7 Dodger wird rasiert und (erneut!) zum Helden; Charlie bekommt eine Geschichte – und eine ramponierte Hose


Dodger kehrte heim und wusch sich Gesicht und Hände, während Solomon die Schweinefleischkasserolle auftischte. Solomon erzählte viel aus seiner Zeit in fremden Ländern, aber eins stand fest: Bei seinen Reisen hatte er gut Kochen gelernt und verwendete Gewürze, deren Namen Dodger noch nie gehört hatte.

Einmal hatte er Solomon gefragt, warum er letztendlich nach England gekommen sei, und der alte Mann hatte geantwortet: »Mmm, mir scheint, dass alle Regierungen, wenn sie unter Druck geraten, auf ihr eigenes Volk schießen lassen, aber in England muss die Regierung erst um Erlaubnis fragen. Außerdem kümmern sich die Leute hier nicht darum, was man so treibt, solange man dabei nicht zu laut ist. Mmm, das mag ich an diesem Land.« Er hatte eine kurze Pause eingelegt. »Als ich einmal wie so oft auf der Flucht war, bin ich einem recht haarigen jungen Mann begegnet, der mir versicherte, eines Tages werde sich alles ändern. Zu jener Zeit versteckten wir uns vor den Kosaken. Manchmal frage ich mich, was mmm aus dem jungen Karl geworden sein mag …«

Nach der köstlichen Mahlzeit gingen Solomon und Dodger mit Onan spazieren, während die Sonne dem Horizont entgegensank. Zu beobachten, wie Solomon abschloss, war immer ein Erlebnis. Die Treppe zur Mansarde war steil und wackelig wie das ganze übrige Haus, aber wenn man zu der kleinen Mansardenwohnung gelangte, bemerkte man den Unterschied: die Stahlarmierung an der Tür, das Schloss, das ganz einfach aussah, in Wirklichkeit aber sehr kompliziert war – Solomon hatte es selbst konstruiert. Eine kleine Armee wäre für einen Einbruch nötig gewesen, und selbst Dodger musste ein bestimmtes Klopfzeichen geben, bevor Solomon ihm die Tür öffnete. Er hatte ihn nach dem Grund für diese Mühen gefragt, und der alte Mann hatte geantwortet: »Ich habe meine Lektion gelernt, junger Freund.« Und dabei beließ er es.

Im honigfarbenen Schein der Abendsonne schienen die Straßen aus einer Märchenwelt zu stammen, allerdings nur ganz entfernt, wie hinzugefügt werden muss. Doch die Sonne schien die Stadt vom Hickhack und den Beleidigungen des Tages zu heilen, obgleich es noch immer einige Verkaufsstände gab, deren Eigentümer Lampen anzündeten, als das Tageslicht schwand. Alles war ruhig und friedlich. Aber man wusste natürlich, dass es sich nur um einen Schichtwechsel handelte, denn die Nachtmenschen folgten den Tagmenschen, so wie … nun, die Nacht dem Tag folgt, obwohl der Tag im Allgemeinen nicht versucht, der Nacht die Brieftasche zu klauen.

Bei einem Getränkeladen genehmigten sich Solomon und Dodger ein Bier und gaben auch Onan ein bisschen davon zu trinken. Dodger erzählte von Onans Fund in der Kanalisation und wies darauf hin, dass er am nächsten Tat zu den Mayhews zurück wollte, um Simplicity wenn möglich auszuführen und ein wenig mit ihr durch die Stadt zu schlendern. Müde geworden, kehrten sie schließlich zur Mansarde zurück.

Unterwegs bemerkte Dodger etwas Helles, das durch die schmutzige Luft schien. »Was ist das, Sol?«, fragte er. »Vielleicht ein Engel?«

Es sollte eigentlich nur ein Scherz sein, aber Solomon erwiderte: »Mmm, meine Erfahrungen mit Engeln sind ein wenig begrenzt, mein Junge, obwohl ich an ihre Existenz glaube mmm. Doch dieser besondere Engel dürfte der Jupiter sein, wenn ich mich nicht sehr irre.«

Dodger betrachtete den hellen Lichtpunkt. »Was hat es damit auf sich?« Solomon erzählte ihm immer wieder von irgendwelchen Dingen, aber dies war eindeutig etwas Neues.

»Das weißt du nicht? Jupiter ist eine riesige Welt, viel größer als die Erde.«

Dodger bekam große Augen. »Du meinst, Jupiter ist eine Welt, auf der Menschen leben?«

»Mmm, ich glaube, in diesem Punkt hat die astronomische Wissenschaft noch keine Gewissheit erlangt mmm, aber ich schätze, das dürfte der Fall sein, denn welchen Sinn hätte eine solche Welt sonst? Und ich möchte hinzufügen mmm, dass Jupiter nur einer von vielen Planeten ist – womit ich Welten meine –, die die Sonne umkreisen.«

»Was? Ich dachte, die Sonne umkreist uns. Ich meine, man kann sie dabei beobachten, ist doch ganz klar.«

Dodger war verwirrt, und Solomon sagte langsam und bedächtig: »Mmm, es gibt keinen Zweifel daran, dass die Erde die Sonne umkreist; das steht schon seit einer ganzen Weile fest. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass der Planet Jupiter vier Monde hat, die ihn umkreisen, so wie unser Mond die Erde.«

»Was soll das heißen? Du hast doch gerade gesagt, dass wir die Sonne umkreisen? Wohin fliegt dann der Mond? Etwa auch um die Sonne?«

»Ja, der Mond fliegt um die Erde, und gemeinsam fliegen sie um die Sonne, in der Tat mmm, und das mit den Jupitermonden stimmt, kann ich dir versichern, denn ich habe sie selbst durch ein Teleskop gesehen, als ich in Holland war.«

Dodger befürchtete, dass ihm gleich der Kopf platzte. Was für eine Neuigkeit! Man stand auf, man ging herum, und man glaubte, alles zu wissen, und plötzlich stellte sich heraus, dass sich oben am Himmel alles wie ein Kreisel drehte. Fast empörte es ihn, dass er nicht schon zuvor in dieses Geheimnis eingeweiht worden war, und als sie den Weg fortsetzten, hörte er Solomon aufmerksam zu, der ihm so viel über Astronomie erzählte, wie ihm einfiel. Schließlich fragte Dodger: »Können wir eine dieser Welten erreichen?«

»Mmm, das ist sehr unwahrscheinlich, mein Junge, sie sind weit entfernt.«

Dodger zögerte. »Vielleicht so weit entfernt wie Bristol?« Er hatte von Bristol gehört. Es sollte eine große Hafenstadt sein, aber nicht so groß wie London.

Solomon seufzte und erwiderte: »Leider sind die Planeten noch viel, viel weiter entfernt als Bristol, sogar noch weiter als das Van-Diemens-Land, und das dürfte die am weitesten entfernte Gegend sein, die sich von hier aus erreichen lässt, denn sie befindet sich auf der anderen Seite der Erde.«

Dodger gewann den Eindruck, dass alles, was ihm Solomon erzählte, wie eine silberne Nadel in ihm stecken blieb, die nicht wehtat, aber ihn mit einem seltsamen Summen erfüllte. Nach und nach sah er eine Welt, die sich weiter über die Tunnel unter den Straßen hinaus erstreckte, eine Welt voller Dinge, die er nicht kannte. Von der Existenz vieler dieser Dinge hatte er bisher nichts gewusst, und er begriff plötzlich, dass er darüber Bescheid wissen wollte. Er fragte sich auch, ob Simplicity größeren Gefallen an einem Mann fände, der sich mit all diesen Seltsamkeiten auskannte, und dieser Gedanke machte ihm klar, wie sehr er sich auf ein Wiedersehen mit ihr freute.

Als sie die Treppe hochstiegen, sagte Solomon: »Wenn du mit Buchstaben besser zurechtkämst, Dodger, könnte ich dich mit den Werken von Sir Isaac Newton vertraut machen. Und jetzt lass uns eintreten, denn allmählich setzt mir die feuchte Kälte zu. Mmm, du hast mich vor einer Weile nach Engeln gefragt, die mmm Boten sind, und deshalb glaube ich: Was auch immer dir Informationen überbringt, es könnte Engel genannt werden, mein lieber Dodger.«

»Ich dachte, es sind Boten von Gott.«

Solomon seufzte einmal mehr, als er mit der Prozedur des Aufschließens begann. »Mmm, nun, wenn du eines Tages vom Dreckwühlen genug hast, könnte ich dir von den Werken Spinozas erzählen. Der war ein Philosoph, und was er schrieb, würde zweifellos deinen Horizont erweitern, und Platz dafür gibt es in deinem Kopf genug, soweit ich das erkennen kann. Du würdest das Konzept des Atheismus kennenlernen, das den Glauben an Gott infrage stellt. Was mich betrifft … manchmal glaube ich an Gott und manchmal nicht.«

»Ist das erlaubt?«, fragte Dodger.

Solomon öffnete die Tür und verriegelte sie hinter ihnen wieder. »Du hast noch immer nicht die besondere Vereinbarung verstanden, die das jüdische Volk mit Gott getroffen hat.« Er betrachtete Onan und fügte hinzu: »Wir stimmen nicht immer überein. Du fragst nach Engeln, und ich spreche von Menschen. Warum zum Beispiel glauben die Menschen, dass es Liebe nur bei ihnen geben könnte? Wo Liebe existiert, muss es auch mmm eine Seele geben, doch seltsamerweise scheint Gott davon auszugehen, dass nur Menschen eine Seele haben. Ich habe ihm lange erklärt, warum er seinen Standpunkt noch einmal überdenken sollte, und Anlass dafür war eine Begegnung mit einem zornigen Herrn, der eine Eisenstange in der Hand hielt und die Ansicht vertrat, dass alle Juden sterben sollten – eine Einstellung, der ich leider recht häufig begegnet bin. Onan war damals kaum mehr als ein Welpe und biss besagten Herrn mutig in eine empfindliche Stelle, was ihn ablenkte und mir Gelegenheit gab, ihn mit einem kleinen Trick, den ich in Paris gelernt hatte, zu Boden zu schicken. Wer will behaupten, dass Onan mir nicht aus Liebe Hilfe leistete, um Schaden von mir abzuwenden, mit dem Ergebnis, dass er für seine Selbstlosigkeit die Tritte bekam, die ihn vermutlich zu dem Hund gemacht haben, der er heute ist. Mmm, und jetzt bin ich rechtschaffen müde und möchte das Licht löschen.«

In der Düsternis streckte sich Dodger auf seiner Matratze aus. Onan beobachtete ihn in der Hoffnung, dass diese Nacht vielleicht kalt genug war, um Dodger zu bewegen, seine Matratze mit einem ziemlich übel riechenden Hund zu teilen. In seinem Blick lag die bedingungslose Liebe, zu der nur ein Hund fähig ist – und natürlich ein Hund mit einer Seele. Doch Onan war auf hoffnungslose Weise Hund, was seine Metaphysik weitaus weniger kompliziert machte als die von Menschen, obwohl er manchmal in eine Krise geriet, weil er zwei Götter zu verehren hatte: den alten, der nach Seife roch, und den jungen, der auf herrliche Weise nach allem anderen roch, insbesondere wenn er vom Toshen heimkehrte – dann war er für Onan wie ein Regenbogen voller Kaleidoskope. Jetzt nagelte der hoffnungsvolle Hund Dodger mit der Aufrichtigkeit seiner Liebe regelrecht fest, und Dodger gab nach – wie immer.

Der kleine Raum war still und dunkel, abgesehen von Solomons leisem Schnarchen und dem grauen Licht, das es schaffte, durch das schmutzige Fenster zu filtern, und dem Geruch von Onan, dem es auf höchst eigentümliche Weise gelang, sich fast Gehör zu verschaffen.

Draußen auf der Straße hielt ein Mann Ausschau, der hoffte, zwei Männer zu sein, denn einer allein konnte sich am nächsten Morgen leicht tot wiederfinden. Falls ein Toter dazu in der Lage war, sich über den eigenen Tod klarzuwerden – wobei es sich um eins der Rätsel handelte, die Solomon gefallen hätten.

In der Mansarde schlief Dodger, und in seinen Träumen lauschte er den Planeten, wie sie weit droben über ihm dahinzogen, gelegentlich begleitet von einer jungen Frau mit goldenem Haar.

Am nächsten Morgen stand Dodger noch früher auf als Solomon. Gewöhnlich hatte er keine Pläne für den Tag und blieb so lange unter der Decke, bis ihm Onans Zunge über das Gesicht strich, und er wollte nicht, dass so etwas mehr als einmal geschah.

Solomon sagte nichts, aber Dodger bemerkte sein leichtes Lächeln, als er die Suppe aufwärmte, die es zum Frühstück geben sollte. Mit seiner Magie und den Kontakten in Covent Garden konnte Solomon gewöhnlichen Brei in die delikateste Suppe verwandeln, die Dodgers Meinung nach kaum zu übertreffen war, nicht einmal von Marie Jos Kochkünsten. Dennoch legte Dodger seinen Löffel beiseite.

»Das war sehr lecker, Sol, danke, aber ich muss gehen.«

»Mmm, nicht ohne dass du deine Stiefel geputzt hast, auf keinen Fall. Du bist mittlerweile fast ein Gentleman, zumindest bei schlechtem Licht, und außerdem mit einer wichtigen Mission beauftragt. Deshalb musst du so gut wie möglich aussehen, erst recht heute Nachmittag, wenn du wieder Miss Simplicity besuchst. Für einen Angehörigen des auserwählten Volks ist es schwer genug, in dieser Stadt zu leben, selbst wenn man ihm nicht vorwerfen kann, einen Jungen wie dich ohne angemessene Kleidung loszuschicken – es würde nicht lange dauern, bis die Leute wieder Steine auf das Gebäude werfen würden. Mach deinen Anzug bloß nicht schmutzig! Ich möchte keinen Flecken sehen, wenn du zurückkehrst. Und jetzt deine Stiefel!« Solomon öffnete eine seiner Schatullen, reichte Dodger einen kleinen Metallbehälter und sagte: »Dies ist richtige Schuhcreme, riecht sogar gut mmm, nicht wie das verflixte Schweinefett, das du benutzt. Du wirst ein wenig Armschmalz benötigen, um deine gebrauchten Stiefel zu putzen, damit sie wie neu aussehen und du dein Gesicht darin erkennen kannst. Und dabei fällt mir noch etwas anderes Erwähnenswertes ein. Denn wenn du dich im Glanz der richtig geputzten Stiefel siehst, sollte dir klarwerden, dass dein Gesicht ebenfalls aufpoliert werden muss. Offenbar hattest du gestern Abend keine Zeit, es zu waschen.«

Bevor Dodger Einwände erheben konnte, fuhr Solomon fort: »Außerdem muss ich dich darauf hinweisen, dass das, was du für dein Haar hältst, schlimmer aussieht als die Reithose eines Mongolen, und die sieht tatsächlich schlimm aus mit dem vielen Haar und den Yakbrocken – ich glaube, bei besonderen Gelegenheiten verwenden die Mongolen Yakmilch für ihr Haar. Und da ich nicht erneut fliehen und in einem anderen Land Zuflucht suchen möchte, solltest du, nachdem du dich ein bisschen herausgeputzt hast und wie ein halbwegs ordentlicher Christ aussiehst – die Chancen, dass du jemals wie ein Jude aussiehst, mein Junge, sind verschwindend gering –, einen richtigen Friseur aufsuchen und dir von ihm die Haare schneiden und dich rasieren lassen, anstatt dich den Fingern eines alten Mannes anzuvertrauen, die zittrig werden, wenn er müde ist.«

Dodger konnte sich selbst rasieren, auf eher lustlose Art und Weise – obwohl, und das soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, es noch nicht allzu viel zum Rasieren gab –, aber einen richtigen Haarschnitt hatte er noch nie in seinem Leben bekommen. Gewöhnlich erledigte er das selbst, indem er einfach hier und dort ein paar Strähnen mit dem Messer abschnippelte, wobei er Solomon wie einen klugen Spiegel benutzte, der ihm sagte, an welcher Stelle er die Klinge ansetzen musste. Das Ergebnis solcher Bemühungen ließ ein wenig zu wünschen übrig, und vermutlich nicht nur ein wenig, und anschließend kam der Läusekamm zum Einsatz, was recht unangenehm war, aber ein erfolgreiches Mittel gegen das Jucken. Es bereitete ihm eine gewisse Genugtuung, wenn die kleinen Biester zu Boden fielen, wo er sie zertreten konnte. Dann wusste er, dass er zumindest für die nächsten Tage ohne Passagiere war.

Er strich sich mit den Fingern durchs Haar, eine Methode, die Solomon deutschen Kamm nannte, und musste zugeben, dass oberhalb seiner Brauen jede Menge Platz für Verbesserungen war. Deshalb sagte er: »Ich weiß, wo ein Friseurladen ist. Ich habe ihn erst gestern gesehen, in der Fleet Street.«

Zeit bleibt mir genug, dachte Dodger, als er den Stiefeln das bereits erwähnte Armschmalz angedeihen ließ, zusammen mit der Schuhcreme. Solomon stand neben ihm, vergewisserte sich, dass er alles richtig machte, und wies darauf hin, dass er die Schuhcreme in Polen gekauft hatte. Die Liste der Länder, die Solomon besucht und schnell wieder verlassen hatte, schien endlos zu sein, und Dodger wollte nicht, das sie seinetwegen noch länger wurde.

Er erinnerte sich daran, wie Solomon einmal einen Bündelrevolver aus einer seiner Schatullen genommen hatte. »Wozu brauchst du den?«, hatte er gefragt, und Solomon hatte geantwortet: »Ich dachte mir, dass ich genug eingesteckt habe. Beim nächsten Mal teile ich auch ein bisschen aus …«

Als der alte Mann die Stiefel als hinreichend sauber befand – und er ließ sich nicht so leicht zufriedenstellen –, machte sich Dodger auf den Weg zur Fleet Street. Die Straßen füllten sich mit Leben, und er war sauber, obwohl in Hinsicht auf den Anzug aus dem Gebrauchtladen einige Zweifel blieben, denn er juckte wie verrückt! Er sah gut aus und wollte lässig und cool wirken, als er durch die Straßen schlenderte, aber fast an jeder Ecke blieb er stehen, um sich zu kratzen. Er rang mit einem Jucken, das ihn verspottete, indem es ständig den Ort wechselte, einmal in seinen Stiefeln steckte und dann hinter den Ohren erschien, um von dort aus in den Schritt zu springen, wo man sich in aller Öffentlichkeit nicht kratzen durfte. Allerdings half es, etwas schneller zu gehen, und ein wenig außer Atem erreichte er schließlich den Friseurladen, den er am vergangenen Tag bemerkt hatte, und zum ersten Mal sah er auf das Namensschild. Es dauerte eine Weile, aber schließlich gelang es ihm, die Aufschrift zu entziffern: Mr. Sweeney Todd, Bader.

Er betrat den Laden, in dem sich offenbar keine Kunden aufhielten, und bemerkte einen blassen, recht fahrig wirkenden Mann, der auf dem Friseurstuhl saß und etwas trank, das sich als Kaffee herausstellte. Der Friseur seufzte, als er Dodger sah, klopfte sich die Schürze ab und sagte mit spröder Fröhlichkeit: »Guten Morgen, Sir! Ein wundervoller Morgen! Was kann ich für Sie tun?« Er versuchte sich zumindest an einer fröhlichen Begrüßung, aber es war deutlich zu erkennen, dass er nicht mit dem Herzen bei der Sache war. Nie zuvor hatte Dodger ein so klägliches Gesicht gesehen, außer vielleicht, als Onan sich noch mehr als sonst blamiert hatte, indem er Solomons Abendessen hinunterschlang, als der Mann gerade nicht hinsah.

Mister Todd war eindeutig kein fröhlicher Mensch. Trübsinn schien an ihm zu haften, als hätte ihn die Natur eher dafür geschaffen, der stumme Gehilfe eines Leichenbestatters zu sein, dessen Aufgabe darin bestand, hinter dem Sarg des Verstorbenen herzugehen, respektvolle Trauer zu zeigen und kein Wort zu sagen, weil das zwei Pence extra gekostet hätte. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn Mister Todd nicht versucht hätte, dagegen anzukämpfen und sich heiter zu geben; ebenso gut hätte man Rouge bei einem Totenkopf auflegen können. Dodger war fasziniert. Vielleicht sind alle Friseure so, dachte er. Immerhin möchte ich nur eine Rasur und einen Haarschnitt.

Nicht ohne ein gewisses Unbehagen setzte er sich auf den Stuhl, und Sweeney wirbelte ein weißes Tuch um ihn, auf eine Weise, die vielleicht theatralisch gewirkt hätte, wenn Sweeney sich darauf verstanden hätte. An dieser Stelle bemerkte Dodger einen undeutlichen, aber beharrlichen Geruch, der von irgendwoher kam. Er berichtete von Moder und war mit den Gerüchen von Seife und Gläsern mit verschiedenen Flüssigkeiten vermischt. Er dachte: Nun, dies ist keine Metzgerei. Ich schätze, der Hausherr ist losgezogen, um was vom Abort zur Kanalisation zu bringen – wenn die Leute das doch nur unterließen!

Ein großer Teil des Tuchs endete an Dodgers Hals, um gleich darauf vom glücklosen Sweeney mit reichlich Entschuldigungen und Beteuerungen, dass so etwas nicht wieder geschehen werde, fortgezogen zu werden. Aber es wiederholte sich doch, gleich zweimal. Schließlich fiel das weiße Tuch auf eine Weise um Dodger, mit der sie beide einigermaßen zufrieden waren, und daraufhin konzentrierte sich der schwitzende Sweeney auf die Arbeit. Irgendwann hatte ihm offenbar jemand gesagt, dass ein Friseur nicht nur gut mit Haar umgehen sollte, sondern auch über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Witzen, Anekdoten und Zwerchfellkitzlern verfügen müsse, darunter einige, die – wenn der Herr auf dem Stuhl im richtigen Alter war und solches zu schätzen wusste – auch anzügliche Bemerkungen über junge Frauen enthielten. Doch der Person, die Mister Todd entsprechenden Rat gegeben hatte, war nicht klar gewesen, dass es Sweeney an allem mangelte, was man Bonhomie, Heiterkeit, Zotigkeit oder ganz allgemein Humor nannte.

Dennoch bemerkte Dodger, dass er sich Mühe gab. O ja, er gab sich wahrlich Mühe, während er das Rasiermesser am Streichriemen schärfte. Zwar brachte er immer wieder die Pointen durcheinander, was ihn aber nicht daran hinderte – o Schreck, o Graus –, über seine eigenen verunglückten Witze zu lachen. Aber schließlich war das Rasiermesser scharf genug, und dann gab es da das Problem namens Rasierschaum, worum sich der Friseur kümmerte, nachdem er das Rasiermesser beiseitegelegt hatte, natürlich so, dass die glänzende Klinge nach Norden zeigte, was ihre Schärfe bewahrte.

Dodger saß hilflos auf dem Stuhl und beobachtete das Geschehen mit so etwas wie Ehrfurcht, wobei er nicht nur die faszinierenden Vorbereitungen des Friseurs sah, sondern sich auch vorstellte, wie gut er anschließend aussehen und wie erfreut Simplicity sein würde, wenn sie den neuen Dodger erblickte, sauber und elegant, ein richtiger junger Herr. Er stellte fest, dass Sweeneys Hände Narben an jedem Finger hatten, obwohl sie sich kaum zeigten, weil er den Rasierschaum mit der manischen Begeisterung eines Zirkusclowns in Dodgers Gesicht verteilte. Das Zeug geriet praktisch überallhin, denn es enthielt so viel Luft, dass es schwebte und in der leichten Brise flog. Es schien den Friseursalon verlassen zu wollen, und Dodger teilte diesen Wunsch, zumal der unangenehme Geruch nicht mehr nur undeutlich war, sondern immer aufdringlicher wurde.

»Fühlen Sie sich nicht gut, Mister Todd?«, fragte er. »Ihre Hände zittern ein wenig, Mister Todd.«

Das Gesicht des Friseurs sah aus wie Stahl, wenn Stahl schwitzen konnte, und seine Augen wirkten wie Löcher im Schnee. Immer wieder glitt sein Blick in die Ferne, wie in eine andere Welt. Vorsichtig schob Dodger das Tuch beiseite und behielt den Mann dabei aufmerksam im Auge. Meine Güte, jetzt begann Mister Todd auch noch zu murmeln; die einzelnen Worte gingen ineinander über, als sie aus dem Mund zu kriechen versuchten, wobei es einige von ihnen so eilig hatten, dass sie bestrebt waren, die vor ihnen zu überholen.

Dann stand Sweeney plötzlich zwischen Dodger und der Tür zur Straße und winkte mit dem Rasiermesser wie eine Braut mit ihrem Brautstrauß kurz nach der Trauung, neugierig darauf, wer ihn wohl auffängt …

Dodger hoffte, dass man das laute Klopfen seines Herzens nicht hörte, als er ruhig sagte: »Erzählen Sie mir, was Sie sehen, Mister Todd! Es klingt schrecklich. Kann ich Ihnen helfen?«

Bumm-bumm, machte Dodgers Herz, doch er achtete nicht darauf, leider ebenso wenig wie Sweeney, dessen Murmeln lauter wurde, was Dodger in die Lage versetzte, einige Worte zu verstehen. Langsam, ganz langsam stand er auf und dachte nach. Vielleicht Opium? Er schnupperte, roch aber keinen Alkohol. »Was sehen Sie, Mister Todd?«, fragte er so sanft wie möglich.

»Sie … sie kommen immer wieder. Ja, ja, sie kommen zurück und versuchen, mich mitzunehmen … Ich erinnere mich an sie … Wissen Sie, was Kanonenkugeln anrichten können, junger Herr? Manchmal hüpfen sie, es ist sehr komisch, ha, und dann rollen sie über den Boden, und ein junger Bursche … ja, irgendein neuer Bursche, frisch von einer Farm in Dorset oder Irland, mit dem Kopf voller Lügen über den Krieg und in der Tasche ein schlecht gemaltes Bild von seiner Freundin, die ihn vielleicht an sich herangelassen hat, weil er ein so tapferer Soldat ist und gegen Boney kämpft … Dieser junge Soldat sieht die Kanonenkugel über den Boden rollen wie beim Kegeln, und der verdammte Narr ruft seine Kameraden, diejenigen, die noch übrig sind, und beschließt, der Kugel einen ordentlichen Tritt zu versetzen, ohne zu ahnen, welche Kraft noch darin steckt. Kraft genug, ihm das Bein abzureißen, und nicht nur das Bein. Heute schwinge ich das Rasiermesser, aber auf dem Schlachtfeld habe ich das des Chirurgen in der Hand gehalten, und es war kaum besser als die Klinge eines Schlachters. Ich hab sie alle gesehen, die gebrochenen Männer … Und da kommen sie … Sie kommen, wie sie immer gekommen sind, unsere glorreichen Helden, einige von ihnen sehen mit ihren Augen für die anderen, die keine mehr haben, andere tragen die ohne Beine. Und wieder andere schreien für jene, die ohne Stimme sind …«

Die ganze Zeit über tanzte das Rasiermesser wie hypnotisch hin und her, während sich Dodger langsam dem schwitzenden Mann näherte.

»Nicht genug Verbandsmaterial, nicht genug Medizin, nicht genug … Leben«, murmelte Sweeney Todd. »Ich habe es versucht. Nie habe ich die Waffe auf andere Menschen gerichtet, ich habe zu helfen versucht, wenn die beste Hilfe, die man leisten kann, aus einer sanften Klinge besteht. Und sie kommen immer noch … Sie kommen hierher, die ganze Zeit über … und suchen nach mir … Und sie behaupten, nicht tot zu sein, aber ich weiß, dass sie tot sind. Sie sind tot, aber immer noch auf den Beinen. Oh! Wie traurig das alles ist, wie traurig …«

Dodgers Hand war dem Rasiermesser bei seinem launischen Tanz gefolgt und ergriff nun die Hand, die es hielt. Er glaubte fast, die Soldaten selbst zu sehen, so betörend waren die Bewegungen der Klinge, und er fühlte sich immer mehr zu etwas Schrecklichem hingezogen. Bis der innere Dodger, der überleben wollte, aufwachte, grüßte, die Herrschaft über Dodger übernahm und behutsam das Rasiermesser aus Sweeney Todds Fingern löste.

Der schwankende Mann merkte nicht einmal, dass es ihm abgenommen wurde. Er starrte noch immer zu dem anderen Ort, den Dodger nicht sehen wollte, ließ einfach los und sank auf den Stuhl. Rasierschaumfladen sanken wie zu groß geratene Schneeflocken auf ihn herab.

Erst dann merkte Dodger, dass sie nicht mehr allein waren. Während er halb in Sweeney Todds Traumwelt geweilt hatte, waren zwei Peeler gekommen. Erstaunlich still für Leute wie sie, standen sie in der Tür, schwitzten und starrten ihn und den armen Mister Todd an. Einer von ihnen sagte: »Heilige Maria, Mutter Gottes!« Und beide Männer sprangen zurück, als Dodger das Rasiermesser zusammenklappte und einsteckte, damit es keinen Schaden anrichten konnte. Dann wandte er sich den beiden Peelern zu, lächelte und fragte: »Kann ich Ihnen helfen, Gentlemen?«

Danach spielte die Welt verrückt, noch mehr als vorher. Dodger war plötzlich von vielen Menschen umringt. In dem Friseursalon wimmelte es von Peelern, die an ihm vorbei nach hinten eilten, wo er das Klappern eines Schlosses hörte, dann das Pochen eines Stiefels und, weiter unten, einen grässlichen Fluch. Plötzlicher Gestank von Friedhofsausmaßen wehte durch den Salon und bewirkte Schreie bei der Menge, die sich eingefunden hatte. Dodger wurde übel und bedauerte aus irgendeinem Grund, dass er seinen Haarschnitt nicht bekommen hatte.

Polizeipfeifen erklangen draußen, und weitere Peeler strömten herein. Zwei von ihnen packten den liegenden Mister Sweeney Todd, der sich noch immer in der anderen Welt befand; Tränen liefen ihm über die Wangen. Er wurde nach draußen gebracht und ließ Dodger auf dem Friseurstuhl sitzend zurück, im Mittelpunkt eines Durcheinanders, das immer größer zu werden schien. Wohin er auch sah, überall wandten sich ihm Gesichter zu, und die Leute rangen jedes Mal nach Luft, wenn er sich bewegte, und in der Wolke aus Benommenheit, die ihn umgab, hörte er einen aus dem Keller kommenden Peeler sagen: »Er stand einfach da. Ich meine, er stand dem Mann unmittelbar gegenüber, Auge in Auge, ohne zu blinzeln, und wartete nur auf den richtigen Moment, um nach dem verdammten Messer zu greifen. Wir wagten es nicht, auch nur einen Ton von uns zu geben, denn der Übeltäter schien in einem Traum zu sein, und er hielt eine tödliche Waffe in der Hand. Was soll ich sagen? Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, gehen Sie nicht in den Keller. O nein, besser nicht, denn dort unten bekämen Sie etwas zu sehen, das nicht für Ihre Augen bestimmt ist. Halt sie auf, Fred! Von einer grausigen Metzelei zu sprechen, würde diesem Verbrechen nicht gerecht. Glauben Sie mir – ich bin einmal Soldat gewesen. Ich war bei Talavera dabei, und das war schlimm genug. Als ich das dort unten gesehen habe, musste ich mich übergeben. Hab richtig gekotzt, und zwar mehrmals. Ich meine, der Gestank! Kein Wunder, dass sich die Nachbarn beschwert haben. Ja, Sir … Sie, Sir … kann ich Ihnen helfen?«

Mit trüben Augen erkannte Dodger Charlie Dickens, der offenbar den Peelern gefolgt war. »Mein Name ist Dickens, und ich kenne den jungen Dodger hier als hervorragenden Menschen, der besonderes Vertrauen verdient. Er ist auch der Held, der neulich Abend die Angestellten des Morning Chronicle vor einem Raubüberfall bewahrte, und davon haben Sie bestimmt alle gehört.«

Dodger fühlte sich allmählich besser, was vielleicht auch an dem großen Applaus lag, den er bekam, und seine Stimmung heiterte sich noch mehr auf, als jemand in der Menge rief: »Ich schlage eine Sammlung für diesen überaus tapferen jungen Mann vor! Ich selbst gebe fünf Kronen!«

Er wollte aufstehen, aber Charlie Dickens, der sich über ihn gebeugt hatte, drückte ihn sanft auf den Friseurstuhl zurück, beugte sich etwas tiefer und flüsterte ihm ins Ohr: »Es wäre angebracht, ein wenig zu stöhnen, denn immerhin warst du einer schrecklichen Gefahr ausgesetzt, mein Freund. Vertrau mir als Journalisten! Du bist der Held der Stunde, wieder einmal, und es wäre schade, alles mit unbedachten Worten zu zerstören.« Sein Kopf kam noch näher, und er sprach noch leiser. »Hör nur, wie sie rufen und Geld für den Helden sammeln. Ich helfe dir jetzt vorsichtig auf die Beine und bringe dich zum prächtigen Büro des Chronicle, wo ich einen Artikel über dich schreiben werde, wie er vermutlich seit Cäsars Zeiten nicht mehr geschrieben wurde.«

Charlie lächelte. Wie ein Fuchs, fand Dodger in dieser lauten, sich drehenden und plötzlich sehr verwirrenden Welt. Dann schob sich Charlie etwas näher und sagte: »Übrigens, mein kühner Freund, habe ich gerade erfahren, dass Mister Sweeney Todd mit seinem Rasiermesser die Kehlen von sechs Männern aufgeschlitzt hat, die in dieser Woche zu ihm gekommen waren, um sich rasieren und die Haare schneiden zu lassen. Ohne deine fast magische Reaktion wärst du das Opfer Nummer sieben gewesen. Und dies war meine beste Hose!« Die letzten Worte wurden gerufen – besser gesagt: geschrien –, denn Dodger hatte sein Frühstück auf Charlies Beinkleider verteilt.

Etwas später saß Dodger am langen Tisch im Büro des Chronicle-Herausgebers und wünschte sich, endlich unterwegs zu sein, um Simplicity zu besuchen. Ihm gegenüber saß Charlie, der nicht mehr so erzürnt wirkte, denn als vermögender Mann hatte er sich eine neue Hose besorgt und die andere weggegeben, damit sie gereinigt wurde. Die Innenwand des Büros war nur halbhoch, und die Vorbeigehenden konnten sehen, was auf dieser Seite vor sich ging. Es kamen alle vorbei, und sie blieben auch stehen. Jeder Schreiber und jeder Drucker fand irgendeinen Vorwand, um einen Blick auf den jungen Mann zu werfen, der dem magischen Straßentelegrafen zufolge den schrecklichen Teufelsfriseur der Fleet Street überwältigt hatte.

Allmählich ärgerte sich Dodger. »Ich hab ihn kaum berührt, ihn nur ein bisschen nach unten gedrückt und ihm das Messer abgenommen, das war alles. Ehrlich! Es war, als hätte er Opium genommen oder so, denn er sah tote Soldaten, tote Männer, die sich näherten, ich schwöre, und er sprach mit ihnen, als täte es ihm leid, dass er sie nicht retten konnte. Das ist die reine Wahrheit, Mister Charlie, ich schwöre, und zum Schluss hab ich die toten Soldaten ebenfalls gesehen. In Fetzen gerissene Männer. Und schlimmer noch: halb in Fetzen gerissene Männer, die schrien. Er ist kein Teufel, Sir, obwohl ich glaube, dass er vielleicht die Hölle gesehen hat, und ich bin kein Held, Sir, wirklich nicht. Er war nicht böse, sondern verrückt und traurig, seinem Wahnsinn im Kopf ausgeliefert. Das ist alles, Sir, im Großen und Ganzen, Sir. Und es ist die Wahrheit, die Sie aufschreiben sollten, Sir. Ich meine, ich bin kein Held, weil ich nicht glaube, dass er ein Schurke ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Es folgte eine Stille in dem sauberen kleinen Raum, die nur von Charlies Blick durchdrungen wurde. Eine Uhr tickte, und Dodger wusste, ohne hinzusehen, dass die Angestellten ihm, dem bescheidenen und widerstrebenden Helden der Stunde, noch immer Blicke zuwarfen. Charlie starrte ihn an und drehte dabei seinen Stift hin und her. Schließlich seufzte er und sagte: »Mein lieber Dodger, die Wahrheit ist keine eindeutige Tatsache, sondern sie wird konstruiert, vergleichbar mit dem Himmel. Wir Journalisten, die wir darüber schreiben, müssen die Wahrheit destillieren, damit die ganz und gar nicht gottähnlichen Menschen sie verstehen. In diesem Sinn sind alle Menschen Journalisten, denn sie schreiben in ihren Köpfen, was sie hören und sehen, ohne darauf zu achten, dass ihr Gegenüber das Geschehen vielleicht ganz anders sieht. Das sind Heil und Verdammnis des Journalismus – die Erkenntnis, dass es fast immer verschiedene Perspektiven gibt, aus denen man Ereignisse betrachten kann.«

Charlie drehte seinen Stift noch etwas schneller, schien sich in seiner Haut nicht ganz wohlzufühlen und fuhr fort: »Wer bist du eigentlich, Dodger? Ein tapferer junger Mann, aufgeweckt und schneidig und offenbar ohne Furcht? Oder vielleicht, wie ich vermute, ein Straßenjunge mit reichlich Bauernschläue und dem Glück von Beelzebub höchstpersönlich? Ich nehme an, dass du beides bist und auch alle Schattierungen dazwischen aufweist. Und Mister Todd? Er ist ein wahrhaftiger Teufel – die sechs Toten in seinem Keller weisen deutlich darauf hin. Oder ist er vielleicht ein Opfer, wie du zu glauben scheinst? Wo liegt die Wahrheit?, könntest du fragen, wenn du Gelegenheit zum Sprechen hättest, die ich dir derzeit aber nicht gebe. Meine Antwort würde lauten: Die Wahrheit ist ein Nebel, in dem der eine Mensch die himmlischen Heerscharen sieht und der andere einen fliegenden Elefanten.«

Dodger wollte protestieren. Er hatte keine himmlischen Heerscharen gesehen und auch keinen Elefanten – er wusste nicht einmal, was ein Elefant war –, doch er wäre bereit gewesen, einen Shilling darauf zu wetten, dass Solomon bei seinen Reisen beides gesehen hatte.

Charlie sprach noch immer. »Die Peeler haben einen jungen Mann gesehen, der mutig einem bewaffneten Mörder entgegentrat, und derzeit ist das die Wahrheit, die wir drucken und feiern sollten. Allerdings werde ich auch eine andere Perspektive hinzufügen – sagen wir: eine kleine Prise davon – und berichten, dass der Held der Stunde Mitleid mit dem schrecklichen Mörder hatte und glaubte, dass er wegen der in den letzten Kriegen erlebten grässlichen Erlebnisse verrückt geworden sei. Ich werde schreiben, wie sehr du mir gegenüber betont hast, dass Mister Todd selbst ein Kriegsopfer ist, so wie die Toten in seinem Keller. Ich werde deine Ansicht den Obrigkeiten mitteilen. Der Krieg ist eine schreckliche Sache, und viele kehren mit Wunden heim, die für das Auge unsichtbar bleiben.«

»Das ist sehr schlau von Ihnen, Mister Charlie, die Welt mit ein paar Worten auf Papier zu verändern.«

Charlie seufzte. »Wohl eher nicht. Man wird Sweeney Todd entweder hängen oder nach Bedlam schicken. Wenn er Pech hat – und ich glaube nicht, dass er genug Geld besitzt, um sich dort einen angenehmen Aufenthalt zu kaufen –, kommt er nach Bedlam. Übrigens, ich wäre dir dankbar, wenn du dich morgen beim Punch einfinden könntest, damit unser Zeichner Mister Tenniel dein Konterfei zu Papier bringt.«

Dodger versuchte, alles Gehörte zu verarbeiten. »Was meinen Sie mit Punch, Mister Charlie? Ist das was Schlimmes?«

»Ob das was Schlimmes ist? Oh, Satire kann schlimm sein; auch hierbei kommt es auf die Perspektive an. Der Punch ist ein Magazin für Politik, Literatur und Humor, womit etwas gemeint ist, das einen zum Lachen und manchmal auch zum Nachdenken anregt. Zu den Gründern zählt unser gemeinsamer Bekannter Mister Mayhew.« Charlie zögerte und schrieb dann rasch einige Worte auf das vor ihm liegende Papier. »Geh jetzt, viel Spaß und kehr morgen so früh wie möglich hierher zurück!«

»Äh, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Sir, ich habe ohnehin noch einen Termin«, sagte Dodger.

»Du hast einen Termin, Dodger? Meine Güte, mir scheint, du wirst wirklich ein Mann von Welt!«

Dodger machte sich auf den Weg und überlegte dabei, wie Charlie seine letzten Worte gemeint haben könnte. Er nahm sich vor, es so bald wie möglich herauszufinden, nur für alle Fälle.

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