Die blauen Berge ragten im Regen auf, und der Regen rauschte in Sturzbächen in die langen Kanäle, und der alte LaFarge und seine Frau kamen vor das Haus und sahen zu.
»Der erste Regen dieses Jahr«, bemerkte LaFarge.
»Tut gut«, sagte seine Frau.
»Sehr willkommen.«
Sie schlossen die Tür. Drinnen wärmten sie sich die Hände über einem Feuer. Sie schauderten zusammen. Durch das Fenster sahen sie den Regen an den Flanken der Rakete schimmern, in der sie von der Erde gekommen waren.
»Nur etwas stört mich«, sagte LaFarge und betrachtete seine Hände.
»Was denn?« fragte seine Frau.
»Ich wünschte, wir hätten Tom mitbringen können.«
»Also, Lafe!«
»Ich fang nicht wieder davon an; es tut mir leid.«
»Wir sind hierhergekommen, um unser Leben zu beschließen und nicht mehr an Tom zu denken. Er ist jetzt schon so lange tot, daß wir wirklich versuchen sollten, ihn zu vergessen - ihn und überhaupt alles auf der Erde.«
»Du hast recht«, sagte er und hielt seine Hände wieder in die Hitze. Er starrte ins Feuer. »Ich will nicht mehr davon reden. Mir fehlt wohl die Fahrt zum Grünen Park jeden Sonntag, wo wir Blumen auf seinen Grabstein gelegt haben. Woanders sind wir gar nicht mehr hingefahren.«
Der blaue Regen rauschte leise auf das Dach.
Um neun Uhr gingen sie zu Bett und lagen stumm nebeneinander, Hand in Hand, in der Dunkelheit des Regens; er fünfundfünfzig, sie sechzig.
»Anna?« sagte er leise.
»Ja?« erwiderte sie.
»Hast du nichts gehört?«
Beide lauschten in den Regen und den Wind.
»Nichts«, sagte sie.
»Da pfeift jemand«, sagte er.
»Nein, ich habe nichts gehört.«
»Ich stehe auf und sehe nach.«
Er zog seinen Morgenmantel über und ging zur Tür. Zögernd öffnete er sie, und der Regen traf ihn kalt ins Gesicht. Der Wind wehte.
Im Hof stand eine kleine Gestalt.
Ein Blitz spaltete den Himmel, und grelles Licht erhellte das Gesicht, das den alten LaFarge ansah.
»Wer ist da?« rief LaFarge zitternd.
Keine Antwort.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie!«
Schweigen.
Er fühlte sich sehr schwach und müde und starr. »Wer sind Sie?« rief er.
Seine Frau trat hinter ihn und nahm seinen Arm. »Warum schreist du denn so?«
»Ein kleiner Junge steht da im Hof und antwortet nicht«, sagte der alte Mann zitternd. »Er sieht wie Tom aus!«
»Komm ins Bett, du träumst ja.«
»Aber da ist er doch, schau doch hin.«
Er öffnete die Tür noch weiter, damit auch sie hinaussehen konnte. Der kalte Wind blies herein, und der Regen rauschte zu Boden, und die Gestalt stand dort und schaute sie geistesabwesend an. Die alte Frau stützte sich am Türpfosten.
»Verschwinde!« rief sie und schwenkte den Arm. »Verschwinde!«
»Sieht er nicht aus wie Tom?« fragte der alte Mann heiser.
Die Gestalt bewegte sich nicht.
»Ich habe Angst«, sagte die alte Frau. »Komm, schließ die Tür ab und komm zu Bett. Ich will nichts damit zu schaffen haben.«
Vor sich hin klagend verschwand sie im Schlafzimmer.
Der alte Mann blieb stehen, und der Wind regnete ihm kalt auf die Hände.
»Tom«, rief er leise, »wenn du das bist, wenn du durch irgendeine Fügung zurückgekommen bist. ich schließe die Tür nicht ab. Und wenn dir kalt ist und du dich wärmen möchtest, brauchst du nur hereinzukommen und dich an den Herd zu legen; da haben wir ein paar Felle.«
Er machte die Tür zu, schloß aber nicht ab.
Seine Frau spürte, wie er zu Bett kam, und erschauderte. »Eine schreckliche Nacht. Mir ist so kalt«, sagte sie schluchzend.
»Schsch«, beruhigte er sie und umfing sie mit den Armen. »Schlaf weiter.«
Nach langer Zeit schlief sie ein.
Und als er dann lauschte, hörte er, wie sich ganz leise die Tür öffnete, wie Regen und Wind hereinpeitschten und die Tür wieder geschlossen wurde. Er hörte leise Schritte und leises Atmen. »Tom«, sagte er lautlos vor sich hin.
Blitze zuckten auf und zerfetzten die Dunkelheit.
Am Morgen brannte heiß die Sonne herab.
Mr. LaFarge öffnete die Tür zum Wohnzimmer und sah sich hastig um.
Auf den Fellen am Herd lag niemand.
LaFarge seufzte. »Ich werde alt«, murmelte er.
Er verließ das Haus und wollte zum Kanal gehen, um einen Eimer klares Wasser zum Waschen zu holen. In der Tür hätte er fast den Jungen umgerannt, der bereits einen randvoll gefüllten Eimer herbeischleppte. »Guten Morgen, Vater!«
»Morgen, Tom.« Der alte Mann taumelte zur Seite. Der barfüßige Junge eilte durch den Raum, stellte den Eimer ab und wandte sich lächelnd um. »Ein schöner Tag heute!«
»Ja«, sagte der alte Mann ungläubig. Der Junge tat völlig unbefangen und begann sich das Gesicht zu waschen.
Der alte Mann kam näher. »Tom, wie bist du hierhergekommen? Du lebst?«
»Darf ich das nicht?« Der Junge blickte auf.
»Aber Tom, der Grüne Park, die Blumen jeden Sonntag.« La Farge mußte sich setzen. Der Junge trat neben ihn und nahm seine Hand. Der alte Mann betastete die warmen, festen Finger.
»Bist du’s wirklich, träumen wir auch nicht?«
»Du möchtest doch, daß ich bei euch bin, nicht wahr?« Der Junge schien beunruhigt.
»Ja, ja doch, Tom!«
»Warum dann Fragen stellen? Nehmt mich, wie ich bin!«
»Aber deine Mutter - der Schock. «
»Mach dir um sie keine Sorgen. In der Nacht habe ich ein wenig für euch gesungen, und ihr werdet euch deswegen leichter an mich gewöhnen - besonders sie. Ich kenne diesen Schock. Wart nur, bis sie kommt, du wirst sehen.« Er lachte und schüttelte seinen Lockenkopf. Seine Augen waren sehr blau und klar.
»Guten Morgen, Lafe, guten Morgen, Tom.« Mutter kam aus dem Schlafzimmer und drehte ihr Haar zu einem Knoten zusammen. »Ist das Wetter nicht herrlich?«
Tom wandte sich um und lachte seinem Vater ins Gesicht. »Siehst du?«
Im Schatten des Hauses aßen sie gut zu Mittag, alle drei. Mrs. LaFarge hatte eine alte Flasche Sonnenblumenwein gefunden, den sie für eine festliche Gelegenheit aufgehoben hatte, und sie alle tranken davon. Mr. LaFarge hatte seine Frau noch nie so fröhlich erlebt. Wenn sie innerlich Zweifel hegte, so behielt sie sie für sich. Sie empfand die Situation als völlig normal. Und auch LaFarge begann sich daran zu gewöhnen.
Während Mutter das Geschirr abwusch, beugte sich LaFarge zu seinem Sohn und lachte leise: »Wie alt bist du jetzt?«
»Weißt du das nicht, Vater? Vierzehn natürlich.«
»Wer bist du denn wirklich? Du kannst nicht Tom sein, aber irgend jemand muß doch in dir stecken. Wer?«
»Frag nicht!« Erschreckt schlug der Junge die Hände vors Gesicht.
»Du kannst es mir ruhig verraten«, sagte der alte Mann. »Ich verstehe dich schon. Du bist ein Marsianer, nicht? Ich habe viel über die Marsianer gehört, nichts Bestimmtes. Daß es nicht mehr sehr viele gibt und daß sie in der Gestalt von Erdenmenschen kommen, wenn sie sich unter uns mischen. Du hast etwas an dir. einerseits bist du Tom, andererseits wieder nicht.«
»Warum kannst du mich nicht einfach nehmen, wie ich bin, und mit der Fragerei aufhören?« rief der Junge, sein Gesicht völlig hinter den Händen verborgen. »Du darfst nicht an mir zweifeln, Bitte!« er wandte sich um und rannte davon.
»Tom, komm zurück!«
Aber der Junge lief am Kanal entlang auf die ferne Stadt zu.
»Wohin will er denn?« fragte Anna, die gerade abräumen wollte. Sie sah ihren Mann prüfend an. »Hast du etwas Schlimmes zu ihm gesagt?« »Anna«, sagte er und nahm ihre Hand. »Anna, erinnerst du dich noch an den Grünen Park, an einen großen Markt, an Toms Lungenentzündung?«
»Was meinst du!« Sie lachte.
»Schon gut«, sagte er leise.
In der Ferne setzte sich der Staub, wo Tom am Kanalufer entlanggelaufen war.
Um fünf Uhr bei Sonnenuntergang kam Tom zurück. Er sah seinen Vater unsicher an. »Willst du mir Fragen stellen?« wollte er wissen.
»Keine Fragen«, sagte LaFarge.
Der Junge lächelte, und seine Zähne blitzten. »Prima.«
»Wo bist du gewesen?«
»In der Nähe der Stadt. Ich wäre fast nicht zurückgekommen, wäre fast« - der Junge suchte nach einem passenden Wort - »gefangen worden.«
»Was meinst du mit - >gefangen«
»Ich kam an einer kleinen Blechhütte am Kanal vorbei, und es kam fast dazu, daß ich nie hätte zurückkehren können. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, es geht einfach nicht; ich kann’s nicht beschreiben, denn ich weiß es selbst nicht. Komisch, ich will auch nicht darüber sprechen.«
»Also, lassen wir das Thema. Komm, wasch dich. Gleich gibt’s Abendbrot.«
Der Junge lief davon.
Etwa zehn Minuten später glitt ein Boot durch das ruhige Kanalwasser; ein großer, hagerer Mann stemmte mit gemessenen Bewegungen eine Stange in den Kanalgrund und trieb das Boot voran. »Guten Abend, Bruder LaFarge«, sagte er und unterbrach seine Tätigkeit.
»Abend, Saul, was gibt’s Neues?«
»Alles mögliche. Kennst du den Burschen, der unten am Kanal in einer Blechhütte wohnt? Nomland heißt er, glaube ich.«
LaFarge erstarrte. »Ja?«
»Weißt du, was für ein Schurke das gewesen ist?«
»Angeblich hat er die Erde verlassen, weil er jemanden umgebracht hat.«
Saul stützte sich auf seinen nassen Stab und starrte zu LaFarge herüber. »Und erinnerst du dich an den Namen seines Opfers?« »Hieß der Mann nicht Gillings oder so ähnlich?«
»Stimmt. Gillings. Also vor etwa zwei Stunden kam Mr. Nomland in die Stadt gerannt und wimmerte, er hätte Gillings gesehen, munter und lebendig, hier auf dem Mars, heute nachmittag! Er wollte unbedingt ins Gefängnis gesperrt werden, aber darauf ließ sich niemand ein. Also ging Nomland nach Hause, und wie ich höre, hat er sich vor zwanzig Minuten in den Mund geschossen. Ich komme gerade von drüben.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Es passieren schon schlimme Sachen«, sagte Saul. »Na ja, gute Nacht, LaFarge.«
»Gute Nacht.«
Saul stieß die Stange in den Grund, und das Boot glitt auf dem stillen Kanal davon.
»Das Essen ist fertig«, rief die alte Frau.
Mr. LaFarge setzte sich zu Tisch, ergriff das Messer und sah Tom prüfend an. »Tom«, sagte er, »was hast du heute nachmittag gemacht?«
»Nichts«, sagte Tom mit vollem Mund. »Wieso?«
»Ich wollt’s nur wissen«, sagte der alte Mann und stopfte sich seine Serviette in den Kragen.
Um sieben Uhr wollte die alte Frau in die Stadt. »Bin seit Monaten nicht mehr dort gewesen«, sagte sie. Aber Tom wollte nicht.
»Ich habe Angst vor der Stadt«, sagte er. »Die Leute. Ich möchte nicht mit.«
»So redet doch kein großer Junge«, sagte Anna. »Nein, das gibt’s bei mir nicht. Du kommst mit, ich bestehe darauf.«
»Anna, wenn der Junge nicht will.«, begann der alte Mann.
Aber es gab keine Diskussionen. Sie trieb die beiden Männer in das Boot, und sie fuhren im Schein der abendlichen Sterne auf dem Kanal. Tom hatte sich zurückgelegt und die Augen geschlossen; es war nicht zu erkennen, ob er schlief. Der alte Mann sah ihn unverwandt an und ließ seine Gedanken wandern. Wer ist das, fragte er sich, wer ist dieses Wesen, das Liebe ebenso sehr braucht wie wir, das aus Einsamkeit zu uns kommt, zu den Fremden, die Stimme und das Gesicht einer Erinnerung übernimmt und mit uns lebt - endlich zufrieden und anerkannt? Von welchem Berg, aus welcher Höhle kommt es, welcher kleinen verlorenen Rasse gehört es an, die auf dieser Welt schon existierte, als Raketen von der Erde eintrafen? Der alte Mann schüttelte den Kopf. Antworten gab es nicht auf seine Fragen. Das kleine Wesen hatte eben Tom zu sein und niemand anderer.
Der alte Mann schaute zur Stadt hinüber, und der Anblick gefiel ihm nicht. Doch schon kehrten seine Gedanken zu Tom und Anna zurück, und er überlegte: Vielleicht ist es nicht richtig, Tom überhaupt bei uns zu behalten - und sei es nur für kurze Zeit. Was kann denn schon dabei herauskommen außer Kummer und Probleme? Wie sollten wir andererseits gerade dem entsagen, was wir uns immer sehnlichst wünschten - auch wenn es nur einen Tag bleibt und dann wieder verschwunden ist, wenn es die Leere noch schrecklicher erscheinen läßt, die dunklen Nächte noch dunkler, die regnerischen Nächte noch nasser? Eher könnte man uns das Essen von der Gabel stehlen, als uns dieses Wesen wieder zu nehmen.
Und er blickte auf den Jungen hinab, der friedlich im Boot schlummerte. Der Junge wimmerte im Traum. »Die Leute«, murmelte er im Schlaf. »Ändern und verändern. Falle.«
»Ruhig, ruhig, Junge.« LaFarge strich dem Jungen über die weichen Locken, und Tom wurde still.
LaFarge half seiner Frau und seinem Sohn aus dem Boot.
»Da wären wir!« Anna lächelte zu den Lichtern hinüber, hörte die Musik aus den Gaststätten, die Pianos, die Fonografen, beobachtete die herüberschauenden Leute, die untergehakt auf den belebten Straßen promenierten.
»Ich wünschte, ich wäre zu Hause«, sagte Tom.
»So hast du ja noch nie gesprochen«, sagte die Mutter. »Dir haben die Samstagabende in der Stadt doch immer Spaß gemacht.«
»Bleib bei mir«, flüsterte Tom. »Ich möchte nicht gefangen werden.«
Anna hatte die Worte gehört. »Nun hör aber auf mit dem Gerede; komm endlich!«
LaFarge bemerkte, daß der Junge seine Hand nahm. LaFarge drückte sie. »Ich bleibe bei dir, Junge.« Er betrachtete das lebhafte Hin und Her und wurde ebenfalls unruhig. »Wir bleiben nicht lange.«
»Unsinn, wir haben den ganzen Abend Zeit«, sagte Anna.
Sie überquerten die Straße, und drei Betrunkene stolperten ihnen in den Weg. Einen Augenblick herrschte großes Durcheinander, sie wurden getrennt und herumgewirbelt, und plötzlich blieb LaFarge verblüfft stehen.
Tom war verschwunden.
»Wo ist er denn?« fragte Anna aufgebracht. »Immer muß er weglaufen. Tom!« rief sie.
Mr. LaFarge hastete durch die Menge, doch Tom war verschwunden.
»Er kommt wieder; er ist bestimmt am Boot, wenn wir heimfahren«, sagte Anna überzeugt und führte ihren Mann zurück zum Lichtspieltheater. Plötzlich entstand Bewegung in der Menge, und ein Mann und eine Frau rannten an LaFarge vorüber. Er erkannte sie - Joe Spaulding und seine Frau. Sie waren in der Menge untergetaucht, ehe er etwas zu ihnen sagen konnte.
Nervös über die Schulter schauend, löste er die Eintrittskarten und ließ sich von seiner Frau widerstrebend in die Dunkelheit zerren.
Um elf Uhr war Tom nicht am Bootssteg. Mrs. LaFarge wurde sehr blaß.
»Mutter«, sagte LaFarge, »fang nicht an, dir Gedanken zu machen. Ich finde ihn schon. Warte hier.«
»Beeil dich.« Ihre Stimme ging im Plätschern des Wassers unter.
Er wanderte durch die nächtlichen Straßen, die Hände in den Taschen. Ringsum gingen nach und nach die Lichter aus. Noch lehnten hier und da Menschen in den Fenstern, denn es war eine warme Nacht, obwohl von Zeit zu Zeit Regenwolken die Sterne am Himmel verdunkelten. Während er dahinschritt, dachte er an die große Angst des Jungen, gefangen zu werden, an seine Angst vor Menschenmengen und Städten. Es hat keinen Sinn, dachte der alte Mann müde. Vielleicht war der Junge für immer verschwunden, vielleicht hat es ihn nie gegeben. LaFarge bog in eine Gasse ein und zählte die Hausnummern ab.
»Hallo, LaFarge.«
Ein Mann saß auf der Schwelle seiner Haustür und rauchte Pfeife.
»Hallo, Mike.«
»Hast du Streit mit deiner Frau gehabt und marschierst dir den Ärger vom Leib?«
»Nein. Ich bin nur so unterwegs.«
»Du siehst aus, als hättest du etwas verloren. Ach, da wir gerade von etwas Verlorenem sprechen«, sagte Mike, »heute abend hat sich übrigens jemand wiedergefunden. Kennst du Spaulding? Erinnerst du dich an seine Tochter Lavinia?«
»Ja.« LaFarge fröstelte. Er glaubte einen Traum zu haben, den er schon kannte. Er ahnte die nächsten Worte bereits, ehe sie ausgesprochen wurden.
»Lavinia ist heute nach Hause zurückgekehrt«, sagte Mike und stieß eine Rauchwolke aus. »Du weißt doch, sie hat sich vor einem Monat irgendwo draußen auf dem Grund des toten Meeres verlaufen. Man fand dann ein schlimm aussehendes Etwas, das man für die Überreste der Kleinen hielt, und seither war mit den Spauldings nichts mehr anzufangen. Joe ist immer herummarschiert und hat behauptet, sie wäre gar nicht tot, es sei gar nicht ihre Leiche. Damit hat er wohl tatsächlich recht gehabt. Lavinia ist wieder aufgetaucht.«
»Wo denn?« LaFarge spürte, wie er heftiger atmete, wie sein Herz schneller schlug.
»Auf der Hauptstraße. Die Spauldings kauften sich gerade Eintrittskarten für ein Kino. Und ganz plötzlich war Lavinia da, mitten in der Menge. Muß eine Szene gewesen sein. Sie hat ihre Eltern zuerst gar nicht erkannt. Sie sind ihr einen halben Block gefolgt und haben sie angesprochen. Und da erinnerte sie sich.«
»Hast du sie gesehen?«
»Nein, aber ich habe sie singen hören. Weißt du noch, wie sie immer >Die schönen Ufer von Loch Lomond< gesungen hat? Vorhin hab ich sie drüben im Haus singen hören, für ihren Vater. War angenehm fürs Ohr; ein so hübsches Mädchen wie sie. Ich hatt’s für eine Schande gehalten, daß sie tot sein sollte; und wenn sie jetzt wieder da ist, um so besser. Meine Güte, du siehst aber ganz schön mitgenommen aus, Lafe. Komm doch auf einen Whisky herein.«
»Nein danke, Mike.« Der alte Mann ging weiter. Er hörte Mike gute Nacht sagen und antwortete nicht, er richtete den Blick auf ein einstöckiges Gebäude mit einer Fülle roter marsianischer Blüten auf dem Dach. An der Rückseite, dem Garten zugewandt, verlief ein schmiedeeiserner Balkon, und die Fenster dahinter waren erleuchtet. Es war sehr spät, und immer wieder dachte er: Was geschieht mit Anna, wenn ich Tom nicht mitbringe? Der zweite Schock, der zweite Tod -welche Folgen hat das für sie? Wird sie sich wieder an den ersten Tod erinnern und an den Traum und das plötzliche Verschwinden? O Gott, ich muß Tom finden, was soll sonst aus Anna werden? Arme Anna, die jetzt unten am Steg wartet. Er blieb stehen und hob den Kopf. Irgendwo oben verabschiedeten sich Stimmen voneinander, wünschten einander eine gute Nacht, Türen fielen ins Schloß, Lampen wurden gelöscht, nur leises Singen war noch zu hören. Gleich darauf kam ein entzückendes Mädchen, kaum achtzehn Jahre alt, auf den Balkon.
LaFarge rief hinauf, mit heiserer Stimme.
Das Mädchen wandte sich um und schaute herab. »Wer ist da?« fragte es.
»Ich«, sagte der alte Mann und stockte mit bebenden Lippen, als er erkannte, wie dumm und seltsam seine Antwort klingen mußte. Sollte er denn rufen: >Tom, hier ist dein Vater?< Wie sollte er sie anreden? Sie mußte ihn für wahnsinnig halten und würde ihre Eltern rufen.
Im hervorströmenden Licht beugte sich das Mädchen über die Brüstung. »Ich kenne dich«, antwortete sie leise. »Bitte geh; du kannst nichts daran ändern.«
»Du mußt mitkommen!« Die Worte strömten heraus, ehe er sie zurückhalten konnte.
Die Gestalt zog sich aus dem Mondlicht zurück, bis sie alle Identität verloren hatte und nur noch eine Stimme aus dem Dunkel war. »Ich bin nicht mehr dein Sohn«, sagte sie. »Wir hätten nicht in die Stadt gehen dürfen.«
»Anna wartet am Steg!«
»Es tut mir leid«, sagte die leise Stimme. »Was soll ich denn machen? Ich bin glücklich hier und werde geliebt, so wie ihr mich geliebt habt. Ich bin, was ich bin, und ich nehme, was sich nehmen läßt; es ist zu spät, sie haben mich gefangen.«
»Aber Anna - der Schock. Denk mal daran.«
»Die Gedanken in diesem Haus sind zu stark; es ist, als wäre ich eingeschlossen. Ich kann mich nicht mehr zurückverwandeln.«
»Du bist Tom, du warst Tom, oder? Du treibst doch kein böses Spiel mit einem alten Mann, bist doch nicht wirklich Lavinia Spaulding?«
»Ich bin niemand - ich bin nur ich. Doch stets bin ich irgend etwas, und jetzt bin ich etwas, an dem du nichts ändern kannst.«
»Du bist nicht sicher in der Stadt. Draußen am Kanal wärst du besser aufgehoben, wo dir niemand weh tun kann«, flehte der alte Mann.
»Das stimmt.« Die Stimme stockte. »Aber ich muß auch an die Leute hier denken. Wie müßte ihnen zumute sein, wenn ich morgen früh wieder verschwunden wäre - diesmal für immer? Trotzdem weiß die Mutter, wer ich wirklich bin; sie hat es erraten wie du. Ich nehme an, daß überhaupt alle Bescheid wissen, aber niemand ist neugierig. Die Vorsehung stellt man nicht in Frage. Wenn man die Wirklichkeit nicht haben kann, ist die Illusion ein willkommener Ersatz. Ich bin zwar nicht die heimgekehrte Tochter, aber auf meine Weise bin ich etwas Besseres; ein von ihnen geformtes Idealbild. Ich habe die Wahl - entweder muß ich ihnen Schmerz zufügen oder deiner Frau.«
»Sie sind fünf in der Familie. Sie können den Verlust besser ertragen!«
»Bitte!« sagte die Stimme. »Ich bin müde!«
Die Stimme des alten Mannes wurde fester. »Du mußt mitkommen. Ich kann nicht zulassen, daß Anna noch einmal einen Schock erleidet. Du bist unser Sohn. Du bist mein Sohn, und du gehörst zu uns.«
»Nein, bitte!«
Der Schatten zitterte.
»Du gehörst nicht in dieses Haus oder zu diesen Leuten!«
»Nein, tu mir das nicht an!«
»Tom, mein Sohn, hör zu! Komm runter. Steig an den Ranken herab, Junge, los, komm. Anna wartet; wir geben dir ein gutes Heim, alles, was du brauchst.« Er starrte nach oben und legte seine ganze Willenskraft in den Blick.
Der Schatten geriet in Bewegung, in den Ranken raschelte es.
Schließlich sagte die leise Stimme: »Gut, Vater.«
»Tom!«
Im Mondlicht glitt die Gestalt eines Jungen behend durch die Blätter. LaFarge streckte die Arme aus und fing ihn auf.
Oben gingen die Lichter an. Hinter einem der vergitterten Fenster ertönte eine Stimme. »Wer ist da?«
»Beeil dich, Junge!«
Mehr Licht, mehr Stimmen. »Halt, oder ich schieße! Vinny, ist alles in Ordnung?« Schnelle Schritte.
Der alte Mann und der Junge rannten durch den Garten.
Ein Schuß krachte. Die Kugel fuhr in den Zaun, als sie das Gartentor zuschlugen.
»Tom, dort entlang; ich renne hier herum und führe sie in die Irre. Du läufst zum Kanal; ich komme in zehn Minuten nach, Junge!«
Sie trennten sich.
Der Mond versteckte sich hinter einer Wolke. Der alte Mann stolperte durch die Dunkelheit.
»Anna, ich bin’s!«
Die alte Frau half ihm zitternd in das Boot. »Wo ist Tom?«
»Er muß gleich hier sein«, sagte LaFarge schweratmend.
Sie wandten sich um und beobachteten die Gassen und die schlafende Stadt. Noch immer waren Leute unterwegs: Spaziergänger, ein Polizist, ein Nachtwächter, ein Raketenpilot, mehrere Männer nach nächtlichem Rendezvous, vier Männer und Frauen, die lachend aus einer Bar kamen. Irgendwo spielte Musik.
»Warum kommt er nicht?« fragte die alte Frau.
»Er kommt, er kommt.« Aber LaFarge wurde unruhig. Wenn nun der Junge wieder gefangen worden ist, irgendwie, irgendwo zwischen Haus und Steg, irgendwo auf seinem Lauf durch die mitternächtlichen Straßen mit ihren dunklen Häusern? Es war ein langer Weg, selbst für einen Jungen. Trotzdem hätte er als erster hier sein müssen.
Und dort hinten, weit entfernt auf der mondhellen Straße, rannte eine Gestalt.
LaFarge begann zu rufen und verstummte wieder, denn hinter der Gestalt waren andere Stimmen und hastende Schritte zu hören. Lichter gingen an, ein Fenster nach dem anderen wurde hell. Über den offenen Platz am Steg rannte die Gestalt. Es war nicht Tom, es war der verwischte Umriß einer Gestalt mit einem Gesicht, das im Licht der Kugellampe, die den Platz säumte, silbrig schimmerte. Und immer näher kam das Wesen, und je näher es kam, desto vertrauter wurde es, bis es auf dem Steg zu Tom geworden war! Anna streckte ihm die Hände entgegen, und La Farge wollte hastig ablegen. Doch es war zu spät.
Denn aus der Straße eilte jetzt ein Mann auf den Platz, gefolgt von einem zweiten Mann, einer Frau, zwei weiteren Männern, Mr. Spaulding, rennend. Verblüfft hielten sie inne. Sie sahen sich verwirrt um, wollten umkehren, denn das konnte doch nur ein Alptraum sein, so verrückt war alles. Aber dann kamen sie doch näher, zögernd, stockend, weitergehend.
Es war zu spät. Die Nacht, das Ereignis war vorbei. LaFarge drehte unschlüssig das Tau in den Händen. Er fröstelte und fühlte sich sehr einsam. Die Menschen hoben und senkten im Mondlicht geisterhaft die Füße und kamen, die Augen aufgerissen, sehr schnell näher, bis die Menge den Steg erreicht hatte und dort verharrte. Sie starrten mit wirren Blicken in das Boot. Sie schrien auf.
»Stehenbleiben, LaFarge!« Spaulding hob das Gewehr.
Und jezt war klar, was geschehen war. Tom, der allein durch die mondhellen Straßen rennt und dabei Menschen passiert. Ein Polizist sieht die Gestalt vorübereilen, ruft einen Namen, nimmt die Verfolgung auf. »He, Sie, halt?« Und er sieht das Gesicht eines Verbrechers. Und überall entlang der Straße geschieht gleiches - Männer, Frauen, Nachtwächter, Raketenpiloten. Die eilige Gestalt bedeutet ihnen alles -Identität, Persönlichkeit, ein Name. Wie viele verschiedene Namen waren in den letzten fünf Minuten hinausgeschrien worden? Wie viele verschiedene Gesichter waren über Toms Gesicht gehuscht, keins das wahre?
Einen langen Weg hatten sie zurückgelegt, Verfolgter und Verfolger, Traum und Träumer, Beute und Jagdhunde. Und überall am Weg das plötzliche Erkennen, das Aufblitzen eines vertrauten Augenpaars, das Ausrufen eines altbekannten Namens, Erinnerungen an zurückliegende Ereignisse, während die Menge größer wurde. Und die Betroffenen sprangen vor, als der Traum wie eine Reflexion in tausend Spiegeln, tausend Augen, heranhuschte und vorbeieilte und jedem ein anderes Gesicht zeigte - den Menschen vor sich, hinter sich, den Menschen, die er noch nicht getroffen hatte und die er nicht sehen konnte.
Und da stehen sie nun alle am Boot, dachte LaFarge, und wollen ihren Traum, jeder will seinen Traum für sich, so wie wir uns wünschen, daß er Tom sei - nicht Lavinia oder Roger oder sonst jemand. Aber nun ist alles zu spät. Die Sache ist auf die Spitze getrieben worden.
»Kommt rauf - alle!« befahl Spaulding.
Tom kletterte an Land. Spaulding packte sein Handgelenk. »Du kommst mit nach Hause. Ich weiß Bescheid.«
»Einen Augenblick«, sagte der Polizist. »Er ist mein Gefangener. Dexter heißt er und wird wegen Mordes gesucht!«
»Nein!« schluchzte eine Frau. »Das ist mein Mann! Ich werde doch meinen Mann kennen!«
Andere Stimmen protestierten ebenfalls. Die Menge drängte näher.
Mrs. LaFarge stellte sich vor Tom. »Das ist mein Sohn. Sie haben kein Recht, ihm etwas vorzuwerfen. Und wir fahren jetzt auf der Stelle nach Hause!«
Tom stand da und zitterte am ganzen Leibe. Er sah elend aus. Die Menge wogte um ihn, streckte unruhige Hände aus, zupackend, verlangend.
Tom schrie.
Vor ihren Augen veränderte er sich. Er war zugleich Tom und James und ein Mann namens Switchman und ein anderer Mann, der Butterfield hieß, er war der Bürgermeister und ein junges Mädchen namens Judith und der Ehemann William und die Ehefrau Clarisse. Er war Wachs im Zugriff ihrer Gedanken. Sie brüllten, drängten heran, flehten. Er schrie, warf die Hände hoch, und sein Gesicht gab jedem Verlangen nach. »Tom!« brüllte LaFarge. »Alice!« schrie ein anderer. »William!« Sie packten seine Handgelenke und wirbelten ihn herum, bis er mit einem letzten Entsetzensschrei zu Boden stürzte.
Er lag auf dem Pflaster, das geschmolzene Wachs erkaltete, und sein Gesicht vereinigte viele Gesichter auf sich - ein blaues Auge und ein goldgelbes Auge, braunes, rotes, gelbes, schwarzes Haar, eine buschige und eine dünne Augenbraue, eine große Hand und eine kleine.
Sie standen über ihn gebeugt und hoben die Finger an das Gesicht. Sie bückten sich.
»Er ist tot«, sagte schließlich jemand.
Es begann zu regnen.
Der Regen fiel auf die Menschen herab, und sie sahen zum Himmel auf.
Zuerst langsam, dann schneller wandten sich die Menschen ab und gingen davon, begannen auseinanderzulaufen, entflohen der unheimlichen Szene. Nach kaum einer Minute lag der Platz verlassen da. Nur Mr. und Mrs. LaFarge waren zurückgeblieben, den Blick gesenkt, Hand in Hand, entsetzt.
Der Regen traf das nach oben gerichtete Gesicht.
Anna sagte nichts; sie begann zu weinen.
»Komm nach Hause, Anna - wir können doch nichts daran ändern«, sagte der alte Mann.
Sie stiegen in ihr Boot und fuhren in der Dunkelheit auf dem Kanal zurück. Sie betraten ihr Haus ud zündeten ein kleines Feuer an und wärmten sich die Hände. Sie gingen ins Bett und lagen beieinander, kalt und dürr, und lauschten auf den Regen, der auf das Dach trommelte.
»Hör mal«, sagte LaFarge um Mitternacht. »Hast du nichts gehört?«
»Nein, nichts.«
»Ich sehe trotzdem mal nach.«
Er tastete sich unsicher durch den dunklen Raum und wartete lange Zeit hinter der Tür, ehe er sie öffnete.
Er zog sie weit auf und schaute hinaus.
Aus dem schwarzen Himmel strömte Regen auf den leeren Hof und in den Kanal und hüllte die blauen Berge ein.
Er wartete fünf Minuten lang. Dann, mit nassen Händen, machte er die Tür zu und verriegelte sie wieder.