Juni 2003: Mit dem Kopf in den Wolken

»Hast du schon gehört?«

»Was denn?«

»Die Nigger, die Nigger!«

»Was ist mit denen?«

»Sie verschwinden, verziehen sich, hauen ab - hast du’s nicht gehört?«

»Was meinst du damit, ‘sie hauen ab? Wie war denn das möglich?«

»Sie können’s, sie schaffen’s, sie tun es schon!«

»Nur ein paar?«

»Jeder einzelne verdammte Nigger hier im Süden!«

»Nein!«

»Doch!«

»Das muß ich sehen. Ich glaub’s einfach nicht. Wohin ziehen sie denn

- nach Afrika?«

Schweigen.

»Auf den Mars.«

»Du meinst den Planeten Mars?«

»Ja.«

Die Männer standen im heißen Schatten der Veranda vor dem Eisenwarengeschäft. Einer unterbrach sein Pfeifenanzünden. Ein anderer spuckte in den heißen Staub.

»Sie können doch nicht einfach abhauen, können sie nicht.«

»Sie tun’s aber.«

»Woher hast du das?«

»Man hört’s überall, wurde gerade vor einer Minute im Radio durchgegeben.«

Die Männer, eine Reihe staubiger Standbilder, gerieten in Bewegung.

Samuel Teece, der Besitzer des Eisenwarenladens, lachte unsicher. »Hab mich schon gewundert, was mit Silly ist. Ich hab ihn vor einer Stunde mit dem Fahrrad weggeschickt. Er ist von Mrs. Bordmann noch nicht wieder zurück. Meinst du, der schwarze Dummkopf ist geradewegs zum Mars geradelt?«

Die Männer schnaubten durch die Nase. »Ich kann nur sagen, daß er gut daran täte, mir mein Fahrrad zurückzubringen. Klauereien laß ich mir von keinem gefallen, bei Gott!«

»Hört doch mal!«

Im Umdrehen stießen die Männer ungeschickt zusammen.

Weit hinten schien ein Deich gebrochen. Eine warme schwarze Flut schwemmte heran und umschloß die Stadt. Zwischen den blendend weißen Ufern der Läden, zwischen dem Schweigen der Bäume strömte es schwarz dahin. Der Fluß wogte zäh wie Zuckersirup über die zimtfarben staubige Straße. Er drang langsam vor, sehr langsam, und er bestand aus Männern und Frauen und Pferden und bellenden Hunden und aus kleinen Jungen und Mädchen. Und die Kehlen der Menschen, die ein Teil der Flut waren, machten das Geräusch eines Flusses - eines sommerlichen Flusses, der unaufhaltsam dahingurgelte und strömte. Und in dem langsamen, schwarzen Strom, der den weißen Schimmer des Tages durchschnitt, blitzten muntere weiße Punkte auf, Augen, elfenbeinfarbene Augen, die nach vorn gerichtet waren oder schnelle Blicke zur Seite warfen, während der Fluß, der lange und endlose Fluß, aus der alten Richtung in ein neues Bett einschwenkte. Aus den verschiedensten Zuflüssen gespeist, waren Rinnsale und Bäche aus Farbe und Bewegung entstanden, die zusammentrafen und zu einem großen Fluß wurden. Und in der Flut schwammen zahlreiche Dinge mit: alte, träge schlagende Standuhren, emsig tickende Küchenuhren, gackernde Hühner in Käfigen, schreiende Säuglinge; in den großen Wirbeln fanden sich zudem Esel und Katzen und dann und wann ein großer Berg geplatzter Matratzen mit hervorstehenden Sprungfedern und herausquellenden Füllungen, dazu Kästen und eichengerahmte Großvaterbilder - der Fluß schwemmte alles vorbei, während die Männer wie nervöse Jagdhunde auf der Veranda des Eisenwarenladens saßen, mit verkrampften leeren Händen. Es war zu spät, sich gegen die Flut zu stemmen.

Samuel Teece traute seinen Augen nicht. »Teufel, wie lassen die sich befördern? Wie kommen die zum Mars?«

»Raketen«, sagte Großvater Quartermain.

»Ausgerechnet die! Woher hätten die wohl Raketen?«

»Sie haben gespart und sich die Dinger gebaut.«

»Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Anscheinend haben die Nigger alles geheimgehalten und selbst an den Raketen gearbeitet, wer weiß wo - vielleicht in Afrika.«

»Dürfen sie denn das?« fragte Samuel Teece und ging auf der Veranda auf und ab. »Gibt’s denn dagegen kein Gesetz?«

»Sie erklären uns ja nicht gleich den Krieg«, sagte Großvater leise.

»Wo kommen wir da hin, verdammt noch mal, so im geheimen für sich zu arbeiten und Ränke zu schmieden?« brüllte Teece.

»Es heißt, alle Nigger der Stadt sollen sich draußen am Loon-See versammeln. Die Raketen kommen um ein Uhr, nehmen sie an Bord und bringen sie zum Mars.«

»Wir müssen den Gouverneur anrufen und die Bürgerwehr zusammentrommeln!« rief Teece. »Sie hätten uns Bescheid sagen müssen!«

»Da kommt deine Frau, Teece.«

Wieder wandten sich die Männer um.

Und in der windstillen Helle der Straße erschien die erste weiße Frau, gefolgt von anderen; ihre Gesichter waren ratlos, ein paar weinten, die meisten beherrschten sich. Sie alle kamen, um mit ihren Männern zu sprechen. Sie stießen die Schwingtüren der Bars auf und gingen hinein. Sie betraten kühle, stille Lebensmittelläden. Sie verschwanden in Drogerien und Garagen. Und eine, Mrs. Clara Teece, stellte sich zu den Männern auf die staubige Veranda des Eisenwarenladens und sah blinzelnd zu ihrem ärgerlich dreinblickenden Mann auf, während hinter ihr der schwarze Fluß weiterströmte.

»Es geht um Lucinda, Pa; du mußt mitkommen!«

»Wegen einer verdammten Schwarzen gehe ich nicht extra nach Hause!«

»Sie verläßt uns. Was soll ich ohne sie anfangen?«

»Kannst dich mal selbst um den Haushalt kümmern. Ich schmeiße mich nicht auf die Knie, damit sie hierbleibt.«

»Aber sie gehört doch fast zur Familie«, klagte Mrs. Teece.

»Schrei hier nicht so herum! Ich will nicht, daß du in aller Öffentlichkeit herumheulst wegen eines gottverdammten.«

Ein leises Schluchzen seiner Frau brachte ihn zum Schweigen. Sie betupfte sich die Augen. »Ich hab ihr immer wieder gesagt, >Lucinda<, hab ich gesagt, >du bleibst, und ich erhöhe deinen Lohn, und du kannst zwei Abende in der Woche frei haben, wenn du willst<, aber sie war fest entschlossen! Noch nie hab ich sie so gesehen, und ich sagte: >Liebst du mich denn nicht mehr, Lucinda?< Und sie sagte, doch, aber sie müßte gehen, weil es eben sein müßte. Sie hat das Haus saubergemacht und Staub gewischt und das Mittagessen auf den Tisch gestellt, und dann ging sie zur Tür - und stand da mit einem Bündel links und einem Bündel rechts und schüttelte mir die Hand und sagte: >Leben Sie wohl, Mrs. Teece.< Dann ging sie. Und da stand das Mittagessen auf dem Tisch, und wir alle waren viel zu durcheinander, um überhaupt davon zu essen. Es steht jetzt noch da und ist längst kalt.«

Teece ballte wütend die Faust, als wollte er sie schlagen. »Himmel, Herrgott, Frau, mach, daß du nach Hause kommst. Stehst hier herum und machst dich zum Gespött der Leute.!«

»Aber Pa.«

Er marschierte in das heiße Halbdunkel des Ladens. Sekunden später kam er mit einer silberglänzenden Pistole zurück.

Seine Frau war gegangen.

Der schwarze Fluß ergoß sich zwischen den Gebäuden und raschelte und knarrte und schlurfte gleichmäßig dahin. Er strömte überraschend leise, und über allem lag eine große Ruhe und Gelassenheit; kein Gelächter, kein wildes Herumtanzen, nur eine gleichmäßige, zielstrebige, endlos scheinende Flut.

Teece setzte sich auf die Kante seines Stuhls. »Wenn einer der Kerle lacht, bei Gott, bring ich alle um.«

Die Männer warteten.

Leise strömte der Fluß durch den verträumten Mittag.

»Mir scheint, du mußt deine Rüben bald selber hacken, Sam«, sagte Großvater und lachte leise.

»Auf Weiße schießen kann ich auch ganz gut.« Teece sah Großvater nicht an. Großvater wandte den Kopf und hielt den Mund.

»Einen Moment!« Samuel Teece sprang von der Veranda und griff einem Pferd in die Zügel, auf dem ein großer Neger ritt. »Los, Belter, steig sofort ab!«

»Ja, Sir.« Belter glitt herab.

Teece musterte ihn von oben bis unten. »Also, was soll das? Was hast du vor?«

»Nun, Mr. Teece.«

»Du denkst wohl, du kannst absausen wie in dem Lied - wie geht das doch? >Hoch, hoch - mit dem Kopf in die Wolken<, das ist es doch, nicht?«

»Ja, Sir.« Der Neger wartete.

»Du weißt, daß du mir fünfzig Dollar schuldest, Belter?«

»Ja, Sir.«

»Und du willst dich davonmachen? Bei Gott, ich geb dir die Peitsche!« »In der Aufregung ist es mir entfallen, Sir.«

»Ist ihm entfallen.« Teece blinzelte den Männern auf der Veranda boshaft zu. »Bei Gott, Mister, weißt du, was du machst?«

»Nein, Sir.«

»Du bleibst hier und arbeitest die fünfzig Piepen ab, oder ich will nicht mehr Samuel Teece heißen.« Wieder wandte er sich um und lächelte vertraulich zu den im Schatten Sitzenden hinüber.

Belter warf einen Blick auf den Fluß hinter sich, auf jenen dunklen Fluß, der sich endlos zwischen den Läden hindurch ergoß, der von Rädern und Pferden und staubigen Schuhen getragen wurde, jenen dunklen Fluß, dem er entrissen worden war. Er begann zu zittern. »Lassen Sie mich weiterziehen, Mr. Teece. Ich schicke Ihnen das Geld von oben, ich versprech’s Ihnen!«

»Hör zu, Belter.« Teece ergriff die Hosenträger des Mannes und zupfte daran herum wie an zwei Harfensaiten; dabei schnaubte er verächtlich zum Himmel und zeigte mit knochigem Finger direkt auf Gott. »Belter, weißt du überhaupt, wie’s da oben aussieht?«

»Was man so erfährt.«

»Was man so erfährt! Himmel! Habt ihr das gehört? Was man so erfährt!« Er schwang den Mann an seinen Hosenträgern müßig hin und her und schnipste ihm mit den Fingern in das schwarze Gesicht. »Belter, du fliegst höher und immer höher wie eine Feuerwerksrakete, und peng! Da schwirrst du dann in verkohlten Stücken rum, überall im Weltall verstreut. Die verrückten Wissenschaftler wissen doch überhaupt nichts

- sie bringen euch alle um!«

»Das ist mir egal.«

»Freut mich zu hören. Denn du weißt ja sicher, was es da auf dem Planeten Mars gibt! Ungeheuer mit riesigen Augen so groß wie Pilzen. Du hast doch die Bilder auf den utopischen Magazinen gesehen, die’s überall an den Kiosken gibt, nicht? Also! Die Monster springen dich an und saugen dir das Mark aus den Knochen!«

»Das ist mir egal, völlig egal ist mir das.« Belter sah, wie der Strom vorüberglitt und ihn zurückließ. Schweiß glitzerte auf seiner schwarzen Stirn. Er schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen.

»Und kalt ist es da oben; Luft gibt es nicht. Du fällst um und zappelst wie ein Fisch auf dem Trockenen und schnappst nach Luft und stirbst, du schnappst nach Luft und stirbst. Magst du das?« »Ich mag vieles nicht, Sir. Bitte, Sir, lassen Sie mich ziehen. Ich bin schon spät dran.«

»Ich laß dich ziehen, wenn ich Lust dazu habe. Wir quatschen hier höflich weiter, bis ich sage, daß du gehen kannst, und das weißt du sehr gut. Reisen willst du, ja? Also Mr. Mit-dem-Kopf-in-die-Wolken, du scherst dich jetzt nach Hause und arbeitest die fünfzig Piepen ab, die du mir schuldest. Kostet dich glatt zwei Monate!«

»Aber wenn ich’s abarbeite, verpasse ich die Rakete, Sir!«

»Wär das nicht schade?« Teece versuchte, bekümmert dreizusehen.

»Ich gebe Ihnen mein Pferd,“ Sir.«

»Ein Pferd ist vor dem Gesetz kein Pfand. Du bleibst hier, bis ich mein Geld habe.« Teece lachte innerlich. Er fühlte sich ausgesprochen wohl.

Eine kleine Gruppe Schwarzer hatte sich inzwischen um sie versammelt und das Gespräch verfolgt. Während nun Belter mit gesenktem Kopf zitternd dastand, trat ein alter Mann vor.

»Mister?«

Teece warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Was ist?«

»Wieviel schuldet Ihnen dieser Mann, Mister?«

»Das geht Sie verdammt nichts an!«

Der alte Mann wandte sich an Belter. »Wieviel, mein Sohn?«

»Fünfzig Dollar.«

Der alte Mann streckte den Leuten in der Gruppe seine schwarzen Hände entgegen. »Ihr seid fünfundzwanzig. Jeder gibt mir schnell zwei Dollar, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«

»Einen Augenblick!« rief Teece, hochaufgerichtet, starr.

Das Geld kam zusammen. Der alte Mann zählte es in seinen Hut und reichte ihn Belter. »Mein Sohn«, sagte er, »du verpaßt die Rakete nicht!«

Belter sah lächelnd in den Hut. »Nein, Sir.«

Teece brüllte: »Du gibst das Geld sofort zurück!«

Belter verbeugte sich respektvoll und hielt ihm das Geld hin, und als Teece es nicht nehmen wollte, legte er es ihm zu Füßen in den Staub. »Da haben Sie Ihr Geld, Sir«, sagte er. »Vielen Dank.« Lächelnd stieg er wieder in den Sattel, trieb sein Pferd an und dankte dem alten Mann, der mit ihm ritt, bis sie verschwunden waren.

»Hurensohn«, flüsterte Teece und starrte wie erblindet in die Sonne. »Hurensohn.«

»Nimm das Geld, Samuel«, sagte eine Stimme von der Veranda.

Und überall geschah ähnliches. Barfüßige weiße Jungen kamen herbeigerannt. »Wer etwas hat, hilft den anderen, die nichts haben! Und so kommen alle frei! Habe einen reichen Mann gesehen, der einem Armen zweihundert Dollar gab, damit er jemand freikaufen konnte. Habe gesehen, wie einer einem anderen zehn Dollar gab, fünf Dollar, sechzehn, viel Geld, überall, jedermann!«

Die Weißen hatten einen bitteren Geschmack im Mund. Ihre Augen schienen zugeschwollen, als hätten sie ihre Gesichter zu lange dem Wind und dem Sand und der Hitze ausgesetzt.

Samuel Teece kochte vor Wut. Er stieg wieder auf die Veranda und starrte auf die vorüberziehenden Menschenmassen. Er schwenkte seine Pistole. Und als er dann auch etwas tun mußte, begann er hinabzubrüllen, begann er jeden Neger anzubrüllen, der zu ihm aufschaute. »Peng! Und wieder eine Rakete ins All!« brüllte er so laut, daß alle ihn hören konnten. »Peng! Bei Gott!« Die schwarzen Köpfe duckten sich nicht und ließen sich auch nicht anmerken, ob seine Worte verstanden wurden, doch Blicke glitten hastig über ihn dahin und wurden wieder gesenkt. »Und peng! Alle Raketen stürzen ab! und ihr schreit und sterbt! Peng! Allmächtiger, bin ich froh, daß ich hier auf der guten alten festen Erde bleiben darf!«

Pferde trabten vorbei und wirbelten Staub auf. Die Federungen alter Wagen quietschten.

»Peng!« Seine Stimme war allein in der Hitze und versuchte den Staub und den grellen Sonnenhimmel zu erschrecken. »Bumm! Nigger, überall Nigger! Aus den Raketen rausgeschleudert wie ein Fischschwarm, von einem Meteor getroffen, bei Gott! Der Weltraum ist voller Meteore. Wißt ihr das? Natürlich! Dick wie Schrot, peng! Die schießen eure Blechraketen ab wie Enten, wie Tontauben. Alte Sardinendosen voller schwarzem Zeug. Knallen tut’s wie ‘ne Salve, peng, peng peng! Zehntausend Tote hier, zehntausend Tote da! Die schweben dann im All, um die Erde rum, endlos herum, kalt und weit draußen, Herrgott! Habt ihr das gehört, ihr da!«

Schweigen. Der Fluß war breit, und noch war kein Ende abzusehen. Nachdem er in der letzten Stunde in alle Hütten eingedrungen war und alle wertvollen Dinge herausgespült hatte, führte er jetzt Uhren und Waschbretter und Seidenbündel und Gardinenstangen die Straße hinab, einem fernen schwarzen Meer entgegen.

Die Flut überschritt ihren Höhepunkt. Es war zwei Uhr, als die Ebbe einsetzte. Bald war der Fluß ausgetrocknet, und die Stadt lag wieder still da; eine dünne Staubschicht senkte sich auf die Läden, die dort sitzenden Männer, die großen heißen Bäume.

Schweigen.

Die Männer auf der Veranda lauschten.

Als sie nichts hörten, streiften ihre Gedanken und ihre Fantasie über das Land ringsum. Noch am Morgen waren die Wiesen von dem üblichen Lärm erfüllt gewesen. Hier und dort, der alten Gewohnheit folgend, hatte es Gesang gegeben und leises Gelächter unter Mimosenästen, dazu das Lachen der Negerkinder im klaren Wasser, Bewegung und gebückte Gestalten auf den Feldern, Lachen und Rufe aus den einfachen Hütten, die frisch und grün berankt waren.

Jetzt schien ein neuer Wind über das Land hingefahren zu sein und es aller Geräusche beraubt zu haben. Nichts war übriggeblieben. Türgerippe hingen in ihren Lederscharnieren. Gummireifen, von den Jungen als Schaukel benutzt, hingen verlassen in der reglosen Luft unter den Bäumen. Die Waschsteine an den Flüssen waren verwaist, und die Felder mit Wassermelonen lagen einsam da, und die verborgenen Säfte ihrer Früchte erhitzten sich in der Sonne. In den verlassenen Hütten begannen Spinnen neue Netze zu weben, und Staubschlieren sanken von durchlöcherten Dächern herab durch goldene Sonnenfinger. Hier und dort glomm, in der Eile vergessen, ein Feuer, das wie in plötzlicher Lust am trockenen Skelett einer schäbigen Hütte emporzüngelte. In der stillen Luft lag das Geräusch eines leise schwelenden Brandes.

Die Männer saßen auf der Veranda des Eisenwarenladens, ohne zu blinzeln, ohne zu schlucken.

»Kann mir nicht vorstellen, warum sie ausgerechnet jetzt abhauen. Wo doch alles für sie besser geworden ist. Ich meine, sie haben doch jeden Tag mehr Rechte gekriegt. Was wollen sie denn noch? Die Pro-KopfSteuer gibt’s nicht mehr, und immer mehr Staaten verabschieden Anti-Lynch-Gesetze, und überall Gleichberechtigung. Was wollen sie denn noch! Sie verdienen fast so gut wie die Weißen - und trotzdem ziehen sie ab.«

Am Ende der leeren Straße kam ein Fahrrad in Sicht.

»Da soll mich doch der Teufel. Teece, da kommt dein Silly.«




Das Fahrrad kam vor der Veranda zum Stehen. Ein siebzehnjähriger Negerjunge saß im Sattel, ein Junge, der fast nur aus Armen und langen Beinen und einem runden Melonenkopf zu bestehen schien. Er sah zu Samuel Teece auf und lächelte.

»Dich hat also dein schlechtes Gewissen zurückgetrieben.«

»Nein Sir, ich wollte Ihnen nur das Fahrrad zurückbringen.«

»Was ist los, hat man dich nicht in die Rakete gelassen?«

»Nein, Sir, das ist es nicht.«

»Lassen wir das Thema! Steig ab - ich laß mir nicht mein Eigentum klauen!« Er versetzte dem Jungen einen Stoß. Das Fahrrad stürzte um. »Geh rein und putz das Messing.«

»Bitte?« Der Junge riß die Augen auf.

»Du hast richtig gehört. Da ist auch eine Waffensendung gekommen, die ausgepackt werden muß, und eine Kiste Nägel von Natchez. «

»Mr. Teece.«

»Und eine Kiste mit Hämmern ist kaputt.«

»Mr. Teece, Sir!«

»Bist du immer noch da?« Teece starrte den Jungen wütend an.

»Mr. Teece, hätten Sie was dagegen, wenn ich mir den Tag frei nehme?« fragte er entschuldigend.

»Und morgen und übermorgen und überübermorgen auch«, sagte Teece.

»Ich fürchte ja, Sir.«

»Du hast auch wirklich Grund zum Fürchten, Junge. Komm her!« Er führte den Jungen auf die Veranda und nahm ein Stück Papier aus seinem Schreibtisch. »Kennst du das?«

»Sir?«

»Das ist dein Arbeitspapier! Unterschrieben hast du es, hier ist dein Kreuz, nicht wahr? Los, antworte!«

»Das hab ich nicht unterschrieben, Mr. Teece.« Der Junge zitterte. »So ein Kreuz kann jeder machen.«

»Hör mir gut zu, Silly. - Vertrag: >Ich werde vom 15. Juli 2001 an zwei Jahre für Mr. Teece arbeiten, und wenn ich aufhören will, kündige ich einen Monat vorher und arbeite so lange weiter, bis ein Nachfolger gefunden ist.< Da.« Teece schlug mit der Hand auf das Papier; seine Augen blitzten. »Wenn du Schwierigkeiten machst, gehen wir vor Gericht.« »Das kann ich nicht«, jammerte der Junge, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Wenn ich heute nicht mitfliege, komme ich überhaupt nicht weg.«

»Ich weiß, wie dir zumute ist, Silly; ja, ich fühle mit dir. Aber wir werden dich gut behandeln und dir ordentlich zu essen geben, Junge. Und jetzt geh rein und fang mit der Arbeit an und vergiß den ganzen Unsinn! So ist’s recht.« Teece grinste und klopfte dem Jungen auf die Schulter.

Der Junge wandte sich um und sah die alten Männer auf der Veranda an. Er konnte kaum noch etwas erkennen vor Tränen. »Vielleicht. vielleicht könnte einer der Herren.« Die Männer sahen den Jungen an, dann Mr. Teece, und schließlich starrten sie hoch in die heißen staubigen Schatten über der Veranda.

»Du meinst, ein weißer Mann soll deine Stelle übernehmen, Junge?« fragte Teece eisig.

Großvater Quartermain nahm seine roten Hände von den Knien. Nachdenklich schaute er zum Horizont und fragte: »Wie wär’s mit mir, Teece?«

»Was?«

»Ich übernehme Sillys Arbeit.«

Auf der Veranda herrschte Schweigen.

Teece hielt sich ganz still. »Großvater«, sagte er warnend.

»Laß den Jungen gehen. Ich mache dein Messing sauber.«

»Würden Sie das tun, würden Sie das wirklich tun?« Silly rannte zu Großvater, tränenüberströmt, und er lachte ungläubig.

»‘türlich.«

»Großvater«, sagte Teece, »halt dich da raus, verdammt noch mal.«

»Gib dem Kleinen eine Chance, Teece.«

Teece trat vor und packte den Jungen am Arm. »Er gehört mir. Ich schließe ihn bis heute abend hinten im Haus ein.«

»Nicht, Mr. Teece!«

Der Junge begann zu schluchzen. Sein Weinen erfüllte die Veranda. Er hatte die Augen zugekniffen. Am Ende der Straße erschien ein alter keuchender Ford und kam näher. Er brachte eine letzte Ladung Farbiger. »Da kommt meine Familie, Mr. Teece, o bitte, bitte, o Gott, ich bitte Sie!«

»Teece«, sagte einer der anderen Männer auf der Veranda und stand auf. »Laß ihn gehen.«

Ein zweiter stand auf. »Das meine ich auch.«

»Und ich auch«, sagte ein dritter.

»Was soll’s denn?« Sie sprachen jetzt alle. »Laß ihn in Ruhe, Teece.«

»Laß ihn gehen.«

Teece tastete nach der Pistole in seiner Tasche. Als er die Gesichter der Männer sah, zog er die Hand wieder aus der Tasche und ließ die Pistole, wo sie war, und sagte: »So steht es also?«

»Ja, so steht es«, sagte jemand.

Teece ließ den Jungen los. »Also gut. Verschwinde.« Er machte eine Kopfbewegung nach hinten. »Aber glaub ja nicht, daß du deinen Kram hierlassen kannst, damit er mir das Haus verschandelt.«

»Nein, Sir!«

»Du räumst deinen Schuppen hinten säuberlich aus und verbrennst alles.«

Silly schüttelte den Kopf. »Ich nehm’s mit.«

»Das wird man aber kaum an Bord der Rakete lassen.«

»Ich nehm’s mit«, beharrte der Junge leise.

Er rannte durch den Laden nach hinten. Die Männer hörten, wie er ausfegte und saubermachte und aufräumte, und einen Augenblick später kam er wieder zum Vorschein, die Hände voller Kreisel und Murmeln und alter staubiger Drachen und sonstigem Kram, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Schon hielt der alte Ford vor dem Haus, und Silly stieg ein, und die Tür wurde zugeschlagen. Teece stand auf der Veranda und lächelte bitter. »Was fängst du denn an da oben!«

»Etwas Neues«, sagte Silly. »Ich mache einen eigenen Eisenwarenladen auf.«

»Verdammt noch mal, hast du meinen Beruf erlernt, damit du mir eines Tages fortlaufen und Gebrauch davon machen kannst?«

»Nein, Sir, ich hatte ja keine Ahnung, daß so etwas passieren würde, Sir, aber dann ist es geschehen. Und ich kann nichts dafür, daß ich etwas gelernt habe, Mr. Teece.«

»Vermutlich habt ihr auch Namen für eure Raketen?«

Sie blickten nervös auf die Uhr am Armaturenbrett.

»Ja, Sir.«

»Zum Beispiel >Elias im feurigen Wagen<, >Großer Wagen und Kleiner Wagen<, >Glaube, Hoffnung, Liebe< - wie?«

»Ja - wir haben Namen für die Schiffe, Mr. Teece.« »>Gottessohn und Heiliger Geist< - das würde mich nicht wundern! Sag, Junge, habt ihr auch eine, die >Erste Baptisten< heißt?«

»Wir müssen uns beeilen, Mr. Teece.«

Teece lachte. »Habt ihr auch eine, die >Steig herab< heißt, und >Schöner Himmelswagen

Der Ford setzte sich in Bewegung. »Leben Sie wohl, Mr. Teece.«

»Habt ihr auch eine mit Namen >Laßt die Würfel fallen

»Leben Sie wohl, Mister!«

»Und >Über den Jordanmir doch egal!«

Der Wagen ruckelte durch den Staub davon. Der Junge stand auf, legte die Hände um den Mund und rief Teece zu: »Mr. Teece! Mr. Teece, was machen Sie von nun an in der Nacht? Was tun Sie in der Nacht, Mr. Teece?«

Schweigen. Der Wagen wurde kleiner. Dann war er verschwunden. »Was, zum Teufel, hat er gemeint?« überlegte Teece. »Was ich in der Nacht mache.?«

Er sah zu, wie sich der Staub setzte, plötzlich fiel es ihm ein.

Er dachte an die Nächte, da ihn die Männer von zu Hause abholten, mit angezogenen, spitz aufragenden Knien und mit Gewehren, die noch spitzer aufragten, eine Wagenladung von Kranichen unter den Sommernachtsbäumen, ein Funkeln im Blick.

Die Hupe blökte, und er schlug die Tür zu, das Gewehr in der Hand, und er lachte leise vor sich hin, und sein Herz schlug so schnell wie bei einem Zehnjährigen, und sie fuhren durch die Sommernacht, ein Stück aufgerolltes Hanfseil auf dem Wagenboden, während die gefüllten Patronenschachteln die Manteltaschen der Männer ausbeulten. Wie viele Nächte waren das gewesen in all den Jahren, wie viele Nächte, in denen der Wind durch den Wagen brauste, das Haar über die bösen Augen wehte, während sie einen Baum aussuchten, einen guten starken Baum, und an eine Hüttentür klopften.

»Das hat der Hurensohn also gemeint!« Teece stürzte ins Sonnenlicht hinaus. »Komm zurück, du Bastard! Was ich in der Nacht mache? Du verdammter, frecher Huren. «

Es war eine gute Frage. Übelkeit überkam ihn, und er fühlte sich leer. Ja, was tun wir jetzt in der Nacht? fragte er sich. Wenn sie alle verschwunden sind, was machen wir da? Er fühlte sich absolut leer und wie erstarrt.

Er holte die Pistole aus der Tasche, überprüfte das Magazin.

»Was hast du vor, Sam?« fragte jemand.

»Ich bringe den Hurensohn um!«

Großvater sagte: »Reg dich nicht unnötig auf.«

Aber Samuel Teece war schon um das Haus gelaufen. Einen Augenblick später fuhr er seinen offenen Wagen in die Einfahrt. »Will jemand mit?«

»Ich«, sagte Großvater und stand auf.

»Noch jemand?«

Niemand sagte etwas.

Großvater stieg ein und schlug die Tür zu. Samuel Teece jagte den Wagen in einer großen Staubwolke auf die Straße. Schweigend rasten sie unter dem hellen Himmel dahin. Auf den verdorrten Wiesen flimmerte die Hitze.

An einer Kreuzung hielten sie an. »Wohin sind sie gezogen, Großvater?«

Großvater kniff die Augen zusammen. »Geradeaus vermutlich.«

Sie fuhren weiter. Unter den Sommerbäumen klang das Brummen des Wagens ganz verlassen. Die Straße war leer, und im Weiterfahren bemerkten sie etwas Seltsames. Teece fuhr langsamer und beugte sich hinaus. Seine gelben Augen blitzten.

»Verdammt, Großvater, sieh mal, was die Schweinehunde gemacht haben.«

»Was denn?« fragte Großvater und schaute hinaus.

Sorgfältig am Rand der leeren Landstraße abgelegt, säuberlich zu Bündeln und Haufen gestapelt, sah er alte Rollschuhe, Tücher voller Trödelkram, ein Paar alter Schuhe, ein Wagenrad, stapelweise Hosen und Mäntel und abgetragene Hüte, orientalisch anmutende Glasstücke, die einst im Wind geklimpert hatten, rosa Geranien in Blechdosen, Teller mit wächsernen Früchten, kartonweise Südstaatgeld, Bottiche, Waschbretter, Wäscheleinen, Seife, ein Fahrrad, eine Heckenschere, einen Spielzeugwagen, einen Springteufel in einer Schachtel, ein buntes Fenster aus der Baptistenkirche, einen ganzen Satz Bremsfelgen, Radioröhren, Matratzen, Sofas, Schaukelstühle, Salbentöpfe, Spiegel. Keiner dieser Gegenstände war einfach hingeworfen worden, nein, er war vorsichtig und behutsam hingelegt, mit einem Sinn für das Dekorative, abgelegt am Rande der Straße, als wäre hier eine ganze Stadt mit vollen Händen gewandert, als wären beim Klang einer gewaltigen bronzenen Trompete alle Gegenstände dem Staub überantwortet worden, als wären alle Erdbewohner, alle, geradewegs in den blauen Himmel entfleucht.

»Nicht verbrennen wollte er das Zeug, hat er gesagt«, rief Teece wütend. »Nein, er wollte es nicht verbrennen, wie ich gesagt habe, er mußte es mitnehmen und hier liegen lassen, wo sie es alle noch einmal auf der Straße sehen können, all das Zeug zusammen. Die Nigger halten sich für ganz schlau.«

Er begann in wilden Schlangenlinien zu fahren; Meile um Meile legte er so auf der Straße zurück und zerschmetterte, zerbrach, zerstreute die Bündel aus Papier, Schmuckkästen, Spiegeln, Stühlen. »Da, verdammt noch mal, da!«

Der vordere Reifen stieß einen pfeifenden Schrei aus. Der Wagen taumelte haltlos von der Straße in einen Graben und schleuderte Teece gegen die Scheibe.

»Hurensohn!« Er klopfte sich den Staub ab und stieg aus. Fast weinte er vor Wut.

Er sah die stille, leere Straße hinab. »Jetzt kriegen wir sie nie, nie!« So weit er sehen konnte, erstreckten sich die Bündel und Häufchen wie kleine verlassene Reliquienschreine im wannen Wind des späten Nachmittags.

Eine Stunde später trafen Teece und Großvater, müde von dem Fußmarsch, wieder beim Eisenwarenladen ein. Die Männer saßen noch immer dort und lauschten ins Leere und starrten in den Himmel. Als Teece sich gesetzt hatte und seine Stiefel auszog, rief jemand: »Schaut!«

»Verdammt, nein!« sagte Teece.

Aber die anderen blickten auf. Und sie sahen die goldenen Schnüre, die fernab in den Himmel stiegen. Lange Flammen hinter sich herziehend, verschwanden sie.

Auf den Baumwollfeldern wehte der Wind müßig zwischen den schneeweiß behangenen Stauden. Auf anderen Feldern, weiter entfernt, lagen die Wassermelonen in der Sonne, unberührt, gestreift wie Katzen.

Die Männer auf der Veranda setzten sich, sahen sich an, betrachteten die frischen gelben Hanfseile, die säuberlich zusammengerollt in den Regalen des Ladens lagen, warfen einen Blick auf die Gewehrpatronen, die messingglänzend in ihren Schachteln ruhten, betrachteten die silberglitzernden Pistolen und langen schwarzen, metallschimmernden Flinten, die ganz oben reglos im Schatten hingen. Jemand steckte sich einen Strohhalm zwischen die Zähne. Ein anderer zeichnete etwas in den Staub.

Dann hielt Samuel Teece triumphierend seinen leeren Stiefel hoch, drehte ihn um, starrte ihn an und sagte: »Habt ihr gemerkt? Bis ganz zum Schluß, bei Gott, hat er >Mister< gesagt!«

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