Dezember 2001: Der grüne Morgen

Als die Sonne unterging, ließ er sich am Wegrand nieder und bereitete ein einfaches Mahl und lauschte auf das Prasseln des Feuers, während er die Bissen in den Mund schob und nachdenklich darauf herumkaute. Der heutige Tag hatte sich kaum von den dreißig vorangegangenen unterschieden; in der Dämmerung hatte er zahlreiche saubere Löcher gegraben, hatte die Samen hineingelegt und Wasser von den schimmernden Kanälen herbeigetragen. Jetzt erfüllte bleierne Müdigkeit seinen schmächtigen Körper, und er lag da und beobachtete den Himmel, der mit der hereinbrechenden Dunkelheit ständig seine Farbe veränderte.

Er hieß Benjamin Driscoll, und er war einunddreißig Jahre alt. Sein Herzenswunsch war ein grüner Mars, ein Mars voller Bäume und Blattwerk, das Luft und immer mehr Luft hervorbrachte und von Jahr zu Jahr weiter wuchs; ein Mars voller Bäume, die im kochenden Sommer die Städte abschirmten und im Winter den scharfen Wind abhielten. Ein Baum konnte viel Gutes tun: er konnte farbenfroh leuchten, Schatten spenden, Früchte tragen oder ein Spielplatz für Kinder sein, ein ganzes Himmelsuniversum, in dem man herumklettern und von dem man sich herabbaumeln lassen konnte; ein Gebilde voller Früchte und Spaß, das war ein Baum. Aber vor allem gaben die Bäume kühle Luft für die Lungen ab, und ein sanftes Rauschen für das Ohr, wenn man des Nachts in seinem schneeweißen Bett lag und von dem Geräusch in Schlaf gewiegt wurde.

Er lag still da und horchte die dunkle Erde ab, die sich auf den Morgen vorbereitete und auf die Sonne und den Regen, der noch ausstand. Er legte das Ohr an den Boden und hörte ganz leise schon die Schritte der kommenden Jahre, und er stellte sich die Samen vor, die er heute gelegt hatte, Samen, die grün aufkeimten und sich des Himmels bemächtigten, die einen Ast nach dem anderen sprießen ließen, bis der ganze Mars ein Nachmittagswald, ein leuchtender Obstgarten geworden war.

Früh am Morgen, wenn sich die kleine Sonne schwach zwischen den runzligen Hügeln erhob, würde er aufstehen und ein kleines Frühstück zu sich nehmen; dann würde er das Feuer austreten und sich mit seinen Rucksäcken auf den Weg machen. Er würde prüfen, graben, die Samen oder Keimlinge einpflanzen, die Löcher zuklopfen und wässern; er würde weitergehen und leise vor sich hin pfeifen und zum klaren Himmel aufschauen, der einem warmen Mittag entgegenleuchtete. »Du brauchst die Luft«, sagte er zu seinem nächtlichen Feuer. Das Feuer war ein lebhafter Gesell, der einem heftig antwortete, der dicht neben einem ruhte, wenn man schlief, während seine rosafarbenen Augen in der kühlen Nacht warm leuchteten. »Wir alle brauchen die Luft. Die Luft ist dünn hier auf dem Mars. Man wird zu schnell müde. Es ist, als lebte man sehr hoch in den Anden Südamerikas. Man atmet ein und hat nichts in den Lungen, ganz unbefriedigend.«

Er betastete seinen Brustkasten, der in den letzten dreißig Tagen gewaltig gewachsen war. Um mehr Luft aufnehmen zu können, würden alle eine Lungenerweiterung hinnehmen müssen. Oder es mußten mehr Bäume gepflanzt werden.

»Und deshalb bin ich hier«, sagte er. Das Feuer prasselte. »In der Schule habe ich mal eine Geschichte über Johnny Apfelkern gehört, der durch Amerika marschierte und Apfelbäume pflanzte. Ich tue noch mehr. Ich pflanze Eichen, Ulmen und Ahornbäume, Bäume jeder Gattung, Espen und Zedern und Kastanien. Ich erzeuge nicht nur Früchte für den Magen, sondern auch Luft für die Lungen. Stell dir nur all die Luft vor, die diese Bäume machen, wenn sie erst mal groß sind!«

Er dachte an seine Ankunft auf dem Mars. Wie tausend andere hatte er in einen stillen Morgen hinausgestarrt und gedacht: Wie passe ich hierher? Was soll ich hier? Was mache ich? Gibt es Arbeit für mich?

Dann war er ohnmächtig geworden.

Jemand hatte ihm ein Ammoniakfläschchen unter die Nase gehalten, und er war hustend wieder zu sich gekommen.

»Sie brauchen keine Befürchtungen zu haben«, sagte der Arzt.

»Was war los?«

»Die Luft ist hier ziemlich dünn. Einige vertragen das nicht. Ich glaube, Sie müssen wieder zurück zur Erde.«

»Nein!« Er setzte sich auf, und er spürte sofort, wie ihm beinahe wieder schwarz vor Augen wurde und der Mars sich zweimal unter ihm drehte. Seine Nüstern blähten sich, und er zwang seine Lungen, das Nichts zu schlürfen. »Ich schaffe es schon«, keuchte er. »Ich muß hierbleiben!«

Sie ließen ihn liegen, und er schnappte nach Luft wie ein Fisch, und er dachte: Luft, Luft, Luft. Sie schicken mich zurück wegen der Luft. Und er wandte den Kopf und betrachtete die marsianisehen Felder und Hügel. Er kniff die Augen zusammen, und als das Bild scharf geworden war, bemerkte er sofort, daß es keine Bäume gab, überhaupt keine Bäume, nirgendwo, wohin man auch blickte. Das Land war sich selbst überlassen, eine Landschaft aus schwarzem Lehm, doch es wuchs nichts darauf, nicht einmal Gras. Luft, dachte er und dachte an den dünnen Stoff, der ihm in der Nase pfiff. Luft, Luft! Und kein Baum und kein Grashalm war zu sehen - nicht einmal auf den Hügelkuppen oder an den schattigen Hängen oder bei den kleinen Bächen. Natürlich! Er hatte das Gefühl, daß ihm die Antwort nicht aus dem Gehirn zufloß, sondern aus seinen Lungen und seinem Hals. Der Gedanke belebte ihn wie ein plötzlicher Sauerstoffstoß. Bäume und Gras. Er betrachtete seine Hände und drehte sie hin und her. Er wollte Bäume und Gras pflanzen. Das sollte seine Arbeit hier sein - der Kampf gegen den Umstand, der seinen weiteren Aufenthalt hier in Frage stellen konnte. Er wollte einen gärtnerischen Privatkrieg gegen den Mars führen. Dort überall erstreckte sich der alte Boden mit seinen Pflanzen, die so alt waren, daß sie sich totgewachsen hatten. Was wäre, wenn nun neue Pflanzenformen eingeführt wurden? Bäume von der Erde, große Mimosen und Weiden und Magnolien und herrliche Eukalyptusbäume. Was würde dann passieren? Die Reichtümer an Mineralien im Boden ließen sich nicht einmal erahnen; unangetastete Reichtümer, weil die alten einheimischen Pflanzen, die Farne, Blumen, Büsche und Bäume eines Todes aus Erschöpfung gestorben waren.

»Laßt mich raus!« rief er. »Ich muß mit dem Koordinator sprechen.«

Er und der Koordinator hatten einen ganzen Vormittag über grünwachsende Dinge gesprochen. Es konnte Monate, vielleicht Jahre dauern, bis man mit systematischen Anpflanzungen beginnen konnte. Bisher wurden die Nahrungsmittel tiefgekühlt in fliegenden Eiszapfen hochgebracht; nur hier und dort unterhielten die Gemeinden kleine hydroponische Gärten.

»Zunächst«, sagte der Koordinator, »ist das also ihre Privatangelegenheit. Wir beschaffen ihnen zwar an Material, was wir können; viel wird es aber nicht sein. Der Platz an Bord einer Rakete ist heute verdammt kostbar. Da unsere ersten Städte Bergbaugemeinden sind, wird man wenig Sympathie für Ihre Baumanpflanzungen aufbringen, fürchte ich.«

»Aber Sie lassen mich gewähren?«

Man ließ ihn. Er bekam ein Motorrad, das er schwer mit Samen und Schößlingen belud. Er hatte es in einem engen, versteckten Tal zurückgelassen und war zu Fuß über Land gegangen.

Das war vor dreißig Tagen gewesen, und er hatte sich nicht umgeschaut. Denn das hätte ihm das Herz schwergemacht. Das Wetter war überaus trocken, und es war nicht anzunehmen, daß von dem Samen schon etwas aufgegangen war. Vielleicht war überhaupt sein ganzes Unternehmen, die dreißig Tage des Bückens und Schaufelns, vergeblich gewesen. Er hielt den Blick starr nach vorn gerichtet und folgte - auf den Regen wartend - dem Lauf des flachen breiten Tals unter der Sonne, fort von der ersten Stadt.

Wolken zogen sich über den ausgetrockneten Bergen zusammen, als er die Decke über die Schultern zog, um zu schlafen. Der Mars war so unwägbar wie die Zeit selbst. Er spürte, wie die kahlen Hügel sich abkühlten in der frostigen Nacht. Er dachte an den schweren, tiefschwarzen Boden, ein Boden, der so schimmernd schwarz war, daß er sich in der Faust zu regen schien, ein fruchtbarer Boden, der so hohe Bohnenpflanzen hervorbringen mochte, daß selbst Riesen von der Spitze schreiend zu Tode stürzten.

Das Feuer zerfiel unruhig zu schläfriger Asche. Die Luft zitterte vom fernen Rollen eines Wagenrades. Donner? Plötzlich lag der Geruch von Wasser in der Luft. Heute nacht, dachte er und streckte die Hand aus, als warte er auf die ersten Regentropfen. Heute nacht.

Er erwachte von einer Berührung auf der Stirn.

Ein dicker Tropfen rann ihm über die Nase in den Mund. Ein zweiter Tropfen traf ihn ins Auge und trübte die Sicht. Ein dritter klatschte auf sein Kinn.

Der Regen.

Rein und sanft, so nieselte er aus dem hohen Himmel herab, ein besonderes Elixier mit dem Geschmack von Zaubersprüchen und Sternen und Luft, ein Regen, der voller pfeffergrauen Staubs war und wie alter leichter Sherry auf der Zunge zerging.

Regen.

Er setzte sich auf. Er ließ seine Decke zu Boden fallen, während sein einfaches blaues Hemd fleckig wurde, während der Regen sich zu festeren Tropfen verdichtete. Das Feuer sah aus, als tanzte ein unsichtbares Tier darauf herum und erdrückte es, bis es nur noch aus wütendem Rauch bestand. Der Regen rauschte herab. Die gewaltige schwarze Himmelskuppel zerplatzte in sechs pulvrig-blaue Teile, eine herrlich gesprungene Glasur, und brach ein. Er sah zehn Milliarden Regenkristalle, die eben lange genug verhielten, um von der elektrischen Entladung fotografiert zu werden. Dann wieder Dunkelheit und Wasser.

Er war bis auf die Haut durchnäßt, doch er hielt das Gesicht dem Regen entgegen und ließ das Wasser lachend auf seine Lider trommeln. Er schlug in die Hände und stand auf und ging um sein kleines Lager herum, und es war ein Uhr früh.

Es regnete gleichmäßig zwei Stunden lang und hörte dann auf. Die Sterne erschienen wieder, frischgewaschen und klarer denn je.

Mr. Benjamin Driscoll nahm trockene Kleidung aus seinem Cellophanbeutel und zog sich um. Dann legte er sich wieder hin und schlief zufrieden weiter.

Langsam stieg die Sonne über die Hügel. Sie überflutete still das Land mit ihrem Licht und weckte Mr. Driscoll.

Er wartete einen Augenblick mit dem Aufstehen. Er hatte einen endlosen heißen Monat lang angestrengt gearbeitet und gewartet, und im Aufstehen drehte er sich endlich um und sah in die Richtung, aus der er gekommen war.

Es war ein grüner Morgen.

Soweit er sehen konnte, verdeckten Bäume den Himmel. Nicht ein Baum, nicht zwei Bäume, nicht ein Dutzend, sondern all die unzähligen tausend Bäume, deren Samen oder Keimlinge er gesetzt hatte. Und es waren keine kleinen Bäume, keine Schößlinge oder zarten Gewächse, sondern große Bäume, riesige Bäume, zehn-Mann-hohe Bäume, über und über grün und gewaltig und rund und voll Saft; Bäume mit metallisch schimmernden Blättern, flüsternde Bäume, eine breite Reihe von Bäumen, die sich über die Hügel zog; Zitronenbäume, Linden, Rotholzbäume und Mimosen und Eichen und Ulmen und Espen, Kirschbäume, Ahornbäume, Eschen, Apfelbäume, Orangenbäume, Eukalyptusbäume, von einem turbulenten Regen zum Leben entfacht, genährt von einem fremden, magischen Boden; Bäume, die selbst jetzt noch zusehends neue Äste entwickelten und Blüten aufgehen ließen.

»Unmöglich!« rief Mr. Benjamin Driscoll.

Aber das Tal und der ganze Morgen waren grün.

Und die Luft!

Von überallher kam die neue Luft wie ein Strom: Sauerstoff, der von den grünen Bäumen herüberwehte. Er schimmerte förmlich in kristallenen Wolken. Sauerstoff, frischer, reiner, grüner, kalter Sauerstoff, der das Tal in ein Flußdelta verwandelte. Gleich mußten die Türen in den Ortschaften aufspringen, und die Menschen würden durch das neue Sauerstoffwunder eilen; sie würden schnüffeln und probieren, während sich ihre Wangen röteten und sie sich am Sauerstoff verkühlten, während ihre Lungen angeregt wurden, die Herzen höherschlugen und die müden Körper sich zu einem Tanz aufrafften.

Mr. Driscoll gönnte sich einen langen tiefen Schluck von der grünen feuchten Luft und fiel in Ohnmacht.

Als er wieder zu sich kam, waren bereits fünftausend neue Bäume der Sonne entgegengewachsen.

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