5 Der Held der Stunde begegnet seiner Maid, die erneut in Not gerät, bekommt aber einen Kuss von einer sehr enthusiastischen Lady


Solomon arbeitete noch an seiner kleinen Drehbank, als Dodger die Treppe heraufkam. Es war seltsam, Solomon bei der Arbeit zu beobachten, denn er verschwand dabei. Oh, er war noch immer da, aber sein Gehirn schien in den Fingerspitzen zu stecken und achtete auf nichts anderes als das, womit die Hände beschäftigt waren, bis alles zu einem natürlichen Vorgang wurde, so sanft wie das Wachsen von Gras. Dodger beneidete ihn um seinen Frieden, aber so etwas passte nicht zu ihm, das wusste er.

Sols Klamotten hätten ebenfalls nicht zu ihm gepasst. Wenn der alte Knabe zur Synagoge ging, trug er sommers wie winters eine Pluderhose und einen abgewetzten Gabardinemantel. Und sicher in seine Mansardenhöhle zurückgekehrt, trug er Pluderhosen, die noch schlabberiger waren, mit einer Weste, die – das musste man ihm lassen – immer so weiß wie möglich war. Die Füße steckten oft in bestickten Pantoffeln, die aus irgendeinem fremden Land stammten, in dem Solomon irgendwann gelebt hatte und aus dem er, früher oder später, geflohen war. Und schließlich die Schürze: Sie hatte vorn große Taschen, damit kleine und teure Dinge, die vom Arbeitstisch rollten, darin landeten.

Ein appetitlicher Geruch wehte vom Topf auf dem Herd herüber – Missus Quicklys Hammelfleisch wurde einem guten Zweck zugeführt – und veranlasste Dodger, sich die Lippen zu lecken. Er wusste nie, wie Solomon das schaffte. Der alte Knabe war imstande, selbst aus einem halben Ziegelstein und einem Holzbrocken ein leckeres Essen zu zaubern. Einmal hatte er ihn danach gefragt, und Solomon hatte geantwortet: »Mmm, ich schätze, es liegt an den langen Wanderungen durch die Wildnis. Dabei lernt man, aus Wenigem möglichst viel zu machen.«

Den größten Teil der Nacht lag Dodger auf seiner Matratze wach, und das Wachliegen fiel ihm nicht weiter schwer. Unten auf den Gassen und in den Höfen kam es ständig zu Prügeleien, wenn die Männer von der Arbeit heimkehrten, und dann das Plärren der Säuglinge und das Gezänk – der ganze Lärm, der das Wiegenlied von Seven Dials war. Glückliche Familien, dachte er. Gibt es glückliche Familien? Und über den Straßen erklangen die Glocken; ihr Läuten hallte weit über die Stadt.

Dodger starrte an die Decke und dachte an die Kutsche. Von der Dreckigen Dory war vermutlich keine weitere Hilfe zu erwarten. Das hieß, er musste weiterhin Fragen stellen, um mehr herauszufinden – in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit jener Leute auf sich zu ziehen, die es gar nicht mochten, wenn derartige Fragen gestellt wurden, und denen es noch viel weniger gefiel, wenn jemand sie beantwortete.

Wo sollte er anfangen? Ein quietschendes Rad und eine noble Kutsche. Trug sie ein Wappen? Vielleicht eins mit Adlern? Möglicherweise erinnerte sich die junge Frau an Einzelheiten, wenn er sie wiedersah …

Nun, dachte er, Mister Mayhew will mich wiedersehen, ebenso seine Frau, und ein kluger junger Mann könnte sich schick machen, seine Stiefel putzen und sich das Gesicht waschen, bevor er losgeht und sie besucht. In der Hoffnung, dass er das Treffen mit etwas mehr als einer Tasse Tee verlässt, zum Beispiel etwas zu essen. Und wenn er überaus brav und respektvoll ist, dann lässt man ihn vielleicht noch einmal zu der jungen Dame mit dem wundervollen goldenen Haar.

Man kann Schläue nicht einfach beiseitelegen, wenn man sie nicht mehr braucht, und Dodgers Schläue flüsterte ihm ein, dass er vielleicht auch Geld bekäme, wenn er ein braver Junge war. Denn er glaubte zu verstehen, zu welcher Sorte von Menschen Mister und Missus Mayhew gehörten. Erstaunlicherweise begegnete man manchmal feinen Leuten, die tatsächlich Anteil nahmen an den Leuten auf der Straße und sich ihretwegen schuldig fühlten. Wenn man arm war und einigermaßen sauber und manierlich zu sein versuchte, und wenn man außerdem eine Leidensgeschichte so gut erzählen konnte wie Dodger – der sie gar nicht zu erfinden brauchte, denn in seinem Leben hatte es genug echtes, wahrhaftiges Leid gegeben –, dann waren sie wahrhaftig bereit, einen zu küssen, weil sie sich dadurch besser fühlten.

Als er da in der Dunkelheit lag und an die junge Frau dachte, schämte er sich ein wenig, weil er vor allem überlegte, wie er möglichst viel für sich herausschlagen konnte. Die Rettung der Unbekannten war für sich genommen eine Belohnung, zugegeben, aber schließlich musste man auch leben, oder?

Voller Unbehagen drehte er sich auf die Seite und dachte an Charlie, der Dodger für eine Art Piratenkönig zu halten schien. Wenn man es sich genau überlegte … Charlie schien ein Spielchen zu spielen. Jeder Junge möchte ein großer Junge sein, ein feiner Typ, nicht wahr?, dachte Dodger. Weil man sich dann groß fühlt. Für Charlie waren Worte ein kompliziertes Spiel, und obwohl sich Dodger damit kaum auskannte, so blieb es trotzdem ein Spiel. Und er, Dodger, beherrschte das Spiel des Überlebens.

Er blickte ins Nichts und dachte an Opa, der mit einem Lächeln in der Kanalisation gestorben war, umgeben von allem, was die Kanalisation aufzubieten hatte. Es würde eine ganze Weile dauern, bis Dodger erneut den Mahlstrom aufsuchte. Ratten waren klein, aber es gab viele von ihnen, und es würden immer mehr werden, wenn sich die Neuigkeit herumsprach. Er würde mindestens zwei Wochen verstreichen lassen, bevor er dorthin zurückkehrte, wo der Alte gestorben war. An den Ort, erinnerte er sich, wo er hatte sterben wollen.

Dann war da noch Holzbein Higgins, der zwei gesunde Beine gehabt hatte, bis er im Krieg irgendwo in Spanien von einer Kanonenkugel getroffen worden war.

Und hier war er, Dodger, und plötzlich hafteten Charlies Worte an ihm und veränderten seine Welt – eine Welt, in der er gerade noch ein zufriedener Tosher gewesen war, bis er plötzlich als Held galt und in den piekfeinen Häusern piekfeiner Leute ein und aus ging. Man schien eine andere Person zu sein als jene, in deren Haut man morgens aufgewacht war. Dodger fühlte sich wie von einer großen Feder gezogen. Vielleicht, dachte er, muss sich ein Junge irgendwann entscheiden, zu welcher Art von Männern er einmal gehören will. Will er der Spieler sein oder die Spielfigur …?

Dodger lächelte im Dunkeln, schlief ein und träumte von goldenem Haar.

Am Morgen schrubbte er das Gesicht ab, bevor er sich auf den Weg zum Haus von Mister Mayhew machte. Bei Tageslicht wirkte das Haus recht stattlich. Es war kein Palast, sondern das Heim eines Mannes, der genug Geld besaß, um Gentleman genannt zu werden. Die ganze Straße sah so aus: elegant, ordentlich, sauber. Es ging sogar ein Polizist Streife, und zu Dodgers großer Überraschung winkte er zum Gruß. Es war kein großartiges Winken, nur eine kleine Bewegung mit den Fingern, aber bis vor Kurzem hätte ihn ein Polizist in einer solchen Gegend aufgefordert zu verschwinden, und zwar fix. Ermutigt erinnerte sich Dodger an Charlies Ausdrucksweise, erwiderte den Gruß des Constable und sagte: »Guten Morgen, Officer, was für ein schöner Tag, zweifellos.«

Nichts geschah! Der Polizist schlenderte an ihm vorbei, und damit hatte es sich. Na so was! Hoffnungsvoll gestimmt fand Dodger das Haus. Schon früh hatte er gelernt, sich bei den Hintertüren von Häusern nobler Viertel herumzutreiben und – ein sehr wichtiger Punkt – als spritziger Junge zu gelten. Ihm war klargeworden: Wenn man schon ein Gassenjunge war, so half es, eine Berufung darin zu sehen und ein möglichst guter Gassenjunge zu werden. Und um ein möglichst guter Gassenjunge zu sein, musste man schauspielerische Talente entwickeln. Darauf lief es hinaus. Man musste mit allen reden können, mit den Butlern und Köchen, mit den Hausmädchen und sogar mit den Kutschern. Kurz gesagt, man musste der fröhliche Bursche sein, immer gut drauf, allen bekannt. Es war Theater, und er trat dabei als der große Star auf. Ruhm und Reichtum errang man kaum, aber man riskierte auch nicht, am Galgen zu enden. Nein, Sicherheit lag in einem Talent, das man sein Eigen nennen konnte, und sein Talent bestand darin, Dodger zu sein, ganz und gar Dodger. Also ging er nun ums Haus herum zur Hintertür und hoffte, noch einmal der Köchin Missus Quickly zu begegnen und ein weiteres Stück Hammelfleisch zu ergattern.

Ein Dienstmädchen öffnete die Tür und fragte: »Ja, Sir?«

Dodger straffte die Gestalt und sagte: »Ich möchte zu Mister Mayhew. Ich glaube, er erwartet mich. Mein Name lautet Dodger.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als es im Haus klapperte, woraufhin das Dienstmädchen ein wenig in Panik geriet, was bei Dienstmädchen oft der Fall ist (insbesondere wenn sie es mit Dodgers fröhlichem Grinsen zu tun bekamen). Doch sie entspannte sich, als sie von Dodgers alter Freundin Missus Quickly beiseitegeschoben wurde, die ihn von Kopf bis Fuß musterte und sagte: »Na, sieh mal einer an, hast dich richtig herausgeputzt, und ob! Entschuldige bitte, dass ich keinen Knicks mache, aber ich stecke bis zu den Achseln in Gekröse.«

Einen Moment später kehrte die Köchin zur Tür zurück, diesmal unbelastet von Innereien. Sie verscheuchte das Dienstmädchen mit den Worten: »Mister Dodger und ich halten ein Schwätzchen. Geh und kümmere dich um die Schweinshaxen!« Dann schenkte sie Dodger eine Umarmung, an der auch gewisse Anteile von Gekröse beteiligt waren, wischte ihn anschließend ab und sagte: »Du bist der Held der Stunde, mein kleiner Schatz, ja, das bist du, sie haben beim Frühstück darüber gesprochen! Offenbar hast du Schlingel gestern ganz allein verhindert, dass der Morning Chronicle von Räubern gestürmt wurde.« Sie bedachte Dodger mit einem frechen Lächeln. »Ich sagte mir: Wenn das der junge Mann ist, den ich neulich kennengelernt habe, so kann er nur dann einen Diebstahl verhindern, wenn er die Hände auf den Rücken legt. Aber es scheint, dass du gegen Räuber gekämpft und sie verjagt hast, so heißt es. Man stelle sich das vor! Bestimmt dauert es nicht mehr lange, bis man dich bittet, Bürgermeister zu werden. Wenn es dazu kommt, möchte ich deine Bürgermeisterin sein – keine Sorge, ich bin viele Male verheiratet gewesen und weiß, wie’s geht.« Sie lachte über Dodgers Gesichtsausdruck und fügte ernster hinzu: »Gut gemacht, Junge! Das Mädchen soll dich nach oben zur Familie bringen. Schau bei mir vorbei, bevor du gehst, vielleicht habe ich ein Päckchen mit Wegzehrung für dich.«

Dodger folgte der Bediensteten die steinerne Treppe hinauf zu der magischen Tür zwischen den Menschen, die den Boden wischen, und den anderen, die über den Boden schreiten, zu der Tür zwischen dem Unten und dem Oben der Welt. Was er im Oben fand, war ein Chaos, mit Ehemann und Ehefrau als unfreiwilligen Schiedsrichtern bei einem Streit zwischen zwei Jungen. Offenbar ging es darum, wer wessen Zinnsoldaten zerbrochen hatte.

Mister Mayhew nahm Dodger am Arm und nickte seiner Frau zu, die ihm von dem kleinen Kriegsschauplatz herüber ein verzweifeltes Lächeln zuwarf, während er ins Arbeitszimmer ihres Mannes gezogen wurde. Dort drückte ihn Henry Mayhew auf einen unbequemen Stuhl, nahm ihm gegenüber Platz und sagte sofort: »Es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen, junger Mann, insbesondere in Anbetracht deines Eingreifens gestern Abend. Charlie hat mir davon erzählt.« Er zögerte. »Du bist ein höchst bemerkenswerter junger Mann. Darf ich … dir einige persönliche Fragen stellen?« Bei diesen Worten griff er nach Notizbuch und Bleistift.

An eine solche Behandlung war Dodger nicht gewöhnt. Leute, die ihm persönliche Fragen stellen wollten, etwa Wo warst du in der Nacht zum Sechzehnten?, stellten sie in der Regel, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen, und sie erwarteten, dass er sogleich Auskunft erteilte. »Ich habe nichts dagegen, Sir«, erwiderte er vorsichtig. »Vorausgesetzt, die Fragen sind nicht allzu persönlich.« Er sah sich im Zimmer um, während der Mann lachte, und dabei dachte er: Wie kann ein Mann so viel Papier besitzen? Überall lagen Bücher und Zeitungen, auch auf dem Boden, aber sie bildeten ordentliche Stapel.

Mister Mayhew begann mit seiner Befragung. »Ich nehme an, du bist nicht richtig getauft, oder? Ich finde das kaum vorstellbar. Hast du dir den Namen Dodger selbst zugelegt?«

Dodger entschied sich für eine Variante von Ehrlichkeit. Immerhin hatte er dies alles schon mit Charlie hinter sich gebracht, und deshalb präsentierte er eine leicht gekürzte Version der Dodger-Geschichte, denn man verriet nie jemandem alles. »Nein, Sir, ich bin ein Findelkind, Sir, und im Waisenhaus nannte man mich Dodger, weil ich so schnell bin.«

Mister Mayhew öffnete das Notizbuch, und Dodger äugte argwöhnisch darauf. Der Bleistift wartete über dem Papier, bereit, Worte festzuhalten, und deshalb sagte er: »Nichts für ungut, aber ich werde ganz hibbelig, wenn Worte aufgeschrieben werden, und dann kann ich nicht mehr reden.« Sein Blick huschte bereits durchs Zimmer, auf der Suche nach einem anderen Ausgang.

Doch Mister Mayhew erstaunte ihn, indem er erwiderte: »Junger Mann, ich entschuldige mich dafür, dich nicht vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Weißt du, ich notiere mir von Berufs wegen das eine oder andere. Vielleicht sollte ich besser von einer Berufung sprechen. Es handelt sich um Recherchen in Hinsicht auf ein Projekt, mit dem ich mich schon seit einer ganzen Weile befasse. Meine Kollegen und ich hoffen, der Regierung die schrecklichen Zustände in London zu verdeutlichen. Es ist die reichste und mächtigste Stadt auf der Welt, doch für viele ihrer Bewohner herrschen Lebensbedingungen, die sich kaum von denen in Kalkutta unterscheiden.« Er bemerkte, dass Dodgers Gesichtsausdruck unverändert blieb, und fügte hinzu: »Ist es möglich, junger Mann, dass du nicht weißt, was es mit Kalkutta auf sich hat?«

Dodger starrte für einen Moment auf den Stift. Nun ja, es ließ sich nicht ändern. »Das stimmt, Sir«, antwortete er. »Ich habe keine Ahnung. Tut mir leid, Sir.«

»Mein lieber Dodger, es ist ganz und gar nicht deine Schuld.« Wie im Selbstgespräch fuhr Mister Mayhew fort: »Unkenntnis, schlechte Gesundheit, unzureichende Ernährung und Mangel an sauberem Trinkwasser sorgen dafür, dass die Situation immer schlimmer wird. Deshalb frage ich einfach nur einige Leute nach Einzelheiten aus ihrem Leben, auch nach ihrem Einkommen, denn die Regierung muss auf eine derartige Anhäufung von Beweisen reagieren. Seltsamerweise sind die Oberschichten im Allgemeinen sehr großzügig, sofern es Geldspenden für Kirchen, Stiftungen und andere gemeinnützige Einrichtungen betrifft, aber abgesehen davon richten sie allzu strenge Blicke nach unten, auch wenn sie gelegentlich Suppe für die Bedürftigen kochen.«

Bei dem Wort Suppe knurrte Dodger der Magen, und zwar offenbar so laut, dass Mister Mayhew es hörte, denn er wurde plötzlich aufgeregt und sagte: »Oh, mein lieber Dodger, du musst natürlich sehr hungrig sein! Ich habe damit gerechnet und werde diese Glocke hier läuten, damit dir das Dienstmädchen Schinken mit Eiern bringt. Wir sind nicht reich, aber glücklicherweise sind wir auch nicht arm. Ich sollte vielleicht darauf hinweisen, dass jeder einen anderen Maßstab für arm und reich hat. So begegnete ich Menschen, die ich zu den Ärmsten der Armen gezählt hätte, die jedoch behaupteten, ganz gut zurechtzukommen. Während ich andererseits Männer kennenlernte, die in vornehmen Häusern wohnen und über ein hohes Einkommen verfügen, sich jedoch nur einen Schritt vom Schuldturm entfernt wähnen.« Er lächelte, läutete die Glocke und sagte: »Wie ist es mit dir, Dodger? Du bist ein Tosher, wenn ich das richtig sehe, und offenbar wirst du auch in anderen Bereichen tätig, wenn sich Gelegenheit dazu ergibt. Hältst du dich für reich oder arm?«

Dodger erkannte eine Fangfrage auf Anhieb. Mister Mayhew, so glaubte er, sah die Welt vielleicht nicht mit der gleichen finsteren Schärfe wie Charlie, aber es wäre ein Fehler gewesen, ihn zu unterschätzen. Deshalb griff Dodger zum letzten Mittel, das Aufrichtigkeit hieß. »Ich schätze, Sol und ich sind nicht ganz arm, Sir. Wissen Sie, wir machen ein bisschen dies und ein bisschen das, und auf diese Weise schlagen wir uns recht gut durch, im Vergleich zu anderen.«

Das schien den Anforderungen zu genügen, denn Mister Mayhew nickte zufrieden. Er blickte in sein Notizbuch und sagte: »Sol ist der Herr jüdischen Glaubens, bei dem du wohnst, wie ich von Charlie hörte, ja?«

»Oh, er glaubt nicht nur, Jude zu sein, er ist es tatsächlich. Er wurde als Jude geboren, soweit ich weiß. Das hat er mir jedenfalls erzählt.«

Dodger fragte sich, warum Mister Mayhew lachte, und er fragte sich auch, woher Charlie wusste, wo und bei wem er wohnte, denn er erinnerte sich nicht, es ihm erzählt zu haben. Aber das spielte eigentlich keine Rolle, weil er das Dienstmädchen und auch das Klappern eines Tabletts auf der anderen Seite der Tür hörte. Es war ein Klappern, das auf ein schweres Tablett hinwies, was Dodger für ein gutes Zeichen hielt. Er irrte nicht, wie sich herausstellte. Mister Mayhew sagte, er habe bereits gefrühstückt, und so machte sich Dodger mit Heißhunger über Schinkenspeck mit Eiern her.

»Charlie setzt große Hoffnungen in dich, musst du wissen«, sagte Mister Mayhew. »Und ich gestehe meine Bewunderung für die Tatsache, dass du dich so sehr für unsere junge Dame eingesetzt hast, obwohl du ihr, wenn ich richtig informiert bin, nie zuvor begegnet bist. Ich bringe dich bald zu ihr. Offenbar versteht sie Englisch, aber ich fürchte, die schreckliche Tortur, die sie hinter sich hat, blieb nicht ohne Wirkung auf ihren Kopf, denn sie kann sich nicht an die dunklen Ereignisse erinnern, denen sie allem Anschein nach zum Opfer fiel.«

Dodger begutachtete das restliche Essen auf seinem Teller, ohne alles auf einmal zu verschlingen, was sehr ungewöhnlich war, und sagte: »Sie war sehr verängstigt. Mir scheint, sie ist mit einem Kerl verheiratet, der sie verdammt schlecht behandelt. Und …« Dodger wollte noch mehr sagen, zögerte aber. Er dachte: Sie ist verletzt, ja. Sie hat Angst, ja. Aber ich glaube nicht, dass Furcht und Schmerz ihre Erinnerungen ausgelöscht haben. Ich schätze, sie will nur Zeit gewinnen, bis sie herausgefunden hat, wer ihre Freunde sind. Und so schlecht es ihr auch gehen mag … An ihrer Stelle täte ich so, als ginge es mir noch ein wenig schlechter – das ist die Regel der Straße. Man behalte das eine oder andere Geheimnis für sich.

Dodger fühlte noch immer den Blick des Mannes auf sich ruhen, und nur wenige Sekunden später sagte Mister Mayhew: »Wenn du also gestattest … Wo bist du geboren, Dodger?«

Er musste sich gedulden, bis Dodger den Teller endgültig geleert und das Messer an beiden Seiten abgeleckt hatte. Dann erwiderte Dodger: »In Bow, Sir. Aber sicher bin ich mir nicht.«

»Hättest du etwas dagegen, mir zu erzählen, wie du aufgewachsen und … zu einem Tosher geworden bist?«

Dodger hob die Schultern. »Zuerst war ich ein Schlammkriecher. Das fällt Kindern leicht, es liegt gewissermaßen in ihrer Natur. Sie wühlen im Schlamm am Fluss und suchen nach Kohlestücken und anderen Fundstücken. Im Sommer ist das nicht schlecht, im Winter allerdings kann’s richtig mies werden. Wenn man schlau ist, findet man einen Platz zum Schlafen und verdient sich was zu essen. Ich war eine Zeit lang Gehilfe eines Kaminkehrers, das habe ich Charlie schon gesagt, doch dann eines Tages begann ich mit dem Toshen und hab’s nie bereut, Sir. Passte zu mir wie eine Schlammkuhle zu einem Schwein, Sir. Und der Unterschied ist gar nicht mal so groß. Noch habe ich keinen Tosheroon gefunden, aber ich hoffe, einen zu entdecken, bevor ich sterbe.«

Er lachte und beschloss, dem sehr ernst wirkenden Mann etwas zum Nachdenken zu geben. »Natürlich habe ich praktisch alles andere gefunden, Sir, alles, was die Leute wegwerfen und verlieren oder worum sie sich nicht mehr scheren. Es ist erstaunlich, was man dort unten findet, insbesondere unter den Lehrkrankenhäusern, o ja, meine Güte! In der Kanalisation kann ich von einer Seite Londons zur anderen gehen und hochkommen, wo immer es mir gefällt, Sir, wirklich wunderbar. Manchmal ist mir so, als täte ich durch alte Häuser wandern: geschwungene Treppen, das Zeug, das an den Wänden wächst – die Grotte, die Windige Ecke, das Schlafzimmer der Königin, die Flüsterkammer und die anderen Plätze, die wir Tosher wie unsere Westentasche kennen, die wir gar nicht haben. Wenn der Fluss das Abendrot widerspiegelt, sieht es aus wie das Paradies, Sir. Ich erwarte nicht, dass Sie mir glauben, Sir, aber es ist die Wahrheit.«

Dodger hielt inne und bedachte, was er gerade gesagt hatte. Der gesunde Menschenverstand verlangte natürlich, dass er jemandem, der mit Notizbuch und Stift bewaffnet war, nichts übers Stehlen und die Sache mit dem Snakesman verriet. Solche Offenbarungen mochten bei einem Mann wie Charlie gut aufgehoben sein, aber bei Leuten wie Mister Mayhew setzte er der Geschichte wohl besser ein paar Glanzlichter auf.

»Einmal habe ich da unten sogar ein altes Bettgestell gefunden. Und es ist erstaunlich, wie das Licht einen Weg hinabfindet«, sagte Dodger und lächelte, während Mister Mayhew ihn mit einer Mischung aus Bestürzung und Verwirrung musterte, vielleicht auch mit einem Hauch Bewunderung.

Dann sagte der Mann: »Noch ein letzter Punkt, mein lieber Dodger. Wärst du bereit, mir zu verraten, wie viel du mit deiner Arbeit als Tosher verdienst?«

Eine solche Frage hatte Dodger erwartet. Instinktiv halbierte er die betreffende Summe und antwortete: »Es gibt gute und schlechte Tage, Sir, aber ich schätze, ich verdiene so viel wie ein Kaminkehrer. Hinzu kommt der eine oder andere Glücksfall.«

»Und bist du mit deiner Tätigkeit zufrieden?«

»O ja, Sir. Ich gehe meiner Wege, ich bin niemandem verpflichtet, und jeder Tag ist wie ein neues Abenteuer, Sir, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Um seiner neuen Rolle als aufrechter, ehrlicher junger Mann gerecht zu werden, fügte er hinzu: »Natürlich finde ich dort unten gelegentlich einen Gegenstand, den jemand verloren hat, und es wärmt mir das Herz, wenn ich ihn zurückgeben kann.« Eigentlich stimmte das sogar, fügte er in Gedanken hinzu, auch wenn es dabei um den einen oder anderen Shilling ging.

Nach einer Weile räusperte sich Mister Mayhew und sagte: »Ich danke dir für deine erhellenden Auskünfte, Dodger. Wie ich sehe, bist du mit dem Frühstück fertig und hast keinen einzigen Krümel auf dem Teller zurückgelassen. Vielleicht ist es an der Zeit, dir einen Besuch bei unserem Gast zu gestatten. Hast du jemals ein Bad genommen? Ich muss sagen, dass du erstaunlich sauber bist, wenn man deinen Beruf bedenkt.«

Dodger grinste, als er das hörte. »Das ist wegen Solomon, Sir. Damit meine ich den alten Mann, bei dem ich wohne. Er kann Schmutz nicht ausstehen, Sir, weil er zum auserwählten Volk gehört. Und ja, es gibt ein Bad im Hinterzimmer, ein kleines, in dem man steht und sich mit einem Lappen abwäscht, Sir, und wir haben sogar Seife, ich schwöre. Jemand hat einmal gesagt, Sauberkeit kommt gleich nach Gottesfurcht, aber Solomon fürchtet Gott überhaupt nicht und scheint Reinlichkeit für wichtiger zu halten.«

Mister Mayhew starrte Dodger an wie ein Mann, der eine Sixpence-Münze unter mehreren Viertelpennys entdeckt hat. »Du erstaunst mich, Dodger. Fast erscheinst du mir wie ein Brandzeichen, das sich selbst aus dem Feuer zieht.«

Eine Minute später wurde Dodger oben ins recht dunkle Dienstmädchenzimmer geführt. Die junge Frau mit dem goldenen Haar saß auf dem Bett wie jemand, der gerade erwacht war, und ihr Lächeln schien den Raum heller zu machen, zumindest für Dodger, dessen leicht angegriffenes Herz rascher schlug.

»Hier ist die junge Dame, die sich glücklicherweise gut erholt«, sagte Mister Mayhew. Er deutete auf die andere anwesende Person. »Das ist natürlich meine Frau Jane, der du bereits begegnet bist, glaube ich, der ich dich aber noch nicht vorgestellt habe. Meine Teure, dies ist Dodger, der Retter holder Maiden in Not, wie du sicher weißt.«

Dodger war unsicher, ob er Mister Mayhews Worte richtig verstanden hatte, aber er hielt einen Hinweis für angebracht, nur für den Fall, dass es später Ärger gab. »Es war nur eine junge Frau in Not – wenn Maid so etwas wie Dame bedeutet, Sir.«

Missus Mayhew – sie saß neben der Unbekannten, mit einem Suppenteller und einem Löffel in den Händen – stand auf, stellte den Teller ab und streckte die Hand aus. »Unsere Dame in Not, in der Tat, Dodger. Wie töricht von meinem Mann zu glauben, es könnte mehr als eine Dame gewesen sein.« Sie und ihr Mann lächelten, und Dodger fragte sich, ob ihm ein Witz entgangen war. Doch Missus Mayhew hatte noch mehr zu sagen.

Dodger wusste über Familien sowie Ehemänner und Ehefrauen Bescheid. Die Frauen halfen ihren Männern oft, wenn sie auf der Straße Waren verkauften, zum Beispiel gebackene Kartoffeln und Sandwiches – gebackene Kartoffeln waren ein echter Leckerbissen –, und manchmal machten ganze Familien bei dieser Arbeit mit. Dodger, der ein Auge für solche Zusammenhänge hatte, beobachtete die Gesichter und achtete darauf, wie die Leute miteinander sprachen, und manchmal gewann er folgenden Eindruck: Obwohl der Mann der Herr war, wie es sich gehörte, schien die Ehe doch wie ein Kahn auf dem Fluss zu sein, wobei die Ehefrau dem Wind ähnelte, der dem Kapitän vorgab, in welche Richtung der Kahn zu segeln hatte. Missus Mayhew war vielleicht nicht der Wind, aber sie verstand es zu pusten.

Die beiden Eheleute lächelten sich an, und Missus Mayhew sagte traurig: »Ich fürchte, die schrecklichen Schläge, die diese junge Frau abbekommen hat – und nicht zum ersten Mal, wie ich vermute –, brachten ihre Erinnerungen durcheinander, und deshalb kann ich sie leider nicht richtig vorstellen. Simplicity muss zunächst als Name genügen, ein guter christlicher Name, wie ich hinzufügen möchte. Er gefällt mir, denn eine alte Freundin von mir hieß so. Die Dame ist recht jung, und wir können hoffen, dass sie schnell wieder zu Kräften kommt. Derzeit allerdings halte ich die Vorhänge so lange wie möglich geschlossen, um die Geräusche der Kutschen auf der Straße zu dämpfen – sie scheinen Simplicity zu beunruhigen. Es freut mich festzustellen, dass sie nicht mehr so schwach ist wie zu Anfang, und auch die blauen Flecken verblassen. Unglücklicherweise muss ich annehmen, dass ihr Leben in jüngster Zeit nicht … angenehm gewesen ist, obwohl es Anzeichen dafür gibt, dass es einmal … erträglicher war. Immerhin muss jemand etwas für sie übrig gehabt haben, als er ihr den Ring schenkte, den sie am Finger trägt.«

Dodger wusste nicht, mit welchem Code sich Mister Mayhew und seine Frau verständigten, aber er bemerkte, dass ein großer Teil davon aus bedeutungsvollen Blicken bestand, und eine der wortlosen Botschaften lautete offenbar: Im Beisein dieses Jungen sollten wir besser nicht ausführlicher über einen wertvollen Ring reden.

Dodger sagte: »Sie fürchtet sich, wenn sie Kutschen hört, ja? Was ist mit anderen Geräuschen, wie zum Beispiel Pferden und Düngewagen[3], die ziemlich laut rumpeln?«

»Du bist ein überaus scharfsinniger junger Mann«, sagte Missus Mayhew.

Dodger errötete. »Ach, so scharf bin ich gar nicht«, entgegnete er.

»Nein, Dodger«, sagte Missus Mayhew, ohne die Miene zu verziehen. »Ich meine, dass du schnell verstehst, und außerdem bist du ein Mann von Welt beziehungsweise von London, was aufs selbe hinausläuft. Mister Dickens hofft, dass du imstande bist, uns bei der Aufklärung dieses Rätsels zu helfen.« Sie wechselte einen weiteren Blick mit ihrem Mann und fügte hinzu: »Du weißt vermutlich, dass diese Sache noch einen anderen teuflischen Aspekt hat.« Sie zögerte wie bei dem Versuch, unangenehme Gedanken aus ihrem Kopf zu verscheuchen. »Ich nehme an, dir ist klar, dass die junge Dame … dass sie … ich meine …« Mit einer Mischung aus Verlegenheit und Verwirrung rauschte Missus Mayhew hinaus und hinterließ ein plötzlich stilles Zimmer.

Dodger blickte zu Simplicity hinüber und wandte sich dann an Mister Mayhew. »Sir, wenn Sie nichts dagegen haben … Ich würde gern allein mit Simplicity reden. Ich kann ihr dabei helfen, die Suppe zu essen. Vielleicht ist sie bereit, sich ein wenig mit mir zu unterhalten.«

»Nun, es erscheint mir unziemlich, eine junge Dame allein in einem Schlafzimmer in deiner Gesellschaft zu lassen.«

»Ja, Sir, es ist auch unziemlich, eine junge Dame halb totzuschlagen und sie ertränken zu wollen, aber das war nicht ich, Sir. Deshalb frage ich mich, ob Sie vielleicht bereit wären, die Regeln in der privaten Welt Ihres Hauses ein wenig … menschlicher zu gestalten.«

Ein Geräusch wies darauf hin, dass Missus Mayhew draußen vor der Tür wartete, und der plötzlich leicht konfuse Henry Mayhew sagte: »Ich lasse die Tür offen. Wenn Miss Simplicity einverstanden ist.«

Seinen Worten folgte vom Bett her sofort der unverkennbare Klang von Simplicitys Stimme. »Bitte, Sir, ich würde mich über die Gelegenheit freuen, ein christliches Wort mit meinem Retter zu wechseln.«

Mister Mayhew ließ die Tür tatsächlich einen Spaltbreit offen, und Dodger fühlte sich von einer seltsamen Unsicherheit erfasst, als er auf dem Stuhl Platz nahm, den Missus Mayhew freigegeben hatte. Er schenkte Simplicity ein unsicheres Lächeln, das sie mit beträchtlichem Wohlwollen erwiderte. Dann nahm er den Suppenlöffel, bot ihn ihr an und fragte: »Was wünschst du dir? Was soll als Nächstes geschehen?«

Ihr Lächeln wurde breiter. Langsam und vorsichtig nahm sie den Löffel entgegen, hob ihn zum Mund und schluckte ihre Suppe. Mit leiser Stimme erwiderte sie: »Ich würde gern sagen, dass ich nach Hause möchte, aber ich habe kein Zuhause mehr. Und ich weiß nicht, wem ich trauen kann. Kann ich dir trauen, Dodger? Ich glaube, ich sollte einem Mann vertrauen, der tapfer für eine Frau gekämpft hat, die er nicht einmal kennt.«

Dodger tat so, als wäre es nichts Besonderes für ihn, junge Frauen in Not zu retten. »Ich bin ziemlich sicher, dass du Mister und Missus Mayhew vertrauen kannst.«

Doch Simplicity überraschte ihn mit den Worten: »Nein, da bin ich mir nicht sicher. Mister Mayhew hätte es lieber, wenn wir beide nicht miteinander reden, Dodger. Er scheint zu glauben, dass du mir gegenüber die Situation irgendwie ausnützen könntest. Aber das halte ich für …« Sie überlegte und schien nach einem geeigneten Wort zu suchen. »… unpassend. Du hast für mich gekämpft, du hast mich gerettet, und jetzt willst du mir etwas zuleide tun? Die Mayhews sind gute Menschen, kein Zweifel, aber gute Menschen könnten zum Beispiel auf den Gedanken kommen, dass es besser wäre, mich den Gesandten meines Mannes zu übergeben, da ich seine Ehefrau bin. Manche Leute nehmen es mit solchen Äußerlichkeiten sehr genau. Zweifellos käme jemand mit einem unterschriebenen Dokument, ausgestattet mit einem eindrucksvollen Siegel, und dann würden die Mayhews dem Gesetz gehorchen. Einem Gesetz, das zulässt, mich aus dem Land zu bringen, in dem meine Mutter geboren ist, zurück zu einem Ehemann, dem ich peinlich bin und der es nicht wagt, seinem Vater zu trotzen.«

Ihre Stimme wurde kräftiger, als sie sprach, und Dodger merkte plötzlich, dass sie auch immer mehr wie ein Straßenmädchen klang, wie ein Mensch, der wusste, wie der Hase lief. Der leichte deutsche Akzent war verschwunden, und die Vokale von England lagen in Simplicitys Ton. Außerdem ging sie genauso vor wie alle klugen Menschen: Sie verriet nichts, was der andere nicht unbedingt wissen musste.

Dodger versuchte, dem Akzent einen Ort zuzuordnen. Er wusste von fremden Sprachen, aber als anständiger Londoner hielt er nicht viel davon und wusste wie alle anderen: Wer kein Engländer war, wurde früher oder später zu einem Feind. Wenn man sich bei den Docks herumtrieb, lernte man die fremden Sprachen nicht unbedingt, aber man wurde zumindest mit ihrem Klang vertraut. Ein aufmerksames Ohr stellte fest, dass ein Holländer anders sprach als ein Deutscher, einen Schweden erkannte man natürlich immer, und Finnen gähnten, wenn sie mit einem redeten. Dodger konnte eine Sprache gut von der anderen unterscheiden, aber er hatte sich nie die Mühe gemacht, eine von ihnen zu erlernen. Allerdings hatte er schon als Zwölfjähriger gewusst, was Wo geht’s zu den leichten Mädchen? in verschiedenen Sprachen hieß, unter ihnen Chinesisch und einige afrikanische Sprachen. Jede Dockratte war mit diesen Worten vertraut, und die leichten Mädchen gaben einem vielleicht einen Viertelpenny, wenn man den neugierigen Herren die richtige Richtung wies. Als er älter wurde, begriff er, dass manche Leute diese Richtung für die falsche hielten. Offenbar gab es zwei verschiedene Sichtweisen für die Welt, aber nur eine, wenn man hungerte.

Er hörte Bewegung auf der anderen Seite der Tür, stand sogleich auf, hurtig wie ein Wächter, und salutierte praktisch vor dem höchst erstaunten Mister Mayhew und seiner Frau.

»Sir, Madam, ich habe ein nettes Gespräch mit Simplicity geführt. Das Geräusch von Kutschen scheint sie tatsächlich zu ängstigen. Wenn ich sie nach draußen begleiten könnte, damit sie Gelegenheit bekäme, ein wenig frische Luft zu genießen … dann könnte sie sehen, dass es ganz gewöhnliche Kutschen sind. Also, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Simplicity zu einem kleinen Spaziergang ausführe?«

Ein tiefes Schweigen folgte diesen Worten und wies Dodger darauf hin, dass seine Gastgeber den Vorschlag vermutlich für keinen guten Einfall hielten. Plötzlich ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf, und der lautete: Ich rede mit diesen Leuten, als stünde ich mit ihnen auf einer Stufe! Es ist bemerkenswert, was ein gebrauchter Anzug und eine Portion Schinken mit Eiern mit einem Menschen anstellen können. Aber ich bin noch immer der Bursche, der heute Morgen als Tosher aufgewacht ist, und bei diesem Ehepaar handelt es sich noch immer um Mister und Missus Mayhew, die heute Morgen in diesem großen Haus aufgewacht sind, und deshalb sollte ich besser vorsichtig sein, damit sie mich nicht wieder für einen Tosher halten und hinauswerfen. An sich selbst gerichtet fügte er ziemlich frech hinzu: Ich habe keinen Herrn, niemand kann mir Befehle erteilen, ich werde nicht von den Peelern gesucht, und ich habe nichts getan, dessen ich mich schämen müsste. Ich hab nicht so viel Geld wie diese Leute, o nein, bei Weitem nicht, aber ich bin nicht schlechter als sie.

Missus Mayhew zögerte und sagte dann sehr behutsam: »Ich bin ganz sicher, dass Simplicity früher oder später an die frische Luft muss, und deshalb liegt ein solcher Spaziergang durchaus im Bereich des Möglichen, Dodger. Aber du verstehst sicher, dass er nur in Anwesenheit einer Anstandsdame stattfinden kann. Sie einfach so einem jungen Mann zu überlassen, wie tapfer und heldenhaft er auch sein mag, stieße in vornehmen Kreisen auf Missbilligung. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass du nur die besten Absichten hast, aber wir müssen uns trotzdem strikt an diese Regeln halten.«

Mister Mayhew wirkte ebenso verlegen wie seine Frau, und Dodger, der noch immer seinem Glück vertraute, sagte in besonders einschmeichelndem Ton: »Liebe Missus Mayhew, ich verspreche Ihnen, dass es kein Techtelmechtel geben wird, denn ich weiß nicht, was ein Techtel ist, und mit dem Mechtel kenne ich mich nicht aus.«

Für einen Moment wich die Strenge aus Missus Mayhews Blick, und sie sagte: »Du bist ein ziemlich unverfrorener junger Mann, Dodger.«

»Das hoffe ich sehr, Missus Mayhew, denn wer friert schon gern? Ich habe es lieber warm, und ganz abgesehen davon, Missus Mayhew: Unverfrorenheit ist besser als Dummheit. Ich versichere Ihnen, dass mir viel an Simplicitys Wohlergehen liegt. Ich habe auch daran gedacht, dass wir alle die Kerle finden wollen, die sie zusammengeschlagen haben, und wenn ich mit ihr einen Spaziergang unternehme, stößt sie in der Stadt vielleicht auf Hinweise, die uns weiterhelfen könnten. Ich weiß, dass die Kutsche, aus der sie entkam, ein Geräusch verursachte, das ich bisher von keinem Kutschenrad gehört habe. Ich denke: Wenn man die Kutsche findet, hätte man einen Anhaltspunkt.«

Mister Mayhew sah seine Frau an und sagte: »Du bist lobenswert eloquent, Dodger, aber wir – das heißt, meine Frau und ich – sind der Ansicht, dass es bei dieser Situation noch andere Aspekte gibt.«

Dodger straffte die Schultern. »Ja, Sir, das fürchte ich ebenfalls, und ich glaube, auch Charlie ist dieser Meinung. Ich weiß nicht, was eloquent bedeutet, aber ich kenne London, Sir, jeden schmutzigen Quadratzentimeter, und ich weiß, wo es sicher ist und wo nicht. Alle kennen Dodger, Sir, und Dodger kennt alle. Also wird Dodger herausfinden, was er Ihren Wünschen gemäß herausfinden soll.«

»Ja, Dodger«, sagte Missus Mayhew. »Da hast du bestimmt recht, aber mein Mann und ich fühlen uns in loco parentis der jungen Dame gegenüber, die offenbar sonst niemanden hat, der sich um sie kümmert, und deshalb müssen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten beachtet werden.«

Dodger, der nicht wusste, was ein loco parentis war, hob die Schultern und sagte: »Völlig klar, Missus, aber ich komme morgen trotzdem hierher, am Nachmittag, für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen.«

Mister Mayhew schloss zu ihm auf, als er die Küche erreichte. »Meine Frau ist ein bisschen überempfindlich, wenn du verstehst, was ich meine.«

Dodger konnte nur »Nein, ich verstehe nicht« antworten, und wie zwei Gentlemen beließen sie es dabei. Er schüttelte Mister Mayhew die Hand, eilte durch die Küchentür und staunte noch immer darüber, dass die Mayhews so kühne Worte aus seinem Mund zugelassen hatten. Er brannte darauf, Sol davon zu erzählen.

Die Köchin wirkte nicht überrascht, als er in der Küche erschien. »Oh, mein Junge«, sagte sie, »bist ein aufgehender Stern, wie? Verkehrst mit besseren Leuten! Gut für dich! Der Bursche, den ich hier vor mir sehe, ist offenbar nicht irgendein Tosher, sondern ein kluger junger Mann, für den die Welt günstige Gelegenheiten bietet.« Sie reichte ihm ein schmieriges Bündel und sagte: »Zur Zeit ist hier das Geld knapp. Die Dinge ringsum sind ein wenig besorgniserregend geworden, du weißt es natürlich nicht, aber das zweite Dienstmädchen musste uns verlassen. Ich nehme an, Missus Sharples ist die Nächste, wenn es schlimmer wird, kein großer Verlust, und anschließend bin ich an der Reihe, obwohl ich mir die Hausherrin kaum am Herd vorstellen kann. Aber ich habe dir einige Reste eingepackt, ein paar kalte Kartoffeln und Möhren, außerdem ein ordentliches Stück Schweinefleisch.«

Dodger nahm das Bündel. »Vielen Dank. Da ist sehr nett von Ihnen.«

Das veranlasste Missus Quickly, die Arme um ihn zu schlingen und mit ihm schmusen zu wollen. »Wie ein wahrer Herr gesprochen. Vielleicht könntest du deine Dankbarkeit mit einem kleinen Kuss unterstreichen …«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu.

Und so küsste Dodger die Köchin, eine recht vollbusige Dame, die ziemlich lange küsste, und als er sich von ihr lösen durfte, sagte sie: »Wenn du hoch aufsteigst … Vergiss nicht diejenigen, die tief unten leben.«

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