bereitete, Charlie, der im Hintergrund blieb und beobachtete, der sich eben vorgebeugt und vielleicht die Gravur des Rings gesehen hatte, und sicher war ihm nicht entgangen, dass Simplicity den Kopf gewandt und Dodger mit großen Augen angesehen hatte. Bei Charlie war man nie sicher, fand Dodger. Und seinem Blick konnte man nicht ausweichen. Er durchdrang einen und sah alles.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er rasch. »Lassen Sie mich vorausgehen! Toshen Sie, wie es Ihnen beliebt. Unterdessen zeige ich Mister Bazalgette einige besondere Stellen. Was Sie finden, gehört natürlich Ihnen. An Ihrer Stelle würde ich den Ring einstecken, Master Roger, aus Sicherheitsgründen.«

Er wusste, was als Nächstes geschehen würde. Es passierte jedem neuen Tosher: Wenn man die erste Münze gefunden hatte, packte einen das Fieber des Toshens. Hier lag Geld herum, man musste es nur finden. Simplicity und Disraeli richteten ihre Aufmerksamkeit bereits auf vielversprechende Löcher im Mauerwerk und den einen oder anderen Unrathaufen, hielten überall nach glänzenden Gegenständen Ausschau.

Mister Bazalgette hingegen ging ganz in seinen Untersuchungen und Messungen auf. »Diese Ziegelsteine taugen nichts«, sagte er und blieb an einer nahen Ecke stehen. »Sie zerbröckeln, wenn man sie anstößt. Man sollte sie ersetzen und mit Keramikfliesen verkleiden, um sie vor dem Wasser zu schützen.«

»Leider haben wir dafür nicht genug Geld«, sagte Disraeli und betrachtete ein Häufchen, das sich als die Hälfte einer toten Ratte erwies.

»Wer kein Geld hat, bekommt den Gestank«, sagte Bazalgette. »Ich habe den Fluss bei Ebbe gesehen – die ganze Welt schien ein Abführmittel genommen zu haben. Das kann nicht gesund sein, Sir.«

Sie gingen weiter, solange sie noch etwas Licht hatten, und die beiden Nachwuchstosher fanden einen Shilling und einen Viertelpenny, den Disraeli, das musste man ihm lassen, Simplicity überreichte und sich dabei verbeugte. Und Charlie sah zu, die Hände in den Taschen und ein sonderbares, berechnendes Lächeln auf den Lippen. Manchmal zog er sein verdammtes Notizbuch hervor und schrieb etwas auf. Bei anderen Gelegenheiten gratulierte er zu einem Fund, betrachtete die Abfallhaufen, die sich hier und dort angesammelt hatten, und warf nachdenkliche Blicke in kleinere Nebentunnel.

Das Licht schwand nun immer mehr. Was aber aufgrund der Laternen kein Problem darstellte. Dodger hatte für jeden eine mitgebracht, obwohl er auch so zurechtkam. Doch die Laternen erhellten nur einen kleinen Teil der Dunkelheit, und als Finsternis durch die Abwasserkanäle kroch, füllten sie sich mit eigenem Leben. Es war nicht ausgesprochen unheimlich, aber die kleinen, leisen Geräusche schienen ein wenig größer und lauter zu werden. Die Ratten, die sich sonst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, huschten nicht mehr ganz so schnell aus dem Weg, es schien häufiger Wasser von der Decke zu tropfen, und Schatten gerieten in Bewegung. Unter diesen Umständen konnten einem seltsame Gedanken durch den Kopf gehen, zum Beispiel dieser: Wenn man über einen der zerbröckelnden Backsteine stolperte oder dort, wo sich Abwasserkanäle trafen, die falsche Abzweigung nahm … Dann war man plötzlich weit, weit von dem Zustand entfernt, der sich Zivilisation nannte.

Dodger dachte: Simplicity soll nicht in Schwierigkeiten geraten. Er hatte die Route gut vorbereitet und markiert, an manchen Stellen mit einem etwas helleren Ziegelstein, an anderen mit Anhäufungen von Schlamm oder Müll. Er stellte fest, dass sie ihn aufmerksam beobachtete – dies war ganz und gar nicht der geeignete Zeitpunkt, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Noch einige Minuten, entschied er. Wenn die Sonne ganz verschwunden war … Dann wurde man zu einem echten Tosher.

»Das dort scheint mir ein aussichtsreicher Platz zu sein, Dodger«, sagte Charlie. »Ich erkenne etwas wie einen Eingang.«

Dodger eilte zu ihm zurück. »Geht nicht weiter in diese Richtung! Dort ist es wegen des ausgewaschenen Bodens sehr gefährlich. Alles sehr scheußlich, auch verstopft und blockiert. In der Kanalisation gibt es viele derartige Stellen, werden einfach nicht gründlich genug gereinigt. Da wirklich nur noch wenig Licht bleibt … Können wir uns darauf einigen, dass Mister Disraeli natürlich ein Gentleman ist, aber auch ein Tosher? Hurra!«

Simplicity – beziehungsweise Master Roger – lachte ebenso wie Bazalgette. Charlie klatschte in die Hände, und als er damit aufhörte, war ein anderes Geräusch zu hören, ein Kratzen, das Dodger sofort zu deuten wusste: Es stammte von einer Brechstange, die irgendwo vor ihnen einen Gullydeckel aushebelte.

»Was war das, Dodger?«, fragte Charlie.

Dodger hob die Schultern. »Könnte alles sein«, erwiderte er. »Ein Trick der Kanalisation sozusagen. Die Sonne ist untergegangen, Dinge dehnen sich aus und ziehen sich zusammen, wie es heißt, und dadurch entstehen die seltsamsten Geräusche. Es ist eigentlich ein ziemlich warmer Tag gewesen, und manchmal könnte man hier unten glauben, dass jemand in der Nähe ist, halb in den Schatten verborgen, und wenn wir uns jetzt einfach umwenden … Es ist nicht sehr weit bis zu dem Einstieg, durch den wir in die Kanalisation herabgeklettert sind. Ziemlich tief sind wir nicht eingedrungen, um ganz ehrlich zu sein.«

Mister Bazalgette winkte mit seiner Laterne. »Ich brauche noch etwas mehr Zeit, wenn Sie gestatten.« Dodger besänftigte ihn schließlich mit dem Versprechen, am kommenden Tag eine weitere Erkundungstour mit ihm zu unternehmen, vielleicht auch in der Gesellschaft von Mister Henry Mayhew, der leider nicht imstande gewesen war, sich diesem Ausflug anzuschließen.

Nach diesen Worten schickte Dodger erneut den Tosherpfiff in die Tunnel … Selbst die Rattenfänger waren vernünftig genug und riefen, wenn sie einen Tosher hörten, was allen Beteiligten Verlegenheit ersparte. Nun, dachte er, es ist ein wirklich guter Plan, und ob, aber ich kann ihn nicht durchführen, wenn sich hier unten noch jemand herumtreibt. Er stöhnte innerlich. Nun ja, vielleicht ließ er sich für den kommenden Tag etwas Neues einfallen.

Nach dem Kratzen hörte er keine anderen Geräusche mehr, abgesehen von denen, die er selbst und seine Begleiter verursachten, und das bedeutete: Jemand achtete darauf, sehr leise zu sein. Deshalb war es wichtig, Simplicity nach oben zu bringen. Vielleicht handelte es sich um einen sehr jungen Tosher, der sich erst noch einarbeiten musste. Oder um jemanden, der … Dodger hielt es für besser, kein Risiko einzugehen. Simplicity durfte auf keinen Fall etwas zustoßen.

Er gab sich weiterhin fröhlich und aufgeräumt, als er seine kleine Gruppe in die Richtung zurückführte, aus der sie gekommen waren, doch innerlich fluchte er bei jedem Schritt, denn trotz der Laternen kamen sie nicht so schnell voran, wie er es sich wünschte.

»Meine Herren, wenn Sie nichts dagegen haben … Ich muss hier unten noch einiges erledigen«, sagte er, als sie sich dem Gully näherten, durch den sie in die Kanalisation eingestiegen waren. »Sobald Sie oben sind, kümmern Sie sich bitte um … Roger, bis die Kutsche zurückkehrt. Manchmal gibt es hier unten Unerwünschtes, nun, manchmal sogar noch Unerwünschteres als alles, was sich sowieso schon hier unten befunden hat. Bestimmt hat es nichts weiter zu bedeuten, aber da auch Mister Disraeli mit von der Partie ist, halte ich Vorsicht für angeraten.«

Simplicity beobachtete ihn noch immer aufmerksam, Mister Bazalgette wirkte ein wenig betroffen, und Charlie setzte einfach zielstrebig einen Fuß vor den anderen. Überraschenderweise ergriff Disraeli Simplicitys Hand. »Kommen Sie, Miss … junger Mann. Ehrlich gesagt, ich könnte ein wenig frische Luft vertragen.«

Als sie wieder ins Freie kletterten, betonte Dodger noch einmal: »Wie gesagt, wahrscheinlich ist es nichts weiter, aber ich sehe besser nach.« Dann stand er allein im stillen Abwasserkanal, obwohl er befürchtete, nicht ganz allein zu sein. Inzwischen zweifelte er kaum noch daran: Jemand befand sich in der Nähe, und wenn es eine Arbeitsgruppe gewesen wäre, hätte er längst Rufe wie »Haut ab, ihr Tosher!« gehört, was nicht unbedingt ein freundlicher Gruß war, aber wenigstens ein menschliches Geräusch. Jemand war da. Es konnte doch nicht der Ausländer sein, oder? Nein, das wäre zu schnell gegangen. Aber die Lady wusste, dass es immer noch einige Leute gab, die es auf Dodger abgesehen hatten, und es war kein Geheimnis, wo man ihn fand. Nun ja, wenigstens befand er sich in seinem Revier, so schmierig und stinkend es hier auch sein mochte.

Im Dunkeln hörte er das Klappern einer oben über die Straße rollenden Kutsche, und dann erhoben sich Stimmen, unter ihnen die von Simplicity. Er seufzte erleichtert. Was auch immer passieren mochte, es konnte nicht ihr passieren. Natürlich war es mit ziemlicher Sicherheit nicht der Ausländer, sagte er sich erneut, nicht der Meister der Maske, den keiner beschreiben konnte und der eher ein Phantom zu sein schien. Aber sosehr Dodger sich selbst davon zu überzeugen versuchte, seine Zuversicht wich immer mehr dem Gedanken: Was bin ich doch für ein Dummkopf – ein so erfolgreicher Profi wie der Ausländer hat inzwischen ganz gewiss alles über Dodger und Simplicity herausgefunden.

Erste Bilder entstanden vor seinem inneren Auge und zeigten ihm höchst unangenehme Szenen. Stieg einer wie der Ausländer in die Kanalisation herab? Vielleicht bezahlte ihm jemand genügend Geld dafür. Dodgers Phantasie malte weitere Bilder, und fast regte sich Panik in ihm. Alle wussten, dass er mit der Gruppe einen Ausflug in die Kanalisation unternommen hatte. Wen kannte der Ausländer? Wie schnell sprachen sich Neuigkeiten herum? Und wie schlau musste jemand wie der Ausländer sein, wenn er trotz der vielen Feinde in vielen Ländern noch lebte? Und wie dumm war Dodger, der gute alte Dodger, wenn er glaubte, mit einem Achselzucken über die Gefahr hinweggehen zu können? Und wenn es doch jemand anders war?

Wenigstens wusste er Simplicity in Sicherheit. Eigentlich wäre es das Vernünftigste gewesen, die Kanalisation ebenfalls so schnell wie möglich zu verlassen, bevor der Fremde ihn erreichte, doch Dodger dachte mit ungewöhnlich heftig pochendem Herzen über seine begrenzten Möglichkeiten nach. Er konnte den Abwasserkanal durch einen anderen, etwas weiter entfernten Gully verlassen, aber es dauerte eine Weile, ihn zu erreichen – und was mochte in dieser Zeit alles geschehen? Und wenn er bei der nächsten Gelegenheit nach oben kletterte, so wäre der Fremde – und plötzlich zweifelte er nicht mehr daran, dass es der Ausländer war – dicht hinter ihm.

Das letzte Sonnenlicht schwand. Dies ist meine Welt, dachte Dodger. Ich kenne hier jeden einzelnen Ziegelstein. Ich kenne alle Stellen, wo ein falscher Schritt genügt, um bis zur Hüfte in stinkendem Schlamm zu versinken. Er dachte: Hier bin ich zu Hause. Vielleicht kann ich dies zu meinem Vorteil nutzen. Lass dir einen neuen Plan einfallen, Dodger! Erreich das Ziel auf einem anderen Weg! Julius Cäsar fiel ihm ein, wie er angeblich auf einer Latrine saß (ein Bild, das er so schnell nicht vergäße), und Dodger dachte: Er war ein Krieger, nicht wahr? Ein Bursche, dem kaum beizukommen war. Er flüsterte: »Da hast du’s!« Und laut sprach er in die Düsternis: »Komm her! Hier bin ich, Mister. Vielleicht möchtest du, dass ich dir die Sehenswürdigkeiten zeige.«

Er senkte den Blick und stellte fest, dass eindeutig jemand auf dem Weg war, denn die Ratten liefen geradewegs auf ihn zu, um dem Fremden hinter ihnen zu entkommen. Dodger stand an der Tunnelwand, halb in einer kleinen Mauernische, wo sich mehrere der alten Steine aus der Wand gelöst hatten. Es war eine Stelle, mit der er liebevolle Erinnerungen verband, denn hier hatte er einmal zwei Viertelpennys und einen der alten Groats gefunden, die man heutzutage kaum mehr sah.

Die Ratten liefen und kletterten an ihm vorbei, als wäre er überhaupt nicht da, und Dodger dachte: Sie sehen mich fast jeden Tag. Er hatte sie nie gejagt, nie nach ihnen getreten und nicht einmal versucht, sie mit dem Fuß aus dem Weg zu schieben. Er ließ sie in Ruhe, und deshalb ließen sie ihn in Ruhe. Außerdem wusste er, dass er bestimmt nicht mit dem Wohlwollen der Lady rechnen konnte, wenn er ihren kleinen Untertanen gegenüber gemein war. Opa hatte keinen Zweifel daran gelassen. »Wenn du auf eine Ratte trittst, so trittst du auf das Gewand der Lady«, hatte er gesagt, und Dodger flüsterte nun in die Dunkelheit: »Lady, ich bin’s noch einmal, Dodger. Ich könnte jetzt etwas von dem bereits erwähnten Glück gebrauchen, wenn es sich irgendwie machen lässt. Danke im Voraus, Dodger.«

Und weiter vorn in der Finsternis erklang der schmerzerfüllte Schrei einer Ratte. Sie konnten recht laut sterben, die Ratten, und Dodger hörte ein Quieken, und dann liefen noch mehr Ratten an ihm vorbei.

Und plötzlich zeichneten sich die Umrisse des Fremden in der Düsternis ab, wie er anerkennenswert leise durch den Abwasserkanal schlich, vorbei an Dodger in seinem stinkenden Versteck, denn Dodger war ganz klar unsichtbar: Ihm hafteten die gleiche Farbe und der gleiche Gestank wie der Tunnel an. Die Ratten versuchten auch über den Eindringling hinwegzulaufen, aber er schlug mit etwas nach ihnen – Dodger konnte den Gegenstand nicht genau erkennen –, und die Ratten schrien, zweifellos laut genug, damit die Lady sie hörte.

In der Hand hielt Dodger – ja! – Sweeney Todds Rasiermesser, das er weniger als Waffe mitgebracht hatte, sondern als Talisman: ein Geschenk des Schicksals, das sein Leben verändert hatte, so wie es auch Sweeney Todds Leben verändert hatte. Wie hätte er es an einem solchen Tag zurücklassen können?

In der Finsternis erkannten Dodgers ans Dunkel gewöhnte Augen das Stilett in der Hand des Mannes. Es war die Waffe eines Meuchelmörders – ein anständiger Mörder verwendete so etwas nicht. Der Gedanke kam ganz plötzlich: Für ihn, Dodger, gab es hier unten nichts zu befürchten. Dies war seine Welt, und er fühlte, dass die Lady ihm half, er spürte es deutlich. Nein, derjenige, der hier Angst haben sollte, war der Mann, der dort durch die Finsternis schlich, wo Dodger ihn sehen konnte … Und Dodger stürzte sich auf ihn und drückte ihn zu Boden. Ob Meuchelmörder oder nicht – es war schwierig, von einem Dolch Gebrauch zu machen, wenn man im Schlamm eines Abwasserkanals lag und Dodger auf dem Rücken hatte.

Er war ein sehniger Junge, aber es gelang ihm, den Mann so festzuhalten, als wäre er am Boden festgenagelt, und er schlug dabei auf alles ein, worauf sich einschlagen ließ. Dodger hielt ihm kalten Stahl an die Kehle und flüsterte: »Wenn du etwas über mich weißt, so sollte dir klar sein, dass du Sweeney Todds Rasiermesser an deiner Kehle fühlst. Es ist sehr scharf, und wer weiß, was es alles schneiden könnte?« Er gestattete es dem Mann, für einen Moment wenigstens Mund und Nase aus dem Schlamm zu heben, und fügte hinzu: »Ich muss schon sagen, ich habe mehr erwartet als dies. Na los, heraus mit der Sprache!«

Der Mann unter ihm spuckte Dreck und etwas Haariges, das einmal Teil einer Ratte gewesen sein mochte. Er wollte etwas sagen, aber Dodger verstand ihn nicht. »Wie war das? Drück dich deutlicher aus!«

Woraufhin eine Stimme erklang, die Stimme einer Frau. »Guten Abend, Mister Dodger. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststellen, dass ich eine Pistole in der Hand halte, eine ziemlich gute noch dazu. Sie werden sich nicht bewegen, während mein Freund hier aufhört, sich auf so unangenehme Weise zu übergeben, wonach er vermutlich das mit Ihnen anstellen möchte, was Sie gerade mit ihm anstellen. Bis dahin werden Sie sich nicht von der Stelle rühren, denn ich schieße, wenn auch nur ein Muskel zuckt, und später werde ich Ihre junge Freundin töten … Übrigens kann ich nicht behaupten, diesen Herrn besonders zu mögen. Er ist nicht unbedingt der beste Assistent, den ich je hatte. Oje, oje, warum glauben nur alle, dass der Ausländer ein Mann ist?« Die Eigentümerin der Stimme trat näher, woraufhin Dodger sie und ihre Pistole erkannte.

Kein Zweifel, der Ausländer war schön, das ließ sich selbst in der Dunkelheit erkennen. Die Fremde sprach fließend Englisch, aber es ließ sich ein leichter Akzent vernehmen, den Dodger einzuordnen versuchte. China? Nein. Irgendein Land in Europa? Vielleicht. Die Pistole in seinem Stiefel fiel ihm ein, Solomons Pistole, vorgesehen für einen Plan, der inzwischen völlig unnütz war, und er fragte: »Entschuldigen Sie, Miss, aber warum wollen Sie Simplicity töten?«

»Weil ich dann ziemlich viel Geld bekomme, junger Mann. Das wissen Sie doch, oder? Was Sie betrifft … Ich habe keinen Streit mit Ihnen, obwohl Hans – wenn er wieder stehen kann – vermutlich ein kurzes, ein sehr kurzes Gespräch mit Ihnen führen möchte. Wir müssen warten, bis sich der arme Kerl erholt hat.«

Die junge Frau – der Ausländer sah aus wie eine junge Frau, nicht älter als Simplicity, schien aber, das musste Dodger zugeben, ein wenig schlanker zu sein – schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Es wird nicht lange dauern, Mister Dodger. Und worauf starren Sie so – außer auf mich?«

Dodger verschluckte sich fast an seiner Zunge. »Oh, Miss, ich starre nicht, ich bete nur zur Lady.« Er betete tatsächlich, aber er beobachtete auch, wie sich die Schatten bewegten.

»Ah ja, ich habe von ihr gehört … der Madonna der Kanalisation, der Göttin Cloacina, der Herrin der Ratten, und ich sehe hier heute Abend viele Mitglieder ihrer Gemeinde«, sagte die Ausländerin.

Hinter ihr bewegten sich die Schatten erneut. Und die Hoffnung, die kurz zuvor verschwunden war, kehrte zurück. Dodger achtete darauf, sich nichts davon anmerken zu lassen.

»Sie müssen sehr an sie glauben, wenn Sie sich von der Dunkelheit Hilfe erhoffen. Aber ich fürchte, es sind mehr als ein paar Ratten nötig, um Sie noch zu retten, ganz gleich, wie hoffnungsvoll Sie in die Finsternis spähen …«

»Jetzt!«, rief Dodger, und das recht dicke Holzstück in Simplicitys Händen flog bereits, traf die Ausländerin am Hinterkopf und warf sie zu Boden. Dodger sprang und rutschte, schnappte sich die Pistole und stieß in seiner Hast mit dem Kopf gegen die Wand des Abwasserkanals. Panik erfasste die Ratten, sie liefen davon und quiekten.

Er versetzte Hans einen weiteren Tritt, um sicherzugehen, dass er unten blieb, und Simplicity war so geistesgegenwärtig, sich auf die Frau zu setzen. Dodger dachte: Dem Himmel sei Dank für die vielen nahrhaften deutschen Würste, und er rief: »Warum bist du zurückgekehrt? Es ist gefährlich!«

Simplicity warf ihm einen verwunderten Blick zu und erwiderte: »Ich habe mir den Ring angesehen, und dabei ist mir die Gravur aufgefallen: Für S., in Liebe, D. Deshalb musste ich zurückkehren, aber ich bin leise gewesen, weil wir in der Kanalisation leise sein sollten. Den anderen habe ich gesagt, ich würde warten, bis du nach oben kommst, und ich dachte mir, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Du hast mir erzählt, dass der Ausländer immer eine gut aussehende Frau dabei hat, und ich dachte mir: Eine gut aussehende Frau, die einen Mörder begleitet, muss eine sehr starke Frau sein. Ich habe mich gefragt, ob dir das klar ist. Und wie mir scheint, mein liebster Dodger, habe ich recht behalten.«

In den Echos dieser kleinen Ansprache glaubte Dodger für einen Moment, Opas Stimme zu hören, ihren fröhlichen, zahnlosen Klang: Hab’s dir gesagt! Du bist der beste Tosher, den ich kenne, und jetzt hast du deinen Tosheroon gekriegt. Die junge Dame hier, Junge, sie ist dein Tosheroon.«

Dodger trat auf den Ausländer, als er sich vorbeugte, Simplicity umarmte und ihr einen Kuss gab, der leider nicht von langer Dauer sein konnte, weil es noch viel zu tun gab.

Simplicitys Holzstück hatte die Ausländerin ziemlich hart getroffen. Dodger fühlte noch einen Puls, aber auch ein bisschen Blut hier und dort. Die Mörderin würde so schnell nicht wieder aufstehen. Im Gegensatz zu dem Mann, der wieder auf die Beine kam, wenn auch ohne große Begeisterung, was daran liegen mochte, dass er den Mund voller Dreck hatte. Er stöhnte, schwankte und sabberte grünen Schleim.

Dodger packte ihn. »Sprechen Sie Englisch?« Die Antwort verstand er nicht, aber Simplicity trat vor und sagte nach einem kurzen Verhör: »Er kommt aus einem der deutschen Länder, aus Hamburg, und scheint sich sehr zu fürchten.«

»Gut, sag ihm, dass er seine Heimat vielleicht wiedersieht, wenn er brav ist und alles tut, was wir ihm sagen. Erzähl ihm nicht, dass ihn daheim vermutlich der Galgen erwartet, denn ich will vermeiden, dass er sich Sorgen macht. Derzeit möchte ich natürlich ein Freund dieses armen Burschen sein, der von einer bösen Frau auf die schiefe Bahn geführt wurde. Und da ich sein Freund sein möchte, dürfte er bereit sein, mir zu helfen, oder? Na schön, sag ihm das, und sag ihm außerdem, dass er die Hose ausziehen soll, und zwar fix!« Es war eine ausländische Hose von guter Qualität, aber während der Mann dort nackt saß, zerriss ihm Dodger die deutsche Hose, nahm die Stoffstreifen und fesselte damit die Ausländerin und ihren Assistenten.

Simplicity lächelte die ganze Zeit über, doch dann fiel ein Schatten auf ihr Gesicht, und sie fragte: »Was jetzt, Dodger?« Und er antwortete: »Es läuft alles nach Plan. Denk an den Ort, von dem ich dir erzählt habe. Wir nennen ihn Kessel, weil es dort bei einem ordentlichen Regenguss ziemlich wild zugeht, aber es bedeutet auch, dass der Kessel sauberer ist als viele andere Bereiche hier unten. Erinnerst du dich an die helleren Ziegel? Sie zeigen den Weg. Es gibt dort etwas zu essen und eine Flasche Wasser. Und Leute werden herbeilaufen, wenn sie den Schuss hören.« Er reichte ihr Solomons Pistole. »Weißt du, wie man damit umgeht?«

»Ich habe Männer beim Schießen mit meinem … Gatten beobachtet. Ja, ich glaube, ich komme damit klar.«

»Gut«, sagte Dodger. »Richte das offene Ende auf jemanden, den du nicht magst – das genügt gewöhnlich. Wenn alles klappt, sollte ich gegen Mitternacht in der Lage sein, zu dir zu kommen. Mach dir keine Sorgen! Das Schlimmste hier unten bin derzeit ich, und ich stehe auf deiner Seite. Du wirst Stimmen hören, aber bleib still und im Verborgenen. Ich pfeife, wenn ich zu dir komme, daran erkennst du mich. Wir gehen vor wie geplant …«

Sie küsste ihn und sagte: »Weißt du, Dodger, bestimmt wäre auch dein erster Plan gelungen.« Demonstrativ streifte sie den Ring über, den sie beim Toshen gefunden hatte, und dann ging sie und ließ sich von den etwas helleren Ziegeln den Weg durch die Dunkelheit weisen.

Dodger machte sich schnell ans Werk. Er lief durch die Kanalisation zu der Stelle zurück, wo er Charlie mit großem Nachdruck daran gehindert hatte, eine Abzweigung zu nehmen. Was er dort aus einem Versteck holte, von Lavendelbüscheln umgeben, waren die sterblichen Überreste der blonden jungen Frau, die genauso gekleidet war wie Simplicity. Er schob ihr den goldenen Ring auf den Finger, den wundervollen Ring mit den Adlern im Wappen.

Jetzt kam der üble Teil. Er holte die Pistole der Ausländerin hervor, atmete mehrmals tief durch und schoss der Leiche zweimal ins Herz, denn der Ausländer würde, um auf Nummer sicher zu gehen, zweimal schießen. Dann schoss er ein drittes Mal, fast ohne hinzusehen: auf die eine Seite des Gesichts, wo die Ratten damit begonnen hatten … das zu tun, was Ratten bei einer leckeren Leiche zu tun pflegten. »Es tut mir leid«, flüsterte er. Dann wandte er sich einem anderen Versteck hinter dem Unrat zu, der sich in diesem Kanal angesammelt hatte, und holte einen Eimer mit Schweineblut hervor. Er kippte ihn aus und versuchte dabei, nicht anwesend zu sein, zu einem tanzenden Phantom zu werden, das beobachtete, wie jemand tat, was er tat, denn: Sooft er sich auch sagte, dass dies eigentlich nichts Unrechtes war – ein Teil von ihm widersprach.

Und dann eilte er durch den Tunnel zurück, setzte sich und weinte und hörte ein Platschen, verursacht von Leuten, die durchs Abwasser liefen. Interessanterweise war es Charlie, gefolgt von einem Constable, Mister Disraeli und dem jungen Joseph Bazalgette. Sie fanden Dodger in Tränen aufgelöst, in Tränen, die von ganz allein kamen.

»Ja«, sagte Dodger und schluchzte. »Sie ist tot, sie ist wirklich tot. Ich habe alles versucht und mein Bestes gegeben, aber …«

Eine Hand legte sich auf Dodgers Nacken, und Charlie fragte: »Tot?«

Dodger blickte auf seine Stiefel. »Ja, Charlie, sie wurde erschossen. Ich konnte es nicht verhindern. Es war … der Ausländer, ein wahrer Mörder.« Er blickte auf, und die Tränen in seinen Augen glänzten im Laternenschein. »Was sollte ich gegen einen berufsmäßigen Mörder ausrichten?«

Charlie musterte Dodger zornig. »Sagst du mir die Wahrheit, Dodger?«

Daraufhin hob Dodger den Kopf noch etwas höher. »Es geschah alles so schnell, dass es wie in einem Nebel war.«

Charlies Gesicht befand sich plötzlich dicht vor Dodgers Nase. »In einem Nebel, sagst du?«

»Ja, in dem Nebel, in dem die Leute sehen, was sie sehen wollen.« Entdeckte er etwa die Andeutung eines Lächelns in Charlies Augen? Dodger hoffte es.

Doch der Mann fragte: »Aber es gibt eine Leiche?«

Dodger nickte traurig. »Ja, die gibt es leider. Ich kann dich zu ihr bringen, ja, ich glaube, das sollte ich sofort tun.«

Charlie senkte die Stimme. »Diese Leiche …«

Dodger seufzte: »Die Leiche einer armen jungen Frau … Ich werde die Schuldigen finden und mit deiner Hilfe zur Rechenschaft ziehen, aber was Simplicity betrifft … Ich fürchte, du wirst sie niemals lebend wiedersehen.«

Er sprach diese Worte langsam und bedächtig aus, behielt dabei Charlie im Auge, der erwiderte: »Ich kann nicht behaupten, von deinen Worten begeistert zu sein, Dodger, aber hier ist ein Constable. Zeig uns den Weg!« Er wandte sich an Disraeli, der fast zurückwich, und sagte: »Komm, Ben, als Säule des Parlaments solltest du dies mit eigenen Augen sehen.« In diesen Worten lag fast die Schärfe eines Befehls, und einige Minuten später erreichten sie die Leiche, die in Schlamm und Blut lag.

»Gütiger Gott!«, stieß Mister Disraeli hervor und gab sich alle Mühe, entsetzt zu wirken. »Mir scheint, Angelas Bediensteter ist tatsächlich … Miss Simplicity gewesen.«

»Wenn Sie gestatten, Sir … Warum hat sich hier unten eine als Mann verkleidete junge Frau herumgetrieben?«, fragte der Constable, denn er war Polizist, obwohl er derzeit wie ein Constable aussah, der sich in einer Situation befand, die mindestens einen Sergeanten erforderte.

Charlie wandte sich zu ihm um. »Ich glaube, Miss Simplicity war eine junge Frau, die wusste, was sie wollte. Aber ich bitte Sie alle, um Miss Coutts willen … Es soll nicht bekannt werden, dass Simplicity so gekleidet war, als sie starb.«

»Auf keinen Fall«, verkündete Mister Disraeli. »Dass eine junge Frau ermordet wurde, ist schlimm genug, aber noch dazu eine, die Hosen trug … Wohin soll das noch führen?« Aus diesen Worten sprach ein Politiker, der sich fragte: Was denkt die Öffentlichkeit bloß von mir, wenn sie erfährt, dass ich mich hier unten aufhalte und in diese Affäre verwickelt bin?

»Bestens geeignet für eine arbeitende junge Frau«, sagte Dodger. »Wenn Sie wüssten! Ich habe Frauen auf den Kohlekähnen arbeiten gesehen, und es waren stramme, starke Frauen. Niemand traut sich, es ihnen zu verbieten, und das war auch besser so, denn einige von ihnen besaßen Fäuste, die jeden Mann umgehauen hätten.«

Charlie wandte sich wieder der Leiche zu. »Nun«, sagte er, »wir sind uns alle einig, dass diese Dame, die eine Hose trägt, Miss Simplicity ist. Aber ihr Tod … Was meinen Sie, Constable?«

Der Polizist sah erst Charlie und dann Dodger an. »Dies ist eine Schusswunde, ohne jeden Zweifel, und es gibt noch mindestens eine weitere. Aber wer hat geschossen? Das wüsste ich gern.«

»Oh, nun, für die Antwort auf diese Frage muss ich die Herren bitten, mir nach dort drüben zu folgen«, sagte Dodger. »Wenn Sie bitte die Klappen Ihrer Laternen ganz öffnen würden … Dann sehen Sie eine gefesselte Dame, die Sie als den Ausländer identifizieren werden.«

Das überraschte selbst Charlie. »Unmöglich!«

»Sie hat es mir selbst gesagt«, erwiderte Dodger. »Und neben ihr liegt Beweisstück B, ihr Komplize. Ich weiß nur, dass er Deutsch spricht, mehr nicht. Aber ich schätze, er wird nur zu gern bereit sein, Ihnen alles zu erzählen, denn soweit ich weiß, hat er nichts mit Simplicitys Tod zu tun und auch kein anderes Verbrechen in London begangen. Abgesehen von dem Versuch, mich zu ermorden.« Er hob die Pistole und sagte: »Dies ist die Tatwaffe, meine Herren. Ach, wenn ich doch nur hätte verhindern können, dass Miss Si… Miss …«

Dodger begann zu weinen, und Charlie klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Eine Pistolenkugel konntest du nicht aufhalten, so ist das nun einmal. Aber dafür hast du es geschafft, die Übeltäter dingfest zu machen.« Er schniefte und fuhr so leise fort, dass der Constable ihn nicht hörte: »Du hast uns ganz offensichtlich die Wahrheit gesagt, aber ich habe die eine oder andere Leiche gesehen – und ob ich das habe! –, und diese erscheint mir … nun, nicht mehr ganz frisch zu sein …«

Dodger blinzelte und sagte: »Ja, ich glaube, es liegt an den miasmatischen Effusionen. Die Abwasserkanäle stecken voller Tod und Zerfall, und das kriecht überallhin, ob man will oder nicht.«

»Miasmatische Effusionen«, wiederholte Charlie und sprach wieder lauter. »Hast du das gehört, Ben? Was soll man dazu sagen? Wir alle wissen, dass Dodger Miss Simplicity auf keinen Fall etwas angetan hätte. Es ist kein Geheimnis, dass ihm sehr an ihr gelegen war. Ich hoffe also, dass du mein Mitgefühl für diesen jungen Mann teilst, dem es trotz des Tods seiner Geliebten gelang, einen gefährlichen Killer zur Strecke zu bringen.« Er fügte hinzu: »Was meinen Sie, Constable?«

Der Polizist wirkte sehr ernst. »So hat es den Anschein, Sir, aber der Coroner muss benachrichtigt werden. Hat die Tote irgendwelche Angehörigen, von denen Sie wissen?«

»Leider nein«, bedauerte Charlie. »Ich fürchte, Officer, niemand weiß genau, wer sie war und woher sie kam. Sie scheint Pech in ihrem Leben gehabt zu haben; man könnte sie eine Waise des Sturms nennen. Miss Coutts nahm sie aus reiner Herzensgüte unter ihre Fittiche. Was denkst du, Ben?«

Mister Disraeli schien von der ganzen Angelegenheit entsetzt zu sein und sagte beunruhigt: »Eine schreckliche Sache, Charlie, in der Tat. Wir können nur dabei helfen, dass das Gesetz seinen Lauf nimmt.«

Charles Dickens nickte auf staatsmännische Art und Weise. »Nun, Dodger, ich schätze, du solltest dem Constable deine Personalien geben, und natürlich kann ich als eine Stütze der Gesellschaft für dich bürgen. Wie Sie vermutlich wissen, Constable, ist Dodger der Mann, der den berüchtigten Sweeney Todd überwältigte. Und darf ich hinzufügen, wie sehr ich es bedauere, dass unser kleiner Ausflug so tragisch endete?«

Er seufzte. »Wer weiß, warum es die Verrückte auf diese arme, unglückliche Frau abgesehen hatte. Mir ist aufgefallen, Constable, dass die Tote einen wertvollen Goldring trug, ausgestattet mit einem herzoglichen Siegel. Ich möchte Sie bitten, den Ring als mögliches Indiz sicherzustellen, das bei den Ermittlungen von Bedeutung sein könnte. Andererseits …« Charlie sah erneut Disraeli an, der noch immer ziemlich erschüttert war. »Ich bin sicher, dass Sie und Ihre Vorgesetzten, sobald Sie sich eingehend mit den relevanten Fakten beschäftigt haben, dafür sorgen werden, dass diese bedauerliche Angelegenheit nicht zu unangebrachten Spekulationen führt, denn die Tatsachen sprechen ganz offensichtlich für sich.«

Er sah sich nach Zustimmung um. »Und nun können wir gehen, denke ich«, schloss er. »Obwohl einige von uns …«, bei diesen Worten richtete er einen bedeutungsvollen Blick auf Dodger, »… hierbleiben und das Eintreffen des Coroners abwarten sollten. Darf ich Sie ersuchen, Constable, ihn so bald wie möglich zu benachrichtigen?«

Dodger beobachtete erstaunt, wie der Polizist salutierte, ja, er salutierte und sagte: »Selbstverständlich, Mister Dickens.«

»Sehr gut«, erwiderte Charlie und fügte hinzu: »Aber Sie haben die Mörder hier, und an Ihrer Stelle würde ich sofort Bericht erstatten und den Wagen herkommen lassen. Wenn Sie gestatten, warte ich mit Mister Dodger und der Pistole, bis Sie mit Ihren Kollegen zurückkehren.« Er wandte sich an Mister Bazalgette. »Wie geht es Ihnen, Joseph?«

Der Ingenieur war ein wenig blass, sagte aber: »Um ganz ehrlich zu sein, Charlie, ich habe schon Schlimmeres gesehen.«

»Wären Sie dann so nett, dafür zu sorgen, dass Ben sicher nach Hause kommt? Die Sache scheint ihn ziemlich mitgenommen zu haben. Kein Wunder, denn es war nicht unbedingt die fröhliche kleine Erkundungstour, die wir uns erhofft hatten.«

Kurze Zeit später trafen zwei weitere Polizisten ein, und es folgten noch mehr, bis sich an dem Gully, wo der Ausflug in die Kanalisation begonnen hatte, eine kleine Menge bildete – es mussten noch mehr Polizisten gerufen werden, um die Leute zurückzuhalten. Die Beamten wechselten sich damit ab, in die Abwasserkanäle zu klettern, denn jeder von ihnen wollte seinen Enkeln etwas erzählen können. Bei den Zeitungen arbeiteten bereits die Druckerpressen; am kommenden Morgen würde Grausiger Mord! auf den Titelseiten stehen.

Für Dodger war es ein überaus seltsamer Abend. Er wurde mehrmals vernommen, von verschiedenen Polizisten, auf denen wiederum Charlies wachsamer Blick ruhte. Es war Dodger peinlich, dass ihm einige der Polizisten die Hand schütteln wollten, nicht weil er den Ausländer zur Strecke gebracht hatte – wer konnte schon eine junge Frau für einen gefährlichen Mörder halten? –, sondern wegen Mister Todd und weil er nun gleich in mehrfacher Hinsicht als Held dastand, trotz eines tragischen Todesfalls. Und die ganze Zeit über strich der Nebel über alles hinweg und veränderte still die Realitäten der Welt.

Sie brachten die Ausländerin und ihren Komplizen fort. Dann traf der Beamte des Coroners ein, und auch der Coroner selbst erschien, und es kamen Kutschen und Karren, und Charlie war überall, und schließlich wurde die Leiche der armen jungen Frau in einen Sarg gelegt, mit Bestimmungsort Lavender Hill.

Der Coroner, erzählte Charlie nachher, hielt den Fall für abgeschlossen, denn immerhin hatte das Mordopfer weder Freunde noch Verwandte, abgesehen von einem jungen Mann, der es ganz offensichtlich sehr geliebt hatte, und einer Dame, die so freundlich gewesen war, ihr Obdach zu gewähren und zu verhindern, dass sie wie so viele andere junge Frauen auf den falschen Weg geriet. Ja, ein abgeschlossener Fall, ganz klar, wenn auch einige Rätsel blieben.

Der Killer befand sich inzwischen hinter Schloss und Riegel, obwohl er – beziehungsweise sie – hartnäckig bestritt, auf irgendjemanden geschossen zu haben, eine Behauptung, die ihr Helfer bestätigte, der, darauf soll an diesem Punkt hingewiesen werden, offen über alles Auskunft erteilte, natürlich in der Hoffnung, seinen Hals zu retten.

Downing Street wurde benachrichtigt und erhielt, nachdem man das Siegel bemerkt hatte, den Ring für eine genaue Überprüfung, denn dies war ganz offensichtlich eine politische Angelegenheit. Und tatsächlich, das Wort politisch schien zusammen mit dem Nebel über diesem Fall zu schweben, als Warnung für alle Menschen guten Willens, mit der Botschaft, dass man sich besser zufriedengeben sollte, wenn auch die da oben zufrieden waren.

Inzwischen war es fast Mitternacht, und es waren nur noch Charlie und Dodger anwesend. Dodger wusste, warum er sich noch vor Ort befand, aber Charlie hatte seinen Artikel bereits dem Morning Chronicle zukommen lassen und hätte eigentlich längst nach Hause zurückgekehrt sein sollen.

Und dann, in der Düsternis kurz vor Mitternacht, sagte Charlie: »Dodger, ich glaube, es gibt da ein Spiel, das man Kümmelblättchen oder auch Die Rote gewinnt nennt, aber ich bitte dich nicht darum, es mit mir zu spielen. Ich möchte nur wissen, ob es hier eine Rote zu finden gibt, die bei guter Gesundheit ist und von einem jungen Mann entdeckt werden kann, der durch den Nebel zu sehen vermag. Übrigens, Dodger, als Journalist und als ein Mann, der über Artikel und Leute schreibt, die gar nicht existieren, frage ich mich: Was hättest du getan, wenn der Ausländer überhaupt nicht erschienen wäre?«

»Du hast mich die ganze Zeit über beobachtet, Charlie«, erwiderte Dodger. »Das habe ich bemerkt. Habe ich mir irgendetwas anmerken lassen?«

»Erstaunlich wenig. Darf ich annehmen, dass die junge Dame, die wir alle auf so nachdrückliche Weise tot sahen, nicht durch deine Hand starb, wenn du mir meine Offenheit gestattest?«

Und Dodger wusste, dass das Spiel aus war, aber noch nicht unbedingt vorbei, und er sagte: »Sie war eins der Mädchen, die sich von einer Brücke stürzen, um im Fluss zu ertrinken, eine der jungen Frau, um die sie niemand kümmert. Sie wird ein anständiges Begräbnis auf einem anständigen Friedhof bekommen, und das ist mehr, als sie unter anderen Umständen zu erwarten gehabt hätte. Und das ist die Wahrheit. Mein Plan war ganz einfach. Simplicity hätte sich mit einem gewissen Bedürfnis entschuldigt, aber sie wäre nicht sofort zurückgekehrt, und ich hätte sie suchen müssen, und dann wäre es in der Dunkelheit der Kanalisation plötzlich zu einem lauten Durcheinander gekommen. Ich wäre einem unbekannten Mann begegnet, einem Fremden, der von unserem Ausflug gehört haben musste, und ich hätte tapfer gegen ihn gekämpft. Anschließend wäre ich zu dir und den anderen zurückgekehrt und hätte euch angefleht, der sterbenden Simplicity und bei der Verfolgung des Mörders durch die Abwasserkanäle zu helfen. Bedauerlicherweise wäre die Verfolgungsjagd ohne Ergebnis geblieben.«

»Und wo befindet sich die lebende Simplicity, wenn ich fragen darf?«, fragte Charlie.

»Sie ist versteckt. An einer Stelle, wo nur ein Tosher sie findet. Wir nennen diese Stelle Kessel, weil das strömende Wasser sie sauber spült. Sie hat dort ein wasserdichtes Paket mit Käsebroten und einer Flasche, die abgekochtes Wasser mit einem Schuss Brandy enthält, um die Kälte fernzuhalten.«

»Du hättest uns also alle zum Narren gehalten, Dodger.«

»Nein, keineswegs! Ihr wärt ungemein heldenhaft gewesen. Denn weder ich noch Simplicity hätten irgendjemandem davon erzählt, und eines Tages wäre der Name Charlie Dickens überall bekannt gewesen.«

Dodger gewann den Eindruck, dass Charlie streng auszusehen versuchte, in Wirklichkeit aber war er ziemlich beeindruckt und fragte: »Woher hast du die Pistole?«

»Solomon besitzt einen Nock-Bündelrevolver. Eine sehr gefährliche Waffe. Ich dachte, an alles gedacht zu haben. Bis auf dich.«

»Oh«, sagte Charlie. »Mir sind die etwas helleren Ziegelsteine aufgefallen, und ich habe mich gefragt, warum sie etwas heller sind als die anderen. Ich frage mich auch, warum du noch hier bist. Hilft es, wenn ich sage, dass ich nicht mit Dritten über meinen Verdacht sprechen werde? Denn ich bezweifle, dass mir jemand glauben würde.« Er lächelte, als er Dodgers Unbehagen bemerkte. »Dodger, du hast dich selbst übertroffen, womit ich meine, dass du ausgezeichnete Arbeit geleistet hast, und jetzt verabschiede ich mich von dir. Natürlich bin ich kein Mitglied der Regierung, dem Himmel sei Dank dafür. Ich schlage vor, du suchst Miss Simplicity auf, der inzwischen ein bisschen kalt sein dürfte.«

Davon ließ sich Dodger überrumpeln und erwiderte: »Eigentlich kann es dort unten in der Nacht recht warm sein. Die Abwasserkanäle halten die Wärme, weißt du.«

Charlie lachte laut und sagte: »Ich muss los, und du solltest dich ebenfalls auf den Weg machen.«

»Danke«, sagte Dodger. »Und danke auch dafür, dass du mir das mit dem Nebel erklärt hast.«

»O ja, der Nebel. So ungreifbar er auch sein mag, so hat er doch große Macht, nicht wahr, Dodger? Ich werde deinen Weg mit größter Aufmerksamkeit verfolgen – und auch mit einer gewissen Sorge.«

Als er gänzlich sicher war, dass sich keine Beobachter in der Nähe befanden, kletterte Dodger in die Kanalisation zurück, näherte sich dem Versteck, in dem Simplicity auf ihn wartete, und pfiff leise. Niemand sah sie gehen, niemand sah, wohin sie gingen, und der Schleier der Nacht senkte sich über London, auf die Lebenden wie die Toten.

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