Eine kleine Stadt lag stumm und weiß am Ufer des toten Meeres. Die Stadt war leer. Niemand war zu sehen, nichts bewegte sich. Den ganzen Tag brannten einsame Lichter in den Läden. Die Türen standen weit offen, als wären die Menschen davongestürmt, ohne sich Zeit zum Abschließen zu nehmen. Zeitschriften, noch im letzten Monat in der Silberrakete von der Erde heraufgebracht, flatterten unberührt auf den Drahtgestellen vor den Läden und vergilbten.
Die Stadt war tot. Ihre Betten waren leer und kalt. Das einzige Geräusch war das energiegeladene Summen der elektrischen Leitungen und Dynamos, die noch in Betrieb waren, allein, sich selbst überlassen. Wasser spritzte in vergessene Badewannen, strömte durch Wohnzimmer auf Veranden und durch kleine Gärten, wo es vernachlässigte Blumen tränkte. In den dunklen Kinos härteten sich unter den Sitzen die Kaugummiklumpen, in denen noch die Bißspuren von Zähnen zu erkennen waren.
Auf der anderen Seite der Stadt lag ein Raketenflughafen. Noch immer hing der beißende, rauchige Gestank in der Luft, den die letzte Rakete bei ihrem Start zur Erde zurückgelassen hatte. Steckte man einen Zehner in das Teleskop und richtete es auf die Erde, war dort vielleicht der große Krieg zu verfolgen. Vielleicht konnte man New York explodieren sehen. Vielleicht war London zu erkennen, über dem ein völlig neuartiger Nebel hing. Vielleicht war dann auch zu verstehen, warum diese kleine Marsstadt verlassen worden war. Wie schnell die Evakuierung vor sich gegangen war! Man brauchte nur in irgendeinen Laden zu gehen und den Knopf der Registrierkasse zu drücken. In der herausspringenden Schublade klimperten und schimmerten die Münzen. Der Krieg auf der Erde war wohl schon eine schlimme Sache.
Ein großer, hagerer Mann ging durch die leeren Straßen der Stadt; er pfiff leise vor sich hin und kickte mit großer Konzentration eine Blechdose über das Pflaster. In seinen Augen schimmerte dunkel die Einsamkeit. Seine knochigen Hände bewegten sich in den Taschen, in denen Münzen klimperten. Von Zeit zu Zeit warf er einen Zehner zu Boden, und jedesmal lachte er leise und ging weiter, und überall verteilte er seinen Münzregen.
Er hieß Walter Gripp. Ganz oben in den Bergen besaß er ein Erzbergwerk und eine kleine Hütte, und er kam etwa alle zwei Wochen in die Stadt, um sich nach einer ruhigen und intelligenten Ehefrau umzusehen. In all den Jahren war er stets einsam und enttäuscht wieder in seine Hütte zurückgekehrt. Und vor einer Woche hatte er die Stadt unvermutet in diesem Zustand vorgefunden!
An jenem Tag war er so überrascht gewesen, daß er zunächst in ein Restaurant eilte, alle Schränke öffnete und sich ein dreifaches SchinkenSandwich bestellte.
»Komm sofort!« rief er, ein Handtuch über dem Arm.
Er schleppte Fleisch und Brot herbei, das am Vortag frisch gebacken worden war, staubte sich einen Tisch ab, lud sich zum Hinsetzen ein, und aß soviel, daß er anschließend eine Apotheke aufsuchen mußte, wo er ein Magenmittel erstand. Der Apotheker, ein gewisser Walter Gripp, war erstaunlich zuvorkommend und löste ihm die Tablette sogar in einem Glas Wasser auf.
Er stopfte sich die Hosentaschen voller Geld, raffte zusammen, was er finden konnte, belud einen kleinen Kinderhandwagen mit Zehndollarscheinen und schleppte damit durch die Straßen. Am Stadtrand wurde ihm klar, wie dumm sein Benehmen war. Geld brauchte er nicht. Er fuhr die Zehndollarscheine dorthin zurück, wo er sie gefunden hatte, holte einen Dollar aus seiner Brieftasche, bezahlte im Restaurant seine Sandwiches und legte auch noch ein Trinkgeld in die Kasse.
Am gleichen Abend gönnte er sich ein heißes türkisches Bad, ein saftiges Filet mit einem Haufen schmackhafter Pilze, ein paar Gläser importierten trockenen Sherry und dazu Erdbeeren in Wein. Er legte sich einen neuen blauen Flanellanzug zu und einen teuren grauen Homburg, den er sich schräg auf den schmalen Kopf setzte. Er steckte Geld in eine Music-Box, die ihm >Meine lieben alten Freunde< vorspielte. Überall in der Stadt setzte er die Musikautomaten in Betrieb, und die einsamen Straßen und die Nachtluft hallten wider von der traurigen Melodie von >Meine guten alten Freunde<, während er, groß und dürr und einsam, mit hallenden Schritten in seinen neuen Schuhen durch die Stadt marschierte, die kalten Hände in den Taschen.
Aber das war vor einer Woche gewesen. Er schlief nun in einem guten Haus an der Mars-Avenue, stand jeden Morgen um neun Uhr auf, nahm ein Bad und ging in die Stadt, um Schinken mit Ei zu frühstücken. Kein Vormittag verging, an dem er sich nicht eine Tonne Fleisch, Gemüse und Törtchen mit Zitronenschlagsahne einfror - genug, um damit zehn Jahre auszukommen, bis die Raketen von der Erde zurückkamen, wenn sie jemals zurückkamen.
Heute abend nun sah er auf seinem Gang durch die Stadt zum erstenmal die wächsernen Frauen in den bunten Schaufenstern, rosa und hübsch anzusehen. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, wie tot die Stadt war. Er zapfte sich ein Bier und begann still vor sich hin zu weinen.
»Ich bin ja ganz allein«, sagte er.
Er ging ins Elite-Theater und führte sich einen Film vor, der ihn von seiner Einsamkeit ablenken sollte. Doch das Theater klang hohl und leer und war wie ein Grab, in dem graue und schwarze Phantome über die große Leinwand huschten. Schaudernd floh er den unheimlichen Ort.
Er hatte sich entschlossen, nach Hause zurückzukehren, und marschierte gerade im Eilschritt durch eine Nebenstraße; als er ein Telefon klingeln hörte.
Er lauschte.
»Da klingelt irgendwo ein Telefon«, murmelte er.
Er schritt lebhaft aus.
»Da sollte jemand rangehen.«
Er setzte sich an den Rinnstein, um sich gemächlich einen Stein aus dem Schuh zu schütteln.
»Jemand!« schrie er und sprang auf. »Ich! Himmel Herrgott, was ist denn in mich gefahren?« sagte er laut. Er wirbelte herum. Welches Haus? Das da!
Er rannte über den Rasen, die Treppe hinauf, ins Haus, durch einen dunklen Flur.
Er riß den Hörer ans Ohr.
»Hallo!« brüllte er.
Tüüt - tüüt - tüüt.
»Hallo! Hallo!«
Der Anrufer hatte aufgelegt.
»Hallo!« brüllte er und schlug auf die Gabel. »Du alter Blödian!« beschimpfte er sich. »Bleibst am Rinnstein sitzen, du Narr! Du hirnverbrannter Idiot!« Er schüttelte wütend das Telefon. »Los, klingele noch mal, mach schon!«
Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß vielleicht auch noch andere Menschen auf dem Mars zurückgeblieben sein mochten. In der ganzen Woche hatte er keine Menschenseele zu Gesicht bekommen. Er hatte das Gefühl gehabt, daß auch die übrigen Städte so leer und verlassen sein mußten wie Marlin.
Er starrte auf das fürchterliche kleine schwarze Telefon hinab und begann zu zittern. An das Selbstwählsystem waren sämtliche Marsstädte angeschlossen. Aus welcher der dreißig Städte war der Anruf also gekommen?
Er wußte es nicht.
Er wartete. Er ging niedergeschlagen in die fremde Küche, taute sich eine Portion Heidelbeeren auf und verzehrte sie ohne Appetit.
»Da war ja auch niemand am anderen Ende der Leitung«, murmelte er. »Vielleicht ist irgendwo ein Leitungsmast umgefallen, und das Telefon hat ganz von allein geklingelt.«
Aber hatte er nicht ein Klicken gehört - ein Zeichen, daß der Hörer aufgelegt worden war?
Den ganzen Abend verweilte er im Flur des Hauses. »Nicht wegen des Telefons«, sagte er sich. »Aber ich habe einfach nichts anderes zu tun.«
Er lauschte auf das Ticken seiner Uhr.
»Sie ruft bestimmt nicht wieder an«, sagte er. »Sie wird nie nochmals eine Nummer wählen, unter der sich niemand gemeldet hat. Wahrscheinlich klingelt sie gerade andere Häuser in der Stadt an - in diesem Augenblick! Und ich sitze hier - Moment mal!« Er lachte. »Warum sage ich immer >sie«
Er blinzelte. »Könnte doch auch ein >er< sein, oder?«
Sein Herzschlag verlangsamte sich. Er fröstelte und fühlte sich leer. Er flehte darum, daß es eine >sie< war.
Er verließ das Haus und stellte sich in die Mitte der dunklen frühmorgendlichen Straße.
Er lauschte. Kein Ton. Keine Vögel. Keine Autos. Nur sein Herzschlag. Poch und Pause und wieder Poch. Sein Gesicht schmerzte, so sehr hatte er es verkniffen. Sanft wehte der Wind, ganz sanft, und spielte mit seinem Mantel.
»Psst«, flüsterte er. »Hör doch.«
Er neigte sich langsam im Kreise, wandte den Kopf von einem stummen Haus zum nächsten.
Sie ruft bestimmt eine Unzahl von Nummern an, dachte er. Sie ist bestimmt eine Frau. Warum? Nur eine Frau würde andauernd telefonieren. Ein Mann täte das nicht. Ein Mann ist unabhängig. Habe ich jemanden angerufen? Nein! Der Gedanke ist mir gar nicht gekommen. Es muß eine Frau sein. Muß, bei Gott!
Lauschen.
Irgendwo unter den Sternen, weit entfernt, klingelte ein Telefon.
Er rannte. Er stockte und lauschte. Das Klingeln, leise. Wieder rannte er einige Schritte. Lauter. Er hastete durch eine Gasse. Noch lauter! Sechs Häuser glitten an ihm vorüber, und noch einmal sechs. Viel lauter! Er fand das Haus, und der Eingang war verschlossen.
Drinnen klingelte das Telefon.
»Verdammt!« Er riß am Türknopf.
Das Telefon schrillte.
Er schleuderte einen Verandastuhl durch ein Wohnzimmerfenster und sprang hinterher.
Ehe er die Hand auf das Telefon legen konnte, war es verstummt.
Da tobte er durch das Haus und zerbrach Spiegel, riß Vorhänge herab und warf den Küchenherd um.
Erschöpft nahm er schließlich das dünne Buch zur Hand, in dem jedes Telefon auf dem Mars verzeichnet war. Fünfzigtausend Namen.
Er begann mit der ersten Nummer.
Amelia Arnes. Er wählte ihre Nummer in Neu-Chicago, hundert Meilen entfernt jenseits des toten Meeres.
Keine Antwort.
Nummer zwei wohnte in Neu-New-York, fünftausend Meilen hinter den blauen Bergen.
Keine Antwort.
Er versuchte es weiter, drei-, vier-, fünf-, sechs-, sieben-, achtmal; seine Finger zuckten, konnten kaum den Hörer halten.
Plötzlich ertönte die Stimme einer Frau: »Hallo?«
Walter brüllte zurück: »Hallo, o Gott, hallo!«
»Dies ist ein automatischer Telefonbeantworter«, sagte die Frauenstimme. »Miß Helen Arasumian ist nicht zu Hause. Sie können eine Nachricht auf das Band sprechen, damit sie zurückrufen kann, wenn sie nach Hause kommt. Hallo? Dies ist ein automatischer Telefonbeantworter. Miß Helen Arasumian ist nicht zu Hause. Sie können eine Nachricht auf das Band sprechen...«
Er legte auf.
Er saß da, und seine Lippen zuckten.
Dann wählte er noch einmal dieselbe Nummer.
»Wenn Miß Arasumian nach Hause kommt«, sagte er, »richten Sie ihr aus, sie soll zur Hölle fahren!«
Er rief in Mars Junction, Neu-Boston, Arcadia und Roosevelt City die Fernämter an, in der Annahme, daß es das naheliegendste wäre, von dort aus zu telefonieren versuchen. Darauf setzte er sich in jeder Stadt mit den Rathäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen in Verbindung. Er wählte auch die besten Hotels an. Welche Frau wußte sich nicht mit Luxus zu umgeben?
Plötzlich hielt er inne, klatschte in die Hände und lachte. Aber natürlich! Er zog das Telefonbuch zu Rate und wählte die Nummer des größten Schönheitssalons in Neu-Texas-City. Wenn es einen Ort gab, an dem eine Frau nach Herzenslust herumstöbern und sich Packungen auf das Gesicht legen und unter Haartrocknern sitzen konnte, dann im samtweichen, auserlesenen Dekor eines Schönheitssalons!
Das Telefon klingelte.
Am anderen Ende hob jemand ab.
Eine Frauenstimme sagte: »Hallo?«
»Wenn das eine Tonbandaufnahme ist«, verkündete Walter Gripp, »komme ich rüber und nehme den ganzen Laden auseinander.«
»Ich und ein Tonband?«, sagte die Frauenstimme. »Hallo! Oh, hallo, es ist also doch noch jemand am Leben. Wo sind Sie?« Sie stieß einen entzückten Schrei aus.
Walter verlor beinahe die Fassung. »Sie!«
Ruckartig stand er auf, seine Augen blitzten. »Himmel, Herrgott, was für ein Glück - wie heißen Sie?«
»Genevieve Selsor!« Sie brach in Tränen aus. »Oh, bin ich froh, Ihre Stimme zu hören, wer Sie auch sind!«
»Walter Gripp!«
»Walter, hallo, Walter!«
»Hallo, Genevieve.«
»Walter. Ein schöner Name. Walter, Walter!«
»Danke.«
»Walter, wo sind Sie?«
Ihre Stimme war so nett und süß und angenehm. Er preßte den Hörer ans Ohr, damit sie ihm direkt hineinflüstern konnte. Er fühlte, wie er langsam den Boden unter den Füßen verlor. Seine Wangen brannten.
»Ich bin in Marlin«, sagte er. »Ich. «
Tüt-tüt-tüt.
»Hallo?« fragte er.
Tüt-tüt-tüt.
Er drückte mehrmals die Gabel. Nichts.
Irgendwo hatte der Wind einen Leitungsmast umgeworfen. So schnell, wie er sie gefunden hatte, war Genevieve Selsor wieder verschwunden.
Er wählte die gleiche Nummer, aber die Leitung war tot.
»Ich weiß wenigstens, wo sie ist.« Im Laufschritt verließ er das Haus.
Die Sonne ging auf, als er den Kleinwagen des Hausbesitzers aus der Garage fuhr, den Rücksitz mit Lebensmitteln aus dem Haus füllte und mit achtzig Meilen in der Stunde in Richtung Neu-Texas-City davonraste. Tausend Meilen, dachte er. Genevieve Selsor, hab Geduld, ich komme!
Jedesmal, wenn er eine Stadt durchfuhr, ließ er seine Hupe erschallen.
Nach einem unglaublich langen Tag hinter dem Steuer fuhr er den Wagen an den Straßenrand, zerrte sich die engen Schuhe von den Füßen, legte sich quer auf die Vordersitze und schob seinen grauen Homburg über die müden Augen. Bald ging sein Atem langsam und gleichmäßig. Der Wind wehte, und die Sterne schienen im Dunkel sanft auf ihn herab. Ringsum erhoben sich die Marsberge, Millionen Jahre alt. Sternenlicht glitzerte auf den Türmen einer kleinen marsianischen Stadt, die sich zwischen den blauen Hügeln kaum größer als ein Schachspiel ausnahm.
Er schwebte zwischen Wachen und Träumen. Er flüsterte. Genevieve.
Oh, Genevieve, süße Genevieve, sang er leise, die Jahre kommen, die Jahre gehen. Aber Genevieve, süße Genevieve... Wärme durchflutete ihn. Er hörte ihre leise, süße, angenehme Stimme singen. Hallo, o hallo, Walter! Ich und ein Tonband, was fällt dir ein! Wo bist du, Walter, wo bist du?
Er seufzte und streckte im Mondschein die Hand aus, um sie zu berühren. Langes dunkles Haar, das im Wind wehte; schön war es. Und ihre Lippen wie rote Pfefferminze. Und ihre Wangen wie frischgeschnittene feuchte Rosen. Und ihr Körper war ein duftiger wallender Nebel, während ihm ihre sanfte süße Stimme noch einmal die Worte des alten traurigen Liedes zuflüsterte: Oh, Genevieve, süße Genevieve, die Jahre kommen, die Jahre gehen...
Er schlief fest.
Er erreichte Neu-Texas-City gegen Mitternacht.
Er hielt vor dem Deluxe-Schönheitssalon und rief.
Er rechnete damit, daß sie ihm entgegeneilen würde, parfum-duftend, lachend.
Nichts geschah.
»Sie schläft«, sagte er und ging zur Tür. »Ich bin da!« rief er. »Hallo, Genevieve!«
Die Stadt schimmerte im Licht der beiden Monde und schwieg. Irgendwo bewegte der Wind eine Markise.
Er stieß die Glastür auf und trat ein.
»He!« Er lachte unsicher. »Sie brauchen sich nicht zu verstecken! Ich weiß, daß Sie hier sind!«
Er sah in jeder Kabine nach.
Er fand ein winziges Taschentuch auf dem Fußboden. Es duftete so herrlich, daß er fast das Gleichgewicht verlor.
»Genevieve«, sagte er.
Er führ durch die leeren Straßen, doch es war nichts zu sehen. »Wenn du mir einen Streich spielen willst...«
Er hielt an. »Halt. Wir wurden unterbrochen. Vielleicht ist sie nach Marlin gefahren, während ich auf dem Weg hierher war! Sie hat wahrscheinlich die alte Straße am Meer entlang genommen, und da haben wir uns verfehlt. Woher sollte sie auch wissen, daß ich komme? Gesagt hab ich das ja nicht. Und als die Leitung unterbrochen wurde, hatte sie solche Angst, daß sie sofort nach Marlin gefahren ist, um mich zu finden. Und ich stehe jetzt hier, bei Gott! Was für ein Idiot ich bin!«
Wild hupend raste er aus der Stadt.
Er fuhr die ganze Nacht hindurch. Er dachte: Und wenn sie nun nicht in Marlin auf mich wartet?
Sofort schob er den Gedanken beiseite. Sie mußte einfach dort sein. Und er wollte ihr entgegenlaufen und sie in die Arme nehmen und ihr vielleicht sogar einen Kuß geben, auf den Mund.
Genevieve, süße Genevieve, pfiff er und erhöhte das Tempo auf hundert Meilen in der Stunde.
In der Morgendämmerung lag Marlin totenstill da. In mehreren Läden brannten noch Lichter, und ein Musikautomat, der hundert Stunden lang ununterbrochen gespielt hatte, verstummte plötzlich mit elektrischem Knistern und machte das Schweigen noch bedrückender. Die Sonne erwärmte die Straßen und den kalten leeren Himmel.
Mit aufgeblendeten Scheinwerfern bog Walter in die Hauptstraße ein und ließ im Doppelrhythmus die Hupe erschallen - sechsmal an dieser Ecke, sechsmal an der nächsten. Er spähte zu den Läden hinüber. Er war blaß und müde, und seine Hände rutschten am schweißfeuchten Steuerrad ab.
»Genevieve!« rief er der leeren Straße zu.
Die Tür eines Schönheitssalons öffnete sich.
»Genevieve!« Er hielt mit einem Ruck.
Genevieve Selsor erschien in der offenen Tür eines Salons, als er über die Straße rannte. Sie hatte eine offene Packung Pralinen im Arm. Die Finger, die die Schachtel hielten, waren dick und bleich. Sie trat ins Licht, und ihr Gesicht war rund und fett, und ihre Augen waren zwei gewaltige Eier, die jemand in einen Klumpen weißen Brotteig gedrückt hatte. Ihre Beine glichen Baumstämmen, und sie bewegte sich mit linkischem Schurren dahin. Ihr Haar war von einem unbestimmbaren Braun, und ihre Frisur erinnerte an ein Vogelnest. Sie hatte überhaupt keine Lippen und glich diesen Mangel durch einen übergroß aufgemalten, fettigen roten Mund aus, der sich jetzt entzückt öffnete und sofort nervös wieder schloß. Ihre Augenbrauen waren zu dünnen Strichen ausgezupft.
Walter blieb stehen. Das freudig erwartungsvolle Lächeln auf seinem Gesicht erstarb. Er starrte sie an. Sie ließ die Pralinenpackung auf den Bürgersteig fallen.
»Sind Sie - Genevieve Selsor?« In seinen Ohren rauschte es.
»Sind Sie Walter Griff?« sagte sie.
»Gripp.«
»Gripp«, verbesserte sie sich.
»Guten Morgen«, sagte er gepreßt.
»Guten Morgen.« Sie schüttelte ihm die Hand.
An ihren Fingern klebte Schokolade.
»So«, sagte Walter Gripp.
»Was?« fragte Genevieve Selsor.
»Ich habe >So< gesagt«, sagte Walter.
»Oh.«
Es war neun Uhr abends. Sie hatten den Tag bei einem Picknick verbracht, und zum Abendessen hatte er ihr ein Filet Mignon bereitet, das ihr nicht geschmeckt hatte, weil es ihr zu roh war. Als er es noch etwas gedünstet hatte, war es plötzlich zu stark geschmort oder gebraten oder sonstwas. Er lachte und sagte: »Wir sehen uns einen Film an!« Sie war einverstanden und hakte sich mit ihren Schokoladenfingern bei ihm unter. Sie bestand schließlich auf einem fünfzig Jahre alten Film mit Clark Gable. »Ist er nicht großartig?« kicherte sie. »Ist er nicht großartig?« Der Film ging zu Ende. »Spiel ihn noch mal«, befahl sie. »Noch mal?« fragte er. »Noch mal«, sagte sie. Und als er sich wieder setzte, lehnte sie sich an ihn, und ihre Hände gingen auf Wanderschaft. »Du bist zwar nicht ganz das, was ich erwartet habe, aber du bist nett«, sagte sie. »Danke«, sagte er und schluckte. »Oh, dieser Gable«, sagte sie neckend und kniff ihn ins Bein. »Autsch«, sagte er.
Nach dem Film gingen sie durch die stillen Straßen. Sie warf eine Schaufensterscheibe ein, holte das bunteste Kleid heraus, das sie finden konnte, und zog es an. Dann goß sie sich eine Flasche Parfüm über den Kopf und hatte nun große Ähnlichkeit mit einem regennassen Schäferhund. »Wie alt bist du?« fragte er. »Rate mal.« Tropfnaß führte sie ihn die Straße entlang. »Oh, vielleicht dreißig«, sagte er höflich. »Oh«, meinte sie enttäuscht, »ich bin erst siebenundzwanzig.«
»Aha«, meinte er nachdenklich.
»Schon wieder ein Süßigkeitenladen«, sagte sie. »Ehrlich, seit der Explosion hab ich gelebt wie eine Königin. Meine Familie hab ich nie gemocht, waren alles Idioten. Sie sind vor zwei Monaten zur Erde zurückgekehrt. Ich sollte mit der letzten Rakete nachkommen, aber ich bin geblieben; weißt du, warum?«
»Warum?«
»Weil alle auf mir herumgehackt haben. Und da bin ich geblieben, wo ich nun den ganzen Tag in Parfüm baden und zehntausend Mixgetränke trinken und Süßigkeiten essen kann, ohne daß die Leute sagen: >Oh, das hat aber zu viele Kalorien!< Na, und da bin ich nun!«
»Da bist du.« Walter schloß die Augen.
»Es ist schon spät«, sagte sie und sah ihn an.
»Ja.«
»Ich bin müde«, sagte sie.
»Komisch, ich bin hellwach.«
»Oh«, sagte sie.
»Ich könnte die ganze Nacht aufbleiben«, sagte er. »Du, da gibt’s eine gute Platte bei Mike. Ich spiel sie dir vor.«
»Ich bin müde.« Ihre wissenden Augen sahen strahlend zu ihm auf.
»Ich bin ganz munter«, sagte er. »Komisch.«
»Komm, wir gehen in den Schönheitssalon«, sagte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Sie führte ihn durch die Glastür zu einer großen weißen Schachtel. »Ich hab’s mitgenommen«, sagte sie, »als ich von Texas City abfuhr.« Sie öffnete das rosa Band. »Ich dachte mir, na ja, ich bin doch die einzige Frau auf dem Mars, und du bist der einzige Mann, und da. na ja.« Sie hob den Deckel und klappte mehrere Schichten knisterndes rosa Seidenpapier zur Seite und betastete stolz ihr Mitbringsel. »Da!«
Walter Gripp starrte sie an.
»Was ist das?« fragte er und begann zu zittern.
»Weißt du das nicht, Dummkopf? Spitzenbesetzt und weiß und herrlich!«
»Nein, ich weiß tatsächlich nicht, was es ist.«
»Ein Brautkleid, du Dummkopf!«
»Ja?« Seine Stimme brach.
Er schloß die Augen. Ihre Stimme war noch immer leise und süß und angenehm, wie er sie vom Telefon in Erinnerung hatte. Aber wenn er die Augen öffnete und sie anschaute .
Er wich zurück. »Wie schön«, sagte er.
»Nicht?«
»Genevieve.« Er sah zur Tür.
»Ja?«
»Genevieve, ich muß dir etwas sagen.«
»Ja?« Sie kam auf ihn zu, und der schwere Parfumduf umlagerte ihr rundes bleiches Gesicht.
»Was ich dir sagen will.«, sagte er.
»Ja?«
»Leb wohl!«
Und ehe sie schreien konnte, war er aus dem Haus gestürmt und hatte sich in seinen Wagen geworfen.
Sie kam angelaufen und stand auf dem Bürgersteig, als er den Wagen wendete.
»Walter Griff, komm zurück!« heulte sie und schwenkte die Arme.
»Gripp«, verbesserte er sie.
»Gripp!« rief sie.
Der Wagen raste auf der stillen Straße davon und kümmerte sich nicht um ihr Stampfen und Schreien. Die Auspuffdämpfe hüllten das weiße Kleid ein, das sie in ihren dicken Händen zerdrückte, und die Sterne schimmerten hell, und der Wagen verschwand draußen in der Wüste und wurde von der Dunkelheit verschluckt.
Er fuhr drei ganze Tage und Nächte hindurch. Einmal glaubte er sich von einem Wagen verfolgt, und der kalte Schweiß brach ihm aus, und er nahm eine andere Landstraße, die an kleinen toten Städten vorbei quer durch die verlassene Marswelt führte, und er fuhr und fuhr, eine Woche lang, bis er zehntausend Meilen zwischen sich und Marlin gebracht hatte. Schließlich hielt er in einer kleinen Stadt namens Holtville, wo es ein paar kleine Läden gab, die er am Abend beleuchten konnte, und eine Handvoll Restaurants, in denen er sitzen und sich etwas zu essen bestellen konnte. Und dort ist er geblieben, mit zwei vollen Tiefkühltruhen, deren Inhalt hundert Jahre lang reicht, und mit ausreichend Zigarren für zehntausend Tage, und mit einem guten weichen Bett.
Und wenn irgendwann in all den langen Jahren einmal das Telefon klingeln wird, hebt er nicht ab.