Solomon schwieg, bis die Kutsche schon ein ganzes Stück weit gerollt war, dann sagte er: »Eine ziemlich kesse junge Dame, meiner Meinung nach, und ich schätze, es ist was dran, wenn die Leute mmm sagen: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Und du, Dodger, bist Dodger, was ein eigenes Talent ist. Aber sei vorsichtig – du befindest dich im Zentrum des Geschehens, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Zwar gibt es Vertreter anderer Mächte in diesem Land, doch sie würden es sich bestimmt zweimal überlegen, Mister Disraeli oder Mister Dickens Schaden zuzufügen. Anders sähe es bei einem Tosher aus, der sich ihrer Meinung nach ohne viel Aufhebens aus dem Weg räumen ließe.«
Dodger wusste, dass Solomon recht hatte. Immerhin ging es bei dieser Sache auch um Politik, und wenn Politik eine Rolle spielte, waren Geld und Macht nicht weit, und beides mochte für gewisse Leute wichtiger sein als ein Tosher und eine junge Frau.
»Denk dran, dass du morgen, wenn du ins Theater gehst, wieder gut herausgeputzt sein musst«, sagte Solomon. »Übrigens, was hat es mit dem Zettel auf sich, den du da in der Hand hältst? Es ist ungewöhnlich für dich, dass du zu lesen versuchst …«
Dodger gab den ungleichen Kampf auf. »Bitte, sag mir, was das hier bedeutet, Sol, denn ich glaube, es ist wichtig. Ich nehme an, dies sind die Leute, die es auf Simplicity abgesehen haben.«
Die Geschwindigkeit, mit der Solomon Informationen von einem Stück Papier saugte, grenzte für Dodger immer an ein Wunder. »Es ist die Adresse einer Botschaft«, erklärte der alte Mann.
»Was ist eine Botschaft?«, fragte Dodger.
Solomon brauchte einige Minuten, um Dodger die Bedeutung einer Botschaft zu erklären, aber am Schluss der Erklärung standen Dodgers Augen in Flammen, und er sagte: »Nun, du weißt ja, wie es mit mir und dem Lesen steht. Kannst du mir nicht einfach sagen, wo sich die Botschaft befindet?«
»Ich frage mich, ob ich das wagen darf«, erwiderte Solomon. »Aber wie ich dich kenne, gibst du keine Ruhe, bis du es schließlich herausfindest. Bitte, versprich mir wenigstens, dass du niemanden umbringst. Es sei denn, man versucht vorher, dich umzubringen.« Er fügte hinzu: »Eine bemerkenswerte Frau, Angela, nicht wahr?« Er sah aus dem Fenster und fuhr fort: »Ich glaube, ich könnte den Kutscher veranlassen, an der Adresse vorbeizufahren.«
Fünf Minuten später starrte Dodger auf das Gebäude wie ein Taschendieb, der die Hosentaschen eines Lords beobachtet. »Ich fahre mit dir zurück, damit du wohlbehalten heimkommst«, sagte er. »Aber danach warte nicht auf mich.«
Den ganzen Weg nach Seven Dials brannte er vor Ungeduld, während die Kutsche durch dunkle Straßen rumpelte, und als sie zu Hause ankamen, gab er vor, den Schatten nicht zu bemerken, der aus einer finsteren Ecke heraus alles beobachtete. Der Mann schien ihnen keine besondere Beachtung zu schenken, als sie die Treppe hinaufstiegen, wobei Solomon darüber klagte, dass er an diesem Abend so spät ins Bett kam. Dodger verbrachte einige Zeit damit, Onan zu füttern und den üblichen kleinen Abendspaziergang zu unternehmen, und wenig später sah der Beobachter, wie oben hinter dem Fenster das Licht der einen Kerze verschwand.
Auf der anderen Seite des Gebäudes hangelte sich Dodger – der mittlerweile seine Arbeitskleidung trug – an einem Seil hinab, das er stets benutzte, wenn er unbemerkt die Straßen erreichen wollte. Dann schlich er zu dem Mann, der noch immer Ausschau hielt, band in der Dunkelheit die Schnürsenkel seiner Stiefel zusammen, brachte ihn mit einem Tritt zu Fall und sagte: »Hallo, ich heiße Dodger, und wie heißt du?«
Der Mann war zuerst überrascht und dann zornig. »Ich bin Polizist, damit du’s weißt!«
»Ich sehe keine Uniform, Herr Polizist«, meinte Dodger. »Ich sag dir was: Du hast ein nettes Gesicht, und deshalb lasse ich dich laufen, klar? Und richte Mister Robert Peel aus, dass Dodger die Angelegenheit auf seine Weise erledigt, kapiert?«
Dodger lag nicht unbedingt im Clinch mit Scotland Yard, aber die Polizei hatte ihn auf dem Kieker, und das war mehr, als ihm lieb sein konnte. Wenn die Peeler von Scotland Yard jemanden in die Finger bekommen hatten, ließen sie ihn nicht mehr los. Und wenn sich herumsprach, dass er, Dodger, mit den Peelern gesprochen hatte – noch dazu mit ihrer Nummer eins, dem großen Peel höchstpersönlich! –, dachten die Leute auf der Straße womöglich, dass er schlechten Umgang pflegte und sie ausspionierte.
Schlimmer noch: Er selbst wurde ausspioniert. Von Polizisten, die keine Uniform trugen, sondern wie ganz gewöhnliche Männer gekleidet waren. So etwas sollte verboten sein – es war einfach gegen alle Regeln. Immerhin, wenn man einen Peeler in der Nähe sah, verzichtete man vielleicht darauf, jemandem in die Tasche zu langen oder irgendwelche Dinge mitzunehmen, die einfach nur herumlagen und eigentlich niemandem gehörten, oder etwas von einem Karren zu stoßen, wenn der Besitzer gerade nicht hinsah. In Gegenwart von Polizisten blieb man ehrlich, nicht wahr? Aber wenn sie einfach nur herumlungerten und wie Hinz und Kunz aussahen … Damit forderten sie einen praktisch auf, Verbrechen zu begehen, oder? Dodger fand das ausgesprochen fies.
Es lag bereits ein langer Abend hinter ihm, aber es mussten noch gewisse Erledigungen getätigt werden, und zwar schnell, denn sonst drohte er zu platzen. Deshalb eilte er durch die dunklen Straßen, bis er die Bleibe von Ginny-Komm-Spät erreichte.
Beim dritten Klopfen öffnete sie die Tür und schien ziemlich schlechter Laune zu sein, bis sie erkannte, wer vor ihr stand. »Oh, du bist’s, Dodger, wie nett! Äh, ich kann dich noch nicht hereinlassen, du weißt ja, wie es ist, nicht wahr?«
Dodger wusste natürlich, wie es war, denn so war es immer. »Nett, dich zu sehen, Ginny. Erinnerst du dich an das kleine Werkzeugpaket, um dessen Aufbewahrung ich dich bat, als ich Solomon versprechen musste, nie wieder zu klauen? Hast du’s noch?«
Ginny lächelte kurz, verschwand in ihrer Bude und kehrte mit einem Bündel zurück, das in Ölzeug eingehüllt war. Sie drückte Dodger einen Kuss auf die Wange und sagte: »In letzter Zeit höre ich viel von dir, Dodger. Ich hoffe, sie ist es wert.«
Aber Dodger war bereits losgelaufen. Das Laufen hatte ihm immer gefallen, und das war auch gut so, denn ein Dieb, der nicht rasch vorwärtskam, wurde schnell zu einem toten Dieb. Aber nun lief er wie noch nie zuvor, nicht im Dauerlauf, sondern in einem langen Sprint. Gelegentlich bemerkte ein wachsamer Peeler, dass da jemand an ihm vorbeistürmte, blies in seine Pfeife und kam sich unmittelbar darauf ziemlich dumm vor, weil Dodger bereits ein rasch schrumpfendes Stück Dunkelheit in einer Stadt voller Düsternis geworden war. Er lief nicht, er rannte, seine Beine stampften, und das Klopfen seiner Füße auf dem Kopfsteinpflaster war schneller als der Herzschlag. Tauben flogen erschrocken auf. Ein Mann, der ihm in einer Gasse auflauern wollte, bekam einen Faustschlag ab, ohne dass Dodger langsamer wurde. Er wandte sich nicht einmal um, denn … Nun, inzwischen lag alles hinter ihm, während er die Kraft seines Zorns in die Beine lenkte und ihnen einfach folgte, und dann … war es plötzlich wieder da. Das Gebäude.
Dodger verharrte in der Finsternis und musste erst zu Atem kommen – er hatte sein Ziel erreicht und nahm sich Zeit. Im schwachen Licht seiner abgedunkelten Laterne streifte er das Ölzeug des Pakets beiseite, löste die Schnüre des grünen Wollstoffs … Und da glänzten sie, seine kleinen Freunde, der Halbdiamant, der Schneemann, der Spanner und alle die anderen Werkzeuge, die er selbst angefertigt oder verändert hatte, weil jedes Schloss ein bisschen anders war. Sie grüßten ihn und schienen vor ihm zu salutieren, bereit für den Kampf.
Kurze Zeit später bewegte sich Dunkelheit innerhalb von Dunkelheit, und diese besondere Dunkelheit fand auf der unzuträglicheren Seite des Gebäudes eine Metallabdeckung über einem Kellerzugang. Nachdem er sie geölt und ein wenig daran herumgewerkelt hatte, war Dodger drinnen, bereit, den Feind an der Gurgel zu packen. Er grinste, aber es lag keine Freude in diesem Grinsen, eher eine scharfe Klinge.
Das Gebäude war größtenteils dunkel, und Dodger liebte die Dunkelheit. Zufrieden stellte er fest, dass der Boden mit Teppichen ausgelegt war – nicht besonders klug, wenn man eine Botschaft leitete und wissen wollte, ob ungebetene Gäste herumstreunten. Marmorböden waren dafür besser geeignet, wusste Dodger. Manchmal, wenn man nachts darauftrat, klangen sie laut wie eine Glocke. Wenn er früher des Nachts auf Steinfliesen gestoßen war, hatte er sich hingelegt und war gekrochen, um keine Geräusche zu verursachen.
Jetzt lauschte er an Türen, stand hinter Vorhängen und hielt sich von der Küche fern, da man nie wusste, ob noch Bedienstete auf den Beinen waren. Und die ganze Zeit über stahl er. Er stahl auf die gleiche methodische Art und Weise, mit der Solomon wundervolle kleine Objekte herstellte, und er lächelte bei diesem Gedanken, denn nun ließ Dodger wundervolle kleine Objekte verschwinden. Er stahl Schmuck, er knackte jedes Schloss, suchte in jeder Schublade und in jedem Boudoir. Zweimal stahl er in Zimmern, in denen er die Umrisse von Schlafenden wahrnahm. Er scherte sich nicht darum, nichts schien ihn aufhalten zu können – vielleicht war es die Lady, die ihn unsichtbar machte. Er arbeitete schnell und verstaute jeden Gegenstand in einem kleinen Beutel aus Samt im größeren Bündel, damit nichts im falschen Moment klirrte oder klapperte, denn wenn etwas im falschen Moment klirrte oder klapperte, dauerte es nicht mehr lange, bis man am Galgen baumelte.
Mitten im Gebäude, in einem großen Schreibtisch, der seine Geheimnisse zunächst nicht preisgeben wollte und Dodgers Fingern und seinen kleinen Freunden erstaunlich lange Widerstand leistete, fand er Hauptbücher und andere Unterlagen, unter ihnen Manuskripte und Schriftrollen mit rotem Wachs, das immer sehr teuer wirkte. Das Wappen auf einigen der Dokumente kannte er, und ob.
Als er in diesem bedeutsamen, stillen Zimmer stand, dachte er: Ich sollte ihnen irgendeinen Hinweis hinterlassen. Und dann wusste er, was zu tun war. Sie sollen wissen, wer es gewesen ist, dachte er. Weil … Oh, ich könnte alles in Flammen aufgehen lassen, oder? Alle diese Öllampen und Vorhänge. Die vielen Treppen, alle diese Menschen, die oben schlafen. Dodger war noch immer zornig, aber in der warmen Dunkelheit des Raums war er – was auch immer er sonst gewesen sein mochte – kein Mörder. Sie sollen bezahlen, wie ich es bestimme, entschied er, und dieser Moment rettete alle Bewohner vor einem feurigen Tod, was sie natürlich nicht wussten. Sie blieben nur am Leben, weil Dodger, der lautlose Eindringling in ihrer schlafenden Welt, ihnen Gnade gewährte.
Er fühlte sich besser, als er die Situation auf diese Weise betrachtete. Als er weiterschlich, dachte er: Ich habe immer beteuert, dass ich kein Held bin, und ich bin auch kein Held, aber wäre ich jemals einer gewesen, dann hier und jetzt, hundertpro. Schließlich habe ich verhindert, dass eine ganze Botschaft mit vielen Menschen dem Feuer zum Opfer fällt.
Und so, kurz vor Morgengrauen, hatte er das Botschaftsgebäude verlassen und die Stallung nebenan erreicht. Er wusste, dass er dort jeden Moment auf Stallburschen und Pferdeknechte treffen konnte, aber das tat nichts zur Sache, er bewegte sich einfach noch leiser und vorsichtiger, fand den Wagenschuppen, und ja, dort stand die Kutsche mit dem ausländischen Wappen an der Seite. Dodger kniete nieder und betastete die Räder. Bei einem Rad stellte er fest, dass ein Metallteil festsaß und am Rand des Rads kratzte. Dodger versuchte es zu lösen, was ihm jedoch erst mithilfe einer sehr nützlichen kleinen Brechstange gelang. Das Teil flog fort, und er fing es auf, erhob sich, trat näher an das Wappen heran und kratzte so tief wie möglich einen Namen ins Holz: KASPER.
Anschließend ging er mit finsterer Miene und eiserner Entschlossenheit von einer Box zur nächsten, führte ihre Bewohner auf eine nahe gelegene Koppel und schloss das Tor hinter ihnen, denn alle wussten, dass Pferde so dumm waren, bei einem Feuer Zuflucht im Stall zu suchen, weil sie sich dort sicher wähnten – eine Angewohnheit, die erklärte, warum Pferde nicht die Welt regierten. Sie trabten ziellos umher, während Dodger ein Holzstück anzündete und es auf einen großen Heuballen warf. Dann machte er sich durch die nächste Gasse auf und davon, begleitet von dem angenehmen Gefühl, das Richtige getan zu haben, indem er nichts falsch gemacht hatte. Er lief zum Fluss, während hinter ihm das Knacken von Holz und die Schreckensrufe der Menschen immer lauter wurden.
Natürlich weckte ihn Solomon nur kurz nach der üblichen Zeit, wobei es zu berücksichtigen galt, dass er nach der köstlichen Mahlzeit am vergangenen Abend etwas länger als sonst geschlafen hatte. Solomon hatte auch beschlossen, Dodger etwas länger schlummern zu lassen, weil er den Inhalt des nützlichen Bündels untersuchen wollte, denn ohne eine gewisse Neugier wäre er nicht Solomon gewesen. Als Dodger also erwachte und hinter dem Vorhang hervorkam, saß ein strahlender Solomon am Tisch und hatte auf einem Samttuch reichlich Schmuck sowie einige Hauptbücher und Schriftrollen ausgebreitet.
»Mmm, Dodger, ich weiß nicht genau, was du letzte Nacht angestellt hast, aber da ich nicht ohne Weisheit bin, kann ich mir vorstellen, dass du vielleicht eine Rechnung mit jemandem zu begleichen hattest. Natürlich weißt du, dass ich nichts vom Stehlen halte, aber ich habe mit Gott gesprochen, und er ist mit mir der Meinung, dass du unter den gegebenen Umständen den Wunsch verspürt haben könntest, das Gebäude in Brand zu setzen.«
Dodger wirkte für einen Moment verlegen und sagte dann: »Äh, ich habe die Ställe in Brand gesetzt, Sol, weil dort die verdammte Kutsche stand.«
Solomon runzelte kummervoll die Stirn. »Mmm, vermutlich hast du vorher die Pferde herausgelassen.«
»Natürlich«, bestätigte Dodger.
»Und mmm was ist schon Schmuck?«, fuhr der alte Mann fort. Seine Miene hellte sich wieder auf. »Nur glänzende Steine. Und du hast ein sehr gutes Auge. Wirklich gut. Aber ich darf wohl sagen, dass einige dieser Chiffrierbücher von großer Bedeutung für die Regierung sein könnten. Hier stehen Berichte in verschiedenen Sprachen geschrieben, die in gewissen Kreisen großen Schaden anrichten könnten, während andere höchst erfreut darüber wären.«
Dodger fiel nichts anderes ein als zu fragen: »Du bist mir … nicht böse?« Und: »Du kannst alles lesen?«
Der alte Mann schenkte ihm seinen hochmütigsten Blick. »Mmm, ich kann die meisten europäischen Sprachen lesen, mit Ausnahme vielleicht von Walisisch, das ich ein bisschen schwierig finde. Eins dieser Dokumente ist die Kopie einer Nachricht über den Zaren von Russland, der offenbar etwas mmm Ungehöriges mit der Frau des französischen Botschafters angestellt hat. Du liebe Güte, was so alles passiert … Ich frage mich, was geschähe, wenn es bekannt würde. Dodger, wenn du nichts dagegen hast … Ich halte es für ratsam, jemanden wie Sir Robert mit dieser Information vertraut zu machen, die nur eine von vielen ist, über die die Regierung Ihrer Majestät Bescheid wissen sollte. Ich werde dafür sorgen, dass Sir Robert dieses Material auf mmm diskrete Weise erhält.«
Er zögerte. »Natürlich sehe ich keinen Grund, ihn auf den Schmuck hinzuweisen. Der übrigens ein Vermögen wert ist. Allein die Rubine. Vielleicht ein Geschenk, das du von einem Prinzen und seinem Vater erhalten hast? Du weißt, ich bin kein Hehler, aber ich kenne einige Personen, die uns diese Sachen abnähmen, und bestimmt kann ich einen annehmbaren Preis dafür aushandeln. Ja, ich bin sogar sicher, denn immerhin gehen die Betreffenden wie ich zur Synagoge, und früher oder später muss jeder mit dem Teufel verhandeln, und bei solchen Gelegenheiten ist Gott geneigt, ihm zu einem guten Preis zu verhelfen. Natürlich bekommst du nicht den vollen Wert, aber ich schätze, dass du nach meinen Verhandlungen ein zweites Vermögen besitzen wirst. Vielleicht eine Mitgift für deine junge Dame?«
Solomon nahm eins der Papiere vom Stapel. »Und mmm ich bitte dich nur darum, dieses Dokument über den Zaren zu behalten und es vielleicht eines Tages zu nutzen, wenn sich Gelegenheit dazu ergibt, vor allem wenn mein junger Freund Karl noch lebt … Mmm, da fällt mir ein, dass sich unter diesen Dokumenten auch ein Text befindet, der ein Mitglied unserer eigenen königlichen Familie betrifft. Ich denke, ich sollte ihn ins Feuer werfen …« Er zögerte für einen Moment. »Aber vielleicht bewahre ich ihn an einem sicheren Ort auf mmm, damit er nicht die Aufmerksamkeit unfreundlicher Augen erlangt.« Er lächelte erneut. »Natürlich haben Gentlemen wie wir nichts mit solchen Angelegenheiten zu tun, doch es gibt Zeiten, da könnte es nötig werden, ein wenig Druck auszuüben.«
Im Anschluss an diese Worte verstaute Solomon sowohl den Schmuck als auch die wertvollen Dokumente irgendwo in seiner großen Jacke und wandte sich seinem Arbeitstisch zu, während Dodger Platz nahm und ins Leere starrte. Er dachte: Stell Solomon in einen Raum mit lauter Anwälten – wie viele entkommen dann aus dem Zimmer, und in welchem Zustand kriechen sie über den Boden?
Er nutzte diese Gelegenheit. »Solomon, könntest du bitte eine kleine Arbeit für mich erledigen? Wäre es dir möglich, ein wenig Gold aus diesem Haufen einzuschmelzen und einen Ring daraus zu machen? Vielleicht mit einem anständigen Rubin? Und möglicherweise dem einen oder anderen Diamanten als krönendem Abschluss?«
Solomon sah auf. »Mmm, es wäre mir eine Freude, Dodger, und natürlich biete ich dir einen guten Preis.« Er lachte, als er Dodgers Gesicht sah. »Im Ernst, mein Freund, was denkst du nur von mir? Du solltest wissen, dass ich mir einen Scherz erlaubt habe, obwohl ich nicht oft scherze.« Er fügte hinzu: »Mmm, möchtest du vielleicht eine Gravur?« Er wirkte ein wenig hinterlistig, als er sagte: »Vielleicht eine Gravur, die sich auf eine bestimmte junge Dame bezieht? Auf den genauen Wortlaut können wir uns später noch einigen, ja?«
Dodger errötete und fragte: »Kannst du auch Gedanken lesen?«
»Mmm, natürlich! Und du kannst es ebenfalls. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich öfter Gelegenheit hatte, Gedanken zu lesen. Und in einigen der Köpfe, in die ich geblickt habe, ging es ziemlich wirr zu, das kann ich dir versichern.«
Dodger lehnte sich zurück. »Ich habe dich nie zuvor gefragt, aber du weißt so viel und kannst so viel. Warum verbringst du die meiste Zeit damit, in dieser schäbigen Mansarde an altem Schmuck und Teilen von Uhren herumzufummeln? Du könntest dich doch ganz anderen Aufgaben widmen.«
Und Solomon antwortete: »Das ist eine schwierige Frage, aber sicher kennst du die Antwort, mmm? Meine Arbeit gefällt mir, und ich bekomme angemessene Vergütung. Anders ausgedrückt: Man gibt mir Geld für etwas, das mir Spaß macht.« Er seufzte und fuhr fort: »Aber der Hauptgrund lautet vermutlich: Ich kann nicht mehr so schnell laufen wie früher, und der Tod ist so endgültig, weißt du.«
Bei den letzten Worten setzte sich Dodger auf. Aber es war wie ein Ruf zu den Waffen, wie eine Uhr, die plötzlich tickt. Es bedeutete, dass Dodger nicht so frei war, wie er zu sein geglaubt hatte, denn die Zeit gebot über ihn, und deshalb zog er sich rasch an.
Er musste in dieser Angelegenheit überaus vorsichtig sein. Er kannte viele Leute, denen er vertrauen konnte, aber es gab verschiedene Stufen des Vertrauens, beginnend bei Personen, die Vertrauen bei einem Sixpence verdienten, bis hin zu solchen, denen er sein Leben anvertrauen durfte. Der letzten Kategorie ließen sich nicht viele Leute zuordnen, und es war vermutlich eine kluge Entscheidung, ihren guten Willen keinen allzu großen Belastungen auszusetzen, denn a) guter Wille, auf den zu oft zurückgegriffen wurde, neigte dazu, einen Teil seines Glanzes zu verlieren, und b) war es nicht gut, wenn andere zu viel über Dodgers Pläne erfuhren.
Er machte sich noch einmal auf den Weg zu Marie Jos Bude, die um diese Zeit vermutlich nicht allzu viel zu tun hatte, denn die meisten ihrer Kunden waren draußen auf den Straßen damit beschäftigt, zu betteln, zu stehlen oder, wenn alles andere versagte, genug Geld für das Abendessen zu verdienen. Aber Marie Jo war da, zuverlässig wie das Geläut der Glocken von St. Mary-le-Bow, und Dodger achtete auf seine eigene Zuverlässigkeit, indem er ihr die versprochenen Münzen für die Suppe der Kinder gab. Und dann teilte er ihr sein Anliegen mit, leise, obwohl kaum jemand in der Nähe war.
Als sie lachte und etwas Unverständliches auf Französisch erwiderte, sagte er: »Ich kann dir nicht verraten, warum ich das brauche, Marie Jo.«
Sie sah ihn an, lachte erneut und zeigte ihm den Gesichtsausdruck, den manche Frauen bekommen, wenn sie sich einem flotten jungen Herrn wie Dodger gegenübersehen, und er kannte ihn, weil er lange Zeit an der Universität von Dodger studiert hatte. Es war ein Gesicht, in dem sich Vorwurf und Nachsicht miteinander verbanden und ein unentwirrbares Bündel bildeten. Die Augen in diesem Gesicht funkelten, und er wusste, dass Marie Jo alles für ihn tun würde. Aber mit diesem Wissen wurde ihm auch klar, dass er nicht zu viel von ihr verlangen sollte.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß und sagte: »Cherchez la femme?« Diese Worte verstand Dodger und gab sich verlegen. Marie Jo lachte einmal mehr, ein Lachen, das irgendwie aus ihrer Kindheit zu kommen schien, und sie bestand darauf, dass er sie an der Bude vertrat und Zwiebeln und Karotten schnitt, während sie den kleinen Auftrag für ihn erledigte. Wie peinlich! Am helllichten Tag sähen die Leute, wie Dodger … ja, Dodger – an einem Verkaufsstand arbeitete. Gut nur, dass kaum jemand unterwegs war.
Zum Glück kehrte Marie Jo schon nach kurzer Zeit mit einem kleinen Paket zurück, das er sorgfältig verstaute, und zum Dank verbrachte Dodger eine weitere halbe Stunde damit, Gemüse zu schneiden. Es war sogar eine recht angenehme Tätigkeit, denn sie gab dem inneren Dodger Gelegenheit, über die nächsten Schritte nachzudenken, die ihn zu den Gebrauchtläden und Pfandleihern führen sollten. Er wusste, was er brauchte, aber es durfte nicht alles aus demselben Laden stammen, obwohl er in einem Geschäft, wo es nach schlampig gewaschener Wäsche roch, Glück hatte, denn dort fand er das Gesuchte, und der Inhaber stank nach Gin und schien ihn gar nicht zu erkennen.
Aber die Uhr tickte noch immer und ließ ihm immer weniger Zeit.
Am Nachmittag, nach einem Abstecher ins Gunner’s Daughter und zwei Pints mit einigen Kumpeln, insbesondere einem – der gute alte Dodger, er vergaß seine Freunde nicht, jetzt, da er nach der Sache mit dem teuflischen Friseur Geld besaß –, war er bereit, obwohl ihm Solomons Kichern nicht gefiel.
Dodger hatte gehört, dass Gott alles beobachtete, obwohl er, was die Slums von London betraf, oft die Augen zu schließen schien. Vielleicht sah Gott an diesem Tag nicht hin, und die Leute nahmen ohnehin nicht viel wahr. Vielleicht hätte nur ein Beobachter auf dem Mond die alte Frau bemerkt – eine bedauernswerte, mitleiderregende Alte, selbst nach den Maßstäben der schmutzigen Viertel –, die sich an einem Seil hinabhangelte, äußerst geschickt auf dem Boden landete und mühsam davonhumpelte.
Was diesen Teil des Plans betraf, machte sich Dodger keine allzu großen Sorgen. Es gab nur wenige Stellen, von denen aus man das Seil sehen konnte, aber leider kam eine gebrechliche alte Frau nur langsam voran. Gebrechliche alte Frauen – ungewaschen obendrein, wie in diesem Fall – hatten gewöhnlich nicht das Geld, mit einer Kutsche zu fahren, aber Dodger wollte nicht den ganzen weiten Weg bis zum Fluss auf diese Weise vorwärtskommen. Indem sie verzweifelt mit ihrem Gehstock winkte, gelang es der Alten, eine Kutsche anzuhalten, und als der Kutscher den erbarmungswürdigen Zustand des alten Mädchens sah, dessen Gesicht dank Marie Jo eine fröhliche Spielwiese für Warzen zu sein schien, dachte er an seine alte Mutter, half ihr beim Einsteigen und gab ihr nicht einmal zu wenig Wechselgeld heraus.
O ja, sie war eine wirklich höchst bedauernswerte Alte, die roch, als hätte sie sich seit mindestens einer Woche nicht gewaschen. Und Warzen? Nie zuvor hatte man so schreckliche Warzen gesehen. Sie trug eine Perücke, aber das war angesichts der Empfindlichkeiten alter Frauen nicht ungewöhnlich, und lieber Himmel, es war eine schreckliche Perücke, so ziemlich das Schlimmste, was ein Gebrauchtladen anzubieten hatte.
Der Kutscher sah ihr voller Mitleid nach, als sie humpelte, als täten ihr die Füße weh, was auch tatsächlich der Fall war, denn Dodger hatte sich Holzstücke in die Stiefel gelegt, wodurch jeder Schritt zur Qual wurde. Als er den nächsten Kai erreichte, schienen seine Füße in Flammen zu stehen. Marie Jo hatte ihm einmal gesagt, dass jemand mit seinem Talent auf der Bühne stehen sollte wie sie einstmals selbst, aber er wusste, dass Schauspieler nicht viel verdienten. Eine Bühne zu betreten, lohnte sich seiner Meinung nach nur, wenn es dort etwas zu stehlen gab.
Ein Fährmann und zufälligerweise ein Bursche, mit dem Dodger einige Stunden zuvor geplaudert hatte – der Doppelte Henry, ein Stammgast im Gunner’s Daughter –, setzte die arme Alte mit den Warzen und den grässlichen Zähnen über und half ihr in der Nähe des Leichenhauses von Four Farthings, Londons kleinstem Bezirk, freundlich von Bord. Vielleicht beobachtete jemand auf dem Mond, wie die Alte von dort aus zum Büro des Coroners hinkte. Sie bot einen wahrhaft herzzerreißenden Anblick. Einen so herzzerreißenden, dass ein Beamter im Leichenhaus, der von Lebenden nicht viel hielt und an chronisch schlechter Laune litt, ihr sogar eine Tasse Tee anbot, bevor er ihr den Weg zum Büro des Coroners beschrieb.
Der Coroner war ein freundlicher Mann – wie die meisten Coroner, was erstaunlich war, wenn man bedachte, was sie alles sahen und wussten. Dinge, die anständige Leute nicht sehen und von denen sie auch nichts wissen sollten. Dieser Coroner hörte der Alten zu, die tränenüberströmt von ihrer vermissten Nichte erzählte. Es war eine vertraute Geschichte, so bekannt wie jene, die Dodger von der Dreckigen Dory gehört hatte: Das süße Mädchen kam aus irgendeinem Ort in Kent, in der Hoffnung, in London eine gute Anstellung und ein besseres Leben zu finden. Aber was sie erwartete, war ein schrecklicher Apparat, der die Hoffnungsvollen, Unschuldigen und ganz allgemein die Lebenden nahm und sie … in etwas anderes verwandelte.
Der Coroner kannte derlei, denn er hatte jeden Tag damit zu tun, aber er war überwältigt von den Tränen und dem Wehklagen in der Art von: »Ich habe es ihr gesagt, ich habe gesagt, wir kämen schon zurecht, irgendwie.« Und: »Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht mit irgendwelchen Männern auf der Straße reden soll, Sir, ja, das habe ich gesagt, Sir, aber Sie wissen ja, wie das mit jungen Mädchen ist, Sir. Wie leicht fallen sie doch einem schneidigen Herrn mit ein bisschen Geld zum Opfer. Ach, hätte sie doch nur auf mich gehört! Ich mache mir für immer und ewig Vorwürfe.« Und: »Ich meine, auf dem Land ist es anders als in der Stadt, weiß Gott. Ich meine, wenn ein Junge und ein Mädchen sich näherkommen und wenn sie einen Bauch kriegt, dann spricht ihre Mama ein Wörtchen mit ihr, nicht wahr? Und dann spricht ihre Mama auch mit ihrem Papa, und der Papa spricht in der Schenke mit seinem Papa, und alle seufzen und sagen: ›Ach, na ja, wenigstens zeigt sich, dass sie Kinder kriegen können.‹« Der Alten zufolge würden sich die jungen Leute dann bald an den Priester wenden, und so käme alles in Ordnung.
Der Coroner, nicht nur ein Mann von dieser Welt, sondern in gewisser Weise auch von der nächsten, bezweifelte, dass es so einfach war, aber darauf wies er nicht hin. Schließlich erzählte die Alte, wie das junge Mädchen aus dem Haus gelaufen war und dass sie überall nach ihr gesucht hatte, bei jeder Brücke. An dieser Stelle nickte der Coroner kummervoll, denn es war immer wieder die gleiche tragische Geschichte. Er wusste, dass des Nachts Angehörige des christlichen Diensts unterwegs waren und auf Londons Brücken nach diesen unglücklichen beschmutzten Tauben Ausschau hielten. Meistens erhielten die jungen Dinger eine Broschüre und wurden aufgefordert, nicht zu springen. Manchmal gelang das sogar, aber anschließend kam das Armenhaus, und nach der Geburt sah die arme Mutter ihr armes Kind meist nie wieder.
Man musste sich eine Haut so dick wie die eines Nashorns zulegen, wenn man täglich mit derlei Angelegenheiten zu tun bekam, und zu seinem Leidwesen brachte es der Coroner nicht fertig, alles an sich abprallen zu lassen. Bedrückt hörte er zu, während die Alte weiterhin über ihre Nichte sprach. Zwischen häufigem Schluchzen brachte sie hervor: »Ein blaues Kleid, Sir, nicht sehr neu, aber mit hübscher Unterwäsche, Sir, konnte sehr gut mit Nadel und Faden umgehen, konnte sie … Schmuck gab es keinen, nur einen eisernen Ring, angefertigt aus einem Hufnagel, aber es ist ein Ring, verstehen Sie, und ein Ring ist ein Ring, Sir. Dies ist vielleicht wichtig, Sir: Sie hatte blondes Haar, herrlich blondes Haar. Hat’s nie geschnitten wie die anderen Mädchen, die es jedes Jahr schneiden ließen und es dem Perückenmacher verkauften, wenn er vorbeikam. Davon wollte sie nichts wissen, Sir, sie war ein gutes Mädchen …«
Als der Coroner dies hörte, erhellte sich seine Miene ein wenig, wie Dodger zufrieden feststellte. Es war die Mühe wert gewesen, den Doppelten Henry zu suchen und bei zwei Pints alle Einzelheiten aus ihm herauszuholen.
»Es wäre sicher nicht angebracht, in diesem Fall von Glück zu sprechen, Madam«, sagte der Coroner, »aber es könnte sein, dass wir Ihre Nichte bei uns im Leichenhaus haben, und zwar schon seit einigen Tagen. Ich habe sie gestern bei meinem Rundgang bemerkt und war von dem wunderschönen blonden Haar beeindruckt. Ach, an der unteren Themse spielen sich solche Tragödien leider viel zu häufig ab. Was diese liebliche junge Frau betrifft, hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass ein Familienangehöriger kommt und nach ihr fragt.«
Daraufhin brach die Alte fast zusammen und wimmerte: »Oje, was soll ich nur ihrer Mutter sagen? Ich meine, ich habe ihr versprochen, gut auf sie achtzugeben, aber die jungen Mädchen heutzutage …«
»Ja, ich verstehe voll und ganz«, sagte der Coroner schnell und fuhr fort: »Trinken Sie noch eine Tasse Tee, gute Frau, und dann bringe ich Sie zur fraglichen Leiche.«
Diesen Worten folgten neuerliches Wehklagen und noch mehr Tränen, und es waren echte Tränen, denn inzwischen ging Dodger so sehr in seiner Rolle auf, dass er – beziehungsweise sie – zu einem Ohnmachtsanfall imstande gewesen wäre. Vorsichtig trank er den Tee und achtete darauf, dass keine Warze abfiel. Kurze Zeit später führte der Coroner die Alte, die er so sehr bemitleidete, am Arm zum Leichenhaus. Die Leiche der fraglichen jungen Frau war ein wenig gesäubert worden, wodurch man glauben konnte, sie schliefe nur, und ein Blick genügte der armen Alten. Hier handelte es sich nicht mehr um reine Schauspielerei, und wenn doch, so hätte der Auftritt den donnernden Applaus des Publikums verdient.
Die alte Frau wandte dem freundlichen Coroner ein Gesicht voller Haare, Rotz und Tränen zu und sagte: »Ich bin nicht reich, Sir, ich bin es wirklich nicht. Das Grab für meinen lieben Arthur in Lavender Hill hat mich das letzte Geld gekostet, Sir, es wird sicher eine Weile dauern, bis ich ein anständiges Begräbnis für meine arme Nichte bezahlen kann. Glauben Sie, man nähme sie bei Crossbones?«[6]
»Das weiß ich nicht, Madam, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Ihre liebe Nichte vom Land, die sich erst seit kurzer Zeit in der Stadt aufhielt, zu einer …« Der Coroner räusperte sich verlegen und fuhr fort: »… zu einer Winchestergans geworden ist.« Er holte sein Taschentuch hervor und wischte eine höchst ungewöhnliche Träne fort. »Madam, ich bin gerührt von Ihrer Notlage und der Entschlossenheit, mit der Sie das Beste für die Seele dieser armen jungen Dame zu tun versuchen. Es mangelt uns hier nicht an Eis, und ich garantiere Ihnen, dass Ihre Nichte bei uns bleiben kann, nicht für immer, wohl aber für etwa zwei Wochen, und diese Zeit sollte mir reichen, mit den Personen in Kontakt zu treten, die Ihnen vielleicht helfen können.«
Er wich einen Schritt zurück, als die Alte versuchte, die nicht sehr angenehm riechenden Arme um ihn zu schlingen. »Gott segne Sie, Sir, Sie sind ein wahrer Gentleman«, sagte sie. »Ich werde jeden Stein umdrehen, Sir, ja, das werde ich, Sir, vielen, vielen Dank für Ihre Güte. Ich habe einige Freunde, mit denen ich reden kann und die mir vielleicht dabei helfen, ihrer Mama einen Brief zu schreiben, vielleicht haben sie das Geld fürs Porto, und ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um Ihnen keine Last zu sein, Sir. Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, ich hätte jemanden von Ihnen ins Armengrab gebracht, Sir.« An dieser Stelle strömten tatsächlich Tränen über die Wangen des Coroners. Und Dodger meinte es ernst. Der Mann war ein anständiger Bursche, das merkte er sich.
Der Coroner beauftragte einen Beamten, die Alte zum Kai zurückzubringen, und bevor er sie verabschiedete, drückte er ihr genug Geld für den Fährmann in die Hand. Und so sah der namenlose Beobachter auf dem Mond, wie die arme Alte durch die böse Stadt humpelte, bis sie in einer Gasse plötzlich in die Kanalisation fiel, wo sie starb, aber sofort als Dodger wiedergeboren wurde – was sie vermutlich der Lady verdankte –, noch dazu als ein erschütterter Dodger.
Er war daran gewöhnt, Rollen zu spielen. Als Dodger musste er mit allen Wassern gewaschen sein, allen ein Freund und niemandem ein Feind. Das war schön und gut, aber manchmal wich das alles fort, und dann war er nur noch Dodger, allein im Dunkeln. Er merkte, dass er zitterte, und unten in den gastlichen Abwasserkanälen hörte er die Geräusche von London, gefiltert von den Abflussgittern. Sorgfältig packte er die Sachen der alten Frau zu einem Bündel zusammen und versuchte sich die genaue Stelle einer jeden Warze einzuprägen. Dann ging er los.
Er war noch immer traurig wegen des ertrunkenen Mädchens, so traurig wie die Alte. Es war wirklich alles sehr schade und auch eine Schande, dass so etwas passierte. Er wollte dafür sorgen, dass die Unbekannte tatsächlich ein ordentliches Begräbnis bekam, wenn dies alles vorbei war – sie sollte weder in einem Armengrab enden noch an einem womöglich noch schlimmeren Ort. Geistesabwesend toshte er sich seinen Weg durch die Stadt und sammelte dabei die eine oder andere Münze ein.
Nun, das mit dem Coroner war geklärt, aber Leichen benötigten viel Aufmerksamkeit, und es nutzte nichts, er musste zu Missus Holland. Das bedeutete einen Abstecher nach Southwark, und dort musste selbst ein Geezer wie Dodger vorsichtig sein. Aber wenn es einen vorsichtigen Geezer gab, so war es Dodger.
Missus Holland. Sie hatte keinen anderen Namen. Schon allein galt sie als eine Gang, und wenn das nicht reichte, war da noch ihr Mann namens Aberdeen Knocker, von seinen Freunden Bang genannt, der die Stadt Aberdeen vermutlich nie gesehen hatte; sie lag irgendwo im Norden, vielleicht in Wales. Der Spitzname war einfach auf ihm gelandet, wie es in Londons Straßen oft geschah – Dodger hatte seinen auf ähnliche Weise bekommen –, aber seine Haut war schwarz wie das Innere eines Kamins. Seit sechzehn Jahren war er mit Missus Holland verheiratet, zumindest rein theoretisch. Ihr Sohn, aus irgendeinem Grund von allen Halber Bang genannt, war so schlau wie ein Verlies voller Anwälte und eine echte Hilfe für die Geschäfte der Familie, die vor allem Immobilien und Menschen betrafen.
Missus Holland hatte großes Organisationstalent und außerdem eine sehr fruchtbare Phantasie. Praktisch jeder Seemann, der im Hafen von London an Land gegangen war, hatte Missus Hollands League besucht, wie man es nannte, für gewöhnlich zu dem Zweck, jungen Damen zu begegnen, die in den oberen Etagen des Gebäudes residierten, während sich Missus Holland in ihrem Büro im Erdgeschoss um alles kümmerte. Es ging das Gerücht, dass Missus Holland, da sie nun mal Missus Holland war, Seeleute manchmal schanghaien ließ und auf eine wundervolle Reise schickte, vielleicht um Kap Horn oder in Davy Jones’ Kiste. Aber wenn sie nicht gerade irgendwelche Matrosen mit schönen Ferien beglückte, bewerkstelligte Missus Holland das eine oder andere.
Bei den Docks galt sie als Königin, und niemand stellte diese Tatsache infrage, wenn Bang sie begleitete. Es wäre schwierig gewesen, ihrer aktuellen Tätigkeit einen Namen zu geben, aber Dodger wusste, dass sie einmal Krankenschwester und Hebamme gewesen war. Offenbar hatte sie sich ihren Lebensunterhalt damit verdient, Dinge zum Vorschein oder – was öfter geschehen war – zum Verschwinden zu bringen. Wenn man als jemand kam, der genauere Einblicke in ihre Beschäftigung wünschte, so riskierte man, bald jemand zu sein, der die Themsebrücken von unten betrachtete.
Dodger kam natürlich gut mit der Familie zurecht, insbesondere mit Bang, der dem jungen Dodger einmal die Narben von den Fußeisen und auch das Brandzeichen gezeigt hatte, mit dem die Sklavenhalter ihr Eigentum kennzeichneten. Trotz seiner Vergangenheit war er ein sanfter, umgänglicher Mann, und als er auf Dodgers Klopfen hin die Tür öffnete, hielt er einen knurrenden, zähnefletschenden Hund von satanischen Ausmaßen zurück, der die vorderste Verteidigungslinie der Familie bildete. Sie besaß auch eine Donnerbüchse, groß wie ein Waldhorn und angeblich geladen mit Schwarzpulver, Steinsalz und – für besondere Gäste und begriffsstutzige Besucher – mit Nägeln verschiedener Größe.
Dort stand Missus Holland höchstpersönlich, mit ihrem Mehrfachkinn und dem großen runden Gesicht, in dem es viel Platz für ihr Lächeln und für die hellblauen Augen gab, in denen, wie Dodger festgestellt hatte, immer dann unzweifelhafte Aufrichtigkeit leuchtete, wenn sie eine glatte Lüge erzählte. Sie ließ die Donnerbüchse sinken und rief fröhlich: »Dodger! Wie er leibt und lebt! Willkommen! Willkommen!«
Kurze Zeit später saß sie in ihrem kleinen Privatzimmer und hörte sich Dodgers Geschichte an. Der Hund namens Jasper lag friedlich zu ihren Füßen, aber jederzeit bereit, auf ihre Anweisung hin sogleich aufzuspringen und zu knurren. Eine Weile wirkte Missus Holland recht nachdenklich, dann sagte sie: »Oh, es ist erstaunlich, wie lebendig eine Leiche wirken kann. Steif am einen Tag und ganz verspielt am nächsten. Was du vorschlägst, ist keine Reise für Unerfahrene, aber ich weiß Bescheid, o ja. Mit Leichen bin ich recht vertraut, wie dir bekannt sein dürfte. Also hör deiner Lieblingstante gut zu, ja? Nun, zunächst einmal brauchst du …«
Dodger lernte schnell, und nach einigen Minuten sagte er: »Ich stehe in Ihrer Schuld, Missus Holland.«
Sie lächelte und erwiderte: »Weißt du, ich habe dich immer für einen meiner feschen Jungs gehalten. Was die Schuld betrifft … Nun, wer weiß? Eines Tages hast du vielleicht Gelegenheit, mir eine Gefälligkeit zu erweisen. Keine Sorge, mir ist klar, dass du kein Killer bist, in dieser Hinsicht fiele meine Wahl also nicht auf dich. Aber es gibt noch andere Aufgaben, und wie heißt es so schön? Eine Hand wäscht die andere.«
Dodger blickte auf Missus Hollands dicke Hände, die den Eindruck erweckten, als hätten sie sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Aber er verstand die Bedeutung der Worte und hieß sie gut. Gefälligkeiten waren hier unten eine Währung, ebenso auf der Straße. Er wusste auch, dass Missus Holland immer ein Lächeln für ihn übrig hatte, vielleicht sogar noch etwas mehr, aber es brachte nichts, sich auf ein Lächeln zu verlassen.
Als er sich verabschiedete, wurde sie plötzlich ernst. »Mir scheint, du hast in ein Wespennest gestochen, mein kleiner Junge. Und es gibt da einige Leute, die ich nicht mag, von denen ich aber höre, und einer von ihnen ist ein Typ, den man den Ausländer nennt. Sagt dir der Name irgendetwas?«
Dodger schüttelte den Kopf, und Missus Hollands Gesicht zeigte plötzlich Unbehagen. Sie blickte kurz zu ihrem Mann hinüber und wandte sich dann erneut an Dodger. »Ich weiß nicht, ob ich ihm je begegnet bin, ich weiß auch nicht, wie er aussieht, aber nach allem, was man hört, ist er ein eiskalter, eisenharter Killer. Vielleicht befindet er sich zum ersten Mal in England, und wie mir zu Ohren kam, fragt er nach jemandem namens Dodger und einer jungen Frau. Es ist kaum etwas über ihn bekannt. Manche behaupten, er sei Holländer, für andere ist er ein Schweizer. Aber immer ist er ein Killer, der aus dem Dunkel kommt, den Auftrag erledigt, sein Geld nimmt und wieder im Dunkel verschwindet. Angeblich lässt er sich ständig von einer Frau begleiten, und es soll immer eine andere sein.« Missus Holland runzelte die Stirn. »Keine Ahnung, warum ich ihn hier noch nicht gesehen habe, obwohl er Frauen so sehr mag. Vielleicht erscheint er irgendwann. Oder er war schon mal hier, und wir haben ihn nicht erkannt, denn niemand weiß, wie er aussieht. Manche behaupten, ihm begegnet zu sein, und in ihren Erzählungen ist er groß und schlank, doch in anderen Berichten ist von einem recht kleinen Burschen die Rede. Alles deutet auf einen Meister der Tarnung hin. Und wenn er mit einem reden will, schickt er eine seiner Frauen mit einer Botschaft.«
Missus Holland blickte in das rauchende kleine Kaminfeuer und wirkte ungewöhnlich besorgt. »Ich kann nicht behaupten, dass ich Leute wie den Ausländer kennenlernen möchte. Er scheint mir ein scheußlicher Albtraum zu sein. Die meiste Zeit über bleibt er in Europa, wo man Schurken wie ihn verdient hat, und es gefällt mir gar nicht, dass er nun bei uns aufkreuzt. Ich mag dich, Dodger, das weißt du. Aber wenn dir der Ausländer im Nacken sitzt, brauchst du einige zusätzliche Portionen Cleverness.«
Dodger achtete darauf, dass sein Gesicht fröhlich blieb, als er fragte: »Und niemand hat ihn jemals richtig gesehen?«
»Nein«, erklärte Missus Holland. »Viele scheinen ihn gesehen zu haben, aber ihre Beschreibungen betreffen jedes Mal einen anderen Mann.«
Ihre Sorge war greifbar, Dodger fühlte sie deutlich. Und dies war eine Frau, die einen betrunkenen Seemann ohne große Skrupel in ein wahrscheinlich wässeriges Grab geschickt hätte. Offenbar gab es gewisse Umstände, die selbst sie beunruhigten, und sie sagte: »Vielleicht überrascht es dich, mein Junge, dass eine grässliche alte Schachtel wie ich ein gewisses Niveau hat, und deshalb sage ich dir: An deiner Stelle hielte ich die Augen selbst im Schlaf offen. Und jetzt gib mir einen dicken Kuss, denn es könnte der letzte sein, denn ich von dir bekomme.«
Dodger kam der Aufforderung nach, zur großen Belustigung von Bang, und er achtete darauf, sein Gesicht erst abzuwischen, als er ein ganzes Stück entfernt war. Dann kehrte er so weit wie möglich durch die Kanalisation nach Hause zurück.
Jemand, den niemand beschreiben konnte, trieb sich dort draußen herum und hatte es auf ihn und Simplicity abgesehen …
Nun, er musste sich in der Schlange anstellen.