April 2005: Ascher II

»>Einen geschlagenen Tag lang, starr, trüb, tonlos und tief im Herbste des Jahres, war ich allein, zu Pferde, unter dem bedrückend lastenden Wolkenhimmel, durch einen ungewöhnlich öden Strich Landes dahingeritten; und fand mich endlich, da die Schatten des Abends sich anschickten heraufzuziehen, angesichts des melancholischen Hauses Ascher.<.«

Mr. William Stendahl unterbrach sein Zitat. Vor ihm auf einem niedrigen schwarzen Hügel stand das Haus, und sein Grundstein trug die Inschrift 2005 n. Chr.

Mr. Bigelow, der Architekt, sagte: »Es ist fertig. Hier ist der Schlüssel, Mr. Stendahl.«

Wortlos standen die beiden Männer im stillen Herbstnachmittag. Bauzeichnungen raschelten im Gras zu ihren Füßen.

»Das Haus von Ascher«, sagte Mr. Stendahl angenehm berührt. »Geplant, gebaut, gekauft, bezahlt. Oh, wie entzückt Mr. Poe davon wäre!«

Mr. Bigelow kniff die Augen zusammen. »Ist alles nach Wunsch, Sir?«

»Ja!«

»Stimmen die Farben? Sind sie trostlos und schrecklich!«

»Sehr trostlos und sehr schrecklich.«

»Die Wände sind - kalt!«

»Ja, in erstaunlichem Maße!«

»Der See - ist er >schwarz und unheimlich< genug?«

»Überaus schwarz und unheimlich.«

»Und das Riedgras - wir haben es gefärbt, müssen Sie wissen - ist es richtig grau und schwarz?«

»Scheußlich!«

Mr. Bigelow betrachtete seine Baupläne und las vor: »Erzeugt das ganze Gebäude >ein eisiges Gefühl, ein bedrückendes Herzklopfen, eine Trübsal der Gedanken

»Mr. Bigelow, der Bau ist jeden Cent wert, den er kostet. Mein Gott, es ist alles wunderschön!«

»Vielen Dank. Ich mußte immerhin ohne Vorkenntnisse arbeiten. Gott sei Dank hatten Sie Ihre eigenen Raketen zur Verfügung, sonst hätten wir die meisten Sachen nicht durchbekommen. Wie Sie bemerken, herrscht ein ständiges Zwielicht - das Land, in dem stets Oktober ist, öde, steril, tot. Hat uns ganz schön Arbeit gemacht. Wir mußten alles abtöten. Zehntausend Tonnen DDT. Keine Schlange, kein Frosch, keine marsianische Fliege ist mehr am Leben! Immer nur Zwielicht, Mr. Stendahl, darauf bin ich besonders stolz. Es gibt versteckte Maschinen, die löschen die Sonne aus. Es wird immer angemessen >trübe< sein.«

Stendahl genoß sie in vollen Zügen: Die Trübsal, die Düsterkeit, die übelriechenden Dämpfe, die >Atmosphäre< - es war alles so wohlabgewogen! Und das Haus erst! Ein einziger modriger Schrecken -dazu der entsetzliche See, die stinkenden Pilzkolonien, der fortgeschrittene Zerfall! Plastik oder nicht - wer ahnte schon die Wahrheit?

Er sah zum herbstlichen Himmel auf. Irgendwo da oben, weit entfernt, war die Sonne. Irgendwo war es April auf dem Planeten Mars, ein heller Monat mit blauem Himmel. Irgendwo über ihm brannten Raketen herab, um einen wunderbaren toten Planeten zu zivilisieren. Ihr kreischender Lärm drang nur gedämpft in diese trübe, abgeschirmte Welt, in diesen alten, alten Herbst.

»Nachdem meine Arbeit nun getan ist«, sagte Mr. Bigelow unsicher, »möchte ich mir gern die Frage erlauben, was Sie mit all dem anfangen wollen.«

»Mit Ascher? Haben Sie’s noch nicht erraten?«

»Nein.«

»Bedeutet Ihnen der Name Ascher überhaupt nichts?«

»Nein.«

»Wie steht es dann mit dem Namen Edgar Allan Poe? Kennen Sie den?«

Mr. Bigelow schüttelte den Kopf.

»Natürlich.« Mit einer Mischung aus Bestürzung und Verachtung schnaubte Mr. Stendahl durch die Nase. »Wie konnte ich erwarten, daß Sie Poe kennen! Er ist schon vor langer Zeit gestorben, noch vor Lincoln. Alle seine Bücher wurden im Großen Feuer verbrannt. Das war vor dreißig Jahren - 1975.«

»Aha«, sagte Mr. Bigelow wissend. »Einer von denen!«

»Ja, einer von denen, Bigelow. Er und Lovecraft und Hawthorne und Ambroise Bierce und all die Schreckens- und Fantasiegeschichten - und im gleichen Aufwasch wurden auch alle Zukunftserzählungen verbrannt. Erbarmungslos. Ein neues Gesetz. Dabei fing alles so harmlos an. In den fünfziger und sechziger Jahren waren es nur Lappalien. Man begann Zensur auszuüben auf Comic Strips und dann auf Kriminalromane und natürlich auf Filme; Zensur auf diese oder jene Weise, durch diese oder jene Gruppe, Zensur nach politischer Tendenz, religiösen Vorurteilen, nach Wünschen der Gewerkschaften; es gab immer eine Minderheit, die sich vor irgend etwas fürchtete, und eine breite Mehrheit, die Angst hatte vor dem Dunklen, vor der Zukunft, vor der Vergangenheit, die auch Angst hatte vor der Gegenwart, vor sich selbst und vor ihrem eigenen Schatten.«

»Ich verstehe.«

»Man hatte Angst vor dem Wort >Politik< (das, wie ich höre, mit der Zeit in gewissen reaktionären Kreisen gleichbedeutend mit Kommunismus wurde, und es war lebensgefährlich, das Wort in den Mund zu nehmen!), und es wurde hier eine Schraube angezogen und da eine Schraube angezogen, es wurde gestoßen und gezerrt, und Kunst und Literatur waren bald nur noch ein großer Karamelstrang, der zerfilzt, zu Zöpfen zerrissen, zu Knoten verschlungen und in alle Richtungen zerstreut wurde, bis er keine Spannkraft und keinen Geschmack mehr hatte. Dann standen die Filmkameras still, und die Theater wurden dunkel, und die Druckereien stießen keinen Niagarafall an Lesestoff mehr aus, sondern nur noch ein paar harmlose Tropfen >reinen< Materials. Oh, das Wort >Flucht< galt als radikal, kann ich Ihnen sagen.«

»Wirklich?«

»Allerdings. Jeder Mensch, so hieß es, müsse der Wirklichkeit ins Auge sehen, müsse den Augenblick bewältigen. Und was dieser Maxime nicht entsprach, mußte verschwinden. All die herrlichen Erfindungen und Fantasieflüge der Literatur waren zum Untergang verdammt. Sie wurden 1975 eines Sonntagmorgens an einer Bibliothekswand aufgereiht; der Nikolaus und der kopflose Reiter und Schneewittchen und Rumpelstilzchen und Frau Holle - oh, was war das für ein Wehklagen! -, und sie wurden alle erschossen, und die papiernen Schlösser wurden verbrannt, ebenso wie die verzauberten Frösche und alten Könige und die Leute, die glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende lebten (denn natürlich war es eine Tatsache, daß niemand glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende lebte!), und >Es war einmal< wurde zu einem >Es wird nie mehr!<. Und die Asche der Verzauberten Rikscha wurde zusammen mit den Trümmern aus dem Lande Oz verstreut, die gute Glinda und Ozma wurden zu Filets verarbeitet, Polychrome zerrte man in einem Spektroskop auseinander, und Jack Kürbiskopf wurde beim Biologenball mit Baiser serviert! Die große Bohnenpflanze ging unter den Hufen des Amtsschimmels zugrunde. Dornröschen erwachte vom Kusse eines Wissenschaftlers und starb an der Injektion, die er ihr gab. Und Alice mußte etwas aus einer Flasche trinken, das sie so klein machte, daß sie nicht einmal mehr >Merkwürdig, merkwürdig< sagen konnte, und man zerschmetterte ihren Spiegel, womit auch das Leben des Roten Königs und der Austern ausgelöscht wurde.«

Er ballte die Fäuste. Herrgott, wie nahe ihm das ging! Er war rot angelaufen und schnappte nach Luft.

Mr. Bigelow erstaunte der lange Ausbruch. Er blinzelte und sagte schließlich: »Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Das sind alles nur nichtssagende Namen für mich. Soweit ich das beurteilen kann, war die Verbrennung doch recht sinnvoll.«

»Raus!« brüllte Stendahl. »Sie haben Ihre Arbeit getan - lassen Sie mich jetzt allein, Sie Idiot!«

Mr. Bigelow rief seine Zimmerleute zusammen und verschwand.

Mr. Stendahl stand allein vor seinem Haus.

»Hört!« sagte er zu den unsichtbaren Raketen. »Ich bin zum Mars gekommen, um euch >sauber< denkenden Leuten zu entkommen, aber tagtäglich vermehren sich eure Heerscharen auch hier - wie die Fliegen, die zum verwesenden Fleisch kommen. Also werd ich’s euch zeigen. Ich erteile euch eine schöne Lektion für das, was ihr Mr. Poe auf der Erde angetan habt. Von heute an müßt ihr euch vorsehen. Das Haus Ascher steht bereits!«

Und er schüttelte drohend die Faust gen Himmel.

Die Rakete landete. Federnden Schrittes trat ein Mann heraus. Er betrachtete das Haus, und in seinen grauen Augen stand ein mißbilligender, beunruhigter Ausdruck. Er überquerte den Graben, der das Haus umgab, und trat vor den kleinen Mann hin.

»Sind Sie Mr. Stendahl?«

»Ja.«

»Mein Name ist Garret. Ich bin Ermittler der Moralbehörde.«

»Ah, dann sind Sie also auch endlich zum Mars vorgedrungen? Ich hatte mich schon gefragt, wie lange das noch dauern würde.«

»Wir haben letzte Woche die Arbeit aufgenommen und gedenken den Mars in Kürze so zu reinigen wie die Erde.«

Der Mann machte mit seinem Ausweis eine gereizte Bewegung zum Haus hin. »Vielleicht erzählen Sie mir mal etwas darüber, Stendahl.«

»Es ist ein Gespensterschloß, wenn Sie so wollen.«

»Das gefällt mir nicht, Stendahl. Das Wort >Gespenster< gefällt mir nicht!«

»Ganz einfach. Im Jahre unseres Herrn 2005 habe ich ein mechanisches Heiligtum gebaut. Darin schwirren metallene Fledermäuse, die von Elektronenstrahlen gesteuert werden, und Messingratten rasen in Kunststoffkellern herum, und weiße Robotskelette tanzen; es gibt Robotvampire, Harlekine, Wölfe und weiße Gespenster, aus Chemie und Fantasie erschaffen. Ich wohne dort.«

»Das hatte ich geahnt«, sagte Garrett und lächelte zurückhaltend. »Ich fürchte, wir werden das Ganze einreißen müssen.«

»Ich wußte, daß Sie auftauchen würden, sobald Sie erfuhren, was hier vorging.«

»Ich wäre schon eher gekommen, aber die Moralbehörde wollte erst Ihre Absichten kennen, ehe sie etwas unternahm. Wir können die Abbruchfirma und die Feuerwehr schon zum Abend hier haben. Um Mitternacht ist das ganze Haus bis auf den Keller runtergerissen. Mr. Stendahl, Sie kommen mir ein wenig wie ein Narr vor. Sie verschwenden schwerverdientes Geld für derartigen Unsinn. Das Ganze muß Sie doch mindestens drei Millionen Dollar gekostet haben.«

»Sogar vier Millionen! Aber, Mr. Garrett, ich habe als junger Mann fünfundzwanzig Millionen geerbt und kann es mir wirklich leisten, damit herumzuwerfen. Trotzdem ist es außerordentlich schade, daß Sie, nachdem das Haus erst seit einer Stunde fertiggestellt ist, schon mit Ihren Abbruchkommandos angerückt kommen. Dürfte ich nicht mal mit meinem Spielzeug spielen - sagen wir, wenigstens vierundzwanzig Stunden lang?«

»Sie kennen den Buchstaben des Gesetzes. Es dürfen keine Bücher und Häuser hergestellt werden, die die Existenz vor Gespenstern, Vampiren, Feen oder sonstigen Fantasiegebilden vortäuschen.«

»Sie werden als nächstes auch noch Babbits verbrennen!« »Sie haben uns schon viel Kummer gemacht, Mr. Stendahl. Steht alles in den Unterlagen. Vor zwanzig Jahren auf der Erde. Sie und Ihre Bibliothek.«

»Ja, ich und meine Bibliothek. Und ein paar andere Männer wie ich. O ja, Poe ist schon seit vielen Jahren vergessen, und Oz und die anderen Wesen. Aber ich hatte mein kleines Versteck. Wir, ein paar Privatleute, hatten unsere Bibliotheken noch zur Verfügung, bis Ihre Männer mit den Flammenwerfern kamen und meine fünfzigtausend Bücher zerrissen und verbrannten. So wie Sie auch die Hexennacht vor Allerheiligen verboten und den Filmproduzenten sagten, daß sie sich an Ernest Hemingway halten müßten, wenn sie unbedingt etwas machen wollten. Himmel, wie oft ist Wem die Stunde schlägt eigentlich schon verfilmt worden! In dreißig verschiedenen Versionen hat’s das gegeben, und alle waren sie realistisch! O ja, der Realismus! Realismus über alles! Ich spucke drauf!«

»Es hat keinen Sinn, daß Sie so verbittert sind.«

»Mr. Garrett, Sie müssen doch einen umfassenden Bericht abfassen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dann sollten Sie der Vollständigkeit halber auch mal hereinkommen und sich umsehen. Es dauert nur eine Minute.«

»Gut, Gehen Sie voraus. Und versuchen Sie keine Tricks. Ich bin bewaffnet.«

Die Tür zum Haus von Ascher öffnete sich quietschend. Ein feuchter Windhauch schlug ihnen entgegen. Ein gewaltiges Seufzen und Stöhnen war zu hören. Ein unterirdischer Atem in verlassenen Katakomben.

Eine Ratte huschte über den Steinfußboden. Garrett schrie auf und versetzte ihr einen Tritt. Die Ratte fiel auf den Rücken, und aus ihrem Nylonpelz löste sich ein unglaublicher Schwarm metallischer Fliegen.

»Erstaunlich!« Garrett bückte sich interessiert.

In einer Nische saß eine alte Hexe und hielt ihre zitternden Hände über einen Satz orange und blau bedruckter Tarockkarten. Sie ließ ihren Kopf herumrucken, zischte Garrett aus zahnlosem Mund etwas zu und klopfte auf ihre speckigen Karten.

»Tod!« rief sie.

»Also, solche Dinge habe ich gemeint«, sagte Garrett.

»Schrecklich.«

»Sie dürfen sie später persönlich verbrennen.« »O wirklich?« Garrett war angenehm berührt. Dann runzelte er die Stirn. »Ich muß sagen, Sie tragen das alles mit bemerkenswerter Gelassenheit.«

»Es war genug, dieses Haus überhaupt zu bauen. Und sagen zu können, daß ich’s geschafft habe. Sagen zu können, daß ich in einer modernen, zweifelnden Welt eine mittelalterliche Atmosphäre schaffen konnte.«

»Ich kann mir nicht helfen, aber ich hege fast so etwas wie Bewunderung für Ihr Genie, Sir.« Garrett beobachtete eine Nebelwolke, die flüsternd vorüberschwebte und die Gestalt einer wunderschönen, durchsichtigen Frau angenommen hatte. In einem feuchten Korridor arbeitete eine Maschine. Wie Zuckerwatte entströmten ihr die Nebelschwaden und wallten murmelnd durch die stillen Flure.

Ein Menschenaffe erschien aus dem Nichts.

»Achtung!« rief Garrett.

»Keine Angst!« Stendahl tätschelte dem Tier die schwarze Brust. »Ein Roboter. Kupferskelett und so weiter, wie bei der Hexe. Sehen Sie?« Er stülpte den Pelz zurück, und der Metallkörper wurde sichtbar.

»Ja.« Garrett streckte furchtsam die Hand aus und streichelte das Ding. »Aber warum? Mr. Stendahl, warum das alles? Was hat Sie dazu getrieben?«

»Die Bürokratie, Mr. Garrett. Aber ich habe leider keine Zeit zu weiteren Erklärungen. Die Regierung wird die Antwort sowieso schnell genug finden.« Er nickte dem Affen zu. »Also los!«

Und der Affe tötete Mr. Garrett.

»Sind wir bald soweit, Pikes?«

Pikes blickte von der Tischplatte auf. »Jawohl, Sir.«

»Ich muß Sie zu Ihrer Arbeit beglückwünschen.«

»Dafür werde ich bezahlt, Mr. Stendahl«, sagte Pikes leise, lüpfte das Plastikkleid des Roboters und bettete das Glasauge in die Gummimuskeln. »Das wär’s.«

»Das Ebenbild Mr. Garretts.«

»Was machen wir mit ihm, Sir?« Pikes nickte zu der Bahre hinüber, auf der der echte Mr. Garrett ruhte - tot.

»Wir werden ihn verbrennen, Pikes. Wir wollen doch nicht, daß zwei Mr. Garretts herumgeistern, nicht wahr?«

Pikes rollte Mr. Garrett zum Verbrenner. »Leben Sie wohl.« Er stieß Mr. Garrett hinein und schlug die Tür zu.

Stendahl wandte sich an den Roboter Garrett. »Du hast deine Befehle, Garrett?«

»Jawohl, Sir.« Der Roboter richtete sich auf. »Ich soll zur Moralbehörde zurückkehren und einen ergänzenden Bericht anfertigen. Der Eingriff ist um mindestens achtundvierzig Stunden zu verzögern. Angeblich stelle ich noch weitere Ermittlungen an.«

»Richtig, Garrett. Auf Wiedersehen.«

Der Roboter eilte zu Garretts Rakete, stieg ein und flog davon.

Stendahl wandte sich um. »Und jetzt, Pikes, versenden wir die restlichen Einladungen für heute abend. Wir werden uns herrlich amüsieren, meinen Sie nicht auch?«

»In Anbetracht der Tatsache, daß wir zwanzig Jahre darauf warten mußten - ja!«

Sieben Uhr. Stendahl sah auf die Uhr. Es war fast Zeit. Er drehte das Sherryglas in der Hand. Leise setzte er sich. Von den Eichenbalken hoch oben blinzelten Fledermäuse herab und kreischten heiser, ihre empfindlichen Metallkörper unter künstlichem Fleisch verborgen. Er hob sein Glas und prostete ihnen zu. »Auf unseren Erfolg.« Dann lehnte er sich zurück, schloß die Augen und überdachte noch einmal seinen Plan. Welch ein Hochgenuß auf seine alten Tage - die Rache an der antiseptischen Regierung für ihren literarischen Terror und Verbrennungswahn. Oh, wie die Wut und der Haß im Laufe der Jahre gewachsen waren! Wie der Plan in seinem betäubten Geist langsam Gestalt annahm bis zu jenem Tag vor drei Jahren, da er Pikes kennenlernte!

Ah, ja, Pikes. Pikes, den eine Bitterkeit erfüllte, bodenlos wie ein tiefer schwarzer Brunnen gefüllt mit ätzender grünschillernder Säure. Wer war dieser Pikes? Der größte von allen! Pikes, der Mann mit den zehntausend Gesichtern, eine Furie, eine Rauchwolke, ein täuschender Nebel, ein weißer Regenschauer, eine Fledermaus, ein dürstender Schlund, ein Monstrum - das alles war Pikes! War er besser als Lon Chaney der Ältere? Stendahl überlegte. Nächtelang hatte er Chaney in den uralten Filmen betrachtet. Ja, besser als Chaney war er. Auch besser als jener andere alte Darsteller - wie hieß er doch gleich? Karloff? Weitaus besser! Lugosi? Kein Vergleich! Nein, es gab nur einen Pikes, ein Mann, der all seiner Illusionen beraubt war; er wußte nicht, wo er hingehörte, er hatte kein Publikum mehr. Es war ihm sogar untersagt, sich selbst im Spiegel etwas vorzuspielen!

Armer, unmöglicher, geschlagener Pikes! Wie muß es für dich gewesen sein, Pikes, in der Nacht, da man dir deine Filme nahm, da man sie wie Gedärme aus dem Projektor zerrte, als risse man sie dir aus dem Leib, da man sie zu wilden Haufen zusammenraffte, um sie in den Ofen zu stecken und zu verbrennen? Ja. Ja. Stendahl spürte, wie seine Hände kalt wurden in sinnloser Wut. Was war natürlicher, als daß sie eines Tages zusammenkamen und über zahllosen Tassen Kaffees unzählige Nächte lang diskutierten und daß aus all dem Reden und bitteren Ränkeschmieden eines hervorging - das Haus von Ascher!

Eine große Kirchenglocke ertönte. Die Gäste kamen.

Lächelnd ging er ihnen entgegen.

Voll ausgewachsen und doch ohne Erinnerung, so warteten die Roboter. In waldgrüner Kleidung, in frosch- und farnfarbener Seide warteten sie. Sie hatten sonnengelbes oder sandgelbes Haar und warteten. Geölt lagen sie da, mit Knochen aus bronzenen Röhren, in Gallerte gebettet. In Särgen für die Nicht-Toten und die Nicht-Lebenden, in Bretterkisten warteten die Metronome auf ihr Startzeichen. Es roch nach Schmiermittel und geschliffenem Messing. Es war still wie auf einem Friedhof. In Geschlechter aufgeteilt, aber geschlechtslos - Roboter. Mit Namen versehen, doch namenlos, mit allen inneren und äußeren Eigenschaften des Menschen außer der Menschlichkeit, so starrten die Roboter zu den genagelten Deckeln ihrer FOB-Kisten auf und verharrten in einer Totenstarre, die kein richtiger Tod war, da sie nie ein Leben gekannt hatten. Und plötzlich war überall das Knirschen herausgezogener Nägel zu hören. Deckel wurden angehoben. Scharten lagen über den Kisten, und eine Hand drückte Schmieröl aus einer Kanne. Nun wurde eine Uhr in Gang gesetzt, ein schwaches Ticken. Es folgten eine zweite und eine dritte, bis der ganze Raum ein gewaltiger surrender Uhrenladen geworden war. Murmelaugen wurden gerollt, Gummilider öffneten sich, Nasenflügel zitterten. Die Roboter, die das Fell von Affen trugen und den weißen Pelz von Kaninchen, erhoben sich: Tweedledum folgte Tweedledee. Mockturtle, Haselmaus, die Gestalten Ertrunkener, aus Salz und Tünche bestehend, schwankend; Erhängte mit blauen Hälsen und hochgerollten Augen wie Muschelfleisch, Wesen aus Eis und schimmerndem Flitterwerk, Tonzwerge und agile Elfen. Tick-tack-Ruggedo, der Nikolaus mit selbstgemachtem Schneehauch, Blaubart mit flammendem Backenbart, Schwefelwolken, aus denen grüne Feuerspitzen hervorstachen; schließlich kam eine gewaltige schuppige Schlange, ein Drache mit einem Hochofen in seinem Bauch, durch die Tür gerollt und schrie und tickte und bellte und schwieg und blies und erzeugte einen seltsamen Hauch. Zehntausend Kistendeckel fielen zu. Der Uhrenladen zog in das Haus von Ascher ein. Die Nacht war verzaubert.

Ein warmer Hauch strich über das Land. Die Gästeraketen landeten; sie verbrannten den Himmel und ließen den Herbst zu Frühling werden.

Männer in Abendkleidung verließen die Raketen, und ihre Frauen folgten ihnen, die Frisuren sorgfältig aufgetürmt.

»Das ist also Ascher!«

»Aber wo ist die Tür?«

In diesem Augenblick erschien Stendahl. Die Frauen lachten und redeten durcheinander. Mr. Stendahl hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Er wandte sich um, blickte zu einem hohen Schloßfenster auf und rief:

»Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter!«

Und oben lehnte sich ein wunderschönes Mädchen in den Nachtwind und ließ ihr goldenes Haar herab. Und das Haar faserte auseinander und wurde zu einer Leiter, auf der die Gäste lachend in das Haus stiegen.

Welch berühmte Soziologen! Welch kluge Psychologen! Welch außerordentlich wichtige Politiker, Bakteriologen und Neurologen! Da standen sie, eingeschlossen von dumpfen Mauern.

»Seien Sie herzlich willkommen, Sie alle!«

Mr. Tryon, Mr. Owen, Mr. Dunne, Mr. Lang, Mr. Steffen, Mr. Fletcher und zwei Dutzend mehr.

»Kommen Sie herein, kommen Sie!«

Miß Gibbs, Miß Pope, Miß Churchill, Miß Blunt, Miß Drummond und zahlreiche andere Frauen in strahlender Aufmachung.

Wichtige, sehr wichtige Leute waren das, Mitglieder der Gesellschaft zur Verbannung fantastischer Literatur, Befürworter des Verbots von Hexennacht und Guy-Fawkes-Tag, Fledermausmörder, Bücherverbrenner, Stützen der Moral; gute, saubere Bürger, sie alle -Bürger, die gewartet hatten, bis die letzten toten Marsianer fortgeräumt und begraben waren, bis die Städte erbaut und die Landstraßen repariert und alles sicher gemacht worden war. Dann erst, nachdem ein großes Maß an Sicherheit erreicht war, kamen die Spielverderber, die Menschen mit Quecksilber in den Adern und jodfarbenen Augen; sie kamen, um ihre Moralprinzipien zu verfechten und jedermann ihre Vorstellung des Guten aufzudrängen. Und sie waren seine Freunde! Ja, umsichtig hatte er jede dieser Persönlichkeiten im letzten Jahr auf der Erde kennengelernt und sich zum Freund gemacht!

»Willkommen in den Landen des Todes!« rief er.

»Hallo, Stendahl, was soll das alles?«

»Sie werden sehen. Ziehen Sie sich um. Sie finden die Kabinen hier drüben. Ziehen Sie die Kostüme an, die darin auf Sie warten. Männer auf dieser Seite, Frauen auf der anderen.«

Die Leute sahen sich unsicher an.

»Ich weiß nicht, ob wir bleiben sollen«, sagte Miß Pope. »Das alles gefällt mir nicht. Es ist fast wie - Blasphemie.«

»Unsinn - ein Kostümball!«

»Kommt mir trotzdem unrecht vor.« Mr. Steffens rümpfte die Nase.

»Nun stellen Sie sich nicht so an!« Stendahl lachte. »Vergnügen Sie sich! Morgen ist alles vorbei. Gehen Sie in die Kabinen!«

Das Haus sprühte vor Farbe und Leben; Harlekine rannten hin und her mit ihren Schellenkappen, und weiße Mäuse tanzten winzige Quadrillen zur Musik von Zwergen, die mit ihren winzigen Bögen über winzige Geigen strichen, und Flaggen flatterten an verkohlten Balken, während dunkle Wolken von Fledermäusen vor gähnenden Öffnungen schwebten, aus denen Wein hervorströmte - kühler, köstlicher, schäumender Wein. Ein Bach zog sich durch die sieben Räume des Maskenballs. Man nippte daran und stellte fest, daß er aus Sherry war. Die Gäste strömten aus den Kabinen, in ein anderes Zeitalter versetzt, die Gesichter hinter Dominos verborgen, wobei schon das Aufsetzen der Maske ihnen das Recht nahm, mit Fantastik und Horror zu hadern. Die Frauen schwebten in roten Kleidern durch die Räume und lachten, die Männer tanzten formvollendet. Und an den Wänden lauerten Schatten, deren Ursprung nicht zu erkennen war, und hier und dort hingen Spiegel, in denen sich nichts spiegelte. »Vampire, wir alle!« lachte Mr. Fletcher. »Tot!«

Sieben Räume gab es, von verschiedener Farbe - einer war blau, der andere purpur, der dritte grün, der vierte orange, dann ein weißer Raum, der sechste war violett und der siebente mit schwarzem Samt ausgeschlagen, und im schwarzen Raum stand eine ebenholzschwarze Uhr, die laut die Stunden schlug. Durch all diese Räume eilten die Gäste, nun doch betrunken, und mischten sich unter die mechanischen Fantasiegestalten, mischten sich unter die Haselmäuse und verrückten Hutmacher, die Trolle und Riesen, die schwarzen Katzen und weißen Königinnen, und unter ihren tanzenden Füßen vibrierte der Fußboden im Rhythmus eines gewaltigen, verborgenen, gefährlichen Herzschlags.

»Mr. Stendahl!«

Ein Flüstern.

»Mr. Stendahl!«

Ein Ungeheuer mit einem Totenkopf erschien an seiner Seite. Es war Pikes. »Ich muß Sie allein sprechen.«

»Was ist?«

»Hier.« Pikes öffnete seine Skeletthand. Halb zerschmolzene Zahnräder und Bolzen lagen darin.

Stendahl betrachtete sie lange. Dann zog er Pikes in einen Korridor. »Garrett?« flüsterte er.

Pikes nickte. »Er hat vertretungsweise einen Roboter geschickt. Ich habe eben erst den Verbrenner gereinigt und dabei das gefunden.«

Eine Zeitlang starrten die beiden auf die verhängnisvollen Zahnräder.

»Das bedeutet, daß die Polizei jeden Augenblick hier sein kann«, sagte Pikes. »Unser Plan ist hin.«

»Ich weiß nicht.« Stendahl warf einen Blick auf die durcheinanderwirbelnden gelb und blau und orange gekleideten Menschen. Die Musik schwebte durch die vernebelten Räume. »Ich hätte ahnen müssen, daß Garrett so klug war, nicht persönlich zu kommen. Aber Moment mal!«

»Was ist?«

»Nichts. Nichts ist los. Garrett hat uns einen Roboter geschickt, und wir haben ihm einen zurückgeschickt. Wenn er nicht gerade genau hinschaut, wird er den Austausch gar nicht bemerken.«

»Natürlich!«

»Und dann kommt er bestimmt persönlich, nachdem er nun annehmen muß, daß keine Gefahr besteht. Er könnte praktisch jeden Augenblick erscheinen, höchstpersönlich! Hol mehr Wein, Pikes!«

Die große Glocke schlug an.

»Ich wette mit Ihnen, daß er das schon ist. Gehen Sie und lassen Sie Mr. Garrett herein.«

Rapunzel ließ ihr goldenes Haar hinab.

»Mr. Stendahl?«

»Mr. Garrett? Der echte Mr. Garrett?«

»Genau der.« Garrett betrachtete mißtrauisch die modrigen Wände und das ausgelassene Fest. »Ich dachte, ich sehe mir Ihren Fall mal persönlich an. Auf Roboter kann man sich ja nicht verlassen. Besonders nicht auf die Roboter anderer Leute. Ich habe auch vorsichtshalber gleich ein Abbruchkommando bestellt. Sie sind in einer Stunde hier und zerlegen diesen fürchterlichen Laden in seine Einzelteile.«

Stendahl verbeugte sich. »Vielen Dank für Ihre Ankündigung.« Er machte eine Handbewegung. »Bis es soweit ist, können Sie unser Schauspiel noch genießen. Etwas Wein?«

»Nein, vielen Dank. Was geht hier eigentlich vor? Wie tief kann ein Mensch noch sinken?«

»Sehen Sie sich’s doch an, Mr. Garrett.«

»Mord«, sagte Garrett.

»Ein schändlicher Mord«, sagte Stendahl.

Eine Frau schrie. Miß Pope kam angerannt; ihr Gesicht war kreidebleich. »Etwas Entsetzliches ist passiert! Ich habe gesehen, wie Miß Blunt von einem Affen erwürgt und in den Kamin gestopft wurde!«

Sie blickten hinüber und sahen das lange gelbe Haar aus dem Rauchfang hängen. Garrett schrie auf.

»Entsetzlich!« schluchzte Miß Pope und hörte plötzlich auf zu weinen. Sie blinzelte und wandte sich verblüfft um. »Miß Blunt!«

»Ja«, sagte Miß Blunt, die hinter ihr stand.

»Aber ich habe doch eben gesehen, wie Sie in den Kamin gestopft wurden!«

»Nein!« lachte Miß Blunt. »Das war nur ein Roboter mit meinen Zügen. Eine gute Nachbildung!«

»Aber. aber.«

»Weinen Sie nicht, mein Schatz. Ich bin heil und gesund. Lassen Sie mal sehen. Da bin ich ja wirklich. Im Kamin. Wie Sie schon sagten. Ist das nicht lustig?«

Und Miß Blunt ging lachend weiter.

»Möchten Sie etwas trinken, Garrett?«

»Ich glaube schon. Das hat mich doch ziemlich erschüttert. Mein Gott, was für ein Haus! Das verdient es wirklich, eingerissen zu werden. Einen Moment dachte ich. «

Garrett leerte sein Glas.

Wieder ertönte ein Schrei. Mr. Steffen wurde von vier weißen Kaninchen eine Treppe hinabgetragen, die wie durch Zauber im Fußboden erschien. In eine Grube wurde Mr. Steffen geschafft, wo er gefesselt auf die rasiermesserscharfe Klinge eines großen Pendels starrte, das jetzt über ihm aufblitzte, immer tiefer ausschlug und seinem mißhandelten Körper immer näher rückte.

»Bin ich das da unten?« fragte Mr. Steffen dicht neben Garrett. Er beugte sich vor. »Seltsam, sich selbst sterben zu sehen.«

Das Pendel vollführte eine letzte Schwingung.

»Wie realistisch«, sagte Mr. Steffen und wandte sich ab.

»Noch einen Drink, Mr. Garrett?«

»Ja, bitte.«

»Es dauert nicht mehr lange. Das Abbruchkommando muß jeden Augenblick eintreffen.«

»Gott sei Dank!«

Und wieder ein Schrei, zum drittenmal.

»Was ist denn jetzt?« fragte Garrett aufgescheucht.

»Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte Miß Drummond. »Schaut.«

Und eine zweite Miß Drummond, eine laut schreiende Miß Drummond wurde in einen Sarg eingeschlossen und in einer ausgehobenen Grube unter dem Fußboden beerdigt.

»Also, daran erinnere ich mich«, sagte der Beamte der Moralbehörde atemlos. »Das stammt aus den alten verbotenen Büchern. Die Beerdigung bei lebendigem Leibe. Und das andere da auch, die Grube und das Pendel, und der Affe und der Kamin - natürlich, die Morde in der Rue Morgue. Aus einem Buch, das ich verbrannt habe, ja!«

»Noch einen Drink, Garrett. Na, halten Sie schon Ihr Glas still.«

»Mein Gott, Sie haben vielleicht eine Fantasie!«

Sie standen da und sahen zu, wie fünf weitere Menschen starben -einer im Schlund eines Drachens und vier andere in der Schwärze des Burggrabens.

»Würde es Sie interessieren, zu sehen, was wir für Sie vorgesehen haben?« fragte Stendahl.

»Natürlich«, sagte Garrett. »Kommt’s noch darauf an? Wir jagen den Laden sowieso gleich in die Luft. Entsetzlich!«

»Dann kommen Sie mit. Hier entlang.«

Und er führte Garrett durch eine Falltür im Fußboden in die Tiefe, durch zahlreiche Gänge, über Wendeltreppen immer tiefer hinab in die Erde, in die Katakomben.

»Was wollen Sie mir da unten zeigen?« fragte Garrett.

»Ihren Tod.«

»Eines Doppelgängers?«

»Ja. Und noch etwas anderes.«

»Was denn?«

»Den Amontillado«, sagte Stendahl und ging voraus; dabei hielt er eine helle Laterne hoch. Skelette ragten unter Sargdeckeln hervor, reglos. Garrett hielt sich mit angeekelt verzogenem Gesicht die Nase zu.

»Den was?«

»Haben Sie noch nie vom Amontillado gehört?«

»Nein.«

»Erkennen Sie das denn nicht?« Stendahl deutete auf eine Zelle.

»Sollte ich das?«

»Oder das hier?«

Stendahl holte lächelnd eine Maurerkelle unter seinem Umhang hervor.

»Was ist das für ein Ding?«

»Kommen Sie«, sagte Stendahl.

Sie betraten die Zelle. Im Dunkel legte Stendahl dem Halbbetrunkenen Ketten an.

»Um Gottes willen, was machen Sie?« rief Garrett und rasselte mit seinen Fesseln.

»Ich übe mich in Ironie. Sie dürfen einen Mann nicht unterbrechen, wenn er gerade ironisch ist, das wäre nicht höflich. Fertig!«

»Sie haben mich in Ketten gelegt!«

»Na und?«

»Was haben Sie vor?«

»Ich lasse Sie allein.«

»Sie machen Witze.«

»Ein guter Witz, ja.«

»Wo ist mein Doppelgänger? Sehen wir nicht, wie er umgebracht wird?«

»Es gibt keinen Doppelgänger.«

»Aber die anderen?« »Die anderen sind tot. Die da umgebracht wurden, das waren die echten Leute. Die Doppelgänger, die Roboter, standen oben bei uns und sahen zu.«

Garrett schwieg.

»Jetzt müßten Sie sagen: >Um Gottes willen, Montresor!<«, sagte Stendahl. »Und ich antworte dann: >Ja, um Gottes willen.< Sagen Sie mir das? Los, sagen Sie’s schon!«

»Sie Narr.«

»Muß ich Sie noch überreden? Sagen Sie’s. Sagen Sie: >Um Gottes willen, Montresor!<«

»Ich tu’s nicht, Sie Idiot. Lassen Sie mich raus!« Er war ernüchtert.

»Hier. Setzen Sie das auf.« Stendahl warf einen Gegenstand in die Zelle, der beim Auftreffen schepperte.

»Was ist das?«

»Eine Narrenkappe. Setzen Sie sie auf, und ich lasse Sie vielleicht frei.«

»Stendahl!«

»Aufsetzen, hab ich gesagt!«

Garrett gehorchte. Die Glöckchen bimmelten.

»Haben Sie nicht das Gefühl, daß das alles schon einmal passiert ist?« fragte Stendahl und macht sich mit Kelle und Mörtel und Mauersteinen ans Werk.

»Was tun Sie da?«

»Ich mauere Sie ein. Da hätten wir schon die erste Reihe. Und jetzt die zweite.«

»Sie sind ja verrückt!«

»Da widerspreche ich nicht.«

»Man wird Sie belangen!«

Er klopfte gegen einen Stein und setzte ihn summend auf den nassen Mörtel.

Jetzt ertönte Trampeln und Klopfen und Schreien aus der dunkler werdenden Zelle. Die Reihen der Steine stiegen höher. »Mehr Rasseln bitte«, sagte Stendahl. »Wir wollen die Sache doch möglichst echt machen.«

»Lassen Sie mich raus, lassen Sie mich raus!«

Eine letzte Lücke klaffte offen. Das Schreien hörte nicht auf.

»Garrett?« rief Stendahl leise. Garrett wurde still. »Garrett«, sagte Stendahl. »Wissen Sie, warum ich Ihnen das antue? Weil Sie Mr. Poes Bücher verbrannt haben, ohne sie wirklich gelesen zu haben. Sie haben sich mit dem Hinweis anderer Leute begnügt, daß sie verbrannt werden müßten. Denn wenn Sie sie gelesen hätten, wäre Ihnen beim Betreten der Zelle sofort klar gewesen, was ich mit Ihnen vorhatte. Unkenntnis ist verhängnisvoll, Mr. Garrett.«

Garrett schwieg.

»Ich möchte die Sache aber ganz perfekt machen«, sagte Stendahl und hielt seine Laterne hoch, deren Licht auf die zusammengesunkene Gestalt fiel. »Läuten Sie leise mit Ihren Schellen.« Die Glocken bimmelten. »Und wenn Sie jetzt bitte sagen würden: >Um Gottes willen, Montresor<, dann lasse ich Sie vielleicht raus.«

Der Mann hob das Gesicht ins Licht. Er zögerte. Dann sagte er mit verzerrtem Gesicht: »Um Gottes willen, Montresor.«

»Aah«, sagte Stendahl mit geschlossenen Augen. Er schob den letzten Stein an seinen Platz und mauerte ihn fest.

»Requiescat in pace, lieber Freund.«

Hastig verließ er die Katakomben.

In den sieben Räumen ließ der mitternächtliche Schlag einer Uhr jede Bewegung erstarren.

Der rote Tod züngelte auf.

Stendahl wandte sich in der Tür um und schaute noch einen Augenblick zu. Dann verließ er im Laufschritt das große Haus und rannte über den Graben zu einem wartenden Hubschrauber.

»Fertig, Pikes?«

»Fertig!«

»Da sinkt es hin!«

Lächelnd schauten sie auf das große Haus hinab. Wie von einem Erdbeben geschüttelt, begann es sich in der Mitte zu teilen, und während Stendahl das großartige Schauspiel verfolgte, hörte er Pikes hinter sich mit leiser Stimme aufsagen:

»>.mir schwindelte der Kopf, als die Mauern wie Vorhänge auseinander flogen - da erscholl ein langes tumultartiges Gegröl, wie die Stimmen von tausend Wassern - und der unergründliche klamme Pfuhl zu meinen Füßen schloß sich mürrisch und schweigend über den Trümmern des HAUSES ASCHER<.«

Der Hubschrauber stieg über dem dampfenden See auf und flog nach Westen.

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