Irgendwie kam Mama auf den Gedanken, daß die Familie vielleicht Spaß an einem Angelausflug hätte. Aber das waren nicht Mamas Worte; Timothy wußte das. Es waren Paps Worte, die Mama nur aus irgendeinem Grunde für ihn vorbrachte.
Paps trat unruhig auf den marsianischen Kieseln hin und her und stimmte zu. Sofort gab es ein großes Durcheinander und Geschrei, und in Windeseile wurde das Lager in Kapseln und Behälter verstaut, Mama zog ihre Wanderhose und eine Bluse an, Paps stopfte sich mit zitternder Hand seine Pfeife, die Augen zum marsianischen Himmel gerichtet, und die drei Jungen drängten sich schreiend in das Motorboot, wobei sie Mama und Paps gar nicht anschauten; nur Timothy blickte zurück.
Paps bewegte einen Hebel. Das Motorboot schickte ein Summen zum Himmel. Das Wasser teilte sich, das Boot glitt dahin, und die Familie schrie: »Hurra!«
Timothy saß hinten im Boot neben Paps. Er hatte seine kleine Hand auf die großen behaarten Finger seines Vaters gelegt und sah zu, wie sich der Kanal krümmte und wie die kahle Stelle zurückblieb, wo sie mit ihrer kleinen Familienrakete nach der langen Reise von der Erde gelandet waren. Er erinnerte sich an den Abend vor dem Start, das Hasten und Eilen, die Rakete, die Paps irgendwo gefunden hatte, und das Gerede von einem Ferienaufenthalt auf dem Mars. Ein langer Anlauf für einen Urlaub, aber Timothy hatte wegen seiner jüngeren Brüder nichts gesagt. Nun waren sie da, und als erstes - so sagten die Eltern jedenfalls - wollten sie zum Angeln fahren.
Paps hatte einen seltsamen Ausdruck in den Augen, während das Boot kanalaufwärts führ, einen Ausdruck, den Timothy nicht enträtseln konnte. Es war ein entschlossener Ausdruck, in dem vielleicht auch Erleichterung zu finden war. Ein Ausdruck, der den tiefen Falten in Paps Gesicht etwas Fröhliches gab, so daß es nicht sorgenvoll oder traurig aussah.
Und schon verschwand die sich langsam abkühlende Rakete hinter einer Biegung des Kanals und war nicht mehr zu sehen.
»Wie weit fahren wir?« Robert tauchte eine Hand ins Wasser. Sie sah aus wie eine kleine Krabbe, die im violetten Wasser dahinsprang.
Paps atmete aus. »Eine Million Jahre.«
»Mann!« sagte Robert.
»Schaut mal, Jungens.« Mutter hob den Arm. »Eine tote Stadt.«
Sie starrten in erregter Spannung hinüber, und die tote Stadt war tot nur für sie, und sie träumte im heißen Schweigen eines marsianischen Sommers, der von einem marsianischen Wettergott gemacht wurde.
Und Paps sah aus, als ob er froh wäre, daß die Stadt tot war.
Sie war eine sinnlose Aneinanderreihung rosafarbener Felsen, die auf einem Sandhügel schlummerten, ein paar umgestürzte Säulen, ein einsamer Tempel, und dann wieder die Wüste. Meilenweit alles eine weiße Wüste zu beiden Seiten des Kanals, eine blaue Wüste darüber.
In diesem Augenblick flog ein Vogel auf. Wie ein Stein, der in einen blauen Teich geworfen wird und tief hinabsinkt und verschwindet.
Paps schreckte auf, als er das Tier erblickte. »Dachte schon, es sei eine Rakete.«
Timothy starrte in den tiefen Ozeanhimmel und versuchte alles zu sehen - die Erde und den Krieg und die zerstörten Städte und die Menschen, die einander seit dem Tag ihrer Geburt getötet hatten. Aber es war nichts zu sehen. Der Krieg war so fern und sinnlos wie der Todeskampf von Fliegen hoch oben in der Kuppel einer großen alten Kathedrale.
William Thomas wischte sich den Schweiß von der Stirn und spürte Timothys kleine Hand auf seinem Arm wie eine junge aufgeregte Tarantel. Er sah seinen Sohn strahlend an. »Wie fühlst du dich, Timmy?«
»Prima, Paps.«
Timothy war sich noch nicht klar darüber, was den gewaltigen erwachsenen Mechanismus neben ihm bewegte, diesen Mann mit der großen sonnenverbrannten Hakennase, von der sich die Haut abschälte, und mit den heißen blauen Augen wie achatfarbene Murmeln, mit denen man auf der Erde im Sommer nach der Schule spielte, und mit den langen dicken Säulenbeinen in den weiten Reithosen.
»Wohin schaust du so gespannt, Paps?«
»Ich habe nach irdischer Logik ausgeschaut, nach gesundem Menschenverstand, nach einer guten Regierung, nach Frieden und V erantwortungsgefühl.«
»Und das alles soll es da oben geben?«
»Nein. Ich hab’s nicht gefunden. Das gibt es da oben nicht mehr. Vielleicht kommt es auch nie wieder. Vielleicht haben wir uns die ganze Zeit nur etwas vorgemacht, und es hat nie existiert.« »Wie?«
»Sieh mal, ein Fisch«, sagte Paps und hob den Arm.
Alle drei Jungen stimmten ein helles Geschrei an und verdrehten sich die dünnen Hälse nach dem Tier und versetzten dabei das Boot in wilde Schwankungen. Laute Ooohs und Aaahs waren zu hören. Ein silberner Fisch schwamm langsam vorbei und wand sich träge hin und her, und sein Maul schloß sich wie eine Iris um die Nahrungspartikel, die er in sich aufnahm.
Paps betrachtete den Fisch. Seine Stimme war tief und leise.
»Das ist wie der Krieg. Der Krieg schwimmt auch so dahin, entdeckt etwas zu fressen, öffnet das Maul, und im nächsten Augenblick - ist die Erde verschwunden.«
»William«, sagte Mama.
»Entschuldige«, sagte Paps.
Sie saßen schweigend im Boot und spürten das kühle spiegelglatte Wasser des Kanals vorüberströmen. Die einzigen Geräusche waren das Summen des Motors, das Gleiten des Boots, die Sonne, die die Luft ausdehnte.
»Wann sehen wir Marsianer?« rief Michael.
»Vielleicht schon bald«, sagte der Vater. »Möglicherweise heute abend.«
»Die Marsianer sind doch aber eine tote Rasse«, sagte Mama.
»Nein, das sind sie nicht. Ich zeige dir ein paar, keine Sorge«, sagte Paps nach einiger Zeit.
Als er das hörte, runzelte Timothy die Stirn, ohne jedoch etwas zu sagen. Es war alles so seltsam. Dieser Urlaub und die Angelfahrt und das Ausschauhalten nach Marsianern.
»Wie sehen sie denn aus?« wollte Michael wissen.
»Du wirst sie schon erkennen, wenn du sie siehst«, sagte Paps und stieß ein seltsames Lachen aus, und Timothy sah an seinem Hals eine Ader pulsieren.
Mutter war schlank und zart und trug ihr goldgesponnenes Haar zu einer Tiara aufgetürmt. Ihre Augen hatten die Farbe des tiefen, kühlen Kanals, wo er im Schatten lag - eine fast purpurne Farbe, mit Bernsteinflecken durchsetzt. Man konnte ihre Gedanken in ihren Augen herumschwimmen sehen wie Fische - helle und dunkle, schnelle, dahinzuckende Gedanken und auch langsame, leichte Gedanken, und manchmal, wenn sie zur Erde aufschaute, war in ihren Augen nur Farbe und nichts als Farbe. Sie saß am Bug des Boots; eine Hand hatte sie auf die Bordkante gelegt, während die andere im Schoß ihrer dunkelblauen Hose ruhte, und ihr Hals schwang in einer sanften, braungebrannten Linie aus, wo ihre Bluse sich wie eine weiße Blume öffnete.
Sie schaute immer wieder nach vorn, was es dort zu sehen gab, und wenn sie es nicht deutlich genug erkannte, blickte sie ihren Mann an und sah das gleiche Bild als Reflex in seinen Augen. Und da in diesem Spiegelbild auch ein Teil seiner selbst mitschwang, eine feste Entschlossenheit, entspannte sich ihr Gesicht, und sie akzeptierte das Bild und wandte sich wieder nach vorn und wußte plötzlich, wonach sie Ausschau halten mußte.
Auch Timothy schaute. Aber er sah nur die bleistiftdünne schnurgerade Linie des Kanals, violett, in einem weiten flachen Tal, das auf beiden Seiten von niedrigen, zerklüfteten Hügeln gesäumt war. Und der Kanal führte immer weiter - an Städten vorbei, die wie ein leerer Totenschädel klappern mußten, wenn er sie schütteln würde. Hundert oder zweihundert Städte, die an den heißen Tagen und in den kühlen Nächten ihren Sommerträumen nachhingen.
Sie hatten Millionen Meilen zurückgelegt für diesen Ausflug -angeblich zum Angeln. Aber es hatte an Bord der Rakete auch ein Gewehr gegeben. Es waren Ferien. Aber warum dann all die Nahrungsmittel, die zehn, zwanzig Jahre lang reichen würden und jetzt bei der Rakete versteckt lagen? Ferien? Im Hintergrund dieser Ferienreise schwebte kein befreites, fröhliches Lachen, sondern etwas Hartes und Knochiges und womöglich Erschreckendes. Timothy wußte den Schleier des Geheimnisses nicht zu lüften, und die beiden anderen Jungen waren viel zu sehr damit beschäftigt, zehn und acht Jahre alt zu sein.
»Noch keine Marsianer. Blöd.« Robert stemmte sein spitzes Kinn in die Hände und starrte düster über den Kanal.
Paps hatte ein Radio mitgebracht, das an seinem Handgelenk festgeschnallt war. Es funktionierte nach einem altmodischen Prinzip: man drückte es gegen die Knochen hinter dem Ohr, und es übermittelte einem die Vibrationen der Sprache oder der Musik. Paps lauschte. Sein Gesicht glich einer der alten zerfallenen Marsstädte - es war ausgehöhlt, ausgetrocknet, fast tot. Schließlich gab er das Gerät an Mama weiter. Sie öffnete erschreckt den Mund.
»Was.«, wollte Timothy fragen, doch er konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen.
Da ertönten zwei gewaltige, markerschütternde Explosionen, die immer lauter zu werden schienen und dann von einem halben Dutzend kleinerer Detonationen abgelöst wurden.
Paps riß den Kopf hoch und schaltete abrupt auf eine höhere Geschwindigkeit. Das Boot machte einen Satz und preschte holpernd und zitternd los. Der Ruck erschreckte Robert, während Michael angstvolle, aber auch begeisterte Schreie ausstieß und sich an Mamas Beinen festklammerte, während der nasse Strom des Wassers an seiner Nase vorbeirauschte.
Paps schwenkte das Boot herum, drosselte die Geschwindigkeit und steuerte es in einen kleinen Seitenkanal an eine abbröckelnde Steinmole, die nach verwesendem Krabbenfleisch roch.
Das Boot lief so stark auf, daß alle nach vorn geworfen wurden, doch niemand verletzte sich. Paps hatte sich bereits umgedreht, um zu sehen, ob die aufgeworfenen Wellen ihr Versteck verraten konnten, doch sie beleckten nur die Ufersteine, fielen zurück, trafen aufeinander und beruhigten sich, im Sonnenlicht flimmernd. Dann war alles vorüber.
Paps lauschte. Die anderen taten es ihm nach.
Paps Atem hallte wie Faustschläge von den kalten, nassen Steinen wider. Im Schatten blieben Mamas Katzenaugen unentwegt auf Vater gerichtet und lauerten auf einen Hinweis, auf den nächsten Schritt.
Paps atmete erleichtert auf, schlug sich an die Stirn und lachte.
»Die Rakete natürlich. Bin ich schreckhaft! Die Rakete!«
Michael fragte: »Was ist geschehen, Paps, was ist geschehen?«
»Oh, wir haben gerade unsere Rakete in die Luft gejagt, das ist alles«, erklärte Timothy und versuchte seiner Stimme einen gelangweilten Tonfall zu geben. »Ich habe schon andere Raketen explodieren hören. Das war unsere.«
»Warum haben wir unsere Rakete explodieren lassen?« fragte Michael. »Warum, Paps?«
»Das gehört zum Spiel, du Dummkopf!« sagte Timothy.
»Ein Spiel!« Das Wort gefiel Michael und Robert sehr.
»Paps hat dafür gesorgt, daß sie hochging, damit niemand weiß, wo wir gelandet sind oder wohin wir verschwunden sind! Ich meine, falls mal jemand nach uns sucht, verstehst du?«
»Mann, ein Geheimnis!« »Von meiner eigenen Rakete erschreckt«, sagte Paps zu Mama. »Ich bin wirklich ganz schön nervös. Es ist doch Blödsinn, anzunehmen, daß hier noch Raketen auftauchen - abgesehen von einer vielleicht, wenn Edward und seine Frau mit ihrem Schiff durchkommen.«
Wieder hob er das winzige Radio ans Ohr. Nach zwei Minuten ließ er seine Hand sinken, und es war eine Bewegung, als wollte er einen alten Putzlappen wegwerfen.
»Es ist endgültig vorbei«, sagte er zu Mama. »Die Sendungen haben gerade aufgehört. Der letzte weltweite Sender ist verstummt. In den letzten Jahren waren es sowieso nur noch wenige. Jetzt ist es absolut still im Äther. Wahrscheinlich wird es auch so bleiben.«
»Für wie lange?« fragte Robert.
»Vielleicht - vielleicht werden deine Urenkel oder Ururenkel wieder Radio hören«, sagte Paps. Er saß da, und die Kinder ließen sich von seiner Furcht und Resignation und Ergebenheit anstecken.
Schließlich lenkte er das Boot wieder auf den Kanal hinaus, und sie setzten ihren Weg fort.
Es wurde spät. Schon stand die Sonne tief am Himmel, und eine Reihe toter Städte erstreckte sich vor ihnen.
Paps wandte sich behutsam an seine Söhne. Früher war er ihnen in seiner energischen Art oft sehr fern gewesen, aber heute berührte er sie zart mit seinen Worten, sie spürten es deutlich.
»Mike, such dir eine Stadt aus.«
»Was, Paps?«
»Such dir eine Stadt aus, mein Sohn. Irgendeine von den Städten, an denen wir vorbeikommen.«
»Gut«, sagte Michael. »Aber wie mach ich das?«
»Du mußt die nehmen, die dir am besten gefällt. Robert und Tim, ihr auch. Sucht euch die Stadt aus, die euch am besten gefällt.«
»Ich möchte eine Stadt mit Marsianern drin«, sagte Michael.
»Die bekommst du auch«, sagte Paps. »Ich versprech’s dir.« Seine Lippen formten Worte für die Kinder, seine Augen sprachen zu Mama.
In den nächsten zwanzig Minuten kamen sie an sechs Städten vorüber. Paps kam nicht wieder auf die Explosion zu sprechen; es schien ihm viel mehr daran zu liegen, sich mit seinen Söhnen zu vergnügen und sie bei Laune zu halten.
Michael gefiel bereits die erste Stadt, die vorüberzog, aber alle sprachen sich dagegen aus, weil sie schnellen Entschlüssen mißtrauten.
Die zweite Stadt fand keinen Anklang. Sie war eine irdische Siedlung aus Holz und vermoderte bereits. Timothy mochte die dritte Stadt, weil sie groß war. Die vierte und fünfte Stadt waren zu klein, während die sechste den Beifall aller fand; selbst Mutter war begeistert und schloß sich den Ausrufen Ach, wie schön! und Seht doch mal an.
Fünfzig oder sechzig riesige Gebäude standen noch, die Straßen waren schmutzig, aber gepflastert, und auf den Plätzen pulsierten sogar einige Zentrifugalfontänen. Sie waren das einzige Lebenszeichen - Wasser, das im Abendlicht tanzte.
»Das ist die Stadt«, sagten alle.
Paps steuerte das Boot an einen Kai und sprang an Land.
»Da wären wir. Die Stadt gehört uns. Hier leben wir von nun an.«
»Von nun an?« fragte Michael ungläubig. Er stand auf und sah sich um und schaute blinzelnd in die Richtung, aus der sie gekommen waren und wo die Rakete gestanden hatte. »Was ist mit der Rakete? Was ist mit Minnesota?«
»Hier«, sagte Paps.
Er nahm das kleine Radio und drückte es an Michaels Kopf. »Hör mal.«
Michael lauschte.
»Nichts«, sagte er.
»Eben. Nichts. Überhaupt nichts mehr. Kein Minneapolis, keine Raketen, keine Erde.«
Michael überdachte die schlimme Offenbarung und begann trocken zu schluchzen.
»Moment«, sagte Paps sofort. »Dafür bekommst du aber eine ganze Menge zum Ausgleich, Mike!«
»Was?« Michael hielt neugierig die Tränen zurück, bereit, sofort weiterzumachen, wenn Paps neue Offenbarung so beunruhigend ausfallen sollte wie die erste.
»Ich schenke dir diese Stadt. Sie gehört dir.«
»Mir?«
»Dir, Robert und Timothy, euch ganz allein.«
Timothy sprang aus dem Boot. »Schaut her, Leute, das alles ist für uns! Das alles!« Er machte beim Spiel seines Vaters mit; er spielte es in großem Stil und ganz vorzüglich. Wenn alles vorüber und wieder in Ordnung war, dann konnte auch er sich zehn Minuten fortstehlen und weinen. Aber im Augenblick war alles noch ein Spiel, war es noch ein Familienausflug, und die anderen Kinder mußten bei der Stange gehalten werden.
Mike sprang zusammen mit Robert an Land. Sie halfen Mama beim Austeigen.
»Paßt auf euer Schwesterchen auf«, sagte Paps, aber sie wußten nicht, was er meinte.
Sie eilten in die große Stadt aus rosafarbenen Steinen, und sie unterhielten sich nur im Flüsterton, denn tote Städte regen stets zum Flüstern an oder zum Betrachten eines Sonnenuntergangs.
»In etwa fünf Tagen«, sagte Paps leise, »fahre ich zu der Stelle zurück, wo unsere Rakete gestanden hat, hole die Lebensmittel aus dem Versteck in den Ruinen und bringe sie her. Anschließend suche ich nach Bert Edwards und seiner Frau und seinen Töchtern.«
»Töchter?« fragte Timothy. »Wie viele?«
»Vier.«
»Das gibt mal Schwierigkeiten«, sagte Mama und nickte langsam.
»Mädchen?« Michael machte ein Gesicht wie eine uralte marsianische Steinfigur. »Mädchen!« sagte er geringschätzig.
»Kommen sie auch in einer Rakete?«
»Ja. Wenn sie es schaffen. Familienraketen sind eigentlich nur für Flüge zum Mond gedacht, nicht zum Mars. Wir haben Glück gehabt.«
»Woher hattest du die Rakete?« flüsterte Timothy; die anderen Jungen waren vorausgelaufen.
»Ich hatte sie versteckt, zwanzig Jahr lang, Tim. Ich versteckte sie in der Hoffnung, daß ich sie nie würde benutzen müssen. Eigentlich hätte ich sie der Regierung zum Kriegseinsatz aushändigen müssen, aber ich mußte immer wieder an den Mars denken.«
»Und an das Picknick!«
»Ja. Behalt das für dich. Als ich erkannte, daß es auf der Erde zu Ende ging, wartete ich noch bis zum letzten Moment, ehe wir starteten. Bert Edwards hatte ebenfalls ein Schiff versteckt, aber wir kamen überein, daß es vernünftiger wäre, getrennt zu starten, falls uns jemand abschießen wollte.«
»Warum hast du die Rakete in die Luft gejagt, Paps?«
»Damit wir niemals zurückkehren können. Und damit die bösen Menschen von der Erde nicht wissen, daß wir hier sind, wenn sie je zum Mars kommen.«
»Schaust du deshalb andauernd in den Himmel?«
»Ja, eine dumme Angewohnheit. Sie werden uns nicht folgen, niemals. Denn sie haben nichts, womit sie fliegen könnten. Ich bin nur übervorsichtig.«
Michael kam zurückgerannt. »Ist das wirklich unsere Stadt, Paps?«
»Kinder, uns gehört der ganze verdammte Planet. Der ganze verdammte Planet.«
Und da standen sie, Könige der Berge, Herrscher aller Reußen, Herrscher über das Land, soweit sie schauen konnten, unantastbare Monarchen und Präsidenten, und versuchten zu verstehen, was es bedeutete, eine Welt zu besitzen - und welch riesige Welt außerdem!
In der dünnen Atmosphäre zog schnell die Nacht herauf, und Paps ließ seine Familie auf dem Platz bei der sprudelnden Fontäne allein, ging zum Boot und kehrte mit einem dicken Papierstapel zurück.
Er warf die Papiere unachtsam auf einen alten Hof und steckte sie in Brand. Die Familie rückte möglichst nahe an das Feuer heran und lachte, und Timothy sah die kleinen Buchstaben wie erschreckte Tiere davonhüpfen, als die Flammen sie berührten und umschlossen. Das Papier schrumpfte ein wie die Haut alter Menschen, und das Feuer fraß unzählige Worte:
»Staatliche Anleihe; Entwicklungstrends 1999; Religiöse Vorurteile: ein Essay; Die logistischen Wissenschaften; Probleme der Panamerikanischen Union; Börsenbericht für den 3. Juli 1998; Das Kriegshandbuch. «
Paps hatte darauf bestanden, die Papiere mitzunehmen - einzig und allein für diesen Zweck. Er hockte am Boden und schob sie zufrieden ins Feuer, eins nach dem anderen, und er erklärte seinen Kindern, was das alles bedeutete.
»Es wird Zeit, daß ich euch einiges erkläre. Vermutlich war es nicht fair, euch soviel vorzuenthalten. Ich weiß nicht, ob ihr es überhaupt versteht, aber ich muß mich mal aussprechen, selbst wenn ihr mich nicht ganz begreift.«
Er ließ eine Handvoll Blätter ins Feuer fallen.
»Ich verbrenne hier einen Lebensstil, so wie dieser Lebensstil in diesem Augenblick auch auf der Erde von den Flammen ergriffen wird. Verzeiht mir, wenn ich wie die Politiker rede. Immerhin bin ich ein ehemaliger Gouverneur, der wegen seiner Ehrlichkeit gehaßt wurde. Das Leben auf der Erde hat zu keinem Zeitpunkt etwas wirklich Gutes bewirkt. Die Wissenschaften eilten uns zu schnell davon, und die Menschen gingen in dem selbstgeschaffenen technischen Dschungel verloren wie Kinder, die sich an schönen Dingen erfreuten, an mechanischen Spielsachen, Hubschraubern, Raketen; sie betonten die falschen Dinge, legten das Schwergewicht auf die Maschinen und übten sich nicht in der Kunst, diese Maschinen zu bedienen. Die Kriege wurden immer schrecklicher und haben die Erde schließlich zugrunde gerichtet. Das hat es mit dem stummen Radio also auf sich. Und davor sind wir geflohen.
Wir haben Glück gehabt. Es gibt nicht mehr viele Raketen. Langsam müßt ihr euch klar darüber werden, daß dies kein Angelausflug ist. Ich habe meine Erläuterungen lange hinausgeschoben. Die Erde gibt es nicht mehr. Mit der interplanetarischen Raumfahrt ist es für Jahrhunderte vorbei, vielleicht sogar für immer. Schuld daran trägt dieser Lebensstil, der sich als falsch erwiesen hat und der schließlich von eigener Hand starb. Ihr seid jung. Ich werde euch diese Wahrheit jeden Tag wiederholen, bis ihr sie wirklich begriffen habt.«
Er schwieg und schob neues Papier ins Feuer.
»Jetzt sind wir allein. Wir und eine Handvoll andere, die in ein paar Tagen landen werden. Ihre Zahl ist groß genug, um von vorn anzufangen. Um dem Vergangenen auf der Erde den Rücken zu kehren und einen neuen Weg zu beschreiten.«
Das Feuer loderte auf, wie um seine Worte zu unterstreichen. Schließlich war nur noch ein Blatt übrig. All die Gesetze und Überzeugungen der Erde waren zu einem kleinen heißen Aschehaufen verbrannt, der bald vom Wind verstreut sein würde.
Timothy betrachtete das letzte Blatt, das Paps jetzt in die Flammen warf. Es war eine Weltkarte, und sie schrumpfte ein und faltete sich zusammen und war - pfuusch! - verschwunden wie ein warmer, schwarzer Schmetterling. Timothy wandte sich ab.
»Und jetzt zeige ich euch die Marsianer«, sagte Paps. »Kommt, ihr alle. Komm, Alice.« Er nahm sie bei der Hand.
Michael weinte laut vor sich hin, und Paps nahm ihn auf den Arm, und sie gingen zwischen den Ruinen hindurch zum Kanalufer.
Der Kanal. Das Wasser, auf dem ihre künftigen Frauen morgen oder übermorgen in Booten ankommen würden, kichernde kleine Mädchen in Begleitung ihrer Väter und Mütter.
Die Nacht senkte sich herab, und die ersten Sterne tauchten auf. Die Erde konnte Timothy nicht finden. Sie war bereits untergegangen. Das war etwas, über das er nachdenken mußte.
Ein Nachtvogel schrie zwischen den Ruinen. Paps sagte: »Eure Mutter und ich werden versuchen, euch zu erziehen und zu bilden. Vielleicht gelingt es uns nicht, was ich nicht hoffen will. Wir haben nun wirklich Gelegenheit gehabt, die Augen offenzuhalten und zu lernen. Wir hatten diese Reise schon vor Jahren geplant, schon vor eurer Geburt. Selbst wenn es keinen Krieg gegeben hätte, wären wir wohl eines Tages auf den Mars gekommen, um hier zu leben und uns eigene Ziele zu setzen. Es hätte sicher noch ein Jahrhundert gedauert, ehe auch der Mars durch die irdische Zivilisation verseucht worden wäre. Jetzt jedoch.«
Sie erreichten den Kanal. Er war lang und gerade und kühl und naß und nachtschimmernd.
»Ich wollte schon immer einen Marsianer sehen«, sagte Michael. »Wo sind sie, Paps? Du hast uns welche versprochen.«
»Da sind sie«, sagte Paps, und er hob Michael auf seine Schulter und zeigte nach unten.
Und da waren die Marsianer. Timothy begann zu zittern.
Die Marsianer blickten sie an - Spiegelbilder im Wasser des Kanals. Timothy und Michael und Robert und Mama und Paps.
Und von der gekräuselten Wasseroberfläche starrten die Marsianer lange, lange Zeit stumm zu ihnen herauf.