3 Dodger bekommt einen Anzug, der an einer empfindlichen Stelle zwickt, und Solomon kriegt die Wut


Es regnete wieder, als Dodger die Mansarde erreichte – ein grässlicher, trister Nieselregen fiel auf die Stadt. Er wartete draußen, während Solomon mit dem komplizierten Vorgang des Aufschließens begann. Als die Tür schließlich aufschwang, stürmte Dodger so schnell hindurch, dass er den alten Mann in Drehung versetzte. Solomon war klug genug, den feuchten, recht streng riechenden Dodger hinten in der Mansarde auf der alten Strohmatratze liegen zu lassen, bis jener bereit war, wieder lebendig zu werden und nicht nur ein Bündel Kummer zu sein. Dann erhitzte Solomon, der wie sein Namensvetter recht weise war, ein wenig Suppe, deren Geruch den Raum erfüllte – bis Onan, der friedlich neben seinem Herrchen geschlafen hatte, erwachte und winselte, was nach einem schrecklichen Korken klang, der aus einer furchtbaren Flasche gezogen wurde.

Dodger entrollte sich und nahm dankbar die Suppe entgegen, die Solomon ihm wortlos reichte. Anschließend kehrte der alte Mann zu seinem Werktisch mit der pedalbetriebenen Drehbank zurück, und kurz darauf erklang ein gemütliches, geschäftiges Summen, das Dodger an Heuschrecken auf einer Wiese erinnerte, wenn er jemals eine Heuschrecke – oder eine Wiese – gesehen hätte. Wofür man es auch halten mochte, es war beruhigend, und während die Suppe ihr Erholungswerk vollbrachte und die Heuschrecken tanzten, erzählte Dodger dem alten Mann, nun, alles: über die junge Dame, über Charlie, über Missus Quickly und auch über Opa. Solomon sagte nicht ein Wort, bis Dodgers Worte versiegten, dann murmelte er: »Du hast eine ereignisreiche Nacht hinter dir, mein Junge, und um deinen Opa tut es mir leid mmm, möge seine Seele in Frieden ruhen.«

»Aber ich habe ihn dort unten zurückgelassen, wo er von den Ratten gefressen wird!«, jammerte Dodger. »Er hat es so verlangt.«

Manchmal sprach Solomon, als wäre er gerade erwacht und erinnere sich an etwas. Ein sonderbares Brummen, das wie mmm klang und dem Zirpen eines kleinen Vogels ähnelte, kündigte die nächsten Worte an. Dodger hatte nie richtig begriffen, wofür dieses mmm stand. Es war ein freundlicher Laut, der Solomon vielleicht Zeit gewährte, sich auf den nächsten Gedanken vorzubereiten. Nach einer Weile gewöhnte man sich daran und vermisste das Geräusch, wenn es fehlte.

Solomon sagte jetzt: »Mmm, ist das besser oder schlimmer, als von Würmern gefressen zu werden? Darin besteht leider unser aller Schicksal. Du bist bei ihm gewesen, als er starb mmm, als sein Freund? Das ist gut. Ich bin dem Herrn einmal begegnet und schätze, dass er mmm etwa dreiunddreißig gewesen sein müsste. Ein gutes Alter für einen Tosher, und wie du sagst, hat er seine Lady gesehen. Zu meinem großen Bedauern bin ich schon vierundfünfzig, aber dankenswerterweise bei guter Gesundheit. Du kannst von Glück reden, dass du mich getroffen hast, Dodger, so wie ich mich glücklich schätze, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Du achtest auf Sauberkeit und bist vernünftig genug, Geld beiseitezulegen. Wir kochen das Wasser, bevor wir es trinken, und ich stelle zufrieden fest, dass du mmm von mir auch gelernt hast, die Zähne zu putzen, was ein Grund dafür sein dürfte, dass du noch Zähne hast. Opa ist gestorben, wie er gelebt hat, und du wirst ihn in liebevoller Erinnerung behalten, aber nicht übermäßig trauern. Tosher sterben jung. Was sollte man sonst von Leuten erwarten, die ihr halbes Leben lang im Dreck wühlen? Jüdische Tosher gibt es nicht – als Tosher kann man nicht koscher leben. Behalte deinen Opa in guter Erinnerung und lerne, was du von seinem Leben und auch seinem Tod lernen kannst.« Und die Heuschrecken tanzten weiter und summten dabei.

Dodger hörte einen Kampf irgendwo unten auf der Straße. Es wurde ständig irgendwo gekämpft, hauptsächlich deshalb, weil die vielen Menschen in diesen elenden, schmutzigen Slums nicht nur den Rand der Verzweiflung erreichten, sondern darüber hinweg in den Abgrund ohnmächtigen Zorns stürzten. Angeblich lag es daran, dass die Leute tranken, hatte Dodger gehört, aber man musste Bier trinken. Ja, zu viel davon machte betrunken, aber andererseits: Wasser von der Pumpe konnte einen tot machen, wenn man es nicht vorher kochte und Geld genug für Kohle oder Holz hatte. Das musste warten und kam erst an dritter Stelle, hinter Essen und Bier (beziehungsweise hinter Bier und Essen).

Er dachte: Ich glaube, dass Opa so starb, wie er es sich gewünscht hatte. Aber niemand sollte sich einen solchen Tod wünschen, oder? Ich jedenfalls möchte nicht auf diese Weise aus dem Leben scheiden. Ein anderer Gedanke folgte: Was wünsche ich mir, wenn ich nicht so aus dem Leben scheiden möchte? Es war ein überraschend kleiner Gedanke, ein Gedanke, der in einer stillen Ecke wartet und dann plötzlich zum Vorschein kommt wie eine Warze. Er steckte ihn sich hinters Ohr, sozusagen, um ihn später genauer zu untersuchen.

Solomon sprach wieder. »Mmm, was deinen Mister Charlie betrifft, so habe ich in der Synagoge von ihm gehört. Soll ein kluger Bursche sein, soll er, mit einem Verstand, so scharf wie ein Rasiermesser, heißt es. Angeblich braucht er einen nur einmal anzusehen, und schon hat er einen umfassenden Eindruck gewonnen, von den Worten, die man in den Mund nimmt, bis zur Art und Weise, wie man in der Nase bohrt. Soll sich auch gut mit der Polizei verstehen, hat dort dicke Freunde, und deshalb fragt sich der alte Solomon: Warum überträgt ein Mann wie er eine Aufgabe, um die sich eigentlich die Polizei kümmern sollte, einem mmm rotznäsigen Tosher wie dir? Und die Nase ist voller Rotz – ich weiß, dass du weißt, wie man sie richtig putzt mmm. Den Rotz hochzuziehen und dann auszuspucken, ist abscheulich. Hörst du mir zu? Wenn du nicht wie dein armer alter Opa enden willst, dann solltest du besser wie ein anderer Mensch enden, und ein guter Anfang wäre, wie mmm ein anderer Mensch auszusehen, insbesondere wenn du diese Arbeit für Mister Charlie erledigst. Während ich mich also um das Abendessen kümmere, könntest du meinen Freund Jacob aufsuchen, drüben im Gebrauchtladen. Sag ihm, dass ich dich schicke und er dich für einen Shilling von Kopf bis Fuß in neue alte Klamotten kleiden soll, einschließlich Stiefel – die nicht zu vergessen. Vielleicht lässt sich dies als Teil unseres mmm Erbes von Opa betrachten, ja? Und wenn du schon losgehst … Nimm Onan mit, er könnte ein bisschen Bewegung vertragen, der arme Kerl.«

Dodger hatte widersprechen wollen, begriff dann aber, wie unsinnig das gewesen wäre. Solomon hatte recht. Wenn man auf der Straße lebte, starb man auch dort, oder vielleicht darunter, so wie Opa. Und es schien irgendwie richtig zu sein, einen Teil von Opas Geschenk – und der Gaben der Kanalisation – dafür zu verwenden, sich ein wenig herauszuputzen. Es mochte ihm bei der neuen Arbeit helfen, und wenn er sie gut erledigte, erhielt er vielleicht noch mehr Bares von Mister Charlie. Das war eine Vorstellung, die ihm gefiel. Außerdem, wenn er einer Dame in Not helfen wollte, so konnte es nicht schaden, dabei adrett auszusehen.

Er ging los, gefolgt von Onan, der sich sehr darüber freute, am helllichten Tag nach draußen zu dürfen; man konnte nur hoffen, dass er nicht über die Stränge schlug. Alle Hunde rochen, denn dies war eine wichtige Eigenschaft in der Hundewelt, in der es darauf ankam, zu riechen und gerochen zu werden. Aber es muss gesagt werden, dass Onan nicht wie ein Hund roch, sondern wie Onan, was den Geruch erheblich verstärkte.

Sie machten sich auf den Weg zum Gebrauchtladen, um dort mit Jacob zu sprechen, vielleicht auch mit Jacobs seltsamer Frau, deren Perücke nie ganz richtig saß. Jacob führte außer dem Gebrauchtladen noch eine Pfandleihe, und Dodger wusste von Solomons Verdacht, wonach Jacob auch Waren kaufte, ohne sich mit der Frage zu belasten, woher sie stammten. Warum Solomon einen solchen Verdacht hegte, hatte er nie verraten.

Zur Pfandleihe trug man seine Werkzeuge, wenn man keine Arbeit hatte, und dort kaufte man sie zurück, wenn man eine neue Anstellung bekam, denn Brot isst sich leichter als ein Hammer. Wenn man richtig abgebrannt war, verpfändete man auch die nicht unbedingt notwendige Kleidung oder zumindest einen Teil davon. Wenn man sich nie wieder blicken ließ, um sie zurückzukaufen, landeten die Sachen im Gebrauchtladen, wo Jacob und seine Söhne den ganzen Tag nähten, flickten, schnitten und zusammenfügten, womit sie alte Kleidung nicht in neue Kleidung verwandelten, aber wenigstens in etwas Ansehnliches. Dodger fand Jacob und seine Söhne recht nett.

Jacob begrüßte Dodger mit dem herzlichen Lächeln eines Verkäufers, der etwas zu verkaufen hofft. Er sagte: »Oh, da ist ja mein junger Freund, der einst meinem ältesten Freund Solomon das Leben rettete und … Bring den Hund nach draußen!«

Onan wurde in der kleinen Gasse hinter dem Laden angebunden und durfte sich an einem Knochen versuchen. Gewiss kein leichtes Unterfangen, fand Dodger, denn jeder Knochen, den ein Hund in diesem Stadtteil von London vorgesetzt bekam, hatte seine Nährstoffe längst in einem Suppenkochtopf verloren. Das schien Onan kaum zu stören: Er schnüffelte und nagte mit fröhlichem Optimismus, und Dodger kehrte in den Laden zurück, wo er in dem kleinen freien Raum in der Mitte stand und eine Behandlung erfuhr, wie sie sonst nur ein Lord erwarten durfte, der eins der feinen Geschäfte in der Savile Row oder dem Hanover Square besuchte. Obwohl man in jenen Läden vermutlich keine Kleidung angeboten bekam, die bereits vier oder fünf Vorbesitzer gehabt hatte.

Jacob und seine Söhne umschwirrten ihn wie Bienen, richteten kritische Blicke auf ihn, hielten nur leicht vergilbte weiße Hemden hoch und ließen sie dann sofort wieder verschwinden, bevor wie durch Magie der nächste Schneider erschien und eine recht verdächtige Hose präsentierte. Kleidung wirbelte an Dodger vorbei und schien sich in Luft aufzulösen, was aber nicht schlimm war, da immer wieder neue erschien. Es hieß: »Versuch es hiermit! Oder nein, besser nicht!« Und: »Wie wär’s hiermit? Passt bestimmt. O nein, schon gut, wir haben noch mehr für einen Helden.«

Aber er war kein Held gewesen, wenn man es genau betrachtete. Dodger erinnerte sich an einen Zwischenfall vor drei Jahren, als er beim Toshen einen richtig schlechten Nachmittag gehabt hatte. Dann hatte es zu regnen begonnen, und ihm war zu Ohren gekommen, dass jemand dicht vor ihm einen Sovereign gefunden hatte, und er war so enttäuscht, gereizt und zornig gewesen, dass er seine schlechte Laune an jemandem auslassen wollte. Als er jedoch wieder auf den nebligen Straßen unterwegs gewesen war, hatte er zwei Burschen beobachtet, die einen Mann, der auf dem Boden lag, zu Brei traten. Manchmal, wenn der Verdruss groß genug war, konnte es in seinem Kopf Klick machen, wie bei einem kleinen Zahnrad, das in Bewegung gerät, und er verwandelte sich in einen Wirbelwind aus Fäusten und Stiefeln. In diesem Fall hätte ihn das Klick durchaus veranlassen können, den beiden Burschen zu Hilfe zu eilen, nur damit er seinen Zorn loswurde. Aber aus irgendeinem Grund rollte das Zahnrad zur anderen Seite, dem Gedanken entgegen, dass zwei Burschen, die einen stöhnenden alten Knacker zusammentraten, elende Drecksäcke waren, die eine Abreibung verdienten. Und so war er losgelaufen und hatte es ihnen gezeigt, aber ordentlich, er hatte getreten und geschlagen, bis sie klein beigaben und wegliefen, und er war zu erschöpft gewesen, um sie zu verfolgen.

Solcher Wahn entstand aus Enttäuschung und Hunger, obwohl Solomon behauptete, die Hand Gottes stecke dahinter, was Dodger für recht unwahrscheinlich hielt, da man Gott in diesen Straßen nicht sehr häufig antraf. Anschließend hatte er dem Alten nach Hause geholfen, obwohl er ein Ikey Mo war, ein Jude, und Solomon hatte etwas von seiner Suppe erhitzt und ihm überschwänglich gedankt. Da der alte Knabe ganz allein lebte und etwas Platz in seiner Mansarde hatte, bot er Dodger an, bei ihm unterzukommen. Dodger erledigte das eine oder andere für ihn, besorgte Feuerholz und stibitzte Kohle von einem der Themsekähne, wenn sich Gelegenheit bot. Dafür gab ihm Solomon zu essen, wobei er oft kochte, was Dodger irgendwo aufgetrieben hatte – seine Mahlzeiten schmeckten besser als alles, was Dodger in seinem bisherigen Leben gegessen hatte.

Er erzielte auch viel höhere Preise für die Waren, die Dodger vom Toshen heimbrachte. Der Nachteil bestand darin, dass der alte Jude immer, immer fragte, ob die betreffenden Gegenstände gefunden oder gestohlen waren. Oh, mit Fundstücken aus der Kanalisation war meistens alles in Ordnung, das wusste jeder. Es handelte sich um Verlorenes und Weggeworfenes, um Gegenstände, die sich anschickten, die Welt der Menschen zu verlassen und zum Meer zu schwimmen. Tosher zählten natürlich nicht als Menschen – auch das wusste jeder. Aber in jenen Tagen hatte sich Dodger durchaus zum einen oder anderen Diebstahl und zu gelegentlichen krummen Geschäften hinreißen lassen. Er hatte Dinge beschafft, die äußerst fragwürdig und keineswegs koscher gewesen waren, wie sich Solomon ausdrückte.

Wenn der alte Bursche fragte, ob der Kram vom Toshen stamme, sagte Dodger immer Ja, doch so, wie ihn Solomon ansah … Wahrscheinlich wusste er, dass er nicht die Wahrheit sagte. Seine Augen schienen mehr zu sehen, als sie eigentlich sehen sollten, und zu wissen, wo sich die Wahrheit verbarg. Er nahm die Sachen trotzdem entgegen, aber nachher ging es in der Mansarde eine Zeit lang recht kühl zu.

Deshalb klaute Dodger inzwischen nur noch Dinge, die man verbrennen, trinken oder essen konnte, zum Beispiel Ware von Marktbuden und andere tief hängende Früchte. Daraufhin verbesserte sich das Klima, und außerdem: Drüben in der Synagoge las Solomon die Zeitung, und manchmal enthielt die Verloren-und-gefunden-Rubrik Suchanzeigen von Leuten, die ihren Hochzeitsring oder anderen Schmuck verloren hatten. Hochzeitsringe waren von besonderer Bedeutung, denn sie besaßen einen Wert, der über den des Golds hinausging. Oft stand das magische Wort Finderlohn in den entsprechenden Inseraten. Mit gewissem Verhandlungsgeschick, meinte Solomon, konnte man mehr dafür bekommen als von einem Hehler. Hinzu kam, dass man solche Stücke zu keinem Juwelier bringen konnte, der koscher war, denn solche Leute hetzten einem die Polizei selbst dann auf den Hals, wenn man den Ring nur gefunden und nicht gestohlen hatte. Manchmal sei Ehrlichkeit sich selbst ihr Preis, sagte Solomon, aber Dodger fand, in Barem hätte sie sich vorteilhafter ausgedrückt.

Geld oder nicht, Dodger hatte sich damals besser gefühlt, als er in der Lage gewesen war, irgendwelchen Leuten die geliebte Halskette, einen Ring oder irgendein anderes Schmuckstück zurückzugeben, das sie sehr lieb gewonnen hatten. Dadurch fühlte er sich eine Zeit lang wie im siebten Himmel, und weiter konnte man von den Abwasserkanälen kaum entfernt sein.

Einmal, nach einem Kuss von einer Dame, die erst vor Kurzem eine glückliche Braut gewesen war und deren Hochzeitsring sich unglücklicherweise von ihrem Finger gelöst hatte, als sie in eine Kutsche stieg, die sie zu ihrem neuen Zuhause bringen sollte, hatte er Solomon nach ziemlich viel Spott von anderen Toshern gefragt: »Versuchst du meine Seele zu retten?« Und Solomon hatte mit dem hintergründigen Lächeln, das in seinem Gesicht fast nie fehlte, geantwortet: »Mmm, nun, ich erforsche die Möglichkeit, dass du vielleicht eine Seele hast.«

Die kleinen Veränderungen seiner Angewohnheiten, die seine Beziehung zu Solomon festigten, bedeuteten unter anderem, dass er des Nachts nicht wie einige der anderen Tosher in Hauseingängen zittern, sich unter einer Plane zusammenrollen oder einen verdammten halben Penny für eine schäbige Pritsche in einer noch schäbigeren Absteige blechen musste. Solomon erwartete nur, dass er ihm abends ein wenig Gesellschaft leistete. Gelegentlich bat der alte Mann höflich darum, dass er ihn zu einem seiner Kunden begleitete und dabei Mechanismen, Schmuck oder andere gefährlich teure Dinge trug. Die Kunde von Dodgers aufbrausendem Temperament hatte sich herumgesprochen, was bedeutete, dass Solomon und er ziemlich unbehelligt unterwegs sein konnten.

Als Arbeit war Solomons Tätigkeit ziemlich gut, fand Dodger. Der alte Knabe stellte kleine Dinge her, die andere, verloren gegangene kleine Dinge ersetzen sollten. Vergangene Woche hatte Dodger ihn bei der Reparatur einer sehr teuren Spieluhr beobachtet, die voller Zahnräder und Drähte gewesen war – die ganze Angelegenheit war beschädigt worden, als ein Arbeiter sie bei einem Umzug fallen gelassen hatte. Dodger hatte gesehen, wie Solomon jedes einzelne winzige Stück so behandelte, als wäre es eine große Kostbarkeit. Er säuberte alle Teile, bog sie bei Bedarf behutsam zurecht, und er ging dabei so geduldig zu Werke, als stünde ihm alle Zeit der Welt zur Verfügung. Bei anderer Gelegenheit waren bei einer Vitrine aus Palisander einige dekorative Einlegearbeiten aus Elfenbein in Mitleidenschaft gezogen worden, und Solomon ersetzte sie mit Elfenbein aus seinem kleinen Vorrat. Dabei leistete er so gute Arbeit, dass die Besitzerin der Vitrine ihm eine Krone mehr bezahlte als vereinbart.

Na schön, einige seiner Kumpane nannten Dodger manchmal Schabbesgoi, aber er stellte fest, dass er besser aß als die anderen, auch billiger, denn an den Marktbuden verstand Solomon selbst mit einem Cockney so geschickt zu feilschen, dass der Mann schließlich nachgab. Und wehe jedem Verkäufer, der Solomon Mindergewicht, schales Brot oder angefaulte Äpfel verkaufte! Von einer gekochten Orange und den anderen Tricks ganz zu schweigen. Wenn man das gute und gesunde Essen berücksichtigte, war die Vereinbarung zwischen Solomon und Dodger keineswegs zu verachten.

Als Jacob und seine Söhne den Tanz mit fliegenden Hosen, Hemden, Socken, Westen und Schuhen hinter sich gebracht hatten, traten sie zurück und strahlten sich gegenseitig in dem Wissen an, gute Arbeit geleistet zu haben. Schließlich sagte Jacob: »Also, ich weiß nicht. Du meine Güte, sind wir vielleicht Zauberer? Was wir hier geschaffen haben, meine Söhne, ist ein Gentleman, der für die feine Gesellschaft bereit ist, wenn sie nichts gegen einen leichten Mottenkugelgeruch hat. Aber entweder das oder Motten, wie jeder weiß, selbst Ihre Majestät. Oh, wenn sie durch diese Tür käme, würde sie bestimmt sagen: ›Guten Tag, junger Herr, kennen wir uns vielleicht?‹«

»Es zwickt ein bisschen im Schritt«, bemerkte Dodger.

»Dann vermeide jeden unzüchtigen Gedanken, bis sich der Stoff gedehnt hat«, erwiderte Jacob. »Ich sage dir, was ich tun werde. Da du es bist, gebe ich auch noch diesen wundervollen Hut hinzu, der vermutlich bald wieder der letzte Schrei sein wird.« Jacob trat zurück, vollauf zufrieden mit der Verwandlung, die er ermöglicht hatte. Er neigte den Kopf zur Seite und sagte: »Weißt du, junger Mann, was du jetzt noch brauchst, ist ein erstklassiger Haarschnitt. Anschließend musst du dir die Frauen mit einem Knüppel vom Leib halten.«

»Solomon hilft mir beim Haareschneiden, wenn es zu warm wird und ich es ein bisschen kühler haben möchte«, sagte Dodger, woraufhin Jacob plötzlich ein gewisses Schnauben von sich gab, zu dem nur ein beleidigter jüdischer Händler fähig ist – und damit wirkte er noch eindrucksvoller als ein Franzose an einem wirklich schlechten Tag. Wollte man es aufschreiben, begann man vielleicht mit einem Pfuuiii, das mit reichlich versprühtem Speichel endete.

»Das ist kein Haarschnitt, mein Junge!«, jammerte Jacob. »Du siehst wie geschoren aus. Als kämst du gerade aus dem Kittchen. Wenn dich Königin Viktoria so sähe, riefe sie vermutlich nach ihren Soldaten. Beherzige den Rat deines guten alten Freunds Jacob und such das nächste Mal einen richtigen Friseur auf!«

Und so, in Begleitung des Hunds Onan, der noch immer optimistisch den Knochen im Maul trug, kehrte Dodger in die Welt zurück. Natürlich waren gebrauchte Sachen gebraucht, wie man es auch drehte und wendete. Sie waren besser als Lumpen, aber nicht annähernd so gut wie gute Kleidung. Aber was war hier schon gut? Nichtsdestotrotz fühlte sich Dodger besser in seinen neuen gebrauchten Klamotten, obwohl sie an einer empfindlichen Stelle und auch unter den Armen zwickten. Trotzdem, diese Garderobe war prächtiger als alles, was er bisher getragen hatte, und hoffentlich der jungen Frau aus der Unwetternacht würdig.

Er eilte zur Gasse zurück und kletterte die wackelige Treppe zur Mansarde hinauf, wo Solomon ihn mit den Worten begrüßte: »Wer bist du, junger Mann?«

Auf dem Tisch lagen die Karten des Quartetts ausgebreitet. »Mmm … sehr interessant«, sagte Solomon. »Du hast mir da ein erstaunliches und mmm auch recht gefährliches Etwas präsentiert. Es ist mmm täuschend einfach, aber schon bald bahnt sich Unheil an.«

»Was?«, fragte Dodger und betrachtete die bunten Karten auf dem Tisch. »Es sieht nach Kinderkram aus. Ein Quartett, Glückliche Familie genannt. Was soll daran gefährlich und unheilvoll sein?«

»Eine ganze Menge, mein lieber Junge«, erwiderte Solomon. »Ich erkläre dir meine kleine Theorie. Jeder Spieler bekommt verschiedene Karten, und das Ziel des Spiels besteht offenbar darin, jeweils vier thematisch zueinander gehörende Karten zu sammeln, in diesem Fall die glückliche Familie. Man bringt sie zusammen, indem man die anderen Spieler fragt, ob sie eine bestimmte Karte haben. Auf den ersten Blick betrachtet, scheint es ein harmloses Spiel für Kinder zu sein, aber die ahnungslosen Eltern schaffen damit gute Voraussetzungen dafür, dass ihre Kinder Pokerspieler werden, oder schlimmer noch – Politiker.«

»Wieso?«

»Erlaube mir, es zu eluzidieren«, sagte Solomon. Er bemerkte Dodgers Verwirrung und fügte hinzu: »Ich meine, lass es mich erklären. Offenbar läuft die Sache folgendermaßen ab. Um die mmm glückliche Familie zu bekommen, muss man zunächst eine Familie wählen, zum Beispiel die mmm Bäckerfamilie. Man könnte glauben, dass du nur warten musst, bis du an die Reihe kommst, um dann nach der nächsten Karte zu fragen. Wie wäre es mit Miss Bun, der Tochter des Bäckers? Warum? Nun, als die mmm Karten verteilt wurden, hast du bereits Mister Bun bekommen, den Bäcker, und seine Tochter wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Aber aufgepasst! Wenn du nach einem Bun fragst, könnten deine mmm Gegenspieler auf den Gedanken kommen, dich ihrerseits nach einem Mitglied der Bun-Familie zu fragen. Vielleicht sammeln sie die Buns nicht selbst, sondern versuchen stattdessen, die mmm Dose-Familie zusammenzubekommen, deren Oberhaupt Mister Dose ist, der Doktor. Sie fragen dich nach einem Bun, obwohl sie einen Dose brauchen, weil sie deine Vorliebe für die Buns bemerkt haben. Als sie an die Reihe kommen, hätten sie gern nach mmm einem Dose gefragt, aber stattdessen nutzen sie die Gelegenheit, dich zu täuschen und dir gleichzeitig einen kostbaren Bun abzunehmen.«

»Ach, ich würde einfach lügen und behaupten, gar keinen Bun zu haben«, sagte Dodger.

»O nein! Wenn sich das Spiel dem Ende nähert, würde sich herausstellen, dass du den betreffenden Bun mmm besessen hast, jawohl! Und das wäre sehr schade für dich. Du musst die Wahrheit sagen, denn wenn du nicht die Wahrheit sagst, kannst du das Spiel nie gewinnen. Und so wütet der schreckliche Kampf, und du ringst mit der Entscheidung, die Buns aufzugeben und es vielleicht mit dem Sammeln der Familie des Brauers Mister Bung zu versuchen, obgleich deine eigene Familie aus Abstinenzlern besteht. Du hoffst, dass es dir gelingt, mindestens einen deiner Gegner über deine wahren Absichten hinwegzutäuschen, während du gleichzeitig mmm davon ausgehen musst, dass die anderen Spieler nichts unversucht lassen, dir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Und so geht die grässliche Inquisition weiter. Der Sohn lernt, seinem Vater etwas vorzumachen. Die Schwester lernt, ihrem Vater zu misstrauen. Und die Mutter versucht zu verlieren, um den mmm Frieden zu wahren. Und ihr dämmert allmählich, dass Freude und Enttäuschung in den Gesichtern ihrer Kinder nur gespielt sind, damit die anderen Spieler nicht merken, welche Familien sie sich wünschen.«

»Nun ja«, sagte Dodger, »das ist wie Feilschen auf dem Markt. So machen’s alle.«

»Und so endet das Spiel zweifellos mit Tränen, von Geschrei und dem Zuschlagen von Türen ganz zu schweigen. Was hat das mit einer glücklichen Familie zu tun? Was genau ist erreicht worden?« Solomon hielt inne, erregt und mit gerötetem Gesicht.

Dodger dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Es ist doch nur ein Kartenspiel. Kartenspiele sind nicht wichtig. Ich meine, sie haben nichts mit der Welt zu tun.«

Solomon ließ sich von diesem Hinweis nicht besänftigen. »Ich habe es nie gespielt, aber wie dem auch sei: Ein Kind, das es mit seinen Eltern spielt, muss lernen, Vater und Mutter zu täuschen. Wie kann man so etwas nur ein Spiel nennen?«

Dodger überlegte erneut. Ein Spiel. Kein Glücksspiel wie das Werfen von Würfeln, wobei man Geld gewinnen konnte. Aber ein Spiel für die Familie? Wer hatte Zeit für Familienspiele? Nur Kinder oder Abkömmlinge von feinen Pinkeln. »Es ist trotzdem nur ein Spiel«, wandte er ein und erntete dafür einen starren Blick von Solomon. Es war einer dieser besonderen Blicke, die, wenn man nicht aufpasste, den ganzen Kopf durchbohrten und hinten wieder herauskamen.

»Wo liegt der Unterschied, wenn man sieben Jahre alt ist?«, fragte Solomon. Der alte Mann grollte noch immer und richtete den Finger Gottes auf Dodger. »Junger Mann, die Spiele, die wir spielen, sind Lektionen, die wir zu lernen haben. Unsere Annahmen und Vermutungen, die Geschehnisse, denen wir keine Beachtung schenken, und die anderen, auf die wir Einfluss nehmen … das alles macht uns zu jenen, die wir sind.«

Das war biblischer Kram, ganz klar. Aber als Dodger darüber nachdachte … Wo lag der Unterschied? Das ganze Leben war ein Spiel. Aber wenn es ein Spiel war, in welche Rolle schlüpfte man dann – in die des Spielers oder der Figur auf dem Spielbrett? Ihm schwante, dass Dodger vielleicht mehr sein konnte als nur Dodger, wenn er sich richtig bemühte. Es war wie ein Ruf zu den Waffen, und der Ruf lautete: Beweg deinen Hintern!

Als Dodger die Mansarde verließ und in Onans Begleitung mit seinen neuen Klamotten einherstolzierte, dachte er daran, dass man eins von dieser schmutzigen, alten Stadt behaupten konnte: Jemand sah immer alles. Die Straßen waren so voll, dass er mit den Schultern gegen Leute stieß, bis er gar keine Schultern mehr hatte, und er kannte einige Örtlichkeiten, wo sich ein bisschen Schulterstoßen lohnen konnte, zum Beispiel im Baron of Beef, Goat, Sixpence oder in einem der anderen gesunden Trinklokale bei den Docks, wo man für einen Sixpence sinnlos betrunken und für einen Shilling zu einer Bierleiche werden konnte. Obwohl, zu einer Leiche wurde man vielleicht ohnehin, weil man so dumm gewesen war, eine solche Spelunke zu betreten.

An jenen Orten hingen die Tosher und Gassenjungen mit den Mädchen herum und trennten sich dabei von ihrem hart erarbeiteten Geld. Sie besuchten jene Kaschemmen, weil sie die Ratten und den Dreck vergessen wollten, der an allem klebte, und natürlich den Geruch. An den man sich allerdings nach einer Weile gewöhnte. Leichen, die sich eine Zeit lang im Fluss befunden hatten, neigten zu einem Duft eigener Art, und nie vergaß man den Gestank der Fäulnis, denn er klammerte sich an einem fest, man wurde ihn einfach nicht mehr los. Man wollte ihn nie wieder riechen, obwohl man wusste, dass man schon bald zu ihm zurückkehren würde.

Der Geruch des Todes hatte seltsamerweise ein sonderbares Eigenleben – er fand einen Weg überallhin, und man konnte ihm nur schwer entkommen. In dieser Hinsicht ähnelte er dem Gestank von Onan, der treu und brav hinter Dodger herlief. Der Umstand, dass sich die Leute, an denen er vorbeikam, nach dem Ursprung des schrecklichen Geruchs umsahen – in der verzweifelten Hoffnung, dass er nicht von ihnen selbst stammte –, wies deutlich auf seine Anwesenheit hin.

Aber jetzt schien die Sonne, und einige der Jungs und Mädchen tranken draußen vor dem Gunner’s Daughter, wo sie auf alten Fässern, Seilrollen, Stapeln aus halb verfaultem Holz und anderem Uferschutt saßen. Manchmal gewann Dodger den Eindruck, dass es sich bei Stadt und Fluss um dasselbe Geschöpf handelte, mit dem einen Unterschied, dass manche Teile feuchter waren als andere.

In dem bunt zusammengewürfelten, schmutzigen, aber fröhlichen Haufen erkannte er den Krummen Henry, Lucy Springer, den Einarmigen Dave, Prediger, Mary Drehdichschnell, die Dreckige Dory und Mangel. Woran sie gerade gedacht und worüber sie gerade gesprochen hatten, es spielte keine Rolle, denn als sie Dodger in seinen neuen Klamotten sahen, die ihn fast zum feinen Pinkel machten, sagten sie: »Meine Güte, wer ist der hübsche Herr dort?« und »Lieber Himmel, hast du die Straße gekauft? Dunnerschlach, wie gut du riechst!« und natürlich »Kannst du uns einen Shilling leihen? Ich zahle ihn dir am Sankt Nimmerleinstag zurück.« Auf diese Weise ging es eine Zeit lang weiter, und man konnte so etwas nur überleben, wenn man dümmlich grinste und alles in dem Wissen über sich ergehen ließ, dass man den Spuk jederzeit beenden konnte. Und Dodger beendete ihn tatsächlich.

»Opa ist tot.« Er ließ die Nachricht vom Himmel auf sie herabfallen.

»Unmöglich!«, entfuhr es dem Krummen Henry. »Ich bin erst vorgestern mit ihm toshen gewesen, kurz vor dem Unwetter.«

»Und ich habe ihn heute gesehen«, widersprach Dodger in scharfem Ton. »Ich hab ihn sterben sehen, unmittelbar vor mir! Er war dreiunddreißig! Dass mir niemand behauptet, dass er noch lebt, denn er is tot, klar? Drüben unter Shoreditch, in der Nähe des Mahlstroms.«

Mary Drehdichschnell brach in Tränen aus. Sie war ein anständiges Mädchen und erweckte immer den Eindruck, den Kopf woanders zu haben und gerade erst eingetroffen zu sein. Im Frühling verkaufte sie den Frauen Veilchen, und während des restlichen Jahres verkaufte sie alles, was sie in die Finger kriegen konnte. Als Taschendiebin hatte sie richtig was auf dem Kasten, denn sie sah aus wie ein Engel, der etwas auf den Kopf gekriegt hatte, und deshalb geriet sie nie in Verdacht. Aber wie man sie auch sah, sie hatte mehr Zähne als Grips, und ihre Zahnlücken waren bereits beträchtlich. Was die anderen betraf … sie wirkten nur noch etwas elender als vorher und starrten zu Boden, als wollten sie sich unsichtbar machen.

»Er hat mir seinen Fund überlassen, viel war’s nicht.« Voller Unbehagen, als genügten diese Worte nicht, fügte Dodger hinzu: »Deshalb bin ich hier – um euch einen auszugeben, damit ihr auf sein Wohl trinkt.« Dieser Hinweis hob die allgemeine Stimmung ganz erheblich, vor allem als Dodger in die Tasche griff und sich von einer Sixpencemünze trennte, die wie durch Magie Krüge herbeizauberte, gefüllt mit einer zähflüssigen Flüssigkeit, die fast Brei zu nennen war.

Während besagte Krüge mit unterschiedlichen Gluck-Geräuschen geleert wurden, bemerkte Dodger, dass Mary Drehdichschnell noch immer schniefte, und da er ein freundlicher Typ war, sagte er sanft: »Wenn es dir hilft, Mary … Er lächelte, als er starb. Und er glaubte die Lady zu sehen.«

Diese Mitteilung befreite Mary nicht von ihrem Leid. Zwischen zwei Schluchzern sagte sie: »Der Doppelte Henry hat hier gerade Pause gemacht, um was zu essen und Brandy zu trinken. Den Brandy brauchte er, weil er schon wieder ein Mädchen aus dem Fluss gezogen hat.«

Dodger seufzte. Der Doppelte Henry war ein Fährmann, der auf der Suche nach Fahrgästen, die übergesetzt werden wollten, ständig die Themse hinauf- und hinunterruderte. Der Rest von Marys Nachricht war leider sehr vertraut. Die Gruppe von mehr oder weniger Gleichaltrigen, mit der Dodger Umgang pflegte, bestand aus taffen Leuten, die zu überleben gelernt hatten. Aber die Stadt und ihr Fluss konnten zu jenen, die diese Eliteschule nicht mit Erfolg abgeschlossen hatten, sehr unbarmherzig sein.

»Er vermutet, dass sie in Putney von der Brücke gesprungen ist«, sagte Mary. »War wahrscheinlich schwanger.«

Dodger seufzte erneut. Die meisten jungen Frauen, die man aus dem Fluss fischte, waren schwanger. Sie kamen aus fernen Orten mit seltsamen Namen wie Berkhamsted und Uxbridge und hofften, in London ein besseres Leben zu finden als ein Dasein zwischen Heuhaufen. Aber wenn sie hier eintrafen, schnappte die Stadt zu, fraß sie mit Haut und Haaren und spuckte sie wieder aus, meistens in die Themse.

Ein angenehmer Tod war das bestimmt nicht, zumal man nur deshalb behaupten konnte, der Inhalt der Themse sei Wasser, weil er flüssiger war als Dreck. Wenn die Leichen an die Oberfläche kamen, mussten die armen Fährleute und Kahnführer sie mit Landungshaken an Bord ziehen und zu einem Coroner bringen. Es gab eine Belohnung dafür, wenn man solche traurigen sterblichen Überbleibsel zum Büro eines Gerichtsmediziners brachte. Der Doppelte Henry hatte Dodger einmal erzählt, dass es sich manchmal lohne, die Leiche über eine längere Strecke zu rudern – zu dem Verwaltungsbezirk, der am meisten dafür bezahlte. Aber in den meisten Fällen ging die Fahrt zum Coroner von Four Farthings, der dann eine Todesanzeige aufgab, die es manchmal sogar in die Zeitung schaffte. Die Leichen der Mädchen und jungen Frauen endeten vielleicht auf dem Crossbones Graveyard oder bekamen auf irgendeinem anderen Friedhof ein Armenbegräbnis. Manchmal aber, und das war allgemein bekannt, landeten sie in einem Lehrkrankenhaus auf dem Seziertisch, damit Medizinstudenten sie aufschneiden konnten.

Mary flennte noch immer, und von gelegentlichem Schluchzen und Schniefen untermalt sagte sie: »Es ist so traurig. Sie haben alle langes blondes Haar. Alle Mädchen vom Land haben langes blondes Haar, und sie sind auch … ihr wisst schon … unschuldig.«

»Ich war auch mal unschuldig«, warf die Dreckige Dory ein. »Hat mir aber nichts genutzt. Dann wurde mir klar, was ich falsch gemacht habe.« Sie fügte hinzu: »Aber ich bin hier auf den Straßen geboren und wusste, womit es zu rechnen gilt. Die armen blonden Unschuldigen, sie ham nicht die geringste Hoffnung auf einen günstigen Ausgang, sobald ihnen der erste Bursche Fusel einflößt.«

Mary Drehdichschnell schniefte erneut. »’n Typ hat einmal versucht, mich mit Fusel gefügig zu machen, aber ihm wurde das Geld knapp, und ich hab ihm den Rest abgeknöpft, während er schlief. Die beste Uhr mit der besten Kette, die ich je gestohlen habe«, fuhr sie fort. »Die armen Mädchen, sie sind nicht hier geboren wie wir, sie haben keine Ahnung.«

Ihre Worte erinnerten Dodger an Charlie. Dann dachte er an Solomon und daran, was er gesagt hatte. Wie in die leere Luft sprach Dodger: »Ich sollte das Toshen aufgeben …« Er sprach nicht weiter, als ihm klar wurde, dass die Worte vor allem ihm selbst galten. Was könnte ich tun?, fragte er sich. Immerhin, jeder muss arbeiten, jeder muss essen und leben.

Oh, das Lächeln auf Opas Gesicht … Was hatte er in dem letzten Lächeln gesehen? Angeblich hatte er die Lady erblickt. Jeder Tosher kannte jemanden, der die Lady gesehen hatte, aber solche Berichte stammten immer aus zweiter Hand – die Erzähler waren der Lady nie selbst begegnet. Trotzdem wussten alle Tosher, wie sie aussah. Sie war recht groß und trug ein glänzendes Gewand, wie aus Seide. Sie hatte wunderschöne blaue Augen, und ein feiner Nebel umgab sie. Wenn man auf ihre Füße blickte, so stellte man fest, dass Ratten auf ihren Schuhen hockten. Es hieß, dass sie gar keine richtigen Füße hatte, sondern Rattenkrallen. Aber Dodger wusste, dass die Tosher nie den Mut hätten, auf die Füße der Lady zu starren, um sich Gewissheit zu verschaffen. Sie fürchteten sich davor, dass es wirklich Rattenfüße waren.

Alle diese Ratten, die einen beobachteten und dann sie ansahen. Vielleicht, nur vielleicht – man konnte nie wissen – genügte ein Wort von ihr, um die Ratten loszulassen. Ein Wort, um die Ratten auf einen zu hetzen, wenn man ein böser Tosher gewesen war. Und wenn man ein guter Tosher war, dann lächelte sie und gab einem einen Kuss (oder weit mehr als nur einen Kuss, wie manche behaupteten). Und von jenem Tag an hätte man beim Toshen immer Glück.

Dodger dachte wieder an die armen Mädchen, die von den Brücken in den Tod sprangen. Viele von ihnen erwarteten ein Kind … An dieser Stelle angelangt, ließ er den Gedanken los, weil das Barometer seines Wesens immer in Richtung heiter tendierte. Im Großen und Ganzen hatte er Kummer immer auf Abstand zu halten versucht, und außerdem warteten dringende Angelegenheiten auf ihn.

Doch sie waren nicht dringend genug, ihn daran zu hindern, den Krug zu heben und zu rufen: »Auf Opa, wo auch immer er sich gerade herumtreibt!« Die anderen stimmten mit ein, vermutlich in der Hoffnung auf eine weitere Runde. Doch sie wurden enttäuscht, denn Dodger fügte hinzu: »Hört mir mal zu! In der Nacht des großen Unwetters hat jemand eine junge Frau zu töten versucht, ich schätze, eine von den Unschuldigen, über die wir gerade gesprochen haben. Aber sie rannte weg, und ich fand sie, und nun kümmert man sich um ihr Wohl.« Er zögerte angesichts einer Mauer des Schweigens, und mit schwindender Hoffnung fuhr er fort: »Sie hat goldenes Haar, und irgendwelche Unbekannten haben sie halb tot geprügelt. Ich möchte den Grund dafür herausfinden, weil ich den Schlägern eine Abreibung verpassen will. Und ihr sollt mir dabei helfen.«

An dieser Stelle bekam es Dodger mit einem wundervollen Stück Straßentheater zu tun, bei dem kaum ein Wort gesprochen wurde und das in drei Akten stattfand. Der erste Akt hieß Ich weiß nichts und der zweite Ich habe überhaupt nichts gesehen. Den Abschluss bildete das beliebte Ich habe nie nichts getan. Als Zugabe präsentierte das Ensemble den Dauerbrenner Ich war nicht dort.

Dodger hatte Ähnliches erwartet, sogar von seinen gelegentlichen Kumpeln. Es war nicht persönlich gemeint, aber niemand mochte ausgehorcht werden, erst recht dann nicht, wenn eines Tages vielleicht Fragen gestellt wurden, die einen selbst betrafen. Aber diese Sache war wichtig für ihn, und deshalb schnippte er mit den Fingern, womit er Onan ein Zeichen gab. Der Hund knurrte – ein Laut, den man von einem eher kleinen Geschöpf wie ihm nicht erwartete, sondern eher von einem Ungetüm, das aus den Meerestiefen aufstieg, und zwar mit großem Appetit. Ein scheußliches Grollen lag in diesem Geräusch, und es hörte nicht auf. Jetzt sagte Dodger mit einer Stimme, so flach, wie das Grollen tief war: »Hört mir zu, ja? Hier spricht Dodger, ja, ich bin’s, euer Freund Dodger. Die junge Frau hat goldenes Haar, und ihr Gesicht war schwarz und blau.«

Dodger entdeckte Panik in den Augen der anderen, als hielten sie ihn für übergeschnappt. Doch dann veränderte sich das große runde Gesicht der Dreckigen Dory, als sie etwas so Unerwartetes wie einen Gedanken in den Griff zu bekommen versuchte.

Sie hatte nie besonders viele. Um ihre wenigen Gedanken zu erkennen, hätte man vermutlich ein Mikroskop gebraucht – Dodger hatte einmal eins bei einer Schaustellergruppe gesehen. Es waren immer irgendwo Schausteller unterwegs, denn ihre Buden und Vorstellungen erfreuten sich großer Beliebtheit, und in diesem Fall hatte Dodger in einen Apparat geblickt, der Dinge vergrößerte. Man blickte durch ihn in ein Glas Wasser, und wenn sich die Augen angepasst hatten, erkannte man winzige schlängelnde Wesen im Wasser, die sich hin und her wanden, sich drehten, sprangen und einen seltsamen Tanz aufführten. Sie schienen dabei eine Menge Spaß zu haben, und der Mann, der dem staunenden Publikum das Mikroskop zeigte, hatte erklärt, dies beweise eindeutig, wie gut das Wasser der Themse sei, wenn so viele kleine Geschöpfe darin überleben konnten.

Für Dodger war Dorys Geist ein bisschen auf diese Weise beschaffen: größtenteils leer, aber gelegentlich mit etwas Zappelndem darin. »Nur zu, Dory!«, rief er ermutigend.

Sie sah sich um, aber alle wichen ihrem Blick aus. Dodger verstand seine Kumpane – in gewisser Weise. Niemand wollte bezichtigt werden, bestimmte Beobachtungen ausgeplaudert zu haben. Manche Leute hatten etwas dagegen, dass man sie herumerzählte. Es gab nämlich weitaus schlimmere Zeitgenossen als Gassenkinder und Tosher, Kerle, die gut mit Klinge oder Rasiermesser umzugehen wussten und in deren Augen jeder Funke von Gnade fehlte.

In den Augen der Dreckigen Dory erschien die ihr eigene Entschlossenheit. Sie hatte kein goldenes Haar. Eigentlich hatte sie überhaupt nicht viel Haar, und die wenigen ihr verbliebenen Strähnen waren fettig und bildeten sonderbare kleine Schmachtlocken. Dory zupfte an einer dieser Locken, starrte die anderen trotzig an und sagte: »Am Tag vor dem Unwetter hab ich mich auf der Promenade nach einer günstigen Gelegenheit umgesehen, und da kam ’ne elegante Kutsche vorbei, und die Tür stand offen, wisst ihr, und dann sprang da diese junge Frau heraus und rannte über die Straße, als wäre der Teufel hinter ihr her, klar? Und zwei Typen stürzten hinter ihr aus der Kutsche, ja, und verfolgten sie, stießen dabei Fußgänger zur Seite, als täte es überhaupt keine Rolle spielen.« Die Dreckige Dory hielt inne, hob die Schultern und gab damit zu verstehen, dass sie fertig war. Die anderen drehten den Kopf von einer Seite zur anderen und sahen sich um, ohne den Blick auch nur einmal auf sie zu richten. Es sollte kein Zweifel aufkommen, dass sie nichts mit diesem seltsamen und gefährlich redseligen Mädchen zu tun hatten.

Aber Dodger fragte: »Welche Art von Kutsche?«

Er hielt sein Augenmerk auf Dory gerichtet, denn andernfalls wäre sie plötzlich sehr vergesslich geworden. Nachdem die Dreckige Dory ihre Erinnerungen ordentlich gerüttelt und gesiebt hatte, erfuhr Dodger Folgendes: »Teuer, edel, zwei Pferde.« Dory schloss den Mund fest, ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie ihn nicht wieder zu öffnen gedachte, es sei denn, es gab noch mehr zu trinken. Dodger fiel es leicht, ihre Gedanken zu lesen; schließlich hatte sie nicht so viele davon. Er ließ die restlichen Münzen in seiner Tasche klimpern – eine internationale Sprache –, und in Dorys rundem, traurigem Gesicht ging ein weiteres Licht auf. »Komische Sache bei der Kutsche. Als sie fortrollte, kam ein Quietschen von den Rädern, fast so schlimm wie ein Schwein, das abgestochen wird. Ich hab’s die ganze Straße entlang gehört.«

Dodger dankte ihr, überließ ihr einige Kupfermünzen und nickte den anderen zu. Sie erweckten den Eindruck, als hätte sich bei ihnen gerade ein Mord ereignet.

Mit den Münzen in der Hand sagte die Dreckige Dory plötzlich: »Da fällt mir noch was ein. Die junge Frau schrie, aber man konnte nichts verstehen, weil es was Ausländisches war. Und der Kutscher, auch er war kein Engländer.« Sie warf Dodger einen scharfen, bedeutungsvollen Blick zu, und er gab ihr zwei zusätzliche Viertelpennys, wobei er sich fragte, ob er diese notwendigen Ausgaben wohl von Mister Charlie zurückbekäme. Natürlich musste er darüber Buch führen, denn Charlie war gewiss kein Mann, der sich etwas vormachen ließ.

Als er fortging, überlegte Dodger, ob er Mister Charlie besuchen sollte – immerhin hatte er wichtige Neuigkeiten, oder etwa nicht? Neuigkeiten, deren Erwerb ihn Geld gekostet hatte, sogar eine ganze Menge, und vielleicht waren sie noch mehr wert, wenn er sie ein bisschen aufpolierte. Obgleich er wusste, dass es nicht vernünftig gewesen wäre, ehrgeizig zu werden und sich zu viel Geld zu erhoffen …

Er langte in die Tasche, einen Behälter, der alles enthielt, was Dodger hineinstopfen konnte. Dort war es, das rechteckige Stück Pappe. Sorgfältig identifizierte er die einzelnen Buchstaben und auch die Zahlen. Alle wussten, wo sich die Fleet Street befand, denn dort wurden die Zeitungen gedruckt. Doch für Dodger war es vor allem ein halbwegs anständiges Gebiet fürs Toshen, mit einigen nützlichen Tunneln in der Nähe. Der Fleetfluss war Teil der Kanalisation, und Dodger fand es immer wieder erstaunlich, was darin so alles herumschwamm. Voller Wonne erinnerte er sich daran, dort einmal ein Armband mit zwei Saphiren und bei einer anderen Gelegenheit einen ganzen Sovereign gefunden zu haben. Das machte jene Gegend zu einer guten, glücklichen Gegend, wenn er bedachte, dass die Ausbeute eines ordentlichen Toshertags aus lediglich einer Handvoll Viertelpennys bestand.

Er machte sich auf den Weg, und Onan trottete gehorsam hinter ihm her. Dodgers Gedanken trieben dahin, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Natürlich konnte man von der Dreckigen Dory nicht erwarten, dass sie einem etwas so Nützliches wie ein Wappen an der Tür der noblen Kutsche anbot, und außerdem: Wenn Kutschen Böses anstellten, wenn sie zum Beispiel junge Frauen zu Orten brachten, zu denen sie gar nicht gebracht werden wollten … In einem solchen Fall war es sicher nicht ratsam, an den Türen ein Wappen zu zeigen, das der Identifikation dienen konnte. Doch ein quietschendes Rad quietschte, solange niemand etwas dagegen unternahm. Dodger hatte nicht viel Zeit, und dies war bisher der einzige konkrete Hinweis in einer Stadt mit Hunderten von Kutschen und anderen Transportmitteln.

Es dürfte recht schwierig werden, dachte er, aber wenn es mir gelingt, wird das quietschende Rad Fett bekommen, und das Fett wird Dodger heißen. Und die Männer in der Kutsche, fügte er im Innern seines Kopfs hinzu, wo ihn niemand hörte, werden dann Bekanntschaft mit Dodgers Faust machen …

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