Juni 2001: Scheint der Mond in heller Pracht

Als sie aus der Rakete in die Nacht hinaustraten, war es so kalt, daß Spender sofort etwas trockenes marsianisches Holz sammelte und ein kleines Feuer anzündete. Von einer Feier sagte er nichts; er las nur Holz auf, zündete es an und beobachtete die Flammen.

In dem Licht, das die dünne Luft über dem ausgetrockneten Marsmeer erhellte, blickte er sich um und sah die Rakete, die die Männer -Kapitän Wilder und Cherokee und Hathaway und Sam Parkhill und ihn selbst - durch das stumme schwarze All der Sterne auf diese tote Traumwelt getragen hatte.

Jeff Spender wartete auf den Lärm. Er beobachtete die anderen und wartete darauf, daß sie herumtollten, die Arme hochwarfen und losbrüllten. Das mußte unweigerlich geschehen, sobald das betäubende Gefühl, auf dem Mars die >ersten< zu sein, abklang. Niemand sagte etwas, aber viele hofften vielleicht, daß die anderen Expeditionen fehlgeschlagen waren und daß diese Landung, die vierte, die entscheidende sein würde. Sie hofften das nicht im Bösen; gleichwohl dachten sie daran, dachten an die Ehre und den Ruhm, während sich ihre Lungen an die dünne Atmosphäre gewöhnten, die einen fast trunken machte, wenn man sich zu schnell bewegte.

Biggs trat an das frisch angezündete Feuer und fragte: »Warum nehmen wir nicht das chemische Feuer aus dem Schiff anstelle des Holzes?«

»Ist doch egal«, sagte Spender ohne aufzusehen.

Es wäre nicht recht, am ersten Abend auf dem Mars ein lautes Geräusch zu machen oder ein seltsames, dummes, helles Ding wie ein Heizgerät in diese Landschaft zu stellen. Das wäre eine Art importierte Blasphemie. Dafür war später noch Zeit; für leere Kondensmilch-Dosen, die in den stolzen Marskanälen schwammen, für Exemplare der New York Times, die über die Einöde der grauen marsianischen Meeresgründe tanzten und raschelten; für Bananenschalen und Picknickreste in den zierlich verästelten Ruinen der uralten marsianischen Städte in den Tälern. Unendlich viel Zeit blieb für diese Dinge. Und bei dem Gedanken durchfuhr ihn ein leiser Schauder.

Er nährte das Feuer, legte mit der Hand nach, und es war wie ein Opfer, das er einem toten Riesen darbrachte. Sie waren auf einem gewaltigen Grab gelandet. Hier war eine Zivilisation gestorben, und es war einfach eine Sache des Anstands, die erste Nacht ruhig zu verbringen.

»Das ist doch keine Feier!« Biggs wandte sich an Kapitän Wilder. »Sir, vielleicht könnten wir Ginrationen ausgeben und die Sache etwas in Schwung bringen.«

Kapitän Wilder blickte zu der toten Stadt hinüber, die eine Meile von ihnen entfernt lag. »Wir sind alle müde«, sagte er leise, als hätte er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Stadt konzentriert und dabei seine Männer vergessen. »Morgen abend vielleicht. Heute sollten wir uns freuen, daß wir die lange Reise durchs All ohne Meteoreinschlag oder Todesfall in der Mannschaft hinter uns gebracht haben.«

Die Männer bewegten sich unruhig. Es waren insgesamt zwanzig, die dicht beieinander standen und ihre Waffen betasteten, die sie am Gürtel trugen. Spender beobachtete sie. Sie waren unzufrieden. Sie hatten für eine große Sache ihr Leben riskiert. Jetzt wollten sie sich betrinken und ihre Waffen abschießen, um sich zu beweisen, was für Kerle sie waren -Kerle, die ein Loch ins All gerissen und in einer Rakete den ganzen Weg zum Mars zurückgelegt harten.

Doch niemand brüllte.

Der Kapitän erteilte leise einen Befehl. Einer der Männer lief ins Schiff und holte Dosenrationen, die leise geöffnet und verteilt wurden. Nun begannen auch die ersten Gespräche. Der Kapitän setzte sich und schilderte den Männern noch einmal die Reise. Sie kannten zwar schon jede Einzelheit, aber es war gut, das alles noch einmal zu hören, etwas, das ein für allemal vorbei und abgetan war. Von der Rückreise wollte noch niemand sprechen; einer kam darauf, wurde jedoch schnell zum Schweigen gebracht. Die Löffel bewegten sich im Licht der beiden Monde; das Essen schmeckte gut und der Wein womöglich noch besser.

Ein Feuerstrahl fuhr über den Himmel, und gleich darauf landete die Hilfsrakete auf der anderen Seite des Lagers. Spender beobachtete, wie sich die kleine Luke öffnete und Hathaway, der Arzt-Geologe -sämtliche Männer versahen Doppelfunktionen, um auf der Reise Platz zu sparen, - heraustrat. Er kam langsam auf den Kapitän zu.

»Nun?« fragte Kapitän Wilder.

Hathaways Blick schweifte zu den fernen Städten, die im Sternenlicht blinkten. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sagte er stockend. »Die Stadt dort drüben, Kapitän, ist tot - und zwar seit vielen tausend Jahren. Das gleiche gilt für die drei Städte in den Bergen. Die fünfte Stadt aber, Sir, zweihundert Meilen weiter.«

»Was ist damit?«

»Da haben noch letzte Woche Leute gelebt, Sir.«

Spender stand auf.

»Marsianer«, sagte Hathaway.

»Wo sind sie jetzt?«

»Tot«, sagte Hathaway. »Ich bin in ein Haus gegangen. Ich glaubte, es wäre seit Jahrhunderten tot und verlassen wie die anderen Städte und Häuser. Mein Gott, aber es waren Leichen darin. Wie ein Haufen Herbstlaub, wie Stöcke und Reste verbrannter Zeitungen, das ist alles. Und noch ganz frisch. Sie waren höchstens zehn Tage tot.«

»Haben Sie auch in anderen Städten nachgeforscht? Haben Sie überhaupt etwas Lebendiges gesehen?«

»Nichts. Ich habe mich in den anderen Städten umgesehen. Von fünf Städten sind vier seit vielen tausend Jahren leer. Was mit den ursprünglichen Einwohnern geschehen ist, weiß ich nicht. Aber in der fünften Stadt fanden wir überall das gleiche. Leichen, Tausende von Leichen.«

»Woran sind sie gestorben?« Spender trat vor.

»Sie werden es mir nicht glauben.«

»Was hat sie umgebracht?«

Hathaway sagte schlicht: »Die Windpocken.«

»Um Gottes willen, nein!«

»Ja. Ich habe Versuche gemacht. Zweifelsfrei Windpocken. Die haben den Marsianern etwas angetan, wogegen die Menschen auf der Erde immun sind. Ihr Metabolismus muß anders reagiert haben. Sie sind schwarz, ausgebrannt und zu zerbrechlichen Fladen vertrocknet. Trotzdem sind es die Windpocken. York oder Kapitän Williams oder Kapitän Black müssen also doch durchgekommen sein, zumindest eine der drei Expeditionen. Gott allein weiß, was aus ihnen geworden ist. Auf jeden Fall wissen wir, welche unbeabsichtigten Folgen ihr Besuch für die Marsianer gehabt hat.«

»Und Sie haben nirgendwo Leben festgestellt?«

»Es besteht die Möglichkeit, daß ein paar Marsianer in die Berge entkommen sind, wenn sie es rechtzeitig gemerkt haben. Aber ich möchte wetten, daß sie zahlenmäßig kein Problem für uns sind. Der Planet ist am Ende.«

Spender wandte sich um, setzte sich ans Feuer und starrte in die Flammen. Windpocken. Himmel, Windpocken, stell dir vor! Eine Rasse entwickelt sich über einen Zeitraum von einer Million Jahren, bildet sich fort, baut Städte wie die dort drüben, tut alles, um in Selbstrespekt und Schönheit leben zu können, und dann stirbt sie. Ein Teil stirbt langsam aus, von Natur, in Würde, vor unserer Ankunft. Aber der Rest? Stirbt die übriggebliebene Marsbevölkerung an einer Krankheit mit einem schönen oder entsetzlichen oder majestätischen Namen? Nein, um alles in der Welt. Ausgerechnet Windpocken müssen es sein, eine Kinderkrankheit, eine Krankheit, an der auf der Erde nicht einmal Kinder sterben! Das ist ungerecht! Das ist nicht fair! Es ist, als wollte man sagen, die Griechen seien an Mumps gestorben oder die Römer an einem Hautausschlag zugrunde gegangen. Wenn wir den Marsianern nur Zeit gelassen hätten, sich selbst auf ihr Totenlager zu betten und sich eine andere, würdevollere Todesursache zu suchen! Eine so dämliche, unscheinbare Krankheit wie die Windpocken kann einfach nicht an ihrem Tod schuld sein! Es paßt nicht zur Architektur; es paßt nicht zu der ganzen Welt!

»Gut, Hathaway, nehmen Sie sich was zu essen.«

»Danke, Kapitän.«

Und damit war es schon vergessen. Die Männer sprachen leise miteinander.

Spender wandte nicht den Blick von der Gruppe. Er hielt den Teller in der Hand und rührte das Essen nicht an. Er spürte, wie das Land ringsum kälter wurde. Die klar schimmernden Sterne rückten näher.

Wenn jemand zu laut sprach, gab der Kapitän seine Antwort so leise, daß die anderen unwillkürlich leiser wurden.

Ein sauberer, frischer Duft lag in der Luft. Spender saß lange Zeit und genoß die Luft und ihre Zusammensetzung. Sie trug viele Gerüche mit sich, die er nicht identifizieren konnte. Sie roch nach Blumen, Chemikalien, Staubkörnern, Wind.

»Und dann das Wochenende in New York, als ich die Blonde hatte, wie hieß sie doch gleich? - Ginnie!« brüllte Biggs. »Das war ein Knüller!«

In Spender verkrampfte sich etwas. Seine Hand begann zu zittern. Seine Augen bewegten sich hinter den dünnen, kahlen Lidern.

»Und da sagt diese Ginnie zu mir.«, rief Biggs.

Die Männer brüllten vor Lachen.

»Also geb’ ich ihr eins über!« rief Biggs, eine Flasche in der Hand.

Spender stellte seinen Teller hin. Er lauschte dem Wind, der ihm über die Ohren strich, kühl und flüsternd. Er betrachtete das funkelnde Eis der weißen Marsgebäude drüben auf dem leeren Meeresgrund.

»Was für eine Frau! Was für eine Frau!« Biggs leerte die Flasche in seinen breiten Mund. »Die tollste Frau, die ich je hatte!«

Biggs Schweißgeruch lag in der Luft. Spender ließ das Feuer ausgehen. »He, fach es wieder an, Spender!« sagte Biggs und sah ihn einen Augenblick von der Seite an, ehe er sich wieder seiner Flasche zuwandte. »Also, eines Abends gehen Ginnie und ich. «

Ein Mann namens Schoenke holte sein Akkordeon hervor und vollführte einen Steptanz, bei dem ringsum der Staub hoch aufwirbelte.

»Juchuu - ich lebe!« brüllte er.

»Jaa!« schrien die Männer. Sie warfen ihre leeren Teller hin. Drei stellten sich nebeneinander und mimten laut scherzend die Chormädchen. Die anderen klatschten in die Hände und brüllten, als wollten sie ein Abenteuer provozieren. Cherokee zog sein Hemd aus, tanzte und zeigte seine verschwitzte nackte Brust. Das Mondlicht lag auf seinem Bürstenhaarschnitt und seinen jungen glattrasierten Wangen.

Auf dem Meeresgrund trieb der Wind dünne Nebel vor sich her, und von den Bergen schauten große Steingesichter auf die silbrige Rakete und das kleine Feuer herab.

Der Lärm wurde noch lauter, noch mehr Männer sprangen auf, jemand blies eine Mundharmonika und ein anderer auf einem Kamm. Es wurden weitere zwanzig Flaschen geöffnet und ausgetrunken. Biggs stolperte hin und her und dirigierte die tanzenden Männer mit wilden Handbewegungen.

»Los, Sir, machen Sie mit!« rief Cherokee dem Kapitän mitten in einem Lied zu.

Der Kapitän mußte mittanzen, obwohl es ihm widerstrebte. Sein Gesicht blieb nüchtern, feierlich. Spender beobachtete ihn und dachte: Du armer Mann, was für eine Nacht! Sie wissen nicht, was sie tun. Man hätte ihnen, ehe sie zum Mars flogen, ein Orientierungsprogramm verpassen sollen, damit sie sich hier ein paar Tage vernünftig bewegen und richtig verhalten konnten.

»Das reicht.« Der Kapitän hörte auf zu tanzen und setzte sich mit der Bemerkung, er wäre erschöpft. Spender warf einen Blick auf die Brust des Kapitäns. Sie bewegte sich nicht sehr schnell. Auch war auf seinem Gesicht kaum Schweiß zu sehen.

Akkordeon, Mundharmonika, Wein, Schreien, Hüpfen, Heulen, Rundtanz, Pfannengeklapper, Gelächter.

Biggs schwankte zum Ufer des Marskanals. Er schleppte sechs leere Flaschen mit und warf sie nacheinander in das tiefblaue Wasser des Kanals. Beim Sinken erzeugten sie leere, hohle, gluckernde Geräusche.

»Ich taufe dich, ich taufe dich, ich taufe dich.«, sagte Biggs mit schwerer Zunge. »Ich taufe dich Biggs, Biggs, Biggs-Kanal.«

Ehe sich jemand rühren konnte, war Spender aufgesprungen und hatte sich über das Feuer hinweg auf Biggs gestürzt. Er versetzte Biggs einen Schlag an den Mund und einen zweiten Schlag aufs Ohr. Biggs verlor das Gleichgewicht und fiel in den Kanal. Nach dem Aufklatschen wartete Spender schweigend darauf, bis Biggs wieder an das steinerne Ufer kroch. Als es soweit war, hatten ihn die anderen Männer bereits gepackt.

»He, was ist denn mit dir los, Spender?« fragten sie.

Biggs arbeitete sich hoch und stand tropfend vor ihm. Er sah die Männer, die Spender festhielten. »Na dann«, sagte er und setzte sich in Bewegung.

»Jetzt reicht’s!« fuhr Kapitän Wilder dazwischen. Die Männer ließen Spender los. Biggs blieb stehen und sah den Kapitän prüfend an.

»Schon gut, Biggs, ziehen Sie sich etwas Trockenes an. Die anderen machen mit der Party weiter. Spender, Sie kommen mit!« sagte er.

Die Männer stürzten sich wieder in ihre Party. Wilder entfernte sich ein Stück von den anderen und wandte sich an Spender. »Vielleicht erklären Sie mir mal, was da eben los war«, sagte er.

Spender schaute zum Kanal hinüber. »Ich weiß nicht. Ich schämte mich. Wegen Biggs und dem Krach - eben unseretwegen. Himmel, was für ein Schauspiel!«

»Es war eine lange Reise. Die Leute müssen sich mal austoben.«

»Wo ist aber ihr Respekt geblieben, Sir? Wo ihr Sinn für das rechte Maß?«

»Spender, Sie sind müde und Sie sehen die Dinge sowieso anders. Macht fünfzig Dollar Strafe.«

»Jawohl, Sir. Mir machte nur der Gedanke zu schaffen, daß die hier sehen, wie närrisch wir uns aufführen.«

»Die?« fragte Wilder verwundert.

»Die Marsianer, ob sie nun tot sind oder nicht.«

»Aber ganz bestimmt sind sie tot«, sagte der Kapitän. »Glauben Sie, daß sie von unserem Besuch wissen?«

»Weiß das Alte nicht stets, wenn etwas Neues kommt?«

»Ja, vermutlich. Man könnte aber fast annehmen, Sie glauben an Geister.«

»Ich glaube an die Dinge, die tatsächlich vollbracht worden sind, und es gibt Beweise für viele vollbrachte Taten auf dem Mars. Es gibt Straßen und Häuser, und ich denke mir, daß es auch Bücher und große Kanäle und Uhren und Gebäude gibt, in denen vielleicht keine Pferde, aber andere Haustiere untergebracht waren - vielleicht mit zwölf Beinen, wer will das wissen? Wohin ich auch schaue, sehe ich Dinge, die in Benutzung gewesen sind. Die jahrhundertelang angefaßt und herumgereicht wurden.

Ja, wenn Sie mich fragen, ob ich an das Wesen der Dinge glaube, die hier in Gebrauch gewesen sind, werde ich das bejahen. Sie sind hier überall. All die Dinge, die einmal einen Zweck hatten. All die Berge, die Namen hatten. Wir werden nichts in Gebrauch nehmen können, ohne dabei ein ungutes Gefühl zu haben. Und irgendwie werden sich die Namen der Berge niemals richtig anhören; wir geben ihnen zwar neue Namen, doch die alten Bezeichnungen sind noch vorhanden, irgendwo in der Zeit verschüttet, und die Berge wurden unter diesen alten Namen geformt und angeschaut. Die Namen, die wir den Kanälen und Bergen und Städten geben, werden vom Wesen des Mars abgleiten wie Wasser vom Gefieder einer Ente. Wie sehr wir auch den Mars in Besitz nehmen werden, wir werden ihn niemals wirklich berühren. Und dann wird uns der Ärger überkommen, und wissen Sie, was wir dann tun? Wir werden ihn umkrempeln, werden ihm die Haut abziehen und ihn nach unseren Bedürfnissen verändern.«

»Wir werden den Mars nicht zugrunde richten«, sagte der Kapitän. »Er ist zu groß und zu gut.«

»Oh, glauben Sie? Wir Menschen haben ein besonderes Talent, große, schöne Dinge zugrunde zu richten. Daß wir nicht mitten im ägyptischen Karnak-Tempel Würstchenbuden errichteten, lag allein daran, daß er zu abgelegen war und keinen wesentlichen kommerziellen Wert hatte. Dabei ist Ägypten nur ein kleiner Teil der Erde. Aber hier ist alles anders, der ganze Planet ist alt und anders, und wir werden uns irgendwo niederlassen und mit der Verpestung beginnen. Wir werden den Kanal Rockefellerkanal und den Berg King-George-Berg und den See den Dupontsee nennen, und es wird Städte geben, die Roosevelt und Lincoln und Coolidge heißen - und das alles wird niemals stimmen, da es eben doch nicht die richtigen Namen für diese Berge und Seen, Kanäle und Städte sind.«

»Das wäre dann Ihre Arbeit als Archäologe. Sie müssen die alten Namen herausfinden, die wir dann gebrauchen werden.«

»Ein paar Leute gegen die ganzen kommerziellen Interessen.« Spender sah zu den eisernen Bergen hinüber. »Die wissen, daß wir heute abend hier sind, um ihre Ruhe zu stören, und ich kann mir vorstellen, daß sie uns hassen.«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Hier gibt es keinen Haß.« Er lauschte in den Wind. »Nach ihren Städten zu urteilen, waren sie ein schönes und philosophisches Volk. Sie akzeptierten, was auf sie zukam. Sie nahmen den Tod ihrer Rasse hin, das wissen wir zumindest, und zwar ohne Verzweiflungskrieg in letzter Minute, der noch ihre Städte in Schutt und Asche gelegt hätte. Bis jetzt ist jede Stadt, die wir gesehen haben, völlig intakt gewesen. Wahrscheinlich stehen sie uns so wenig ablehnend gegenüber wie Kindern, die auf ihrem Rasen spielen und deren Wesen sie kennen und verstehen. Ganz abgesehen davon werden wir vielleicht noch zum Guten verändert.

Haben Sie die seltsame Stille unter den Männern bemerkt, Spender, ehe Biggs ihnen seine Fröhlichkeit aufzwang? Sie sahen recht bescheiden und erschreckt aus. Im Angesicht all dieser Relikte erkennen wir, daß es mit uns gar nicht so weit her ist; wir sind doch nur windelbepackte Kinder, die laut und unbekümmert mit Raketen und Atomen spielen. Aber eines Tages wird auch die Erde so sein wie der Mars heute. Diese Erkenntnis wird uns ernüchtern, eine Lektion in Zivilisation aus erster Hand. Wir werden vom Mars lernen. Und jetzt Kopf hoch und zurück ins lustige Spiel. Die Fünfzig-Dollar-Strafe gilt.«

Mit der Party stand es nicht allzu gut. Der Wind wehte von der toten See herein. Er umstrich die Männer und umstrich den Kapitän und Jeff Spender, die zur Gruppe zurückkehrten. Der Wind wehte den Staub auf und zerrte an der schimmernden Rakete und zerrte am Akkordeon, und der Stäub drang in die verbogene Mundharmonika. Der Staub geriet den Männern in die Augen, und der Wind legte einen hohen singenden Ton in die Luft. So plötzlich wie er gekommen war, erstarb er wieder.

Aber auch die Party war gestorben.

Die Männer standen steif vor dem dunklen, kalten Himmel.

»Los, Herrschaften, weiter!« Biggs kletterte munter aus dem Schiff; er hatte eine frische Uniform angezogen und mied Spenders Blick. Seine Stimme verlor sich wie in einem leeren Saal. Sie war mit einemmal allein. »Los doch!« ermunterte er seine Kameraden.

Niemand rührte sich.

»Mach schon, Whitie, deine Mundharmonika!«

Whitie blies einen Akkord, der sich komisch und falsch anhörte. Whitie wischte seine Harmonika ab und steckte sie in die Tasche.

»Was für’ne Party soll denn das sein?« wollte Biggs wissen.

Jemand drückte das Akkordeon zusammen. Das Instrument gab einen klagenden Laut von sich wie ein sterbendes Tier. Das war alles.

»Na gut, dann mach ich mit meiner Pulle eben allein weiter.« Biggs lehnte sich an die Rakete und trank aus seiner Flasche.

Spender beobachtete ihn. Lange Zeit rührte er keinen Muskel. Dann krochen seine zitternden Finger langsam an seinem Bein entlang zu der Pistole im Halfter und streichelten und beklopften die Lederklappe.

»Wer Lust hat, kann mit mir in die Stadt kommen«, verkündete der Kapitän. »Wir lassen bei der Rakete eine Wache zurück und nehmen vorsichtshalber unsere Waffen mit.«

Die Männer zählten ab. Vierzehn wollten mit, einschließlich Biggs, der sich lachend und seine Flasche schwenkend in die Gruppe einordnete. Sechs blieben zurück.

»Los geht’s!« brüllte Biggs.

Die Gruppe marschierte schweigend ins Mondlicht hinaus und näherte sich den Außenbezirken der träumenden toten Stadt unter dem dahineilenden Doppelmond. Die Männer hatten zwei Schatten. Minutenlang atmeten sie überhaupt nicht, oder glaubten nicht zu atmen, während sie darauf warteten, daß sich etwas in der toten Stadt rührte, daß sich eine graue Gestalt erhob, irgendein alter geschichtsträchtiger Schemen, der auf einem alten gepanzerten Roß von unmöglichem, unglaublichem Geschlecht über den leeren Seegrund herangaloppierte.

Spender belebte die Straße mit Gestalten seiner Fantasie. Wie blaue Nebel bewegten sich Figuren durch die gepflasterten Gassen, und da waren murmelnde Geräusche und seltsame Tiere, die über den grauroten Sand huschten. Jedes Fenster füllte er mit einer Person, die sich herauslehnte und langsam, wie in einem zeitlosen Gewässer, irgendeiner sich bewegenden Form in den Tiefen unter den mondversilberten Türmen zuwinkte. Ein inneres Ohr vernahm Musik, und Spender versuchte sich die Form der Instrumente vorzustellen, die solche Töne hervorbringen konnten. Das Land war voller Gespenster.

»He!« brüllte Biggs hochaufgerichtet, die Hände als Schalltrichter um den Mund gelegt. »He, ihr Leute da in der Stadt!«

»Biggs!« sagte der Kapitän.

Biggs verstummte.

Sie gingen eine gepflasterte Straße entlang. Sie flüsterten nur noch, denn es war, als würden sie eine gewaltige offene Bibliothek oder ein Mausoleum betreten, in dem nur der Wind am Leben war und über dem die Sterne leuchteten. Der Kapitän sprach leise. Er überlegte, was aus den Einwohnern geworden sein mochte und wie sie wohl gewesen waren und welche Könige sie gehabt hatten und wie sie gestorben waren. Und er stellte leise die Frage, wie sie diese Stadt hatten bauen können, die so lange Zeit erhalten geblieben war, und ob sie wohl jemals zur Erde vorgedrungen waren. Waren sie vielleicht vor zehntausend Jahren die Vorfahren von Erdmenschen gewesen? Und hatten sie ähnlich geliebt und gehaßt wie wir und ähnlich dumme Dinge getan, wenn solche Dinge getan werden?

Niemand bewegte sich. Der Mondschein umfing sie und hielt sie gefangen; der Wind strich leise an ihnen vorbei.

»Lord Byron«, sagte Jeff Spender.

»Lord wer?« Der Kapitän drehte sich um und sah ihn an.

»Lord Byron, ein Dichter des neunzehnten Jahrhunderts. Er hat vor langer Zeit ein Gedicht geschrieben, das zu dieser Stadt paßt und dazu, wie den Marsianern jetzt zumute sein muß, wenn überhaupt noch welche am Leben sind. Die Verse könnten fast vom letzten marsianischen Dichter stammen.«

Die Männer standen reglos auf ihren Schatten.

Der Kapitän sagte: »Und wie lautet das Gedicht, Spender?«

Spender geriet in Bewegung und streckte den Arm aus, als müsse er in sein Gedächtnis greifen, um die Worte einzufangen; dann kam die Erinnerung, und mit leiser Stimme sagte er langsam die Verse auf, und die Männer lauschten:

Laß uns jetzt zur Ruhe kommen,

Es ist spät schon in der Nacht,

Hat die Lieb’ uns auch benommen,

Scheint der Mond in heller Pracht.

Die Stadt war grau und reglos und ragte hoch auf. Die Gesichter der Männer waren dem Licht zugewandt.

Nutzt das Schwert die Scheide ab,

So die Seele meine Brust,

Ruhe, Herz, das ihn mir gab,

Ruhe jetzt, du Liebeslust.

Lieb’ ist zwar die Nacht beschieden,

Vor der nahe Tag erwacht,

Doch sei Ruhe nun und Frieden,

Scheint der Mond in heller Pracht.

Stumm standen die Erdenmenschen im Zentrum der Stadt. Es war eine klare Nacht. Kein Geräusch war zu hören außer dem Säuseln des Windes. Zu ihren Füßen erstreckte sich ein mit Mosaiken geschmückter Hof mit den Darstellungen seltsamer Tiere und Gestalten. Sie schauten darauf hinab.

Biggs stieß einen erstickten Laut aus. Seine Augen waren stumpf. Er hob die Hände an den Mund, würgte, schloß die Augen, beugte sich vor, und ein Schwall dicker Flüssigkeit schoß ihm in den Mund, strömte heraus, spritzte auf die Steine und besudelte die Kunstwerke. Zweimal brach es aus Biggs hervor. Ein scharfer saurer Geruch erfüllte die kühle Luft.

Niemand half Biggs, der sich immer wieder übergab.

Spender sah einen Augenblick lang zu. Dann wandte er sich um und entfernte sich in die Straßen der Stadt, allein im Mondlicht. Er drehte sich nicht um.

Sie kehrten um vier Uhr morgens zurück. Sie lagen auf Decken und schlossen die Augen und atmeten die stille Luft ein. Kapitän Wilder saß am Feuer und hielt es mit kleinen Holzstücken am Leben.

Zwei Stunden später öffnete McClure die Augen. »Wollen Sie nicht schlafen, Sir?«

»Ich warte auf Spender.« Der Kapitän lächelte schwach.

McClure überlegte. »Wissen Sie, Sir, ich glaube nicht, daß er überhaupt wiederkommt. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, Sir; er kommt nicht wieder.«

McClure wälzte sich herum und schlief wieder ein. Das Feuer loderte kurz auf und erstarb.

Eine Woche verging, und Spender war nicht wiedergekommen. Der Kapitän schickte Suchtrupps aus, die jedoch zurückkehrten und sagten, sie wüßten nicht, wohin Spender verschwunden sein könnte. Er würde schon zurückkommen, wenn er dazu bereit wäre. Er sei sowieso ein Querkopf, sagten sie, ein chronischer Nörgler. Zur Hölle mit ihm!

Der Kapitän sagte nichts, trug jedoch alles in sein Logbuch ein.

Es war ein Morgen, der ein Montag oder Dienstag oder irgendein Tag hätte sein können. Biggs saß am Rand des Kanals und ließ die Füße ins kühle Wasser hängen, während er sein Gesicht der Sonne entgegenreckte.

Ein Mann kam das Ufer entlanggewandert und auf ihn zu, schließlich blieb der Mann stehen und warf seinen Schatten auf Biggs. Biggs blickte auf.

»Da soll mich doch.!« sagte Biggs.

»Ich bin der letzte Marsianer«, sagte der Mann und zog seine Waffe.

»Was hast du gesagt?« fragte Biggs.

»Ich bringe dich um.«

»Laß das. Was sollen diese Scherze, Spender?«

»Steh auf!«

»Um Himmels willen, steck die Kanone weg.«

Spender drückte nur einmal ab. Biggs saß noch einen Augenblick lang reglos da, ehe er vornüber kippte und ins Wasser fiel. Die Waffe hatte nur ein flüsterndes Summen ausgestoßen. Die Leiche trieb in der gleichgültig langsamen Kanalströmung. Sie machte ein hohles, gurgelndes Geräusch, das sofort wieder erstarb.

Spender steckte die Waffe wieder in den Halfter und ging lautlos weiter. Die Sonne schien auf den Mars herab. Er spürte, wie ihre Strahlen auf seinen Handrücken brannten und über seine Wangen glitten. Er rannte nicht; er ging langsam, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen wäre. Er ging zur Rakete hinab, wo unter einem vom Koch errichteten Sonnenschutz einige Männer beim Frühstück saßen.

»Da kommt ja unser einsamer Wanderer«, sagte jemand.

»Hallo, Spender, lange nicht gesehen!«

Die vier Männer am Tisch betrachteten den schweigsamen Mann, der ihre Blicke erwiderte.

»Du und deine verdammten Ruinen«, lachte der Koch und rührte etwas Schwarzes in einem Krug. »Du stellst dich an wie ein Hund mit seinen vergrabenen Knochen.«

»Vielleicht«, sagte Spender, »habe ich dieses oder jenes herausgefunden. Was würdet ihr sagen, wenn ich euch versicherte, auf einen Marsianer gestoßen zu sein?«

Die vier Männer legten ihre Gabeln hin.

»Tatsächlich? Wo denn?«

»Lassen wir das. Ich möchte euch eine Frage stellen. Wie wäre euch als Marsianer zumute, wenn fremde Leute in euer Land eindrängen und es umzukrempeln begännen?«

»Das weiß ich genau«, sagte Cherokee. »Ich habe etwas CherokeeBlut in den Adern. Mein Großvater hat mir viel über das OklahomaGebiet erzählt. Wenn es da draußen wirklich einen Marsianer gibt, hat er mein volles Mitgefühl.«

»Und ihr anderen?« fragte Spender gespannt.

Niemand antwortete; das Schweigen war Antwort genug. Catch as catch can, greif zu, solange der Vorrat reicht, wenn dir jemand die Wange hinhält, schlag zu, und so weiter.

»Nun«, sagte Spender, »ich habe tatsächlich einen Marsianer gefünden.«





Die Männer starrten ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

»Ganz oben in einer toten Stadt. Ich hätt’s nicht für möglich gehalten. Ich habe nicht nach ihm gesucht. Ich weiß auch nicht, was er da wollte. Ich hatte etwa eine Woche in einem kleinen Tal gelebt und lernte, die alten Bücher zu lesen und die alten Kunstwerke zu betrachten. Und eines Tages sah ich den Marsianer. Er stand einen Moment da und war gleich darauf wieder verschwunden. Erst am nächsten Tag kam er zurück. Ich saß da und beschäftigte mich mit der alten Schrift, und da kam der Marsianer und rückte mir jedesmal ein Stückchen näher. Und an dem Tag, da ich die marsianische Sprache endlich entziffern konnte -es ist übrigens erstaunlich einfach, und man hat Bilddarstellungen zur Hilfe -, erschien der Marsianer vor mir und sagte: >Gib mir deine Uniform und deine übrige Kleidung.< Und ich gab ihm alles, und dann sagte er: >Gib mir deine Waffe<, und ich gab ihm meine Waffe. Dann sagte er: Jetzt komm mit und sieh zu, was passiert.< Und der Marsianer ging geradewegs hierher ins Lager und ist jetzt hier.«

»Ich sehe keinen Marsianer«, sagte Cherokee.

»Es tut mir leid.«

Spender zog seine Pistole. Sie summte leise. Das erste Geschoß traf den Mann, der links am Tisch saß; die beiden nächsten fällten die Männer rechts und in der Mitte. Der Koch wandte sich entsetzt von seinem Feuer ab und bekam die vierte Kugel. Er stürzte rückwärts in die Flammen und rührte sich nicht mehr, während seine Kleidung Feuer fing.

Die Rakete stand in der Sonne. Drei Männer saßen beim Frühstück, die Hände und Gesichter auf dem Tisch, reglos, während das Essen vor ihnen kalt wurde. Cherokee, unverletzt, starrte Spender ungläubig und wie betäubt an.

»Du kannst mitkommen«, sagte Spender zu ihm.

Cherokee schwieg.

»Du kannst bei mir bleiben.« Spender wartete.

Schließlich gewann Cherokee wieder Gewalt über seine Zunge. »Du hast sie umgebracht«, keuchte er entsetzt und wagte es, die Männer ringsum anzuschauen.

»Sie haben es verdient.«

»Du bist ja wahnsinnig!«

»Vielleicht. Aber du kannst mitkommen.«

»Mitkommen, wozu?« schrie Cherokee mit aschfahlem Gesicht, während sich seine Augen mit Tränen füllten. »Los, los, verschwinde!«

Spenders Gesicht wurde starr. »Ich hätte angenommen, daß du von allen hier am ehesten verstehst.«

»Verschwinde!« Cherokee griff nach seiner Pistole.

Spender feuerte ein letztes Mal. Cherokee rührte sich nicht mehr.

Jetzt begann Spender zu schwanken. Er wischte sich mit der Hand über sein schwitzendes Gesicht. Er sah zur Rakete auf und begann plötzlich am ganzen Leibe zu zittern. Die körperliche Reaktion war so heftig, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck eines Mannes, der aus einer Hypnose, aus einem entsetzlichen Traum erwacht. Er setzte sich einen Augenblick und befahl dem Zittern aufzuhören.

»Schluß! Schluß jetzt!« kommandierte er. Jede Faser seines Körpers vibrierte. »Schluß! Aufhören!« Mit ungeheurer Willenskraft bedrängte er seinen Körper, bis alles Zittern herausgepreßt war. Nun lagen seine Hände ruhig auf den reglosen Knien.

Er stand auf und schnallte sich mit umsichtigen Bewegungen einen tragbaren Versorgungstornister auf den Rücken. Einen Moment lang begann seine Hand wieder zu zittern, doch er sagte mit großer Entschlossenheit »Nein!«, und das Zittern verging. Dann marschierte er mit steifen Schritten in die Wüste hinaus, auf die heißen roten Hügel zu, allein.

Die Sonne brannte sich ihren Weg durch den Himmel. Eine Stunde später kletterte der Kapitän aus der Rakete, um sich Eier und Speck zu holen. Er wollte schon die vier Männer begrüßen, die am Tisch saßen, als er plötzlich innehielt und einen schwachen Brandgeruch wahrnahm. Er sah den Koch im Lagerfeuer liegen, und die vier anderen Männer saßen mit auf den Tisch gesunkenen Köpfen vor ihrem Essen, das kalt geworden war.

Gleich darauf kam Parkhill mit zwei anderen Männern heruntergeklettert. Der Kapitän stand ihnen im Weg, fasziniert von den stummen Männern und der Art, wie sie vor ihrem Frühstück saßen.

»Rufen Sie die anderen zusammen - alle«, sagte der Kapitän.

Parkhill rannte zum Kanalufer.

Der Kapitän berührte Cherokee. Cherokee drehte sich lautlos und fiel vom Stuhl. Die Sonne brannte in seinen kurzen Haaren und auf seinen hohen Backenknochen.

Die Männer kamen.

»Wer fehlt?«

»Nur Spender, wie gehabt. Biggs haben wir im Kanal gefunden.«

»Spender!«

Der Kapitän sah die Hügel, die sich im Tageslicht erhoben. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, und die Sonne ließ seine Zährte aufblitzen. »Verdammt«, sagte er müde. »Warum ist er nicht gekommen und hat die Sache mit mir besprochen?«

»Er hätte mal mit mir sprechen sollen!« rief Parkhill mit blitzenden Augen. »Ich hätte ihm den verdammten Schädel zerschossen, bei Gott!«

Kapitän Wilder nickte zwei Männern zu. »Holen Sie die Schaufeln«, sagte er.

Es wurde ihnen sehr heiß beim Ausheben der Gräber. Ein warmer Wind wehte vom leeren See herüber und blies ihnen den Staub in die Gesichter, während der Kapitän die Seiten der Bibel umblätterte. Als der Kapitän das Buch schloß, begann einer der Männer den Sand mit langsamen Bewegungen auf die eingewickelten Gestalten hinabzuschaufeln.

Sie gingen zur Rakete zurück, ließen den Mechanismus ihrer Gewehre klicken, schnallten sich dicke Granaten auf den Rücken und überprüften die Pistolen in ihren Halftern. Jedem wurde ein Stück Hügel zugeteilt. Der Kapitän gab seine Befehle mit leiser Stimme und ohne die Hände zu bewegen, die wie tot an seinen Seiten herabhingen.

»Gehen wir«, sagte er.

Spender sah hier und dort im Tal die dünnen Staubfahnen aufsteigen und wußte, daß die Verfolgung organisiert und im Gange war. Er klappte das dünne Silberbuch zu, in dem er - entspannt auf einem flachen Felsen sitzend - gelesen hatte. Die Seiten des Buchs waren aus hauchdünnem reinem Silber und handgemalt in Schwarz und Gold. Das Buch behandelte eine zehntausend Jahre alte Philosophie, und er hatte es in einer Villa in irgendeiner marsianischen Talstadt gefunden. Widerstrebend legte er den Band zur Seite.

Eine Zeitlang hatte er gedacht: Was soll’s? Ich bleibe sitzen und lese, bis sie kommen und mich erschießen.

Seiner ersten Reaktion auf das Erschießen der sechs Männer am Morgen waren eine betäubte Leere, dann Übelkeit und schließlich eine seltsame innere Ruhe gefolgt. Aber auch die friedliche Stimmung ging vorüber, denn er sah den Staub, der sich von den Füßen der Verfolger erhob, und er spürte, wie der Groll zurückkehrte.

Er trank einen Schluck kalten Wassers aus einer Gürtelflasche. Dann stand er auf, reckte sich, gähnte und lauschte auf das friedvolle Paradies des Tales. Wie schön es wäre, hier mit einigen Freunden von der Erde das Leben zu beschließen, ohne Lärm und Sorgen!

In der einen Hand trug er das Buch, mit der anderen hielt er die Pistole schußbereit. An einem kleinen, schnellen Bach voller weißer Kiesel zog er sich aus, watete hinein und wusch sich kurz. Er ließ sich Zeit, ehe er sich anzog und seine Waffe wieder zur Hand nahm.

Die Schießerei begann gegen drei Uhr nachmittags. Spender war nun schon hoch im Gebirge. Sie folgten ihm durch drei kleine marsianische Bergdörfer. Verstreut wie Kieselsteine, erhoben sich oberhalb der Orte einzelne Villen an schönen Stellen, wo alte Familien einen Bach oder ein grünes Fleckchen gefunden und ein gekacheltes Becken, eine Bibliothek und einen Innenhof mit pulsierender Fontäne angelegt hatten. Spender schwamm eine halbe Stunde in einem der Becken, das von den jahreszeitlich bedingten Niederschlägen gefüllt war, und wartete darauf, daß ihn seine Verfolger einholten.

Schüsse peitschten, als er die kleine Villa verließ. Terrassensteine splitterten zwanzig Fuß hinter ihm, explodierten. Er begann zu traben, suchte Deckung hinter einer Reihe kleiner Felsen, zielte sorgfältig und streckte mit seinem ersten Schuß einen der Männer nieder.

Spender wußte, daß sie nun ein Netz bilden würden, um ihn zu fangen, einen Kreis. Sie würden ihn umgehen und sich heranschleichen und ihn schließlich erwischen. Es war seltsam, daß die Granaten nicht eingesetzt wurden. Kapitän Wilder hätte ohne weiteres den Befehl geben können.

Aber ich bin viel zu nett, um in Stücke gerissen zu werden, dachte Spender. Das ist jedenfalls die Meinung des Kapitäns. Er will mich haben, aber nur mit einem Loch im Körper. Ist das nicht komisch? Er will, daß mein Tod eine saubere Sache ist und keine Schweinerei. Warum? Weil er mich versteht. Und weil er mich versteht, ist er bereit, gute Männer aufs Spiel zu setzen, damit ich nur einen sauberen Kopfschuß kriege. Das ist doch die Antwort, oder?

Neun, zehn Schüsse wurden dicht hintereinander abgefeuert. Überall um ihn herum spritzten Felssplitter. Spender schoß gleichmäßig und warf ab und zu einen Blick auf das Silberbuch in seiner Hand.

Der Kapitän rannte durch das heiße Sonnenlicht, ein Gewehr in den Händen. Spender verfolgte seinen Lauf durch das Pistolenvisier, doch er feuerte nicht. Statt dessen schwenkte er die Waffe zur Seite, schoß die Spitze eines Felsens ab, hinter dem Whitie lag, und hörte einen wütenden Aufschrei.

Plötzlich stand der Kapitän auf. Er hatte ein weißes Taschentuch in der Hand. Er sagte etwas zu seinen Männern und kam, nachdem er sein Gewehr zur Seite gestellt hatte, langsam den Hang herauf. Spender blieb in seiner Deckung liegen und stand schließlich auf, die Pistole schußbereit erhoben.

Der Kapitän kam heran und setzte sich auf einen Fels, ohne Spender auch nur einmal anzusehen.

Der Kapitän griff in seine Hemdentasche. Spenders Finger krampften sich um die Pistole.

Der Kapitän sagte: »Zigarette?«

»Danke.« Spender nahm eine.

»Feuer?«

»Hab ich selbst.«

Schweigend rauchten sie ein paar Züge.

»Warm«, sagte der Kapitän.

»Ja.«

»Haben Sie’s bequem hier oben?«

»Durchaus.«

»Was meinen Sie, wie lange halten Sie durch?«

»Zwölf Männer lang allemal.«

»Warum haben Sie uns heute morgen nicht alle getötet, als Sie noch die Gelegenheit dazu hatten? Es wäre möglich gewesen.«

»Ich weiß. Aber mir wurde schlecht. Wenn einem an einer Sache wirklich liegt, macht man sich meist etwas vor, man sagt sich, alle anderen hätten unrecht. Als ich mit dem Töten begonnen hatte, wurde mir klar, daß meine Opfer nur Narren waren und ich sie gar nicht umbringen dürfte. Aber es war schon zu spät. Ich konnte dann nicht weitermachen, und da bin ich hier herausgegangen, wo ich mir wieder etwas vormachen und mich wieder richtig in Wut hineinsteigern kann.«

»Und haben Sie sich hineingesteigert?«

»Nicht sehr weit. Es reicht aber.«

Der Kapitän betrachtete seine Zigarette. »Warum haben Sie’s getan?«

Langsam legte Spender seine Pistole vor sich auf den Boden. »Weil ich erkannt habe, daß das, was wir überhaupt jemals erreichen können, nicht besser sein wird als die Errungenschaften der Marsianer. Sie haben Schluß gemacht, wo wir schon vor hundert Jahren hätten aufhören müssen. Ich bin durch die Städte gegangen, und ich kenne diese Leute, und ich wäre froh, wenn ich sie meine Vorfahren nennen könnte.«

»Das ist eine schöne Stadt hier.« Der Kapitän nickte und sah sich um.

»Das ist es nicht allein. Ja, ihre Städte sind gut. Sie verstanden es, die Kunst in ihr Leben einzubeziehen. Für die Amerikaner war das immer etwas Absonderliches. Kunst war etwas, das man allenfalls im Zimmer des verrückten Sohnes duldete. Kunst war etwas, das man höchstens in kleinen Dosen, vielleicht vermischt mit etwas Religion, zu sich nahm. Die Marsianer aber haben Kunst und Religion und einfach alles als etwas Selbstverständliches.«

»Sie glauben also, die Marsianer wußten ihr Leben wirklich zu meistern, ja?«

»Meiner Meinung nach schon.«

»Und aus diesem Grund haben Sie damit angefangen, Menschen zu töten.«

»Als Kind hat mich meine Familie mal nach Mexico City mitgenommen. Ich werde nie vergessen, wie sich mein Vater benahm -laut und groß. Und meine Mutter mochte die Menschen dort nicht, weil sie dunkel waren und sich nicht genug wuschen. Und meine Schwester wollte mit den meisten nicht einmal sprechen.

Ich war der einzige, dem der Aufenthalt wirklich Spaß machte. Und ich kann mir richtig vorstellen, wie meine Mutter und mein Vater zum Mars kommen und sich hier genauso aufführen.

Dem durchschnittlichen Amerikaner ist alles Fremde suspekt. Wenn keine Chicagoer Installationen vorhanden sind, ist es nichts. Stellen Sie sich das vor! Gott, wenn man sich das nur mal vorstellt! Und dann - der Krieg. Sie haben vor unserer Abreise sicher auch die Reden im Kongreß gehört. Wenn alles klappt, hofft man drei nukleare Forschungszentren und Atombombendepots auf dem Mars zu errichten. Und das heißt, daß es mit dem Mars aus ist - mit all diesen herrlichen Relikten. Wie wäre Ihnen zumute, wenn ein Marsianer auf den Fußboden des Weißen Hauses kotzte?«

Der Kapitän sagte nichts; er hörte nur zu.

Spender fuhr fort: »Und dazu kommen noch die anderen mächtigen Interessengruppen. Die Leute vom Bergbau und von der Touristik. Wissen Sie noch, was mit Mexico passierte, als Cortez und seine überaus netten Freunde aus Spanien eintrafen? Eine ganze Zivilisation wurde vernichtet durch gierige, selbstgerechte, intolerante Frömmler. Die Geschichte wird Cortez das niemals verzeihen.«

»Sie haben aber heute auch nicht gerade ethisch gehandelt«, warf der Kapitän ein.

»Was sollte ich tun? Eine Diskussion mit Ihnen anfangen? Es läuft doch in jedem Fall darauf hinaus, daß ich gegen das ganze fiese, zerstörerische, gierige Establishment der Erde stehe. Die Leute werden die schmutzigen Atombomben hier heraufschaffen und um Stützpunkte kämpfen, von denen aus man Krieg führen kann. Reicht ein zugrundegerichteter Planet nicht aus - müssen sie auch noch ein fremdes Nest beschmutzen? Diese engstirnigen Schwätzer! Als ich hier heraufkam, fühlte ich mich nicht nur frei von ihrer sogenannten Kultur, ich fühlte mich auch frei von ihrer Ethik und ihren Sitten. Ich dachte, ich hätte mich aus ihrem Bezugssystem gelöst. Ich brauchte hier nur alle umzubringen und könnte dann mein eigenes Leben leben - dachte ich.«

»Aber so einfach war es dann doch nicht«, sagte der Kapitän.

»Nein. Nach dem fünften Toten heute morgen stellte ich fest, daß ich gar nicht so völlig neugeboren war, gar nicht so sehr marsianisch. Ich konnte nicht so einfach alles fortwerfen, was mir auf der Erde anerzogen wurde. Inzwischen fühle ich mich aber wieder ziemlich gefestigt. Ich werde Sie alle umbringen. Das dürfte die nächste Raketenreise um gut fünf Jahre verzögern. Außer dieser gibt es zur Zeit keine Rakete. Die Leute auf der Erde warten vielleicht ein, zwei Jahre, und wenn sie von uns nichts hören, haben sie bestimmt Angst, eine neue Rakete zu bauen. Sie werden sich zweimal soviel Zeit lassen und Hunderte von Versuchen durchführen, um sich gegen einen weiteren Fehlschlag zu sichern.«

»Da haben Sie recht.«

»Dagegen würde bei Ihrer Rückkehr ein positiver Bericht die Invasion des Mars erheblich beschleunigen. Wenn ich Glück habe, erreiche ich die Sechzig. Ich werde stets zur Stelle sein, wenn die Expeditionen auf dem Mars landen, vielleicht eine im Jahr. Sie werden immer nur aus einem Schiff bestehen, und die Mannschaften maximal aus zwanzig Mann. Wenn ich mich dann mit ihnen angefreundet und ihnen erklärt habe, daß unsere Rakete eines Tages explodiert ist - ich beabsichtige sie nächste Woche in die. Luft zu jagen, wenn ich mit meiner Arbeit hier fertig bin -, bringe ich sie nacheinander um. So wird der Mars zumindest im nächsten halben Jahrhundert noch unberührt bleiben. Vielleicht geben die Leute auf der Erde ihre Versuche nach einer gewissen Zeit auch auf. Wissen Sie noch, wie zurückhaltend man schließlich dem Bau von Zeppelinen gegenüberstand, als sie immer wieder in Flammen aufgingen?«

»Sie haben sich das alles gut überlegt«, gab der Kapitän zu.

»Allerdings.«

»Und doch sind wir in der Überzahl. In einer Stunde oder so sind Sie umzingelt. In einer Stunde sind Sie tot.«

»Ich habe unterirdische Gänge und ein Plätzchen zum Leben gefunden, das Sie niemals aufspüren werden. Ich ziehe mich für einige Wochen dorthin zurück, bis Ihre Aufmerksamkeit erlahmt. Dann komme ich wieder und nehme Sie aufs Korn - einen nach dem anderen.«

Der Kapitän nickte. »Erzählen Sie mir von Ihrer Zivilisation hier«, sagte er und machte eine Handbewegung, die die Bergstädte umfaßte.

»Sie verstanden es, mit der Natur zu leben und auszukommen. Sie wollten nicht um jeden Preis nur Menschen sein und keine Tiere. Das war unser Fehler bei Darwins Auftauchen. Wir hießen ihn und Huxley und Freud begeistert willkommen. Und dann stellten wir fest, daß Darwins Lehre sich nicht mit unseren Religionen vertrug. Oder zumindest glaubten wir, daß das so wäre. Wir waren töricht. Wir versuchten Darwin und Huxley und Freud zur Seite zu schieben. Aber sie wollten sich nicht mehr recht entfernen lassen. Wie die Idioten versuchten wir also, die Religion vom Sockel zu stoßen.

Das gelang uns ziemlich gut. Wir verloren unseren Glauben und gingen mit der Frage hausieren, was das Leben für einen Sinn hätte. Wenn die Kunst nur ein frustrierter Ausdruck der Sehnsucht, wenn die Religion nur Selbsttäuschung war - welchen Sinn hatte dann das Leben? Der Glaube hatte uns stets auf alles Antwort gegeben. Mit Freud und Darwin wurde das fortgespült. Wir waren und sind ein verlorenes Volk.«

»Und die Marsianer sind ein gefundenes Volk?« wollte der Kapitän wissen.

»Ja. Sie wußten Wissenschaft und Religion so miteinander zu verbinden, daß sie nebeneinander wirkten, daß sie sich nicht gegenseitig in Zweifel stürzten, sondern stärkten.«

»Das müßte ja ein idealer Zustand sein.«

»War es auch. Ich würde Ihnen gern zeigen, wie die Marsianer das vollbracht haben.«

»Meine Männer warten.«

»Wir sind in einer halben Stunde zurück. Geben Sie ihnen Bescheid, Sir.«

Der Kapitän zögerte. Dann stand er auf und rief einen Befehl hinab.

Spender führte ihn in ein kleines marsianisches Dorf aus kühlem, makellosem Marmor. Großartige Friese erstreckten sich überall an den Wänden - Friese mit schönen Tieren, weißpfotigen Katzenwesen und gelbgefächerten Sonnensymbolen - überall Standbilder von stierähnlichen Wesen und von Männern und Frauen und riesigen, wohlgestalteten Hunden.

»Da haben Sie Ihre Antwort, Kapitän.«

»Ich verstehe nicht...«

»Die Marsianer fanden das Geheimnis des Lebens bei den Tieren. Das Tier stellt das Leben nicht in Frage. Es lebt einfach. Sein ursächlicher Lebensgrund ist das Leben selbst; es genießt und liebt das Leben. Verstehen Sie - die Standbildsymbole, die tierischen Symbole, überall.«

»Kommt mir eher heidnisch vor.«

»Im Gegenteil, es handelt sich um Gottessymbole, um Symbole des Lebens. Auch auf dem Mars war der Mensch zu sehr Mensch geworden und nicht genug Tier. Und die Marsmenschen erkannten, daß sie, wenn sie überleben wollten, jene eine Frage nicht mehr stellen durften: Warum leben wir? Eine Frage, auf die das Leben selbst die Antwort war. Leben hieß, ein möglichst gutes Leben zu leben und weiteres Leben hervorzubringen. Die Marsianer erkannten, daß sie sich die Frage >Warum leben wir überhaupt?< vor allem in einer Periode des Krieges und der Verzweiflung stellten - zu einer Zeit, da es keine Antwort gab. Aber als die Zivilisation wieder zur Ruhe gekommen und der Krieg beendet war, wurde die Frage auf andere Art sinnlos. Das Leben war jetzt etwas Gutes und machte Diskussionen unnötig.«

»Danach scheint es, als waren die Marsianer ziemlich naiv.«

»Nur wenn die Naivität von Vorteil war. Sie hatten es aufgegeben, unbedingt alles vernichten, alles in den Schmutz ziehen zu wollen. Sie verschmolzen Religion und Kunst und Wissenschaft miteinander, weil die Wissenschaft im Grunde nur die Erkundung eines Wunders ist, das wir uns niemals völlig erklären können, und weil in der Kunst eine Interpretation dieses Wunders zu sehen ist. Sie ließen es nicht zu, daß die Wissenschaft das Ästhetische und Schöne erdrückte. Und das ist nichts weiter als eine Sache des rechten Maßes. Ein Erdenmensch denkt: >Auf diesem Bild gibt es in Wirklichkeit keine Farbe. Ein Wissenschaftler kann beweisen, daß Farbe nur aus einer bestimmten Beschaffenheit der Zellen an der Oberfläche des Materials resultiert, welches das Licht reflektiert. Deshalb ist die Farbe nicht wirklich ein Teil der Dinge, die ich sehe.< Ein Marsianer - und das ist viel klüger -würde sagen: >Ein schönes Bild. Der Geist und die Hand eines beseelten Mannes haben es geschaffen. Seine Idee und die Farben entsprechen dem Leben. Dies Ding ist gut<.«

Es entstand eine Pause. Unter der prallen Nachmittagssonne sah sich der Kapitän neugierig in der kleinen, stillen, kühlen Stadt um.

»Ich würde gern hier wohnen«, sagte er.

»Das können Sie, wenn Sie wollen.«

»Ausgerechnet mich fordern Sie dazu auf?«

»Würde einer von Ihren Männern das alles jemals wirklich begreifen? Die Burschen sind Zyniker von Beruf, und an ihnen ist Hopfen und Malz verloren. Warum wollen Sie mit ihnen zurückfliegen? Um den anderen zu zeigen, was Sie geschafft haben? Damit Sie sich wie die Smiths einen Gyro kaufen können? Um Musik zu hören mit ihrer Brieftasche? Da hinten ist ein kleiner Hof mit einer Spule marsianischer Musik, die mindestens fünfzigtausend Jahre alt ist. Man kann die Aufnahme noch abspielen. Musik, wie Sie sie in Ihrem ganzen Leben nicht hören werden. Sie sollten sich’s mal anhören. Es gibt auch Bücher. Ich habe schon eine ganze Menge gelesen. Sie könnten sich niederlassen und lesen.«

»Das hört sich alles ganz herrlich an, Spender.«

»Aber Sie wollen nicht bleiben?«

»Nein. Trotzdem vielen Dank.«

»Und Sie werden mich auch nicht in Ruhe lassen. Ich muß Sie alle umbringen.«

»Sie sind sehr optimistisch.«

»Ich habe etwas, für das es sich zu kämpfen und zu leben lohnt; das macht mich zum besseren Kämpfer. Ich habe jetzt etwas, das einer Religion entspricht. Das ist, als ob ich noch einmal zu atmen lernte. Zu atmen und in der Sonne zu liegen und mich bräunen zu lassen. Und Musik zu hören und ein Buch zu lesen. Was hat dagegen Ihre Zivilisation zu bieten?«

Der Kapitän bewegte sich unruhig. Er schüttelte den Kopf. »Die Sache tut mir leid. Alles tut mir leid.«

»Mir auch. Ich sollte Sie wohl jetzt zurückbringen, damit Sie angreifen können.«

»Ja, es wäre wohl besser.«

»Kapitän, ich werde Sie nicht umbringen. Wenn alles vorbei ist, sind Sie noch am Leben.«

»Was?«

»Ich hatte mir von Anfang an vorgenommen, daß Ihnen nichts passieren soll.«

»Also .«

»Ich werde Sie als einzigen schonen. Wenn die anderen tot sind, ändern Sie vielleicht Ihre Meinung.«

»Nein«, sagte der Kapitän. »Es ist zuviel irdisches Blut in mir. Ich müßte die Jagd auf Sie fortsetzen.«

»Selbst wenn Sie die Chance hätten, hierzubleiben?«

»Es ist seltsam, aber ja, selbst dann. Den Grund weiß ich nicht. Ich habe mich auch nie danach gefragt. Na, da wären wir ja.« Sie waren zum Treffpunkt zurückgekehrt. »Kommen Sie freiwillig mit, Spender? Das ist mein letztes Angebot.«

»Nein, danke.« Spender hob eine Hand. »Noch etwas. Wenn Sie siegen sollten, tun Sie mir bitte einen Gefallen. Tun Sie Ihr möglichstes, damit dieser Planet nicht völlig umgekrempelt wird - jedenfalls nicht in den nächsten fünfzig Jahren. Die Archäologen sollen ihre Chance bekommen, ja?«

»Ja.«

»Und ein letztes - wenn es Ihnen hilft, dann stellen Sie sich vor, ich sei ein Verrückter, der an einem Sommertag übergeschnappt ist und seither nicht mehr richtig im Kopf ist. So fällt es Ihnen bestimmt leichter.«

»Ich denke darüber nach. Bis dann, Spender. Viel Glück.«

»Sie sind mir ein komischer Kauz«, sagte Spender, als der Kapitän im warmen Wind wieder hangabwärts ging.

Wie ein Verlorener kehrte der Kapitän zu seinen staubigen Männern zurück. Immer wieder starrte er mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne und atmete heftig.

»Haben Sie etwas zu trinken?« fragte er. Er spürte eine Flasche, die in seiner Hand Kühle verbreitete. »Danke.« Er trank und wischte sich den Mund.

»Also«, sagte er. »Sehen Sie sich vor. Wir haben unendlich viel Zeit. Ich möchte keine weiteren Verluste. Wir müssen ihn umbringen. Er kommt nicht freiwillig. Sehen Sie zu, daß es möglichst ein sauberer Schuß wird. Keine Quälerei. Machen Sie schnell.«

»Ich puste ihm das Gehirn aus dem Schädel«, sagte Sam Parkhill.

»Nein, Sie schießen in die Brust«, sagte der Kapitän. Deutlich sah er Spenders starkes, entschlossenes Gesicht.

»Den Kopf!« sagte Parkhill nachdrücklich.

Der Kapitän reichte ihm mit ruckartiger Handbewegung die Flasche. »Sie haben gehört, was ich gesagt habe. In die Brust.«

Parkhill murmelte etwas Unverständliches.

»Los«, sagte der Kapitän.

Wieder trennten sie sich, zuerst langsam, dann im Laufschritt, dann wieder langsam an den heißen Hängen, wo sie überraschend auf kühle Grotten stießen, in denen es nach Moos roch, um dann ebenso plötzlich offene Stellen zu erreichen, wo es nach der Sonne duftete, die auf den Steinen brannte.

Ich hasse es, schlau zu sein, dachte der Kapitän, wenn ich mir gar nicht schlau vorkomme und es auch gar nicht sein will. Wenn ich gar nicht herumschleichen und Pläne machen und mir deswegen großartig vorkommen will. Ich hasse das Gefühl, zu glauben, ich täte etwas Rechtes, wenn ich mir dessen in Wirklichkeit gar nicht so sicher bin. Wer sind wir denn schon? Die Mehrheit? Ist das eine Antwort? Die Mehrheit ist immer heilig, nicht wahr? Immer, immer; sie irrt sich nie, keinen winzigen, unbedeutenden Augenblick lang irrt sie, nicht wahr? Auch in zehn Millionen Jahren nicht. Er dachte: Was ist denn diese Mehrheit, und wer gehört dazu? Und was denken diese Leute und wie sind sie zu dem geworden, was sie sind, und werden sie sich jemals ändern und wie zum Teufel bin ich in diese verdammte Mehrheit geraten? Mir ist nicht gut. Leide ich an Klaustrophobie, an Angst vor großen Menschenmengen, oder meldet sich nur mein gesunder Menschenverstand? Kann ein Mann recht haben, während die ganze übrige Welt ihren Standpunkt für richtig hält? Denken wir nicht darüber nach! Kriechen wir lieber herum und tun wir etwas Aufregendes und drücken wir einfach ab. Da, da und da!

Die Männer rannten weiter und duckten sich und hockten in den Schatten und entblößten die Zähne und keuchten, denn die Luft war dünn, und sie mußten immer mal wieder fünf Minuten ausruhen; keuchend und mit tanzenden schwarzen Punkten vor den Augen zehrten sie von der dünnen Luft, die nie genug schien, kniffen die Augen zusammen und standen schließlich wieder auf und hoben ihre Gewehre, um Löcher in die dünne Sommerluft zu schießen, Löcher voll Lärm und Hitze.

Spender verließ seine Stellung nicht und feuerte unregelmäßig.

»Seinen verdammten Schädel schieß ich ihm in Fetzen!« brüllte Parkhill und rannte bergauf.

Der Kapitän richtete sein Gewehr auf Sam Parkhill. Dann setzte er die Waffe ab und starrte sie entsetzt an. »Was wolltest du tun?« fragte er seine willenlose Hand und das Gewehr.

Er hätte Parkhill beinahe in den Rücken geschossen.

»Gott steh mir bei!« flüsterte er.

Er sah Parkhill weiterrennen und in Deckung fallen.

Spender wurde langsam von einem losen Netz von Männem eingeschlossen. Hinter zwei Felsen lag er am Hügelkamm und grinste vor Erschöpfung in der dünnen Luft, große Schweißinseln unter den Armen. Der Kapitän konnte die beiden Felsen sehen. Zwischen ihnen klaffte eine etwa zehn Zentimeter breite Lücke, die den Blick auf Spenders Brust freigab.

»He, du!« brüllte Parkhill. »Hier hast du ‘ne Ladung in den Kopf!«

Kapitän Wilder wartete. Los, Spender, hau ab, dachte er. Verzieh dich, wie du’s gesagt hast. Du hast nur noch ein paar Minuten. Verschwinde und komm später wieder. Los. Du hast es gesagt. Verschwinde. Verschwinde in den Tunneln, die du angeblich gefunden hast, und lebe ein paar Monate und Jahre dort und lies deine schönen Bücher und bade in deinen Tempelbecken. Los, Mann, ehe es zu spät ist.

Spender rührte sich nicht vom Fleck.

Was ist los mit ihm? fragte sich der Kapitän.

Wilder nahm sein Gewehr. Er beobachtete die von Deckung zu Deckung hastenden Männer. Er sah zu den Türmen des kleinen, sauberen Marsdorfes hinüber, die wie liebevoll geschnitzte Schachfiguren im Nachmittag standen. Er sah die Felsen und die Lücke, die Spenders Brust freigab.

Parkhill preschte mit wütendem Gebrüll weiter vor.

»Nein, Parkhill«, murmelte der Kapitän. »Ich kann es nicht zulassen, daß Sie es tun. Auch die anderen nicht. Nein, keiner von euch. Nur ich.« Er legte das Gewehr an und zielte.

Werde ich mich sauber fühlen hinterher? dachte er. Ist es recht, daß ausgerechnet ich es tue? Ja. Ich weiß, was ich tue und aus welchem Grund, und es ist richtig, weil ich mich für die richtige Person halte, dies zu tun. Ich hoffe und bete, daß ich damit leben kann.

Er nickte Spender zu. »Los!« forderte er mit lautem Flüstern, das niemand hörte. »Ich gebe dir noch dreißig Sekunden. Dreißig Sekunden!«

Die Uhr tickte an seinem Arm. Der Kapitän sah ihr beim Ticken zu. Die Männer rannten. Spender rührte sich nicht. Die Uhr tickte sehr lange; sie tickte in das Ohr des Kapitäns. »Los, Spender, verschwinden Sie!«

Die dreißig Sekunden waren vorbei.

Er legte das Gewehr an und zielte; er atmete tief ein. »Spender«, sagte er laut beim Ausatmen.

Und drückte den Abzug.

Es geschah nichts weiter, als daß im Sonnenlicht eine schwache Wolke pulverisierten Felsgesteins aufstieg. Die Echos des Schusses verhallten.

Der Kapitän stand auf und rief seinen Männern zu: »Er ist tot!« Die anderen glaubten ihm nicht. Von ihren Stellungen aus hatten sie die Lücke zwischen den Felsen nicht sehen können. Sie sahen ihren Kapitän den Hang hinaufrennen und hielten ihn entweder für sehr mutig oder für wahnsinnig.

Wenige Minuten später folgten sie ihm.

Sie versammelten sich um den Toten, und jemand sagte: »In die Brust?«

Der Kapitän schaute hinab. »In die Brust«, sagte er. Er sah, daß sich die Felsen unter Spender verfärbt hatten. »Ich möchte nur wissen, warum er gewartet hat. Ich möchte wissen, warum er nicht geflohen ist, wie er es wollte. Warum er geblieben ist und sich hat umbringen lassen«, fragte er leise.

Im Tode noch hielt Spender eine Hand um das Gewehr geklammert und die andere um das silberne Buch, das in der Sonne glitzerte.

Hat er es vielleicht meinetwegen getan? fragte sich der Kapitän. Weil ich meinerseits nicht nachgeben wollte? War Spender der Gedanke zuwider, mich umzubringen? Unterscheide ich mich überhaupt von den anderen hier? Liegt es daran? Hatte er das Gefühl, mir trauen zu können? Welche andere Antwort gäbe es?

Keine. Er hockte neben dem leblosen Körper.

Ich muß damit fertig werden, dachte er. Ich darf ihn jetzt nicht im Stich lassen. Wenn er in mir etwas gesehen hat, das ihm sehr ähnlich war, und wenn er mich deswegen nicht umbringen konnte - dann steht mir wirklich etwas bevor! Das ist es, ja, das ist es! Ich bin ein zweiter Spender, ein neuer Spender - aber ich überlege, ehe ich schieße. Ich schieße überhaupt nicht, ich töte nicht. Ich manipuliere Leute. Und er konnte mich nicht umbringen, weil ich - wenn auch mit etwas anderem Vorzeichen - er selbst war.

Der Kapitän spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Hals. Er hörte sich sagen: »Wenn er nur gekommen wäre und sich mit mir ausgesprochen hätte, ehe er jemanden umbrachte, hätten wir das Problem sicher klären können.«

»Was denn klären?« fragte Parkhill. »Was hätten wir mit Typen wie dem schon klären können?«

Die Hitze sang auf dem Land, über den Felsen, am blauen Himmel. »Sie haben wohl recht«, sagte der Kapitän. »Wir wären niemals richtig zusammengekommen. Ja, vielleicht Spender und ich allein. Aber Spender und Sie und die anderen - nein, niemals. Er hat es jetzt besser. Geben Sie mir noch einen Schluck aus der Wasserflasche.«

Es war der Kapitän, der schließlich den leeren Sarkophag als Begräbnisstätte vorschlug. Sie hatten einen alten marsianischen Friedhof gefunden. Sie legten Spender in einen zehntausend Jahre alten Silbersarg, die Hände auf der Brust gefaltet. Sie betrachteten sein friedliches Gesicht.

Einen Augenblick lang standen sie noch in dem alten Gewölbe beieinander. »Es wäre sicher gut, wenn Sie mal von Zeit zu Zeit an Spender denken würden«, sagte der Kapitän.

Sie verließen das Gewölbe und schlossen die Marmortür.

Am nächsten Nachmittag machte Parkhill in einer der toten Städte Zielübungen und zerschoß Kristallfenster und die Spitzen zerbrechlicher Türme. Der Kapitän erwischte Parkhill dabei und schlug ihm die Zähne ein.

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