6 Hier kauft ein Sixpence viel Suppe, und das Gold eines Fremden kauft einen Spion …


Der Kuss der Köchin bescherte Dodger eine Verlegenheit, die ihm bis nach Hause folgte, ebenso wie ein bisschen Gekröse. Irgendwie war er nicht mehr ganz sicher, wer er eigentlich war: ein Junge aus der Kanalisation oder einer, der mit feinen Leuten verkehrte – obgleich er genug wusste und begriff, dass Mister und Missus Mayhew nicht unbedingt zu den feinen Herrschaften zählten, trotz des großen Hauses und der Bediensteten. Das Haus war zweifellos besser als alle Unterkünfte, in denen Dodger jemals gewohnt hatte, aber hier und dort neigte es ein wenig zum Schäbigen. Von Schmutz im eigentlichen Sinn konnte keine Rede sein, doch an einigen Stellen gab es Anzeichen von Vernachlässigung, die darauf hindeuteten, dass das Geld tatsächlich knapp war, wie Missus Quickly gesagt hatte. Selbst Leute wie die Mayhews mussten auf den Penny achten.

Missus Mayhew war ebenfalls besorgt gewesen, und Dodger hatte den Eindruck gewonnen, dass die Sorge bei ihr gewissermaßen eingebaut war und nicht nur Simplicity galt. Er tat es mit einem Schulterzucken ab. Vielleicht ist das der Lauf der Welt, dachte er. Je mehr man hat, desto größer die Sorge, es zu verlieren. Wenn das Geld ein bisschen knapp wird, fürchtet man, das hübsche Haus mit all den hübschen Dingen darin aufgeben zu müssen.

Dodger hatte sich Zeit seines Lebens keine großen Sorgen gemacht, es sei denn um elementare Bedürfnisse wie eine anständige Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen. Man brauchte kein Haus mit vielen hübschen Dingen (und Dodger war darauf spezialisiert, hübsche Dinge zu bemerken, insbesondere jene, die einen gewissen Wert hatten und schnell in die Tasche gesteckt werden konnten, um sich anschließend in Geld zu verwandeln). Welchen Sinn hatten sie? Sollten sie darauf hinweisen, dass man sich solchen Überfluss leisten konnte? Fühlte man sich dadurch besser? Wurde man glücklicher?

Die Mayhews lebten auf eine steife Art und Weise, und besonders glücklich erschienen sie Dodger nicht. Er hatte eine sonderbare Anspannung gespürt, die er nicht genau benennen konnte, eine irgendwie in der Luft liegende Traurigkeit, und seltsamerweise wurde auch Dodger ein wenig traurig, was ihn erstaunte. Gewöhnlich neigte er nicht dazu, traurig zu sein. Wer hatte schon Zeit für so etwas? Er hatte oft den Hals voll, ärgerte sich und wurde sogar zornig, aber das waren nur Wolken am Himmel; früher oder später zogen sie weiter. Die Schatten ruhten nie lange auf ihm. Doch als er das Haus der Mayhews hinter sich ließ, schien er die Sorgen anderer Leute mitzunehmen.

Dagegen schien es für ihn nur ein einziges Heilmittel zu geben – in die Kanalisation hinunterzusteigen. Denn wenn er schon down war, konnte er auch die Gelegenheit nutzen, ein bisschen herumzusuchen und vielleicht einen Sixpence zu finden. Doch erst musste er zur Mansarde zurück und sich umziehen – der gebrauchte Anzug war die beste und schickste Kleidung, die er je besessen hatte, und es gehörte sich nicht, darin zu arbeiten, oder?

Aber … Simplicity. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu ihr zurück. Er fragte sich, wer sie war, wer vielleicht wusste, was ihr widerfahren war und aus welchem Grund. Und natürlich, wer sie zusammengeschlagen hatte. Das musste er unbedingt herausfinden. Und in dieser überfüllten Stadt gab es immer jemanden, der alles hörte, was andere sagten.

Die Polizei wusste natürlich nichts, denn niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte, sprach mit den Peelern. Einer oder zwei von ihnen waren ganz in Ordnung, aber es brachte nichts, ihnen zu vertrauen. Doch mit Dodger sprachen die Leute, dem guten alten Dodger, insbesondere wenn er ihnen einen Sixpence lieh, zurückzuzahlen am Sankt Nimmerleinstag.

Und so war seine Rückkehr zur Mansarde, wo er sich umziehen wollte, keine gerade Strecke, sondern ein Weg voller Windungen und Drehungen, denn er machte hier und dort halt, um mit Leuten zu reden, die manche für Abschaum hielten, zum Beispiel mit den Cockneys, die Äpfel verkauften und nichts lieber taten, als sich gegen die Peeler zusammenzurotten und einen regelrechten Krieg zu führen, wobei jede Waffe recht war. Er sprach mit den Straßenhändlern, die von hauchdünnen Gewinnmargen lebten. Und er plauderte mit den Damen, die herumhingen, ohne viel zu tun, sich aber immer freuten, wenn sie einem Herrn mit Geld begegneten, der nett und großzügig war, erst recht wenn sie ihm etwas ins Glas getan hatten. Anschließend konnte sich der Betreffende vielleicht über eine lange Reise die Themse hinunter freuen, zu fernen, fernen Orten, wo er Gelegenheit bekam, ganz besondere Menschen kennenzulernen, von denen ihn einige sogar fressen wollten, wie man hörte. Wenn einer der Herren echt Pech hatte – oder wenn er eine Person wie Missus Holland in Bankside verärgert hatte –, so machte er die Reise die Themse hinunter ohne Boot oder Schiff …

Dann gab es da die Männer beim Würfelspiel, bei dem man immerhin gewinnen konnte, wenn man nüchtern genug war und die Würfel richtig fielen. Anders sah es bei dem Spiel aus, das einem von einem fröhlichen Burschen mit einem Brett, drei Fingerhüten und einer Erbse angeboten wurde. Auf diesem kleinen Schlachtfeld setzte man Geld auf den Verbleib besagter Erbse, wobei man sich auf seine scharfen Augen verließ, während der gut gelaunt schwatzende Mann die Fingerhüte bewegte. Nie, nie erriet man den richtigen Fingerhut, denn wo sich die Erbse wirklich befand, wussten nur der fröhliche Mann und Gott, und vermutlich war nicht einmal Gott sicher. Wenn man genug getrunken hatte, versuchte man es stets von Neuem, wobei man immer mehr Geld wettete, denn selbst wenn man einfach nur riet, früher oder später musste man auf den richtigen Fingerhut deuten. Aber leider, leider kam es nie dazu.

Schließlich gab es da noch das Kasperletheater, das sich in letzter Zeit besonders großer Beliebtheit erfreute, weil es dabei einen Polizisten gab, den der Kasper mit seinem Stock verhauen konnte. Die Kinder lachten, und die Erwachsenen lachten ebenfalls, alle lachten, wenn der Kasper mit seiner quiekenden Stimme, die nach einem schrecklichen Raubvogel oder dem quietschenden Rad einer Kutsche klang, »So wird das gemacht!« rief.

Wenn man älter wurde, verstand man: Kasper war der Mann, der den Säugling aus dem Fenster warf und seine Frau schlug. So etwas passierte natürlich: das Schlagen der Frau ganz gewiss, und was mit dem Säugling geschah … so etwas eignete sich nicht für Kinder. In glücklichen Familien ging es sicher anders zu.

In Dodgers Geist bildete sich nach und nach eine grässliche, schimmernde Dunkelheit, darin eingebettet eine junge Frau mit wundervollem goldenem Haar, und als er am Kasperletheater vorbeikam, ballte er unwillkürlich die Fäuste und musste sich beherrschen, um der quiekenden, quietschenden Puppe keinen Schlag zu versetzen. Ein Schaudern erfasste ihn, und er zwang sich auf den Boden der Realität zurück. Er kannte dies alles, er hatte es immer gekannt. Aber Simplicity … Nun, Simplicity war eine Person, für die er vielleicht etwas tun konnte. Und dieses Etwas betraf nicht nur Simplicity, sondern auch ihn selbst, auf eine seltsame Art und Weise, die er noch nicht ganz verstand.

Wenn er Darbietungen sehen wollte, bei denen er sich nicht mies fühlte oder zornig wurde, dann ging er zu den Männern mit den Hunden, die Kunststücke zeigten, oder zu den Männern, die schwere Gewichte hoben, oder zu den Boxern, die natürlich mit bloßen Fäusten kämpften.

Aber an diesem Tag stellte Dodger Fragen, und dabei gab er sich alle Mühe. Er sprach mit zwei Damen, die auf einen Herrn warteten. Er sprach mit den Würfelspielern, die ihn dem Namen nach kannten, und er sprach auch mit dem ächzenden Gewichtheber. Bei einer Gelegenheit erinnerte er sogar jemanden an die Sixpence, die er ihm einmal wegen seiner armen Mutter geliehen hatte, und er fügte geschickt hinzu: »Oh, keine Sorge, ich bin sicher, du zahlst mir das Geld eines Tages zurück.« Kurz gesagt, Dodger bewegte sich auf der Bühne der Welt, zumindest jenes Teils der Welt, der sich im Rotlichtviertel von London befand, streckte überall seine Fühler aus und ließ kleine Fragen in der Luft schweben. Wenn jemand eine Kutsche quietschen hörte, sollte er Dodger Bescheid geben. Oder besser noch, dachte er: Wenn der Besitzer einer quietschenden Kutsche – einer Kutsche, die quietschte oder schrie wie ein Schwein beim Anblick des Schlachtermessers – von den Fragen erfuhr, so wollte er die Sache vielleicht mit dem Fragesteller klären. Er verglich es damit, Brotkrumen ins Wasser zu werfen, um zu sehen, ob etwas aufstieg und danach schnappte. Der Nachteil dieser Methode bestand darin, dass das Wesen, das hungrig aufstieg, ein Hai sein konnte.

Dann fiel ihm der Glückliche-Familie-Mann ein. Dodger zögerte bei diesem Gedanken und fragte sich, wo und wann er den Glückliche-Familie-Mann und seinen Wagen zum letzten Mal gesehen hatte, wahrscheinlich auf einer der Brücken, wo es immer viel Laufkundschaft gab. Es war eine zauberhafte Sache, das mit der glücklichen Familie, der kleine Wagen mit seiner bunten Menagerie aus Tieren, die alle friedlich zusammenlebten. Dodger nahm sich vor, Simplicity bei der ersten sich bietenden Gelegenheit dorthin mitzunehmen, sie wäre bestimmt entzückt. Dann merkte er plötzlich, dass er weinte, als er in seinem Kopf erneut ein wunderschönes Gesicht betrachtete, das aussah, als hätte man es die Treppe hinuntergeworfen. Jemand hatte ihr Schreckliches angetan, und als er sich mit einem Lappen die Nase putzte, schwor er sich, den Übeltäter – einen Kasper ganz besonderer Art – zu finden und ihm eine Lektion zu erteilen, die er so schnell nicht vergaß.

Etwas lenkte Dodger ab, etwas, das an seinen Hosenbeinen zog, und als er den Blick senkte, entdeckte er zwei Kinder, fünf oder sechs Jahre alt, die hoffnungsvoll zu ihm aufsahen. Es war nicht unbedingt der Anblick, den er gerade brauchte, aber beide Kinder hatten jeweils eine Hand ausgestreckt und hielten sich mit der anderen aneinander fest. Er erinnerte sich daran, das selbst einmal getan zu haben, allerdings nur bei Leuten, die er für reich gehalten hatte. Obwohl … wenn man hungrig und fünf Jahre alt war, hatten vermutlich alle mehr Geld als man selbst. In seinen schmucken Klamotten sah Dodger natürlich gar nicht mehr wie ein Tosher aus. Du bist noch immer einer, sagte er sich, aber du bist nicht mehr irgendein Tosher, und jetzt bist du für einen Sixpence ein feiner Herr.

Also führte er die Kinder zur Bude von Marie Jo, die nahrhafte Suppe für Gott und die Welt hatte, falls sie einige Pennys erübrigen konnten. Und manchmal, wenn sie in besonders großzügiger Stimmung war, kostete ihre Suppe noch weniger.

Marie Jo gehörte zu den Guten, und es gab nicht genug von ihnen. Man erzählte sich viele Geschichten über sie, und eine davon lautete, dass sie einmal eine berühmte Schauspielerin irgendwo im Franzmannland gewesen war, und tatsächlich, selbst heute umgab sie noch etwas Feenhaftes. Sie war angeblich mit einem Soldaten verheiratet gewesen, der in irgendeinem Krieg gefallen war, aber glücklicherweise erst nachdem er ihr zugeflüstert hatte, wo die bei den vielen Feldzügen zusammengeraffte Beute versteckt lag.

Als eine der Guten und Anständigen – trotz ihrer Ehe mit einem Franzmann – hatte sie diese Bude eingerichtet, eine von denen, denen man trauen konnte. Mit anderen Worten: Man konnte davon ausgehen, dass die Suppe kein Rattenfleisch enthielt, auch nichts Schlimmeres als Rattenfleisch. Man durfte auch darauf vertrauen, dass Marie Jo keine Suppe austeilte, die mit Bestandteilen von Katzen und Hunden gekocht worden war. Nein, ihre Suppe war voller Linsen und anderer Zutaten, die nicht alle lecker schmeckten, aber zusammen genommen taten sie gut und hielten warm. Zugegeben, manchmal kam ein bisschen was vom Pferd hinein, das war nun mal der Geschmack der Franzmänner und bedeutete eigentlich nur, dass man eine etwas nahrhaftere Suppe aß. Man munkelte, dass selbst einige der großen Speiselokale Marie Jo ihre Reste überließen, in dem Wissen, dass sie in ihrer Bude Verwendung fanden. Die Leute sagten, dass sie mit ihrem französisch angehauchten Charme die Chefköche feiner Restaurants um den Finger wickelte, aber alle sagten »Gut gemacht«, denn alles landete in dem großen Topf, der die ganze Nacht umgerührt wurde, wobei Marie Jo nur innehielt, um den Teller des nächsten Kunden zu füllen. Und man bezahlte, was man ihrer Meinung nach bezahlen sollte, und niemand wagte zu feilschen, denn keiner wollte, dass sie entrüstet mit ihrer Schöpfkelle winkte.

Als Dodger mit den beiden Kindern bei ihr erschien, musterte sie ihn und sagte: »Na, so was, sind wir plötzlich zu Geld gekommen, wem hast du es gestohlen?« Aber sie lachte, denn sie beide erinnerten sich daran, dass vor Jahren, als ihr Haar nicht so weiß gewesen war, ein kleiner Dodger mit ausgestreckter Hand vor ihrer Bude gestanden hatte, so traurig und hoffnungsvoll wie die Kinder, die er mitgebracht hatte.

»Nichts für mich, Marie Jo«, sagte er. »Aber bitte gib den beiden heute und morgen für einen Sixpence zu essen, ja?«

Der Ausdruck ihres Gesichts war seltsam. Wie die Suppe, die sie verkaufte, enthielt er von allem etwas, aber der größte Teil bestand aus Überraschung. Doch dies war die Straße, und sie sagte: »Lass mich deine Sixpence sehen, junger Dodger!« Er klatschte die Münzen auf den Tresen, wo Marie Jo sie betrachtete, ihn wieder musterte und ihren Blick auf die beiden Kinder richtete, die fast sabberten, so groß war ihre freudige Erwartung. Dann sah sie erneut Dodger an, der verlegen errötet war, und sagte leise: »Meine Güte, da liegt das Geld, kein Zweifel, und was tue ich jetzt?« Dann schuf ein großes Lächeln noch mehr Falten in ihrem Gesicht, und sie fügte hinzu: »Für dich, Dodger, gebe ich diesen beiden Schlingeln heute und morgen zu essen, und vielleicht auch übermorgen, aber sag mir doch, was ist nur geschehen? Hat sich die Welt plötzlich auf den Kopf gestellt, als ich nicht hingesehen habe? Behaupte nur nicht, dass du zur Kirche gegangen bist – ein Beichtstuhl genügt bestimmt nicht, um alle deine Sünden zu beichten. Kann man es glauben? Mein kleiner Dodger ist zu einem Engel geworden.«

Marie Jo sprach seinen Namen mit französischem Akzent aus, was ihm jedes Mal einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Sie kannte jeden und wusste alles über alle, und jetzt schenkte sie Dodger ein gefährliches Lächeln, aber man musste immer auf ihr Spiel eingehen, und deshalb erwiderte er ihr Lächeln und antwortete: »Lob mich nicht zu sehr, Marie Jo! Ich möchte vermeiden, dass ich plötzlich als allzu edel dastehe. Wie dem auch sei … Auch ich bin einmal ein Kind gewesen, verstehst du? Übrigens, wenn du aufschreibst, wie viel du ihnen zu essen gibst … Ich bringe dir das Geld später, verlass dich drauf.«

Marie Jo warf ihm einen Kuss zu, der nach Pfefferminz roch, senkte die Stimme, beugte sich vor und sagte: »Ich höre so einiges über dich, mein Junge. Sei vorsichtig! Es ging unter anderem um die Sache mit Holzbein Higgins, gestern. Er erzählt es überall herum.« Noch leiser fügte sie hinzu: »Dann war da dieser Gentleman. Und ich erkenne einen Gentleman auf Anhieb. Er fragte nach jemandem namens Dodger, und ich glaube nicht, dass es ihm darum geht, dir ein Geschenk zu überreichen. Er war eine teure Ausgabe von einem Gentleman.«

»Hieß er vielleicht Dickens?«, fragte Dodger.

»Nein, ihn kenne ich. Mister Charlie, der Journalist, mit den Peelern vertraut. Einer von euch unerträglichen Engländern. Wenn ich raten müsste, mein Freund … Er kam mir eher wie ein Anwalt vor.« Und dann, als wäre überhaupt nichts geschehen, wandte sie sich ohne einen weiteren Blick dem nächsten Kunden zu.

Dodger setzte seinen Weg fort und traf an jeder Straßenecke jemanden, den er kannte. Hier und dort hielt er ein Schwätzchen und streute dabei die eine oder andere kleine Frage ein. Oh, es war nicht weiter wichtig, nur eine Begebenheit, die ihm gerade einfiel und eine junge Frau mit goldenem Haar betraf, die während des Unwetters neulich aus einer Kutsche gesprungen war.

Nicht dass er Näheres wissen wollte. Er hatte die Geschichte nur irgendwo aufgeschnappt, weiter nichts. Er war einfach der gute alte Dodger, und alle kannten Dodger und wussten, dass er mehr über die Kutsche und die junge Frau mit dem goldenen Haar erfahren wollte. Er musste vorsichtig sein? Aber natürlich – er war immer vorsichtig. Und dann stand er vor der wackeligen Treppe, die zur Mansarde hinaufführte.

Solomon war natürlich zu Hause und bei der Arbeit. Er arbeitete immer. Es war keine harte Arbeit im eigentlichen Sinn, eher eine weiche, und sie betraf kleine Dinge, die kleine Werkzeuge und beträchtliche Mengen an Geduld erforderten, außerdem eine ruhige Hand und gelegentlich ein Vergrößerungsglas. Onan hatte sich unter Solomons Stuhl zusammengerollt, wie nur er sich zusammenrollen konnte.

Der alte Mann ließ sich Zeit beim Verriegeln der Tür und sagte dann: »Mmm, hast wieder viel zu tun gehabt, mein Freund, ich hoffe, du bist erfolgreich gewesen.« Dodger zeigte ihm das Paket aus der Küche der Mayhews, und Solomon fügte hinzu: »Mmm, sehr schön, wirklich sehr schön, ein gutes Stück Schweinefleisch. Ich denke, daraus wird eine Kasserolle. Gute Arbeit.«

Vor einigen Jahren, als er mit einem Stück Schweinefleisch heimgekehrt war, das auf mysteriöse Weise aus einem Küchenfenster geradewegs in die Hände des zufällig vorbeikommenden Dodger gefallen war, hatte er zu Solomon gesagt: »Ich dachte, Juden dürfen kein Schweinefleisch essen, oder?«

Wenn Onan der König des Zusammenrollens war, so konnte man Solomon getrost den Prinzen des Schulterzuckens nennen. »Streng genommen mag das so sein, mmm«, erwiderte er. »Aber hier gelten andere Regeln. Zunächst einmal ist dies ein Geschenk Gottes, und man sollte eine göttliche Gabe niemals ablehnen. Und außerdem scheint dieses Schweinefleisch sehr gut zu sein, besser als das, was man gewöhnlich bekommt, und ich bin ein alter Mann, der mmm Hunger hat. Manchmal glaube ich, dass sich die Regeln, die vor vielen Jahrhunderten festgelegt wurden, damit meine reizbaren und zänkischen Vorfahren die Wüste durchqueren konnten, nur schwer auf diese Stadt des Regens und des Nebels übertragen lassen. Außerdem bin ich ein älterer Mann, der recht hungrig ist, und darauf weise ich zweimal hin, weil ich es für wichtig halte. Ich glaube, dass Gott unter diesen Umständen Verständnis hat, denn sonst wäre er nicht der Gott, den ich kenne. Das ist einer der mmm Vorteile, Jude zu sein. Nachdem meine Frau beim Pogrom in Russland ihr Leben verloren hatte, kam ich nur mit meinen Werkzeugen nach England, und als ich die weißen Klippen von Dover sah, allein, ohne meine Frau, da sagte ich: ›Gott, heute glaube ich nicht mehr an dich.‹«

»Was hat Gott geantwortet?«, fragte Dodger.

Solomon seufzte theatralisch, als fühle er sich von der Frage herausgefordert, dann lächelte er und erwiderte: »Mmm, Gott sagte zu mir: ›Ich verstehe, Solomon, gib mir Bescheid, wenn du es dir anders überlegst.‹ Damit war ich recht zufrieden, denn ich hatte meine Meinung gesagt, und die Welt war besser, und jetzt befinde ich mich an einem recht schmutzigen Ort, bin aber frei. Und es steht mir zu, Schweinefleisch zu essen, wenn Gott es mir anbietet.«

Solomon wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Ich stelle Zahnräder für diese Uhr her, mein Junge, was mich sehr in Anspruch nimmt und eine gute Koordination von Hand und Auge erfordert. Gleichzeitig ist es eine beruhigende Tätigkeit, und deshalb freue ich mich auf die Zahnräder. Es bedeutet, dass ich der Zeit helfe, sich selbst zu kennen, so wie sie meine Zukunft kennt.«

Stille folgte diesen Worten, abgesehen von den Geräuschen, die Solomons Werkzeuge verursachten, und das war Dodger nur recht, denn er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er fragte sich, ob es daran lag, dass Solomon Jude war, oder vielleicht an seinem Alter oder an beidem zusammen. »Ich möchte ein bisschen nachdenken, wenn es dir recht ist«, sagte er schließlich. »Natürlich ziehe ich mich um.«

Dodger glaubte nämlich, dass er beim Toshen am besten nachdenken konnte. In der vergangenen Nacht hatte es geregnet, aber nicht allzu heftig, und nun wünschte er sich ein wenig Zeit, ohne sie mit jemand anderem teilen zu müssen.

Solomon winkte ihn fort. »Geh nur, Junge! Und bitte nimm Onan mit …«

Etwas später und ein ganzes Stück von der Mansarde entfernt wurde ein Gullydeckel angehoben, und Dodger sank dankbar in seine Welt hinunter. Wegen des Regens war es nicht allzu schlimm, und es gab noch etwas Tageslicht. Außerdem hörte er Echos. O ja, die Echos – es war erstaunlich, was die Tunnel und Röhren empfingen, und Stimmen trugen manchmal sehr weit. Jeder Ton verließ seinen sterbenden Geist und tanzte wer weiß wie weit.

Und dann die Geräusche von der Straße. Manchmal konnte man ein Gespräch verfolgen, das in der Nähe eines Abflusses stattfand – dann redeten oben die Leute, ohne etwas vom unten verborgenen Tosher zu ahnen. Einmal hatte Dodger gehört, wie eine Dame aus einer Kutsche gestiegen und gestolpert war, was dazu geführt hatte, dass ihre Handtasche zu Boden fiel und sich öffnete. Wie es ein glücklicher Zufall wollte, rollte ein Teil des Gelds in den nahen Abfluss. Der junge Dodger hatte die Rufe gehört, ebenso die Verwünschungen, die dem Kutscher galten, dessen Schuld nach Ansicht der Dame darin bestand, die Kutschentür nicht richtig offen gehalten zu haben. Wie Manna vom Himmel fielen ihm ein halber Sovereign, zwei halbe Kronen, eine Sixpence-Münze, vier Pennys und ein Viertelpenny in die Hände.

Zu jener Zeit hatte er sich über den Viertelpenny geärgert. Was fing eine große Dame, die eine eigene Kutsche besaß, mit einem Viertelpenny in ihrer Tasche an? Viertelpennys waren für arme Leute, und das galt erst recht für halbe Viertelpennys.

So gute Tage bekam man nicht oft, doch es waren nicht die Tage, die der Kanalisation geisterhaftes Leben verliehen, sondern die Nächte. Tosher mochten Nächte mit schwachem Mondschein. Wenn sie nachts nach unten stiegen, nahmen sie manchmal eine dunkle Laterne mit: eine mit einer Klappe, die geschlossen werden konnte, wenn man nicht gesehen werden wollte. Doch solche Laternen waren teuer und sperrig, und Tosher mussten manchmal sehr schnell sein.

Dort unten im Dunkeln gab es nicht nur gute, ehrliche Tosher, o nein! Natürlich musste man mit Ratten rechnen, denn immerhin war die Kanalisation ihr Zuhause. Sie waren nicht gerade versessen darauf, einem zu begegnen, und man wollte ihnen nicht über den Weg laufen, aber nach den Ratten kamen die Rattenfänger, die die Tiere für Hundekämpfe einfingen.

Und dann gab es da noch wahrhaft Schreckliches …

An vielen Stellen in der Stadt war die Kanalisation offen und oberirdisch, und manche Abwasserkanäle versuchten sich dort als Flüsse auszugeben. Das hieß: Was zu schwimmen oder zu rollen imstande war, konnte mitten in der Nacht hineingeraten, ob freiwillig oder nicht, und darin festsitzen. Ein vernünftiger Tosher hielt sich von solchen Gegenden fern, aber es gab andere Leute, die die Abgeschiedenheit der Kanalisation für eigene Zwecke nutzten. Leute, denen nicht unbedingt daran lag, Toshern Grässliches anzutun, die sich aber durchaus dazu hinreißen ließen, wenn sie in der richtigen Stimmung waren, nur aus Spaß.

Sie lachten gern …

Dodgers Gedanken kehrten zu Marie Jos Begegnung mit dem Fremden zurück. Jemand, der wie ein Anwalt aussah, erkundigte sich nach jemandem namens Dodger. Und Marie Jo war eine schlaue, gerissene Frau; andernfalls hätte sie nicht überlebt.

Diese Gedanken breiteten sich wie die auflaufende Flut (immer ein Ärgernis für Tosher in der Nähe der Themse) in seinem Gehirn aus. Und eine Antwort präsentierte sich ihm.

Dies war sein Reich. Er kannte jeden einzelnen Abwasserkanal, den Atem der Stadt, alle kleinen Schlupflöcher, die man nur dann sah, wenn man wusste, wohin es zu sehen galt, die halb abgetrennten Winkel und Ecken, die allen anderen verborgen blieben. Ganz ehrlich, er fand sich allein anhand der Gerüche zurecht und wusste genau, wo er sich gerade aufhielt. Wenn jemand nach mir sucht, dachte er, wenn ich gegen jemanden kämpfen muss, dann in meinem Revier. Ich bin Dodger – hier unten werde ich mit allem fertig.

Derzeit war die Luft im Tunnel mehr oder weniger süß – im Vergleich zu den Dingen, die alles andere als süß waren, mit der möglichen Ausnahme von Onan, der natürlich seine eigenen Gerüche mitgebracht hatte. Dodger stieß den aus zwei Tönen bestehenden Pfiff aus, den jeder Tosher kannte, und horchte auf eine Antwort. Es blieb still – derzeit hatte er diesen Bereich ganz für sich allein.

Innerhalb weniger Meter fand er eine Krawattennadel und einen Viertelpenny. Das Glück begleitete ihn, und er fragte sich, ob dies an seiner jüngsten guten Tat lag. Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, schnüffelte Onan plötzlich bei einem halb umgestürzten Haufen alter Backsteine herum und winselte. Dodger hörte ein Klink, als Onans Schnauze etwas berührte. Wenige Sekunden später hatte der Hund etwas Goldenes im Maul: einen Ring mit einem großen Edelstein. Mindestens einen Sovereign wert.

Guter alter Onan! Und ein Dank an die Lady. Nun, etwas geschah oder geschah nicht – das war alles, wie Dodger wusste. Man konnte sich um den Verstand bringen, wenn man es anders sah.

In der Düsternis, bei der Suche in den Tunneln, den Geräuschen der Welt über ihm lauschend, war Dodger in seinem Element und glücklich.

Was man von gewissen anderen Leuten nicht behaupten konnte …

Es brannten viele Kerzen in diesem Raum, aber keine von ihnen erhellte das Gesicht des Mannes, der beim Wandteppich saß. Das beunruhigte den anderen Mann, den seine besonderen Kunden unter dem Namen Schlauer Bob kannten – einem Namen, den er bei gewöhnlichen, legalen Geschäften gewiss nicht benutzte. Eigentlich wollte er seine Auftraggeber immer sehen. Andererseits liebte er auch Goldmünzen, und ihr Anblick beunruhigte ihn nicht im Geringsten, sondern erfreute ihn ganz im Gegenteil. Jetzt lagen zwei dieser Münzen auf einem niedrigen Tisch – eine Lampe zeigte sie ihm, wie sie im Lichtschein glänzten. Er hatte sie noch nicht an sich genommen, weil er dachte: Wenn ich danach greife, bevor mich diese unglaublich vornehme Stimme dazu auffordert, kriege ich zweifellos was auf die Hand, und vielleicht nicht nur darauf.

Die Örtlichkeit gefiel ihm nicht. Es gefiel ihm nicht, einige Zeit mit verbundenen Augen in einer klappernden Kutsche sitzen zu müssen, in Gesellschaft eines Mannes, der mit ausländischem Akzent sprach und ihn unmissverständlich darauf hingewiesen hatte, dass es unangenehme Folgen für ihn hätte, wenn er die Augenbinde abzunehmen versuchte. Letztendlich behagte es ihm auch nicht, für Leute mit ausländischem Akzent zu arbeiten. Denen konnte man nicht trauen. Besser waren Geschäfte mit guten, ehrlichen, gottesfürchtigen Engländern – der Schlaue Bob wusste, wie man mit ihnen zurechtkam. Es hatte ihm auch nicht gefallen, dass die Kutsche immer wieder neue Richtungen eingeschlagen hatte, wie ein Dieb auf der Flucht. Und noch weniger gefiel es ihm, dass ihn nach diesem Gespräch eine weitere derartige Fahrt erwartete.

Dies war eine vornehme Örtlichkeit, so viel stand fest; hier roch es sogar vornehm. Gelegentlich kamen Leute an ihm vorbei, und das ärgerte ihn, denn er wagte den Kopf nicht zu wenden. Ihm wurde unheimlich zumute. Seit zehn Minuten wartete er darauf, dass der Mann im Dunkeln etwas sagte. Wortlos war der Fremde an ihm vorbeigegangen und hatte auf einem gepolsterten Stuhl Platz genommen, der ebenso wie er selbst ein Schatten innerhalb von Schatten blieb. Nur das leise Knarren von Leder hatte darauf hingewiesen, dass sich dort jemand hinsetzte, ein Knarren, wie man es nur von besonders gutem Leder erwarten durfte. Der Schlaue Bob erkannte einen guten Stuhl, sobald er ihn hörte, denn er war schon des Öfteren in den Häusern der Mächtigen gewesen, wenn auch aus anderem Anlass.

Jetzt bewegte sich etwas, und der Mann hinter den Kerzenflammen, der nicht gesehen werden wollte, hob zu sprechen an. Was den Schlauen Bob erstaunlicherweise nicht erleichterte, sondern nur noch mehr beunruhigte. Er hatte das schreckliche Gefühl, früher oder später seine Blase entleeren zu müssen.

Das hätte er fast getan, als plötzlich die Stimme des Fremden zu hören war. »Also, Mister Schlauer Robert, wenn ich mich recht entsinne, versicherten uns Ihre Männer, dass sie mit einer einfachen jungen Frau problemlos fertigwürden. Und doch, so scheint es, ist Ihnen die Betreffende zweimal entkommen, und nur einmal haben Sie es geschafft, sie einzufangen. Das ist, mit Verlaub, keine besonders gute Leistung, oder irre ich mich?«

Beim Klang der Stimme stieg die innere Unruhe des Schlauen Bob noch weiter an. Der Mann sprach Englisch, aber es war kein richtiges Englisch, sondern ein Englisch, das ein Ausländer fehlerfrei erlernt hatte, allerdings ohne die vielen kleinen Eigenheiten, die zum Sprachgebrauch eines Einheimischen gehörten. Es war zu gutes Englisch. Zu makellos, ohne die Fehler und Mängel, die Muttersprachler in ihre Konversation einstreuten. Der Schlaue Bob saß in seiner Lache der Dunkelheit – und derzeit war es glücklicherweise noch die einzige Lache – und entgegnete: »Nun, Sir, wir hatten eine mehr oder weniger hilflose junge Dame erwartet, aber sie konnte verdammt fest zuschlagen, Sir, fest genug, um einen meiner Jungs ins Reich der Träume zu schicken. Und er ist ein Boxer, Sir! Sie war schnell und schlau, Sir, kämpfte wie wild, Sir, und Sie haben ja gesagt, dass Sie sie heil zurück aufs Schiff wollten. Leider wollten auch meine Jungs in einem Stück heimkehren. Mit einer solchen Frau hätten sie es nie zuvor zu tun gehabt, meinten sie, wie sie trat und spuckte und schlug, aber so richtig, und einer meiner Jungs geht jetzt schief und hat ein blaues Auge, und ein anderer hat zwei gebrochene Finger. Ich meine, das erste Mal hat sie uns überrascht, aber dabei lief sie nur weg, und meine Leute konnten sie einfangen und in der Kutsche fesseln. Dadurch waren wir natürlich zu spät fürs Schiff, und deshalb wollten wir sie zu Ihnen bringen.«

Der Schlaue Bob wähnte sich in dieser Beziehung auf nicht ganz so dünnem Eis, denn immerhin war dies nicht seine Schuld.

»Wie ich Ihrem Kollegen zuvor gesagt habe, Sir«, fuhr er fort, »beim zweiten Versuch hätte alles geklappt, aber sie trat plötzlich die Tür auf und sprang mitten in dem schrecklichen Unwetter hinaus. Ihr Kutscher konnte die Pferde nicht anhalten, Sir, nicht bei dem Wetter. Sehr ungewöhnliche Umstände. Schwer vorherzusehen.«

In der Stille, die diesen Worten folgte, war zu hören, wie eine Seite umgeblättert wurde. Dann erhob sich die Stimme des Fremden abermals. »Allem Anschein nach, Mister Robert, hat eine Person namens …«, Papier knisterte, »… Dodger zwei Ihrer Männer verletzt und einen von ihnen beinahe im Rinnstein ertränkt. Mir scheint, dass wir vielleicht ihn in unsere Dienste nehmen sollten.«

Der Mann, der sich gern als Schlauer Bob bezeichnete, sich derzeit aber nicht besonders schlau fühlte, erwiderte: »Ich kann Ihnen noch immer helfen, Sir, wobei wir berücksichtigen sollten, dass Sie mir bereits einiges schulden – dafür, dass ich die junge Frau ausfindig gemacht habe. Ich glaube, die betreffende Rechnung hat Sie schon vor einer ganzen Weile erreicht …«

Der Fremde ging auf die letzten Worte nicht ein und sagte: »Ich möchte annehmen, dass Sie in Bezug auf diese kleinen Schwierigkeiten Neues zu berichten haben. Soweit ich weiß, gibt es noch mehr über diesen Unruhestifter zu vermelden, nicht wahr? Bitte seien Sie so freundlich und klären Sie mich auf!«

»Er hat sich umgehört, Sir«, antwortete der Schlaue Bob. »Und er ist dabei sehr methodisch vorgegangen.«

Der Schlaue Bob war mit methodisch als Beschreibung zufrieden, aber weniger zufrieden war er mit den seiner Meinung nach unverhältnismäßig scharfen Worten, die der Fremde plötzlich an ihn richtete: »Gütiger Himmel, Mann, können Sie nicht ein wenig Eigeninitiative entwickeln?«

Der Schlaue Bob wusste, was Initiative war, und er wusste auch, dass ihm derzeit eigene fehlte. Hoffnungsvoll sagte er: »Der Junge, der die Fragen gestellt hat, ist nicht unbedingt ein Niemand, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er hat Kontakte auf der Straße, was alles ein bisschen schwieriger macht.«

Die Stimme des Mannes im Dunkeln klang zornig, und das tat der Blase des Schlauen Bob ganz und gar nicht gut. Die Situation wurde nicht besser, als der Fremde fragte: »Arbeitet er für einen Polizisten, für einen Peeler, wie Sie diese Leute nennen?«

Ein Peeler! Wie seltsam dieses Wort aus dem Mund eines vornehmen Fremden klang und wie unpassend in einer Räumlichkeit wie dieser! Die verdammten, dreimal verfluchten Peeler! Man konnte sie nicht bestechen, man konnte keine Freundschaft mit ihnen schließen – nicht wie mit den alten Bow-Street-Runnern –, und die meisten der neuen Jungs waren Kriegsveteranen. Wenn man an einigen der letzten Kriege teilgenommen und noch alle seine Körperteile beisammen hatte, so bedeutete das, dass man entweder ein harter Bursche war oder sehr, sehr viel Glück gehabt hatte. Der verdammte Mister Peel schickte sie überallhin, damit sie sich in alles einmischten, und die Burschen ließen überhaupt nicht mit sich reden, es sei denn, man sagte: Schon gut, ich leiste keinen Widerstand, ich komme brav mit. Man konnte Zeter und Mordio schreien und sich die Augen aus dem Kopf heulen, wenn man bei den Peelern aneckte, aber sie halfen einem nicht mal dabei, die Augen wieder in den Kopf zu kriegen. Und sie soffen wie Löcher und brüllten wie der Teufel und waren niemandes Freund – was auch, und das war erstaunlich genug, für die feinen Pinkel galt. Es galt erst recht für Leute wie den Schlauen Bob, die am Rand der Legalität lebten und sich bisher auf das … nun … Verständnis der guten alten Bow-Street-Boys verlassen hatten, vor allem wenn Geld den Besitzer wechselte.

Wie kam man mit Männern wie den Peelern klar, die niemanden respektierten als Sir Robert Peel selbst? Allein der Gedanke an sie bescherte der Blase des Schlauen Bob ein weiteres Problem. Ein bisschen Furcht rann ihm übers Bein, als er vorsichtig sagte: »Nein, Sir, er arbeitet nicht für die Peeler, Sir. Er ist einfach nur ein Junge, Sir, aber er kann auch ein Geezer sein, wenn Sie verstehen.«

Diese Worte bewirkten eine frostige Stille. »Nein, ich verstehe nicht, Mister Bob«, sagte der Fremde schließlich. »Leider bin ich mit diesem Begriff nicht vertraut. Bitte erläutern Sie mir die Bedeutung von Geezer!« Das letzte Wort klang so, als zöge der Sprecher eine tote Maus aus seiner Suppe – oder besser noch: eine halbe tote Maus.

Der Schlaue Bob – dem immer klarer wurde, dass nur die Hälfte seines Namens stimmte – dachte angestrengt nach. Wussten nicht alle, was ein Geezer war? Natürlich wussten es alle. Nun ja, zumindest wussten es alle Londoner. Ein Geezer war … ein Geezer. Ebenso gut konnte man fragen: Was ist ein Pint? Oder: Was ist die Sonne? Ein Geezer war ein Geezer. Allerdings dämmerte es Bob, dass er noch ein wenig an der Definition arbeiten musste, bevor er sie der gefährlichen Stimme im Dunkeln anbieten konnte.

Er räusperte sich und erwiderte: »Ein Geezer … Nun, ein Geezer ist einer, den alle kennen und der seinerseits alle kennt, und vielleicht weiß er etwas über jeden und weiß, dass es jedem lieber wäre, wenn er’s nicht wüsste. Äh … und außerdem ist er gewieft und schlau, nicht unbedingt ein Dieb, aber einer, in dessen Händen manchmal Dinge erscheinen. Hat nichts gegen ein bisschen Unfug und Schalk einzuwenden und kennt die Straße wie seine Westentasche. Was Dodger betrifft … Nun, Dodger ist auch ein Tosher, einer, der in der Kanalisation nach Münzen und anderen Fundstücken sucht, die hinuntergespült wurden.« Bei den letzten Worten wuchs Bobs Unbehagen, aber er fügte hinzu: »Was ich damit sagen möchte, Sir, ist Folgendes: Er ist so etwas wie ein Dreh- und Angelpunkt, könnte man sagen, jemand, der alles ein bisschen aufmischt, wenn Sie verstehen. Und in letzter Zeit pflegt er Umgang mit feinen Herrschaften.«

Der Schlaue Bob schwitzte, rutschte verzweifelt auf seinem Stuhl hin und her und erwartete das Urteil des Fremden. Über dem rasenden Pochen seines Herzens hörte er ein Flüstern hinter dem Kerzenschein. Der Fremde war also nicht allein! Bob wurde noch unruhiger – dies alles gefiel ihm immer weniger.

»Wir interessieren uns nicht für solche Leute; sie können gefährlich werden«, erklärte der Fremde schließlich. »Allerdings, wenn dieser Dodger Fragen über die junge Frau stellt, dann macht er sie vielleicht ausfindig oder erfährt, wo sie sich aufhält. Daher erwarte ich von Ihnen, dass Sie ihn die ganze Zeit über beschatten lassen, verstanden? Und natürlich darf er keinesfalls merken, dass er unter Beobachtung steht. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Mister Robert? Für gewöhnlich ist dies der Fall. Wir haben es hier mit einer äußerst delikaten Angelegenheit zu tun, und ich wäre tief enttäuscht, wenn der Fall zu keinem befriedigenden Abschluss gebracht würde. Ich möchte keine Einzelheiten nennen, aber Ihnen dürfte klar sein, welch unangenehme Folgen ein Fehlschlag für Sie hätte, nicht wahr? Wir wollen die junge Frau, Mister Bob. Wir wollen sie zurück.

Einer meiner Mitarbeiter wird Sie nun sanft am Arm ergreifen, Mister Bob, und zu einem Ort führen, wo Sie gewisse Erleichterung finden. Die beiden Goldmünzen nehmen Sie bitte als Zeichen unseres guten Willens entgegen. Wir vertrauen darauf, dass Sie sich das Geld verdienen.«

Das Gold eines Ausländers ist so gut wie jedes andere, dachte der Schlaue Bob. Aber mit Ausländern konnte man Probleme kriegen, und er würde aufatmen, wenn er die ganze Sache hinter sich gebracht hätte.

Nachdem er die beiden Münzen genommen und sich in der Latrine erleichtert hatte, wurde der Schlaue Bob wieder in die verdammte Kutsche verfrachtet, die ihn – so fühlte es sich an – einmal um ganz London herumfuhr, bevor man ihn recht unsanft in der Nähe seines Büros absetzte. Während der ganzen Heimreise und auch später hatte er den Kopf voller Gedanken an einen Jungen namens Dodger.

Einer der unsichtbaren Herren, die im Dunkeln gesessen hatten, beugte sich vor und wandte sich in seiner Muttersprache an den Mann, der mit dem Schlauen Bob gesprochen hatte. »Sind Sie ganz sicher, was diesen Mann betrifft, Sir? Immerhin könnten wir den Ausländer in unsere Dienste nehmen. Ich habe mich erkundigt – er ist derzeit frei.«

»Nein. Der Ausländer richtet manchmal ziemlich viel Unordnung an, und es könnte gefährlich werden – politisch –, wenn bekannt wird, dass wir auf ihn zurückgegriffen haben. Wir sollten vermeiden, einen … Zwischenfall zu riskieren. Nein, der Ausländer ist unser letztes Mittel. Ich habe gehört, was er mit der Familie des griechischen Botschafters angestellt hat – das war höchst ungebührlich. Es fällt mir nicht im Traum ein, nach seinesgleichen zu schicken, bevor nicht alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wenn dieser Unruhestifter darauf beharrt, weiterhin Unruhe zu stiften oder andere in die Angelegenheit zu verwickeln … Nun, dann müssen wir dies vielleicht überdenken. Einstweilen fahren wir damit fort, die Hilfe des als schlau geltenden Mister Robert in Anspruch zu nehmen. Es kann ihm doch nicht so schwerfallen, eine junge Frau zu finden und einen schmutzigen kleinen Gassenjungen zu beobachten, oder? Später können wir ihn immer noch loswerden, wenn er … zu einer Belastung wird.«

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