April 2000: Die Dritte Expedition

Das Schiff sank herab aus dem All. Es kam aus dem Reich der Sterne und der schwarzen Strömungen, der schimmernden Bewegungen und lautlosen Abgründe. Es war ein neues Schiff, den Bauch voller Feuer und Menschen in Metallzellen, und es bewegte sich ruhig und exakt, feurig und warm. Siebzehn Mann zählte seine Mannschaft, den Kapitän mitgerechnet. Die Menschenmenge am Rande des sonnigen OhioFlugfelds hatte gewinkt, und die Rakete hatte große farbige Hitzeblumen aufgehen lassen und war ins All hinausgerast - die Dritte Expedition zum Mars!

Nun in den oberen Schichten der Marsatmosphäre verlangsamte sie ihre Geschwindigkeit. Ihre Schönheit und Stärke waren ungebrochen. Sie hatte sich durch die mitternächtlichen Gewässer des Weltraums bewegt wie ein bleiches Seeungeheuer, hatte sich am ehrwürdigen Mond vorbei in die Unendlichkeit gestürzt. Die Männer im Schiff waren im Verlauf der Reise herumgestoßen und herumgeschleudert worden, waren erkrankt und wieder gesundet - keiner war diesem Schicksal entgangen. Ein Mann war gestorben, doch die übrigen sechzehn, die Gesichter an die dicken gläsernen Sichtluken gepreßt, beobachteten jetzt mit leuchtenden Augen, wie der Mars ihnen entgegenwuchs.

»Mars!« rief Navigator Lustig.

»Der gute alte Mars!« sagte Samuel Hinkston, der Archäologe.

»Endlich«, sagte Kapitän John Black.

Die Rakete landete auf einem grünen Rasen. Draußen stand ein bronzener Hirsch im Gras. Ein Stückchen weiter entfernt erhob sich ein großes braunes viktorianisches Holzhaus still in der Sonne, über und über mit Schnitzwerk bedeckt, ein Haus mit blau und rot und gelb und grün gefärbten Fensterscheiben. Auf der Veranda hingen Storchschnabelgewächse und eine alte Schaukel, die im leisen Wind hin und her pendelte, hin und her. Den Giebel krönten ein Satteldach und eine kleine Kuppel mit bleigefaßten Rhombusglasfenstern! Durch das vordere Fenster war auf einem Ständer ein Notenheft mit dem Titel »Schönes Ohio« zu erkennen.

Ringsum, in alle Richtungen, erstreckte sich die kleine Stadt, grün und reglos im marsianischen Frühling, weiße Häuser und rote Backsteinbauten und hohe Ulmen, die sich im Winde wiegten, und große Ahorn- und Kastanienbäume. Und Kirchtürme, deren goldene Glocken gerade schwiegen.

Die Männer in der Rakete blickten hinaus und nahmen das Bild in sich auf. Dann sahen sie einander ungläubig an und wandten den Blick wieder nach draußen und schauten noch einmal. Sie hielten sich an den Ellenbogen und hatten plötzlich das seltsame Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Sie wurden blaß.

»Also das ist doch.!« flüsterte Lustig und rieb sich mit rauhen Fingern über das Gesicht. »Das ist doch einfach.«

»So was gibt’s doch gar nicht«, sagte Samuel Hinkston.

»Himmel«, sagte Kapitän John Black.

Es kam ein Anruf vom Bordchemiker. »Sir, die Atmosphäre ist zwar ein wenig dünn, aber es ist ausreichend Sauerstoff vorhanden. Kein Risiko.«

»Dann gehen wir hinaus«, sagte Lustig.

»Moment«, sagte Kapitän John Black. »Woher wollen wir wissen, was das da draußen ist?«

»Eine kleine Stadt mit dünner, aber atembarer Luft, Sir.«

»Und es ist eine kleine Stadt, wie wir sie von der Erde kennen«, sagte Hinkston, der Archäologe. »Unglaublich. So etwas kann eigentlich gar nicht sein, aber da liegt sie vor uns!«

Kapitän John Black musterte ihn lange. »Halten Sie es für möglich, daß sich zwei Zivilisationen auf zwei verschiedenen Planeten im gleichen Tempo und völlig gleich entwickeln, Hinkston?«

»Eigentlich nicht, Sir.«

Kapitän Black beugte sich vor und starrte zur Sichtluke hinaus. »Dann schauen Sie doch mal dort hinüber. Der Storchschnabel. Eine ganz besondere Pflanzenart, die auf der Erde erst seit etwa fünfzig Jahren bekannt ist. Überlegen Sie mal, wie viele tausend Jahre eine Pflanze für ihre Entwicklung benötigt. Und dann beantworten Sie mir bitte die Frage, ob es eine Erklärung dafür gibt, wieso die Marsianer folgendes haben: erstens, bleiverglaste Fenster; zweitens, Dachkuppeln; drittens, Verandaschaukeln; viertens, ein Instrument, das wie ein Piano aussieht und wahrscheinlich auch eins ist; fünftens könnte ich, wenn Sie mal hier einen Blick durch das Teleskop werfen würden, die Frage anknüpfen, ob es in irgendeiner Weise begreiflich ist, daß ein marsianischer Musiker ausgerechnet ein Stück mit dem Titel >Schönes Ohio< komponiert haben könnte, was logischerweise voraussetzen würde, daß es auf dem Mars einen Ohio-Fluß gibt!«

»Kapitän Williams, natürlich!« rief Hinkston.

»Was?« .

»Kapitän Williams und seine dreiköpfige Mannschaft! Oder Nathaniel York und sein Partner. Das würde doch alles erklären!«

»Nichts würde das erklären. Soweit wir feststellen konnten, ist die Erste Expedition gleich bei der Landung explodiert, wobei York und sein Partner ums Leben kamen. Was Williams und seine drei Männer angeht, so ist ihr Schiff am zweiten Tag nach ihrer Ankunft zerstört worden oder zumindest funktionsunfähig gewesen. Jedenfalls stellten um diese Zeit die Funkgeräte den Betrieb ein. Wären die Männer noch am Leben gewesen, hätten sie sich bestimmt mit uns in Verbindung gesetzt. Außerdem liegt die York-Expedition nur ein Jahr zurück, während Kapitän Williams und seine Männer etwa im letzten August hier gelandet sind. Selbst wenn wir annehmen, daß sie noch leben, hätten sie dann - selbst mit Hilfe einer fortgeschrittenen marsianischen Rasse - in so kurzer Zeit eine solche Stadt bauen und - altern lassen können? Schauen Sie sich doch die Häuser an; sie stehen schon seit mindestens siebzig Jahren. Sehen Sie sich die Verandapfosten an, die Bäume, die wenigstens hundert Jahre alt sind, sie alle! Nein, das ist nicht das Werk von York oder Williams. Es hat eine andere Bewandtnis mit dieser Szene. Und die Sache gefällt mir offengestanden ganz und gar nicht. Ich verlasse das Schiff erst, wenn ich genau weiß, was los ist.«

»Ganz abgesehen davon«, sagte Lustig und nickte, »sind Williams und seine Männer ebenso wie York auf der anderen Marsseite gelandet. Wir haben sehr darauf geachtet, auf dieser Seite herunterzukommen.«

»Ein sehr wichtiger Punkt. Möglicherweise sind York und Williams einem feindlichen Marsianerstamm zum Opfer gefallen, deshalb hatten wir Anweisung, möglichst weit entfernt zu landen, um noch eine solche Katastrophe zu vermeiden. Soweit wir also wissen, befinden wir uns hier in einem Land, das Williams und York nie zu Gesicht bekommen haben.«





»Wie dem auch sei«, sagte Hinkston. »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, möchte ich trotzdem in die Stadt. Vielleicht gibt es wirklich vergleichbare Gedankenmuster und Kurven zivilisatorischer Entwicklung auf jedem Planeten in unserem Sonnensystem. Möglicherweise stehen wir vor der größten psychologischen und metaphysischen Entdeckung unseres Zeitalters!«

»Ich möchte lieber einen Augenblick abwarten«, sagte Kapitän John Black.

»Vielleicht erleben wir hier auch ein Phänomen, Sir, das zum erstenmal die Existenz Gottes wirklich schlüssig beweist.«

»Es gibt viele Gläubige, die dieses Beweises nicht bedürfen, Mr. Hinkston.«

»Zu denen gehöre ich auch, Sir. Aber bestimmt könnte es doch eine solche Stadt nicht geben ohne göttlichen Eingriff. All die vielen kleinen Dinge! Wenn ich mir das alles so ansehe, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll.«

»Dann lassen Sie gefälligst beides sein, bis wir wissen, was wir hier zu bekämpfen haben.«

»Bekämpfen?« fragte Lustig. »Hier gibt’s nichts zu bekämpfen, Kapitän. Die Stadt ist ruhig und grün. Sie sieht meiner Geburtsstadt sehr ähnlich. Ich mag sie.«

»Wann sind Sie geboren, Lustig?«

»Neunzehnhundertfünfzig, Sir.«

»Und Sie, Hinkston?«

»Neunzehnhundertfünfündfünfzig, Sir, in Grinnell, Iowa. Und die Stadt da draußen kommt mir wie mein Zuhause vor.«

»Hinkston, Lustig - ich könnte Ihr Vater sein. Ich bin gerade achtzig geworden, 1920 in Illinois geboren. Durch Gottes Gnade und dank einer Wissenschaft, die es in den letzten Jahren gelernt hat, einige alte Männer wieder jung zu machen, bin auch ich jetzt hier auf dem Mars, kaum erschöpfter als die übrigen, aber unendlich mißtrauischer. Die Stadt da draußen sieht sehr friedlich und kühl aus und ähnelt Green Bluff in Illinois so sehr, daß es mir fast Angst macht.« Er wandte sich an den Funker. »Teilen Sie der Erde mit, daß wir gelandet sind. Das ist alles. Sagen Sie noch, daß wir morgen einen ausführlichen Bericht durchgeben werden.«

»Jawohl, Sir.«

Kapitän Black wandte sein Gesicht wieder dem Fenster zu - ein Gesicht, das die Spuren eines hohen Alters hätte aufweisen müssen, das ihn aber als Mann von Anfang Vierzig erscheinen ließ. »Wir machen folgendes. Lustig, Sie und ich und Hinkston sehen uns zunächst mal in der Stadt um. Die anderen bleiben an Bord, und wenn etwas passiert, können Sie schnell abhauen. Ein Verlust von drei Männern ist nicht so schlimm, als wenn das ganze Schiff verlorengeht. Wenn wirklich etwas Schlimmes passieren sollte, kann unsere Mannschaft auch die nächste Rakete warnen. Es wird Kapitän Wilders Rakete sein, die zu Weihnachten startet. Wenn es wirklich feindliche Elemente auf dem Mars gibt, dann sollte die nächste Rakete gut bewaffnet sein.«

»Das sind wir doch auch. Wir haben eine Standardausrüstung an Bord.«

»Sagen Sie den Männern, sie sollten auf Gefechtsstationen gehen. Kommen Sie, Lustig, und Sie auch, Hinkston.«

Die drei Männer kletterten gemeinsam zum Ausstieg des Schiffs hinab.

Es war ein herrlicher Frühlingstag. In einem blühenden Apfelbaum saß ein Rotkehlchen und zwitscherte unermüdlich. Blütenblätter taumelten wie Schneeflocken zu Boden, wenn der Wind die grünen Äste berührte, und intensiver Blütenduft erfüllte die Luft. Irgendwo in der Stadt spielte jemand auf einem Klavier, und die Musik wurde lauter und leiser und lauter und leiser, sanft, einschläfernd. Das Lied hieß >Schöner Träumen<. Aus einer anderen Richtung ertönte kratzig und leise die Fonographen-Aufnahme von > Spaziergang im Abenddämmer<, gesungen von Harry Lauder. Die drei Männer standen vor dem Schiff. Keuchend atmeten sie die sehr dünne Luft ein und gingen nur langsam, um sich nicht zu überanstrengen.

Jetzt wurde eine andere Platte auf dem Fonographen gespielt:

Oh, denk dir die Juninacht,

Dazu des Mondes Macht - und dich...

Lustig begann zu zittern. Auch Samuel Hinkston konnte nicht mehr an sich halten.

Der Himmel war klar und ruhig, und in der Nähe plätscherte ein kleiner Bach durch die Schatten der Bäume und kühlen Tiefen eines Grabens. Irgendwo trottete ein Pferd mit einem klappernden Wagen.

»Sir«, sagte Samuel Hinkston heiser, »es muß wohl sein, es muß einfach so sein, daß es schon vor dem Ersten Weltkrieg Raketenflüge zum Mars gab.«

»Unsinn!«

»Wie lassen sich dann die Häuser, der Bronzehirsch, die Klaviere und die Musik erklären?« Hinkston packte den Kapitän am Ellenbogen und sah ihm ins Gesicht. »Nehmen wir einmal an, es gab im Jahre 1905 Menschen, die den Krieg haßten und sich heimlich mit einigen Wissenschaftlern zusammentaten und eine Rakete bauten und hier zum Mars .«

»Nein, nein, Hinkston. Hören Sie auf, das ist unmöglich.«

»Warum nicht? Die Welt von 1905 war völlig anders; man hätte so etwas viel leichter geheimhalten können.«

»Aber ein kompliziertes Ding wie eine Rakete, nein, die hätte sich nicht verheimlichen lassen!«

»Und sie flogen hierher, und natürlich gleichen ihre Häuser hier den Häusern auf der Erde, weil sie natürlich auch ihre Kultur mitbrachten.«

»Und sie haben hier die ganze Zeit gelebt?« fragte der Kapitän.

»In Ruhe und Frieden, ja. Vielleicht sind sie mehrmals geflogen, damit sie schließlich ein ganzes Städtchen bevölkern konnten, und haben dann damit aufgehört, um nicht entdeckt zu werden. Und deshalb mutet die Stadt jetzt so altmodisch an. Ich sehe hier nichts, das nach 1927 entstanden sein könnte, oder irre ich mich? Vielleicht ist die Weltraumfahrt überhaupt älter, als wir glauben, Sir. Vielleicht ist sie in irgendeinem Teil der Welt schon vor Jahrhunderten entwickelt worden, und die kleine Gruppe von Menschen, die zum Mars geflogen und seither nur von Zeit zu Zeit zur Erde zurückgekehrt ist, hat ihr Geheimnis bewahrt.«

»Sie können einem das fast plausibel machen.«

»Das muß die Lösung sein. Wir haben die Beweise hier überall; jetzt brauchen wir nur noch ein paar Leute zur Bestätigung.«

Im dichten grünen Gras wurde das Geräusch ihrer Schritte gedämpft. Die Wiese roch wie frisch gemäht. Gegen seinen Willen spürte Kapitän John Black, wie ihn eine große Ruhe überkam. Dreißig Jahre war es her, seit er in einem solchen Städtchen gewesen war, und das Surren der Bienen beruhigte ihn, und die frühlingshafte Frische ringsum war Balsam für seine Seele.

Sie betraten die Veranda. Hohl dröhnten die Dielenbretter, als sie sich der Gazetür näherten. Drinnen war ein Schnurvorhang zu erkennen, der vor dem Durchgang zum Hausflur hing, und ein kristallener Kronleuchter und ein Bild von Maxwell Parrish an der Wand über einem bequemen Morris-Stuhl. Das Haus roch alt und nach Dachboden und unendlich gemütlich. Das Klirren von Eisstückchen in einem Limonadekrug war zu hören. In irgendeiner Küche bereitete jemand ein kaltes Mittagessen - es war ja so heiß - und summte dabei mit hoher, angenehmer Stimme leise vor sich hin.

Kapitän John Black zog an der Klingel.

Zierliche Schritte näherten sich im Flur, und eine etwa vierzigjährige freundliche Dame in einem Kleid, wie es 1909 modern gewesen sein mochte, blinzelte die Männer an.

»Kann ich etwas für Sie tun, meine Herrn?« fragte sie.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Kapitän Black unsicher.

»Wir suchen. ich meine, könnten Sie uns vielleicht.« Er stockte. Ihre dunklen Augen sahen ihn fragend an.

»Wenn Sie etwas verkaufen wollen.«, meinte sie mißtrauisch.

»Nein, Moment!« unterbrach sie der Kapitän. »Welche Stadt ist das hier?«

Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Was soll die Frage? Wie können Sie in einer Stadt sein, ohne ihren Namen zu kennen?«

Der Kapitän sah aus, als hätte er sich am liebsten unter einen schattigen Apfelbaum gesetzt. »Wir sind fremd hier. Wir möchten nur wissen, wie die Stadt hierhergekommen ist und wie Sie hierhergekommen sind.«

»Machen Sie eine Volkszählung?«

»Nein.«

»Das weiß doch jeder«, sagte sie. »Diese Stadt wurde 1868 gegründet. Handelt es sich um ein Spiel?«

»Nein, kein Spiel!« rief der Kapitän. »Wir kommen von der Erde.«

»Sie meinen, aus dem Boden?« fragte sie verwundert.

»Nein, vom dritten Planeten, der Erde heißt, in einem Raumschiff. Und wir sind hier auf dem vierten Planeten gelandet, dem Mars.«

»Dieser Ort«, sagte die Frau geduldig wie zu einem Kind, »heißt Green Bluff und liegt in Illinois auf dem Kontinent Amerika, der vom Atlantischen und Pazifischen Ozean umgeben ist, auf einem Planeten, der die Welt und manchmal auch die Erde genannt wird. Und jetzt gehen Sie bitte. Leben Sie wohl.«

Sie verschwand im Flur und ließ ihre Finger durch den Schnurvorhang gleiten.

Die drei Männer sahen einander verständnislos an.

»Schlagen wir die Gazetür ein?« fragte Lustig.

»Können wir nicht. Das Haus ist Privatbesitz. Keinen Ärger, um Himmels willen!«

Sie wandten sich um und setzten sich auf die Stufen der Veranda.

»Ist Ihnen schon der Gedanke gekommen, Hinkston, daß wir vielleicht - ich weiß nicht wie - vom Weg abgekommen und wieder auf der Erde gelandet sind?«

»Wie wäre das möglich?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. O Gott, lassen Sie mich nachdenken.«

»Aber wir haben über jede Meile unseres Flugs genau Buch geführt«, sagte Hinkston. »Unsere Chronometer haben die Entfernungen genau angegeben. Wir sind am Mond vorbei ins All hinausgeflogen, und jetzt sind wir hier. Ich bin absolut sicher, daß das hier der Mars ist.«

Lustig sagte: »Aber wenn wir nun im Weltall, im Zeitablauf, irgendwie jedenfalls durch die Dimensionen gerutscht und auf einer Erde gelandet wären, die dreißig oder vierzig Jahre zurückliegt.?«

»Lassen Sie die Scherze, Lustig!«

Lustig ging zur Tür, klingelte und rief in das Halbdunkel und die Kühle des Hauses: »Welches Jahr haben wir?«

»Neunzehnhundertsechsundzwanzig natürlich«, sagte die Frau, die in einem Schaukelstuhl saß und Limonade trank.

»Haben Sie das gehört?« Lustig wandte sich heftig um. »Neunzehnhundertsechsundzwanzig! Wir sind tatsächlich in die Vergangenheit versetzt worden! Wir sind auf der Erde!«

Lustig setzte sich, und die drei Männer ließen das Wunderbare und Entsetzliche dieses Gedankens auf sich einwirken. Unruhig bewegten sie ihre Hände auf den Knien. Der Kapitän sagte schließlich: »So etwas habe ich nicht gewollt. Man könnte es mit der Angst kriegen. Wie ist das überhaupt möglich? Ich wünschte, wir hätten Einstein dabei.« »Wird man uns hier in der Stadt überhaupt glauben?« fragte Hinkston. »Spielen wir nicht mit dem Feuer? Ich meine die Zeit. Sollten wir nicht einfach starten und wieder nach Hause fliegen?«

»Nein. Erst fragen wir noch bei einem anderen Haus.«

Sie gingen die Straße entlang und näherten sich einer kleinen weißen Villa unter einer Eiche.

»Ich versuche immer möglichst logisch zu denken«, sagte der Kapitän. »Und ich glaube nicht, daß wir die Sache schon richtig im Griff haben. Kommen wir doch einmal auf Ihre ursprüngliche Annahme zurück, Hinkston, daß es die Raumfahrt schon seit Jahrzehnten gibt. Nachdem die Menschen von der Erde hier nun eine Zeitlang gelebt hatten, bekamen sie Heimweh nach der Erde. Zuerst nur eine leichte Neurose, es wurde jedoch bald eine ausgewachsene Psychose daraus. Schließlich waren sie vom Wahnsinn bedroht. Was würden Sie als Psychiater in einer solchen Situation tun?«

»Was ist denn, Lustig?«

»O Sir, Sir, was ich da sehe.« sagte Lustig und begann zu weinen. Er hob seine zitternden, gekrümmten Finger, und sein Gesicht war ganz Staunen und Freude und Unglauben. Er sah aus, als würde er im nächsten Augenblick vor Glück überschnappen. Er schaute die Straße hinab und begann zu rennen, zuerst ungeschickt stolpernd, dann sicherer und schneller. »Schaut doch, schaut!«

Der Kapitän begann zu laufen.

Lustig rannte immer schneller und rief etwas Unverständliches. Als er ein gutes Stück auf der schattigen Straße zurückgelegt hatte, bog er in einen Vorgarten ein und rannte auf die Veranda eines großen grünen Hauses, das einen eisernen Wetterhahn auf dem Dach hatte.

Er hämmerte gegen die Tür und schrie und weinte, als ihn Hinkston und der Kapitän einholten. Sie waren außer Atem; der Lauf in der dünnen Luft hatte sie erschöpft.

»Oma! Opa!« stammelte Lustig.

Zwei alte Leute standen in der Tür.

»David!« piepsten sie und eilten herbei, umarmten ihn und klopften ihm auf den Rücken. »Oh, David, David, wie viele Jahre ist das jetzt her! Wie groß du geworden bist, was für ein großer Junge du bist! O David, Junge, wie geht es dir?«

»Oma, Opa!« schluchzte David Lustig. »Ihr seht ja prima aus, so prima!« Er umarmte sie, drehte sie herum, küßte sie, drückte sie an sich, weinte mit ihnen, hielt sie wieder von sich ab und betrachtete die beiden Alten mit feuchten Augen. Die Sonne schien am Himmel, der Wind wehte, das Gras war grün, und die Gazetür stand weit offen.

»Komm doch rein, Junge. Wir haben frischen geeisten Tee für dich, massenweise!«

»Ich habe zwei Freunde mitgebracht.« Lustig wandte sich lachend um und winkte den Kapitän und Hinkston zu sich. »Kapitän, kommen Sie.«

»Willkommen«, sagten die beiden alten Leute. »Treten Sie ein. Die Freunde von David sind auch unsere Freunde. Stehen Sie nicht draußen herum!«

Im Wohnzimmer des alten Hauses war es kühl; eine alte Standuhr tickte metallisch langsam in einer Ecke. Weiche Kissen lagen auf großen Sofas herum, die Wände waren voller Bücher und ein Teppich in der Form einer riesigen Rose bedeckte den Boden. Der geeiste Tee wurde in kalten schwitzenden Gläsern serviert; er schmeckte angenehm kühl auf der durstigen Zunge.

»Auf unsere Gesundheit.« Die Großmutter hob das Glas an ihre blitzenden Zähne.

»Wie lange seid ihr schon hier, Oma?« fragte Lustig.

»Seit unserem Tode.«

»Seit was?.« Kapitän John Black setzte abrupt sein Glas ab.

»O ja.« Lustig nickte. »Sie sind seit dreißig Jahren tot.«

»Und dann sitzen Sie hier so ganz ruhig herum!« rief der Kapitän entgeistert.

»Aber, aber.« Die alte Frau sah ihn mit blitzenden Augen an. »Warum wollen Sie Fragen stellen? Wir existieren. Was bedeutet schon das Leben? Was, warum, wo - das hat keine Bedeutung.

Wir wissen nur, daß wir existieren und wieder leben, und wir stellen keine Fragen. Eine zweite Chance.« Sie kam vorsichtig näher und streckte ihr dünnes Handgelenk aus. »Fassen Sie mal an.« Der Kapitän ergriff es zögernd. »Fest, nicht wahr?« fragte sie. Er nickte. »Also«, sagte sie triumphierend, »warum dann Fragen stellen?«

»Na ja«, sagte der Kapitän, »es ist nur, wir hätten nie gedacht, hier auf dem Mars so etwas zu finden.«

»Und jetzt haben Sie’s gefunden. Ich wage zu behaupten, daß es auf allen Planeten Dinge gibt, die uns Gottes unvorstellbare Wege offenbaren.« »Ist das hier der Himmel?« fragte Hinkston.

»Unsinn. Es ist eine Welt, und wir haben hier eine zweite Chance. Den Grund dafür hat uns niemand gesagt. Aber es hat uns auch niemand verraten, warum wir auf der Erde waren. Die andere Erde, meine ich. Die Erde, von der Sie gekommen sind. Wie wollen wir wissen, ob es nicht auch davor schon eine andere Welt gegeben hat?«

»Eine interessante Frage«, sagte der Kapitän.

Lustig lächelte seine Großeltern an. »Himmel, es ist so toll, euch wiederzusehen, einfach großartig!«

Der Kapitän stand auf und schlug sich beiläufig mit der Hand ans Bein. »Wir müssen weiter. Vielen Dank für die Erfrischung.«

»Sie kommen natürlich wieder«, sagten die alten Leute. »Zum Abendessen, ja?«

»Wir wollen es versuchen, vielen Dank. Es gibt so viel zu tun. Meine Männer warten drüben in der Rakete auf mich, und.«

Er unterbrach sich und starrte verblüfft zur Tür.

Weit entfernt draußen im Sonnenlicht waren Stimmen zu hören, dann ein lautes Hallo.

»Was ist das?« fragte Hinkston.

»Stellen wir gleich mal fest.« Kapitän John Black eilte zur Tür und rannte über den grünen Rasen auf die Straße hinaus.

Er sah zur Rakete hinüber. Dort standen alle Schotts offen, und seine Mannschaft strömte winkend heraus. Zahlreiche Menschen hatten sich versammelt, und seine Männer eilten in die Menge und redeten und lachten und schüttelten Hände. Die Rakete blieb leer und verlassen zurück.

Eine Blaskapelle explodierte im Sonnenlicht und schmetterte ein fröhliches Lied aus Baßtuben und Trompeten. Trommeln dröhnten und Pfeifen schrillten. Kleine Mädchen mit goldenem Haar hüpften aufgeregt auf der Stelle. Kleine Jungen brüllten »Hurra!« Dicke Männer teilten Zehn-Cent-Zigarren aus. Der Bürgermeister hielt eine Rede. Und dann wurden die Mannschaftsmitglieder, flankiert von Eltern oder Geschwistern, die Straße hinabgeführt und verschwanden in kleinen Villen oder großen Häusern.

»Halt!« rief Kapitän Black.

Die Türen wurden zugeschlagen.

Die Hitze stieg in den klaren Frühlingshimmel, und es war wieder still. Die Blaskapelle verschwand lärmend um eine Ecke und ließ die Rakete einsam blitzend und schimmernd zurück.

»Verlassen!« sagte der Kapitän. »Sie haben das Schiff tatsächlich verlassen! Das kostet sie den Kopf, bei Gott! Sie hatten ihre Befehle!«

»Sir«, sagte Lustig, »seien Sie nicht so streng mit ihnen. Sie haben Verwandte und Freunde wiedergetroffen.«

»Das ist keine Entschuldigung!«

»Überlegen Sie doch, wie ihnen zumute gewesen sein muß, als sie draußen vor dem Schiff all die vertrauten Gesichter sahen!«

»Verdammt, sie hatten aber ihre Befehle!«

»Wie wäre es Ihnen selbst ergangen, Kapitän?«

»Ich hätte die Befehle befolgt.« Dem Kapitän blieb der Mund offenstehen.

Auf dem Bürgersteig unter der marsianischen Sonne kam ein junger, etwa sechsundzwanzigjähriger Mann auf ihn zu, groß, lächelnd, mit erstaunlich hellblauen Augen. »John!« rief der Mann und begann zu laufen.

»Was?« Kapitän John Black schwankte.

»John, alter Schurke!«

Der Mann kam heran, ergriff seine Hand und schlug ihm auf die Schulter.

»Bist du es wirklich?« fragte Kapitän Black.

»Natürlich, wer sonst?«

»Edward!« Der Kapitän, der noch immer die Hand des Fremden umklammert hielt, wandte sich an Lustig und Hinkston. »Das ist mein Bruder Edward. Ed, das sind zwei von meinen Leuten, Lustig und Hinkston. Mein Bruder!«

Sie klopften einander auf die Schulter, drückten sich die Hände und umarmten sich schließlich. »Ed!« - »John, alter Knabe!« - »Du siehst prächtig aus, Ed, aber was geht hier eigentlich vor? Du hast dich in all den Jahren überhaupt nicht verändert. Ich weiß noch, du bist mit sechsundzwanzig gestorben; damals war ich neunzehn. Himmel, so viele Jahre ist das her, und da stehst du plötzlich vor mir. Mein Gott, was geht hier vor?«

»Mama wartet«, sagte Edward Black lächelnd.

»Mama?«

»Und Paps natürlich auch.« »Paps?« Der Kapitän zuckte wie unter einem Hammerschlag zusammen. Seine Bewegungen bekamen mit einemmal etwas Steifes, Unkontrolliertes. »Mama und Paps leben hier? Wo?«

»Im alten Haus an der Oak Knoll Avenue.«

»Das alte Haus.« Der Kapitän blickte in entzücktem Staunen um sich. »Lustig, Hinkston, haben Sie das gehört?«

Aber Hinkston war schon verschwunden. Er hatte weiter unten an der Straße das Haus seiner Familie entdeckt und lief darauf zu. Lustig lachte: »Merken Sie jetzt, Kapitän, was mit den Jungs in der Rakete passiert ist? Sie konnten einfach nicht anders.«

»Ja, ja.« Der Kapitän kniff die Augen zusammen. »Wenn ich jetzt die Augen wieder aufmache, bist du verschwunden.« Er blinzelte. »Du bist immer noch da. Himmel, Ed, wie gut du aussiehst!«

»Komm, das Mittagessen wartet. Ich habe Mama schon Bescheid gegeben.«

Lustig sagte: »Sir, wenn Sie mich brauchen, bin ich bei meinen Großeltern.«

»Was? O ja, natürlich, Lustig. Dann bis später.«

Edward nahm seinen Arm und zog ihn mit sich. »Da ist das Haus. Erinnerst du dich?«

»Und ob! Wetten, daß ich’s als erster zur Veranda schaffe?«

Sie rannten los. Die Bäume brausten über Kapitän Blacks Kopf dahin, die Erde dröhnte ihm unter den Füßen. Wie in einem erstaunlich wirklichkeitsnahen Traum sah er Edwards leuchtende Gestalt an sich vorbeiziehen. Er sah das Haus auf sich zukommen, dessen Tür weit geöffnet war.

»Gewonnen!« rief Edward.

»Ich bin ja auch ein alter Mann«, sagte der Kapitän schweratmend, »und du bist immer noch jung. Aber erinnerst du dich - du hast mich sowieso immer geschlagen!«

Auf der Schwelle stand Mama, rosa, drall, strahlend. Hinter ihr, pfeffergrau, wartete Paps, die Pfeife in der Hand.

»Mama! Paps!«

Wie ein Kind rannte er die Stufen hoch.

Es war ein herrlicher langer Nachmittag. Nach dem späten Mittagessen saßen sie im Wohnzimmer, und er erzählte ihnen von seiner Rakete, und sie nickten und lächelten, und Mutter hatte sich überhaupt nicht verändert, und Paps biß wie früher das Ende seiner Zigarre ab und zündete sie nachdenklich an. Am Abend gab es Truthahn, und die Zeit verströmte nur so. Als die Schenkelknochen blankgenagt auf den Tellern lagen, lehnte sich der Kapitän zurück und seufzte befriedigt. Die Nacht hing in den Bäumen und färbte den Himmel, und die Lampen bildeten rosafarbene Lichthöfe im stillen Haus. Aus den anderen Häusern entlang der Straße tönte Türenschlagen und Lachen und Klavierspiel herüber.

Mama legte eine Platte auf die Victrola, und sie und Kapitän John Black tanzten. Sie hatte noch das gleiche Parfüm wie damals in dem Sommer, als sie und Paps bei einem Zugunglück ums Leben kamen. Sie fühlte sich sehr wirklich an in seinen Armen und sie tanzten langsam im Takt der Musik. »Nicht jeden Tag«, sagte sie, »bekommt man eine zweite Chance zu leben.«

»Ich wache bestimmt morgen auf«, sagte der Kapitän, »und bin wieder in meiner Rakete, draußen im All - und das alles ist verschwunden.«

»Nein, das darfst du nicht glauben«, flehte sie leise. »Stell keine Fragen. Gott ist gut zu uns. Akzeptieren wir das Glück, das er uns schenkt.«

»Es tut mir leid, Mama.«

Die Melodie auf der Schallplatte ging mit kreiselndem Zischen zu Ende.

»Du bist bestimmt müde, mein Sohn.« Paps deutete mit der Pfeife nach oben. »Dein altes Zimmer wartet auf dich - auch dein Messingbett ist noch da.«

»Aber ich müßte meine Leute zusammentrommeln.«

»Warum?«

»Warum? Na ja, ich weiß nicht. Ist vielleicht nicht nötig. Ja, du hast recht. Sie essen wohl gerade oder sind schon im Bett. Es wird ihnen gut tun, wenn sie sich einmal richtig ausschlafen können.«

»Gute Nacht, mein Sohn.« Mama gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Es ist schön, daß du wieder zu Hause bist.«

»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.«

Er verließ das Land des Zigarrenrauchs und Parfüms, das Land der Bücher und des weichen Lichts und ging im Gespräch mit Edward nach oben. Edward stieß eine Tür auf - und da waren das gelbe Messingbett und die alten Wimpel von der Universität und ein sehr verstaubter Waschbärenmantel, den er liebevoll betastete. »Das ist einfach zuviel«, sagte der Kapitän. »Ich bin betäubt und müde. Zuviel ist heute passiert. Es kommt mir vor, als wäre ich schon achtundvierzig Stunden in strömendem Regen ohne Schirm unterwegs. Ich bin bis auf die Haut mit Gefühlen durchtränkt.«

Edward schlug das schimmernd weiße Bett auf und beklopfte die Kissen. Er schob das Fenster hoch und ließ den nächtlichen Jasminduft herein. Draußen war Mondschein und leise Tanzmusik und Flüstern.

»Das ist also der Mars«, sagte der Kapitän während des Ausziehens.

»Das ist er.« Mit langsamen, abgewogenen Bewegungen folgte Edward seinem Beispiel; er zog sich das Hemd über den Kopf und enthüllte goldene Schultern und einen ausgeprägten, muskulösen Hals.

Das Licht war gelöscht; sie lagen nebeneinander im Bett wie in den guten alten Tagen. Vor wie vielen Jahrzehnten war das gewesen? Der Kapitän träumte vor sich hin und ließ den Jasminduft auf sich einwirken, der die Spitzenvorhänge in die dunkle Luft des Zimmers wölbte. Zwischen den Bäumen, irgendwo auf einem Rasen, hatte jemand einen tragbaren Fonographen in Betrieb gesetzt, der leise >Immer< spielte.

Da mußte er an Marilyn denken.

»Ist Marilyn hier?«

Sein Bruder, der ausgestreckt im Mondlicht, das zum Fenster hereinfiel, neben ihm lag, antwortete nicht sofort. Schließlich sagte er: »Ja. Sie ist nur nicht in der Stadt, sie kommt morgen früh.«

Der Kapitän schloß die Augen. »Ich möchte Marilyn sehr gern wiedersehen.«

Jetzt waren nur noch die Atemzüge der Männer zu hören.

»Gute Nacht, Ed.«

Eine Pause. »Gute Nacht, John.«

Entspannt lag er im Bett und ließ seine Gedanken wandern. Zum erstenmal streifte er die Anspannungen des Tages ab; er konnte wieder logisch denken. Eine große Gefühlsduselei war das gewesen heute. Die Kapelle, die bekannten Gesichter. Doch jetzt.

Wie nur? fragte er sich. Wie wurde das alles bewirkt? Und warum? Zu welchem Zweck? War hier irgendeine überirdische Güte am Werk? War Gott wirklich so fürsorglich? Wie und warum denn nur?

Er überdachte die verschiedenen Theorien, die Hinkston und Lustig in der ersten Hitze des Nachmittags geäußert hatten. Alle möglichen Theorien ließ er wie Kiesel durch seinen Geist fallen und im Drehen kleine gedämpfte Lichtblitze ausstrahlen. Mama. Paps. Edward. Erde. Mars. Marsianer.

Wer hatte vor tausend Jahren hier auf dem Mars gelebt? Oder war der Planet schon immer so gewesen?

Marsianer. Lautlos und langsam sagte er das Wort noch einmal vor sich hin. Fast hätte er laut aufgelacht, denn plötzlich war ihm eine ganz lächerliche Theorie eingefallen, die ihn mit merkwürdiger Kälte erfüllte. Nichts wirklich Greifbares, natürlich. Höchst unwahrscheinlich sogar. Blödsinnig. Vergiß das wieder. Lächerlich.

Aber, dachte er, wenn nun doch... Nimm einmal an, daß tatsächlich Marsianer auf dem Mars lebten, die unser Schiff kommen sahen und die uns darin sahen und die uns haßten. Nimm einmal an, einfach nur so, daß sie uns vernichten wollten, als Invasoren, als unerwünschte Eindringlinge, und daß sie es ganz geschickt anstellen wollten, damit wir nichts merkten. Und was war die beste Waffe eines Marsianers gegen Menschen von der Erde, die Atomwaffen mit sich führten?

Die Antwort war sehr interessant: Telepathie. Hypnose, Erinnerungen und Fantasie.

Nimm einmal an, all diese Häuser sind gar nicht wirklich vorhanden, ebensowenig wie dieses Bett - nimm einmal an, das alles hier sind nur Fantasieprodukte, denen die Marsianer durch Hypnose scheinbar Substanz verliehen haben. Nimm einmal an, diese Häuser besitzen in Wirklichkeit eine andere Form, irgendeine marsianische Form, und die Marsianer haben ihrer Siedlung - meinen Sehnsüchten und Wünschen folgend - das Gesicht meiner alten Heimatstadt gegeben und mein altes Haus wiedererstehen lassen, damit ich nicht mißtrauisch werde. Wie könnte man einen Mann besser übertölpeln, als durch seine eigene Mutter und seinen eigenen Vater, die man ihm als Köder hinhielt?

Und die Stadt, so alt, aus dem Jahr 1926 - älter als alle meine Männer. Aus einem Jahr, in dem ich sechs war und es tatsächlich Aufnahmen von Harry Lauder gab und Bilder von Maxwell Parrish an den Wänden, und Schnurvorhänge und >Schönes Ohio< und Architektur der Jahrhundertwende. Wenn nun die Marsianer die Erinnerungen an eine Stadt ausschließlich von mir übernommen hätten? Es heißt ja, daß Kindheitserinnerungen stets sehr deutlich sind. Und als sie dann die Stadt aus meinem Gedächtnis erbaut hatten, bevölkerten sie sie mit den liebsten Angehörigen aus den Erinnerungen der Männer in der Rakete!

Und wenn nun die beiden Leute nebenan gar nicht mein Vater und meine Mutter wären, sondern zwei Marsianer, die mich unglaublich geschickt in meiner Traumhypnose halten können!

Und diese Blaskapelle! Was für ein verblüffender, wunderbarer Plan das wäre! Zuerst Lustig täuschen, dann Hinkston, dann eine Menschenmenge zusammenrufen, woraufhin seine Männer beim Anblick von Müttern, Tanten, Onkeln und Freundinnen, die schon zehn, zwanzig Jahre tot waren, natürlich sämtliche Befehle mißachteten und eiligst das Schiff verließen. Was wäre natürlicher? Was schiene harmloser? Was wäre wirkungsvoller? Ein Mann stellt keine kritischen Fragen, wenn seine Mutter plötzlich wieder ins Leben tritt; er ist viel zu glücklich darüber. Und da liegen wir nun heute nacht, dachte er, einzeln, jeder in einem anderen Haus, in einem anderen Bett, waffenlos, schutzlos, und die Rakete steht leer im Mondlicht. Wäre es nicht eine entsetzliche Entdeckung, wenn all das zu einem teuflischen Plan der Marsianer gehörte, uns zu zerstreuen und zu überwältigen und zu töten? Irgendwann in der Nacht wird sich mein Bruder dort vielleicht verändern, sein menschlicher Körper wird sich auflösen, zu etwas anderem werden, zu etwas Entsetzlichem - zu einem Marsianer. Es wäre dann ein leichtes für ihn, sich im Bett herumzudrehen und mich zu erstechen. Und in den anderen Häusern an der Straße verändert sich ein Dutzend anderer Brüder oder Väter und nimmt Messer zur Hand und tut den ahnungslosen Schlafenden Böses an.

Unter der Decke hatten seine Hände zu zittern begonnen. Ihm war kalt. Plötzlich war das keine Theorie mehr. Plötzlich hatte er entsetzliche Angst.

Er richtete sich im Bett auf und lauschte. Es war sehr still draußen. Die Musik war verstummt. Der Wind hatte sich gelegt. Sein Bruder schlief neben ihm.

Vorsichtig hob er die Decke und schlug sie zurück. Er glitt aus dem Bett und schlich durch das Zimmer. Da fragte die Stimme seines Bruders: »Wohin willst du?«

»Was?«

Die Stimme seines Bruders klang ganz kalt. »Ich fragte, wohin du willst?«

»Etwas trinken.«

»Aber du bist ja gar nicht durstig.«

»Doch.« »Nein, bist du nicht!«

Kapitän John Black fuhr herum und lief los. Er schrie einmal auf, dann ein zweites Mal.

Die Tür erreichte er nicht mehr.

Am nächsten Morgen spielte die Blaskapelle einen Trauermarsch. Aus den Häusern an der Straße kamen kleine feierliche Prozessionen, die die Särge begleiteten, und die sonnige Straße herab kamen weinend die Großmütter und Mütter und Schwestern und Brüder und Onkeln und Väter und gingen zum Friedhof, wo schon die frisch ausgehobenen Gräber und die neuen Grabsteine warteten. Sechzehn Gräber waren es, und sechzehn Grabsteine.

Der Bürgermeister hielt eine kurze traurige Rede, wobei sein Gesicht nur noch zeitweise wie das des Bürgermeisters aussah.

Mutter und Vater Black waren ebenfalls zur Stelle, und Bruder Edward, und sie weinten, und ihre Gesichter zerschmolzen und nahmen eine andere, unvertraute Form an.

Auch Opa und Oma Lustig waren auf dem Friedhof und weinten, und ihre Gesichter zerflossen wie Wachs und flimmerten, so wie an einem heißen Tag alles flimmert.

Die Särge wurden in die Gräber gesenkt. Jemand murmelte etwas von dem »plötzlichen, unerwarteten Tod von sechzehn guten Männern in der Nacht.«

Erde dröhnte auf den Sargdeckeln.

Die Blaskapelle spielte >Columbia, du Stern des Ozeans<, marschierte lärmend wieder in die Stadt, und alle nahmen den Tag frei.

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