Sie wohnten in einem Haus aus Kristallsäulen am Ufer eines leeren Sees auf dem Planeten Mars, und jeden Morgen konnte man Frau K sehen, wie sie die goldenen Früchte erntete, die an den kristallenen Wänden wuchsen, oder wie sie das Haus mit magnetischem Staub putzte, den sie mit den Händen ausstreute und der dann vom heißen Wind davongetragen wurde und den Schmutz mitnahm. Am Nachmittag, wenn der versteinerte See reglos in der Hitze dalag und die Weinbäume wie erstarrt im Hof standen und die kleine marsianische Stadt sich abgekapselt hatte und niemand vor die Tür trat, dann hielt sich Herr K in seinen Gemächern auf und las in einem metallenen Buch, dessen Schrift reliefartig in die Seiten geprägt war und über die er wie ein Harfenspieler leicht mit der Hand hinwegstrich. Die Bewegung seiner Finger ließ eine Stimme aus dem Buch erklingen, eine sanfte alte Stimme, die die längst vergangenen Zeiten besang, als noch rote Dämpfe aus dem See gegen die Ufer wallten und längst dahingegangene Helden mit Heeren von Metallinsekten und elektrischen Spinnen in die Schlacht gezogen waren.
Herr und Frau K lebten nun schon zwanzig Jahre am Ufer des toten Sees, und ihre Vorfahren hatten in demselben Haus gewohnt, das sich schon seit zehn Jahrhunderten drehte und wie eine Sonnenblume stets der Sonne zuwandte.
Herr und Frau K waren nicht alt. Sie hatten die reine, bräunliche Haut der Marsianer, die typischen gelben Augen und die sanfte melodische Stimme. Früher hatte es ihnen Spaß gemacht, Feuerbilder zu malen, oder in den Kanälen zu schwimmen, wenn die Weinbäume sie mit grüner Flüssigkeit füllten, oder im Sprechzimmer vor den blauen Phosphor-Porträts zu sitzen und sich zu unterhalten, bis es dunkel wurde.
Nun waren sie nicht mehr glücklich.
An diesem Morgen stand Frau K zwischen den Säulen und blickte hinaus in die Wüste, beobachtete, wie der Sand sich erhitzte, zu gelbem Wachs verschmolz und den Horizont auszulöschen schien.
Etwas würde geschehen.
Sie wartete.
Sie beobachtete den blauen Marshimmel, als rechnete sie jeden Augenblick damit, daß er sich zusammenziehen und ein schimmerndes Wunder auf dem Sand absetzen könnte.
Doch nichts geschah.
Des Wartens müde, ging sie zwischen den beschlagenen Säulen spazieren. Ein feiner Regen strömte von den ausschwingenden Enden der Säulen herab, kühlte die trockene Luft. Frau K fühlte, wie die Nässe sanft ihre Haut berührte. An solchen heißen Tagen schien man im Haus wie in einem Bach zu waten; über den Fußböden rannen schimmernde, kühle Ströme. Sie hörte, wie ihr Mann in seinem Zimmer geduldig das Buch spielte; seine Finger wurden der alten Gesänge niemals müde. Insgeheim wünschte sie sich, daß er auch einmal wieder soviel Zeit mit ihr verbringen und sie wie eine Harfe halten und berühren würde -soviel Zeit, wie er seinen unglaubwürdigen Büchern widmete.
Aber nein. Sie schüttelte den Kopf - eine unmerkliche, verzeihende Bewegung. Die Lider senkten sich über ihre goldenen Augen. Die Ehe nützt uns ab und läßt uns alt werden, auch wenn wir noch jung sind.
Sie legte sich in einen Stuhl, der sich ihrem Körper anpaßte, noch während sie sich zurechtlegte. Nervös kniff sie die Augen zusammen.
Da ereignete sich der Traum.
Ihre braunen Finger zitterten, griffen in die Luft. Einen Augenblick später führ sie erschrocken hoch.
Sie atmete schwer und blickte sich hastig um, als erwartete sie, jemanden zu sehen. Sie schien enttäuscht, als der Raum zwischen den Säulen leer war.
Ihr Mann erschien in der dreieckigen Tür. »Hast du gerufen?« fragte er gereizt.
»Nein!« antwortete sie.
»Ich dachte, ich hätte dich rufen gehört.«
»Wirklich? - Ich bin eingenickt und habe geträumt.«
»Am hellichten Tag? Das passiert dir nicht oft.«
Sie machte ein Gesicht, als habe ihr der Traum einen Schock versetzt. »Seltsam, wie seltsam«, murmelte sie. »Der Traum.«
»So?« Es zog ihn offensichtlich zu seinem Buch zurück.
»Ich habe von einem Mann geträumt.«
»Einem Mann?«
»Einem großen Mann, ein Meter dreiundachtzig groß.«
»Wie absurd! - Ein Riese, eine Mißgeburt!« »Irgendwie.« sie wählte ihre Worte vorsichtig, »sah er gar nicht absonderlich aus. Obwohl er so groß war. Und er hatte - ja, ich weiß, du wirst das für albern halten - er hatte blaue Augen!«
»Hat man schon so etwas gehört? Blaue Augen!« sagte Her K kopfschüttelnd. »Was du dir zusammenträumst! Vielleicht hatte er sogar schwarzes Haar, wie?«
»Woher weißt du das?« fragte sie überrascht.
»Ich habe nur die unwahrscheinlichste Farbe genannt«, erwiderte er unbewegt.
»Es war tatsächlich schwarz!« rief sie. »Und er hatte eine sehr weiße Haut; er sah ganz ungewöhnlich aus! Er trug eine seltsame Uniform, und er kam vom Himmel herab und hat sich freundlich mit mir unterhalten.« Sie lächelte.
»Vom Himmel? - Was für ein Unsinn!«
»Er kam in einem Ding aus Metall, das in der Sonne glitzerte«, erinnerte sie sich. Sie schloß die Augen, um das Bild wieder heraufzubeschwören. »Im Traum sah ich den Himmel, und da blitzte etwas auf wie eine Münze, die man in die Luft geworfen hat, und plötzlich wurde es größer, schwebte lautlos herab und landete, ein langes silbernes Gebilde, rund und fremd. An seiner Flanke öffnete sich eine Tür, und der große Mann trat heraus.«
»Wenn du mehr arbeiten würdest, hättest du keine so albernen Träume«, warf er ein.
»Mir hat der Traum Spaß gemacht«, erwiderte sie und lehnte sich zurück. »Ich wußte nicht, daß ich soviel Fantasie habe. Schwarzes Haar, blaue Augen und weiße Haut! Was für ein seltsamer Mann, und doch. Er sah gut aus.«
»Wunschdenken.«
»Jetzt bist du ungerecht. Ich habe ihn mir nicht absichtlich ausgedacht; er ist mir nur so in den Sinn gekommen. Es war gar nicht wie sonst beim Träumen - sondern ganz unerwartet und irgendwie anders. Er schaute mich an und sagte: >Ich bin Nathaniel York.. .<.«
»Ein blödsinniger Name; überhaupt kein Name«, warf er ein.
»Natürlich ist es kein sinnvoller Name, es ist doch auch nur ein Traum«, versuchte sie zu erklären. »Und er sagte: >Wir haben die erste Reise durch das All unternommen. Wir sind nur zu zweit in unserem Schiff, ich und mein Freund Bert<.«
»Noch so ein blödsinniger Name.«
»Und er sagte: >Wir kommen aus einer Stadt auf der Erde; das ist der Name unseres Planeten<«, fuhr Frau K unbeirrt fort. »Ja, das hat er gesagt: Erde. Das war der Name. Und er sprach in einer unbekannten Sprache, aber irgendwie verstand ich ihn doch. Es muß wohl Telepathie gewesen sein.«
Herr K wandte sich ab, doch mit einem Wort hielt sie ihn zurück. »Yll?« rief sie leise. »Fragst du dich nicht auch manchmal, ob. nun, ob es Lebewesen auf dem dritten Planeten gibt?«
»Der dritte Planet kann kein Leben tragen«, erwiderte ihr Mann geduldig. »Unsere Wissenschaftler haben festgestellt, daß die Atmosphäre des dritten Planeten viel zuviel Sauerstoff enthält.«
»Aber wäre es nicht faszinierend, wenn es dort wirklich Leute gäbe? Und wenn sie in einer Art Schiff durch das All reisten?«
»Ylla! Du weißt, wie ich diese Gefühlsduseleien hasse. Gehen wir lieber wieder an die Arbeit.«
Es war spät am Nachmittag, als sie auf ihren Wanderungen zwischen den Säulen das Lied zu singen begann. Immer wieder begann sie die Melodie.
»Was ist das für ein Lied?« fragte ihr Mann, als er sich zu ihr an den Feuertisch setzte.
»Ich weiß es nicht.« Sie blickte auf, erstaunt über sich selbst.
Sie hob überrascht die Hand an den Mund. Die Sonne ging unter. Mit dem hereinbrechenden Abend begann sich das Haus wie eine riesige Blume auf die Nacht vorzubereiten. Ein Windhauch sprang zwischen den Pfeilern auf, der Feuertisch ließ seine silbrige Lava aufsprudeln. Der Wind spielte in Frau Ks rotbraunem Haar. Schweigend blickte sie über die weite Ebene des Seegrundes, als ob sie sich etwas ins Gedächtnis zurückrufen müsse; in ihren feuchten gelben Augen lag ein sanfter Ausdruck. »Trink mir nur mit den Augen zu, kein Wort brauchst du zu sagen«, sang sie leise. »Laß’ mir einen Kuß am Glas, nach Wein werd’ ich nicht fragen.« Sie summte die Melodie und bewegte mit geschlossenen Augen ihre Hände kaum merklich im Wind. Schließlich war das Lied zu Ende.
Es war sehr schön.
»Noch nie gehört, dieses Lied. Hast du es dir selbst ausgedacht?« fragte er mit zusammengekniffenen Augen.
»Nein. Ja. Nein, ich weiß es nicht, wirklich!« Sie stockte. »Ich kenne nicht einmal die Worte; sie stammen aus einer anderen Sprache!«
»Aus was für einer Sprache?«
Geistesabwesend ließ sie Fleischstücke in die brodelnde Lava fallen. »Ich weiß es nicht.« Nach kurzer Zeit zog sie das Fleisch gar wieder heraus, legte es auf einen Teller und stellte es vor ihn hin. »Ist wohl’ nur etwas Verrücktes, das ich mir da ausgedacht habe. Weiß auch nicht, warum.«
Er schwieg. Er beobachtete, wie sie die Fleischstücke in das zischende Feuerbecken tauchte. Die Sonne war untergegangen. Langsam, ganz langsam kroch die Nacht heran und erfüllte den Raum, verschluckte die Pfeiler und die beiden Gestalten, wie dunkler Wein, der sich über sie ergoß. Nur der Schimmer der Silberlava erhellte ihre Gesichter.
Wieder begann sie das seltsame Lied zu summen.
Er sprang verärgert auf und verließ den Raum.
Später beendete er schweigend sein Abendessen. Als er dann aufgestanden war, reckte er sich, sah sie an und schlug gähnend vor. »Fliegen wir doch mit den Flammenvögeln in die Stadt und sehen uns ein Stück an!«
»Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte sie.
»Was ist denn so seltsam an meinem Vorschlag?«
»Wir sind seit sechs Monaten nicht mehr aus dem Haus gewesen!«
»Deshalb halte ich es für einen guten Gedanken.«
»Auf einmal bist du so besorgt?« fragte sie.
»Also was ist nun?« erwiderte er mürrisch. »Möchtest du oder möchtest du nicht?«
Sie blickte hinaus in die Wüste, die vom fahlen Licht der Zwillingsmonde erhellt wurde. Kaltes Wasser umspielte ihre Zehen. Sie zitterte und spürte einen Anflug von Angst. Gern wäre sie einfach sitzengeblieben, schweigend, reglos, bis das Ereignis eintrat, auf das sie den ganzen Tag gewartet hatte; ein Ereignis, das eigentlich gar nicht möglich war, das aber trotzdem nahte. Ein Fetzen des Liedes ging ihr durch den Sinn.
»Ich.«
»Wird dir gut tun«, drängte er. »Komm schon!«
»Ich bin müde«, sagte sie. »Ein andermal.« »Hier ist dein Schal.« Er reichte ihr eine Phiole. »Wir sind seit Wochen nicht mehr aus dem Hause gewesen.«
»Nur du - zweimal in der Woche in Xi-City.« Sie sah ihn nicht an.
»Geschäfte«, erklärte er.
»Ach?« sagte sie leise.
Aus der Phiole strömte eine Flüssigkeit, verwandelte sich in einen blauen Nebel und legte sich sanft um ihren Hals.
Die Flammenvögel warteten wie ein Häufchen glühender Kohlen auf dem glatten Sand. Der weiße Baldachin, der durch tausend grüne Bänder mit den Vögeln verbunden war, blähte sich im Nachtwind und flappte leise.
Ylla lehnte sich zurück, und auf ein Kommando ihres Mannes sprangen die Vögel funkensprühend in den dunklen Himmel. Die Bänder strafften sich, das Fahrzeug wurde angehoben. Pfeifend glitt es über dem Sand dahin; die blauen Hügel trieben vorüber, ihr Haus blieb zurück, die wassersprühenden Säulen, die Blumen in ihren Käfigen, die singenden Bücher, die flüsternden Bäche. Sie sah ihren Mann nicht an. Sie hörte seine Kommandos an die Vögel, die wie zehntausend heiße Funken höher stiegen, wie gelbrote Feuerwerkskörper am Himmel hin und her zuckten, brennend durch den Wind fegten und den Baldachin wie ein Blütenblatt hinter sich her zogen. Sie blickte nicht zu den toten Städten hinab, die unter ihnen vorüberglitten, nicht zu den alten Kanälen, gefüllt mit Leere und Träumen. Über ausgetrocknete Flüsse und ausgetrocknete Seen flogen sie dahin wie der Schatten des Mondes, wie eine brennende Fackel.
Sie hatte nur Augen für den Himmel.
Der Mann sagte etwas.
Sie betrachtete den Himmel.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Nein.«
»Warum hörst du mir nicht zu?« fragte er gereizt.
»Ich habe nachgedacht.«
»Heute scheint dich der Himmel mehr als alles andere zu interessieren!« sagte er. »Ich habe nicht gewußt, daß du eine Naturfreundin bist.«
»Er ist sehr schön.« »Ich überlege gerade«, sagte ihr Mann nachdenklich, »ob ich heute abend Hulle anrufen sollte. Ich möchte arrangieren, daß wir ein paar Tage in die Blauen Berge fahren - vielleicht für eine Woche. «
»Die Blauen Berge?« Sie hielt sich mit einer Hand am Rand des Baldachins fest und wandte sich hastig zu ihm um.
»Es ist ja nur ein Vorschlag.«
»Wann willst du fahren?« fragte sie mit bebenden Lippen.
»Ich habe gedacht, daß wir vielleicht morgen früh gleich. Du weißt, man soll den Tag früh beginnen.«
»Aber wir fahren doch sonst nie zu Anfang des Jahres!«
»Nun ja, dieses eine Mal, ich dachte mir eben.« Er lächelte. »Es wird uns sicher gut tun, einmal Pause zu machen, etwas anderes zu sehen; Frieden und Stille - du weißt schon. Du hast doch nicht etwa andere Pläne? Wir fahren doch, ja?«
Sie atmete tief, zögerte einen Augenblick und erwiderte dann: »Nein!«
»Was?« Sein Aufschrei erschreckte die Vögel. Das Fahrzeug begann zu schaukeln.
»Nein«, sagte sie entschlossen. »Ein für allemal. Ich komme nicht mit.«
Er betrachtete sie, und sie schwiegen beide. Sie wandte sich ab.
Die Vögel flogen weiter, zehntausend Feuerbrände im Wind.
In der Morgensonne, die durch die Kristallsäulen schimmerte, begann sich der Nebel aufzulösen, auf dem die schlafende Ylla ruhte. Die ganze Nacht hindurch hatte sie so über dem Boden geschwebt, gestützt von dem weichen Nebel, der beim Schlafengehen aus den Wänden strömte. Die ganze Nacht hatte sie auf diesem stillen Fluß geschlafen wie ein Boot auf reglosen Wassern. Jetzt begann sich der Nebel aufzulösen, sie sank langsam herab und wurde behutsam am Ufer des Erwachens abgesetzt. Sie öffnete die Augen.
Ihr Mann beugte sich über sie. Er schien schon stundenlang vor ihr gestanden und sie beobachtet zu haben. Sie wußte nicht, warum, aber sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen.
»Du hast wieder geträumt!« sagte er streng. »Du hast im Schlaf gesprochen, so daß ich nicht schlafen konnte. Du solltest zum Arzt gehen!«
»Mir fehlt nichts.«
»Du hast im Schlaf eine ganze Menge geredet!« »Wirklich?« Sie machte Anstalten, aufzustehen.
Die Morgendämmerung lag kühl im Zimmer. Leise Trauer erfüllte sie.
»Was hast du geträumt?«
Es wollte ihr nicht sofort einfallen, und sie mußte einen Augenblick überlegen. »Das Schiff. Es ist wieder vom Himmel herabgekommen und gelandet, und der große Mann trat heraus und unterhielt sich mit mir, erzählte mir lustige Dinge und lachte. Es war sehr nett.«
Herr K berührte eine Säule. Dampfendes heißes Wasser sprudelte hervor, verdrängte die Kühle. Herr K machte ein undurchdringliches Gesicht.
»Und dann«, fuhr sie fort, »hat mir der seltsame Mann, der Nathaniel York hieß, gesagt, daß ich schön sei, und hat mich - geküßt.«
»Ach?« sagte ihr Mann und wandte erregt sein Gesicht ab.
»Es war doch nur ein Traum«, sagte sie belustigt.
»Deine dummen Träume interessieren mich nicht!«
»Du benimmst dich wie ein Kind.« Sie ließ sich zurücksinken auf die dünnen Reste des Nebels. Einen Augenblick später lachte sie leise. »Mir ist noch mehr von dem Traum eingefallen«, gestand sie.
»Na, was denn? Los, sag schon!« rief er.
»Yll, warum bist du so aufgebracht?«
»Sag’s schon!« verlangte er. »Oder hast du Geheimnisse vor mir!« Mit dunklem, starrem Gesicht stand er über sie gebeugt.
»So habe ich dich noch nie erlebt«, erwiderte sie erschrocken und amüsiert zugleich. »Es ist doch nichts passiert! Dieser Nathaniel York hat mir gesagt - nun ja, er hat mir gesagt, daß er mich in seinem Schiff mitnehmen würde, hinauf in den Himmel und zurück zu seinem Planeten. Das ist natürlich alles lächerlich, nur ein Traum.«
»Lächerlich - allerdings!« Er schrie es fast. »Du hättest dich hören sollen - wie du dich an ihn geworfen hast, mit ihm geflüstert, und geschäkert und gesungen hast, bei den Göttern, die ganze Nacht hindurch! Du hättest dich sehen und hören sollen!«
»Yll!«
»Wann landet er? Wann kommt er mit seinem verdammten Schiff?«
»Yll, sprich leiser!«
»Leiser? - Ich denke nicht daran!« Er beugte sich über sie. »Und wie war das in deinem Traum«, er packte ihr Handgelenk.
»Das Schiff ist drüben im Grünen Tal gelandet, stimmts? - Antworte!«
»J-ja, aber.«
»Und es landet heute nachmittag, nicht wahr?« drängte er.
»Ja, ja, ich glaube schon, ja aber doch nur in meinem Traum!«
»Nun«, er ließ ihr Handgelenk los, »es ist gut, daß du wenigstens die Wahrheit sagst. Ich habe jedes Wort gehört, das du im Schlaf gesagt hast. Du hast vom Tal gesprochen und auch von der Landezeit.«
Schweratmend stand er zwischen den Säulen wie ein Mann, der vom Blitz geblendet ist. Langsam beruhigte er sich. Sie beobachtete ihn. Er benahm sich wie ein Wahnsinniger. Schließlich stand sie auf und trat neben ihn. »Yll«, flüsterte sie.
»Mir fehlt nichts.«
»Du bist krank.«
»Nein.« Er rang sich ein müdes Lächeln ab. »Nur kindisch. Verzeih mir, Liebling.« Er tätschelte sie unbeholfen. »Ich habe in der letzten Zeit zuviel gearbeitet. Es tut mir leid. Ich lege mich ein wenig hin.«
»Du warst außer dir.«
»Es ist wieder alles in Ordnung. Alles.« Er seufzte. »Vergessen wir die Sache. Weißt du, ich habe da gestern einen Witz über Uel gehört, den ich dir erzählen wollte. Was hältst du davon, das Frühstück zu machen, während ich dir den Witz erzähle? Und. davon reden wir nicht mehr. Einverstanden?«
»Es war doch auch nur ein Traum.«
»Natürlich.« Er küßte sie flüchtig auf die Wange. »Nur ein Traum.«
Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Hügel flimmerten im hellen Licht.
»Fährst du nicht in die Stadt?« fragte Ylla.
»Stadt?« Er hob träge die Augenbrauen.
»An diesem Tag fährst du doch sonst immer.« Sie rückte einen Blumenkäfig auf seinem Podest zurecht. Die Blumen bewegten sich und öffneten ihre hungrigen gelben Mäuler.
Er schloß sein Buch. »Nein. Es ist zu heiß und außerdem schon zu spät. Es ist schon Mittag.«
»Ja«, sagte sie, beendete ihre Arbeit und ging zur Tür. »Ich bin bald zurück.«
»Moment mal! Wo willst du hin?«
Leichtfüßig huschte sie über die Schwelle und drehte sich um. »Zu Pao. Sie hat mich eingeladen.«
»Heute?«
»Ich habe sie lange nicht besucht.«
»Pao wohnt drüben im Grünen Tal, nicht wahr?«
»Ja, nur ein kleiner Spaziergang. Ich dachte, ich.« Sie hatte sehr schnell gesprochen und kam nun ins Stocken.
»Es tut mir leid«, sagte er und lief ihr nach, um sie zurückzuhalten; dabei machte er ein Gesicht, als bedauerte er zutiefst seine Vergeßlichkeit. »Ich habe völlig vergessen, dir zu sagen, daß ich Dr. Nlle für heute nachmittag eingeladen habe.«
»Dr. Nlle?«
Er faßte sie am Ellbogen und zog sie ins Haus zurück.
»Ja.«
»Aber Pao.«
»Pao kann warten, Ylla. Wir müssen uns um Dr. Nlle kümmern.«
»Nur ein paar Minuten. «
»Nein, Ylla!«
»Nein?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Außerdem ist der Weg zu Pao hinüber durchs Grüne Tal und dann am großen Kanal entlang fürchterlich weit und anstrengend. Außerdem würde sich Dr. Nlle sicher sehr freuen, wenn du hier wärst.«
Sie antwortete nicht, wollte sich losreißen und davonlaufen, wollte schreien, aber sie saß nur still in ihrem Stuhl, bewegte langsam die Finger und betrachtete sie ausdruckslos; sie war gefangen.
»Ylla?« flüsterte er. »Du bleibst doch hier, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie leise nach langem Schweigen. »Ich bleibe hier.«
»Den ganzen Nachmittag?«
»Den ganzen Nachmittag.«
Der Tag war schon weit fortgeschritten, und Dr. Nlle hatte sich noch immer nicht sehen lassen. Herrn K schien das nicht sonderlich zu überraschen. Es wurde immer später. Plötzlich stand er auf, trat an einen Schrank und holte eine seiner Waffen heraus, eine lange gelbliche Röhre, die in einem Beutel mit einem Gebläse und einem Abzug endete. Er trug eine Maske vor dem Gesicht, eine ausdruckslose gehämmerte Maske aus Silber - die Maske, die er stets trug, wenn er seine Gefühle verbergen wollte, die Maske, die sich den hageren Linien seines Kinns, seiner Wangen und seiner Stirn exakt anpaßte. Die Maske glitzerte in der Sonne; in der Hand hielt er eine Waffe und betrachtete sie prüfend. In dem Beutel summten Insekten. Schwärme schrecklicher goldener Bienen konnten durch das Gebläse abgeschossen werden: ein schrilles Geräusch, und sie stürzten sich wutentbrannt ins Ziel, stachen zu und verspritzten ihr Gift, um dann wie Samenkörner tot in den Sand zu fallen.
»Wohin gehst du?« fragte sie.
Er lauschte auf das bösartige Summen in dem Beutel und sagte: »Ich habe keine Lust, länger auf Nlle zu warten. Ich gehe ein wenig auf die Jagd. Bin bald zurück. Du bleibst hier, ja?« Die Silbermaske schimmerte.
»Ja.«
»Und sag Dr. Nlle, daß ich bald zurückkomme. Ich gehe nur ein wenig auf die Jagd.«
Die dreieckige Tür schloß sich hinter ihm. Seine Schritte verhallten. Sie beobachtete, wie er durch den Sonnenschein stapfte, und folgte ihm mit den Blicken, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann machte sie sich an ihre Hausarbeit, streute magnetischen Staub aus und pflückte die Früchte von den Kristallwänden. Sie arbeitete zielstrebig und konzentriert, doch gelegentlich überkam sie eine gewisse Trägheit, und sie ertappte sich dabei, wie sie das seltsame Lied sang und an den Kristallsäulen empor zum Himmel starrte.
Sie hielt den Atem an, stand ganz still und wartete.
Es kam näher.
Jeden Augenblick konnte es geschehen.
Es war wie an Tagen, da ein Gewitter aufzog. Zunächst die erwartungsvolle Stille, der langsam wachsende atmosphärische Druck des nahenden Unwetters, das in hohen Luftschichten Schatten und Dunstfetzen entstehen läßt. Die Veränderung erzeugt einen Druck in den Ohren, und man wartet beklommen auf die Entladung, wobei die Zeit stillzustehen scheint. Man beginnt vor Erregung zu zittern. Der Himmel wird fleckig und verfärbt sich; die Wolken werden dichter und wachsen; die Flanken der Berge nehmen eine metallische Färbung an. Die Blumen in ihren Käfigen stoßen leise warnende Seufzer aus. Man spürt es in den Haarspitzen kribbeln. Irgendwo im Haus singt fast unhörbar die Stimme der Uhr: »Zeit, Zeit, Zeit, Zeit.« nicht lauter, als wenn Wassertropfen auf Samt fallen.
Und dann das Gewitter: die elektrischen Entladungen, der dunkle Niederschlag und die widerhallende Schwärze beherrschten alles, für ewig.
Ja, so war es. Obwohl ein Gewitter heraufzog, war der Himmel noch klar. Blitzschlag lag in der Luft, doch es war noch keine Wolke zu sehen.
Ylla bewegte sich durch das atemlos wartende Sommerhaus. Jeden Augenblick konnte ein Blitz vom Himmel herabzucken, der Donner rollen, eine Rauchwolke aufsteigen, dann Stille, endlich Schritte auf dem Weg, ein Klopfen an der Kristalltür, und sie würde losrennen, um aufzumachen.
»Verrückte Ylla!« mahnte sie sich. »Warum denkst du dir so verrückte Dinge aus?«
Und da geschah es.
Die Hitze eines großen Feuers wogte durch die Luft. Ein wirbelndes, sausendes Geräusch, dann ein metallisches Aufblitzen am Himmel, Ylla schrie auf.
Sie rannte zwischen den Säulen durch, riß die Tür auf und starrte zu den Hügeln hinüber. Doch dort war nichts zu sehen.
Sie wollte schon den Hang hinabeilen, doch dann zögerte sie, hielt sich zurück. Sie mußte hierbleiben, durfte das Haus nicht verlassen. Der Doktor kam zu Besuch, und ihr Mann würde ärgerlich sein, wenn sie einfach davonlief.
So wartete sie an der Tür, hob die Hand; ihr Atem ging schwer. Sie starrte angestrengt zum Grünen Tal hinüber, aber es war nichts zu erkennen.
Ich bin verrückt, dachte sie und ging wieder ins Haus. Du und deine Fantasie, dachte sie. Es war nur ein Vogel, ein Blatt, ein Windhauch, ein Fisch im Kanal vielleicht. Setz dich und ruh dich aus.
Sie setzte sich.
Ein Schuß dröhnte.
Laut und schrill, der Abschuß der Insektenwaffe.
Sie zuckte bei dem Geräusch zusammen.
Das Fauchen kam von weit her. Nur ein Schuß. Das ferne Geräusch von Bienen. Ein Schuß. Und dann ein zweiter, präzise und kalt, wieder weit entfernt.
Sie fuhr erneut zusammen, und aus irgendeinem Grund sprang sie auf und schrie und schrie und wollte niemals wieder aufhören zu schreien. Außer sich vor Erregung stürzte sie durch das Haus und riß die Tür auf.
Die Echos erstarben, erstarben.
Und waren verklungen.
Mit bleichem Gesicht wartete sie im Hof, fünf Minuten lang. Dann ging sie langsam und mit gesenktem Kopf durch die säulenumstandenen Räume, berührte hier und dort einen Gegenstand, ihre Lippen zitterten. Schließlich setzte sie sich in das dunkel werdende Weinzimmer und wartete. Mit einem Zipfel ihres Schals begann sie ein bernsteinfarbenes Glas auszuwischen.
Und dann, noch weit entfernt, das Geräusch von knirschenden Schritten auf dünnen kleinen Steinen.
Sie erhob sich und blieb in der Mitte des stillen Raums stehen. Ihre Finger ließen das Glas los, es zerschellte am Boden. Die Schritte verhielten vor der Tür.
Sollte sie etwas sagen? Sollte sie rufen: »Komm herein! O komm herein!«?
Sie näherte sich der Tür und stockte wieder.
Die Schritte kamen die Rampe herauf. Eine Hand drehte den Türgriff. Sie lächelte.
Die Tür öffnete sich. Ihr Lächeln erstarb.
Es war ihr Mann. Seine Silbermaske glänzte matt.
Er betrat den Raum und sah sie nur einen Augenblick lang an. Dann ließ er das Gebläse der Waffe aufschnappen, warf zwei tote Bienen aus, sie hörte sie auf den Boden aufklatschen, er zertrat sie und stellte die leere Waffe in eine Ecke, während sich Ylla bückte und erfolglos versuchte, die Scherben des Glases aufzulesen. »Was hast du getan?« fragte sie tonlos.
»Nichts«, sagte er mit abgewandtem Gesicht. Er setzte die Maske ab.
»Aber die Waffe - ich hab’ dich schießen gehört. Zweimal.«
»Hab’ nur ein wenig gejagt. Ab und zu hat man eben Lust dazu. - Ist Dr. Nlle gekommen?«
»Nein.«
»Moment mal.« Er schnippste ärgerlich mit den Fingern. »Jetzt fällt’s mir ein. Er wollte ja erst morgen nachmittag kommen. Wie dumm von mir.«
Sie setzten sich an den Tisch. Sie starrte schweigend ihr Essen an und hatte die Hände in den Schoß gelegt. »Was ist los?« fragte er, ohne den Blick von den Fleischstückchen zu heben, die er in die brodelnde Lava tauchte.
»Ich weiß nicht. Ich habe keinen Hunger«, sagte sie.
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Ich bin nicht hungrig.«
Ein Windhauch erhob sich; die Sonne ging unter. Der Raum war plötzlich eng und von Kälte erfüllt.
»Ich versuche, mich zu erinnern«, sagte sie und sah ihren Mann an, der abweisend, starr und goldäugig ihr gegenübersaß.
»An was?« Er schlürfte seinen Wein.
»An das Lied. An das schöne Lied.« Sie schloß die Augen und summte eine Melodie, aber es war nicht das Lied. »Ich hab’s vergessen. Dabei dachte ich, ich würde es nie vergessen, wollte es nie vergessen. Es ist etwas, an das ich mich immer erinnern möchte.« Sie bewegte die Hände, als könnte ihr der Rhythmus der Bewegung helfen, die Melodie wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Dann lehnte sie sich entmutigt in ihrem Stuhl zurück. »Ich kann mich nicht erinnern.« Sie begann zu weinen.
»Warum weinst du?« fragte er.
»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich bin traurig, aber ich weiß nicht, warum; ich weine und weiß nicht, warum.«
Sie barg den Kopf in den Händen, und ihre Schultern zuckten.
»Morgen ist alles wieder gut«, sagte er.
Sie sah ihn nicht an; sie blickte in die Wüste hinaus und auf die hellschimmernden Sterne, die am schwarzen Himmel erschienen waren, und weit entfernt war das Geräusch des Windes zu hören und des kalten Wassers, das sich in den langen Kanälen bewegte. Zitternd schloß sie die Augen.
»Ja«, sagte sie. »Morgen ist alles wieder gut.«