August 1999: Die Sommernacht

Auf den steinernen Galerien standen die Menschen in kleinen Gruppen beieinander - Gruppen, die sich in den Schatten zwischen den blauen Hügeln verloren. Die Sterne und der schimmernde Doppelmond des Mars überfluteten sie mit sanftem Nachtlicht. Außerhalb des marmornen Amphitheaters erstreckten sich in der Dunkelheit weithin kleine Städte und Villen und Teiche, deren regloses Wasser silbern leuchtete, und Kanäle glitzerten von Horizont zu Horizont. Es war ein sommerlicher Abend auf dem friedlichen, ruhigen Planeten Mars. Auf den grünen Weinkanälen zogen Boote dahin, zierlich wie bronzene Blumen. In den endlos langen Siedlungen, die sich wie erstarrte Schlangen über die Hügel zogen, lagen Verliebte auf kühlen Bettlaken und flüsterten leise miteinander. Kinder rannten durch die von Fackeln erleuchteten Gassen, goldene Spinnen in den Händen, die ihre Netzschleier auswarfen. Hier und da wurde ein spätes Abendbrot bereitet an Tischen, in denen silbrige Lava sprudelte. In den Amphitheatern der Städte auf der Nachtseite des Mars richteten die braunhäutigen Marsianer erwartungsvoll ihre goldenen Knopfaugen auf die Bühnen, von denen Musiker heitere Melodien wie Blütenduft in die Luft steigen ließen.

Auf einer Bühne sang eine Frau.

Unruhe entstand im Publikum.

Sie unterbrach ihren Gesang und fuhr sich mit der Hand an die Kehle. Sie nickte den Musikern zu, und sie fingen noch einmal von vorn an.

Die Musiker spielten, und sie sang, und diesmal seufzte das Publikum auf und beugte sich vor; einige Männer standen überrascht auf, als ein winterlicher Hauch durch das Amphitheater wehte. Denn die Frau sang ein seltsames, erschreckendes, völlig unbekanntes Lied. Sie versuchte vergeblich, die Worte zurückzuhalten, die ihr von den Lippen strömten, und sie sang:


In Schönheit strahlt sie, wie am Himmelszelt

Des Nachts die klare Pracht der Sternenflammen,

Und alles Gute dieser Schattenwelt

In Aug ’ und Anmut trifft zusammen.


Die Sängerin hielt sich schließlich die Hände vor den Mund. Erschreckt sah sie sich um.

»Was sind das für Worte?« fragten die Musiker.

»Was ist das für ein Lied?«

»Was ist das für eine Sprache!«

Und als sie die goldenen Hörner wieder an die Lippen setzten, ertönte von neuem die seltsame Melodie und schwebte langsam über das Publikum hin, das nun aufsprang und laut durcheinanderzureden begann.

»Was ist los mit dir?« fragten sich die Musiker gegenseitig. »Was spielst du da für eine Melodie?«

»Was für eine Melodie hast du denn gespielt?«

Die Frau weinte und lief von der Bühne. Und das Publikum verließ beunruhigt das Amphitheater. Und ringsum in den anderen Städten war ähnliches passiert. Kälte war hereingebrochen wie weißer Schnee, der vom Himmel herabschwebt.

In den dunklen Gassen, unter den Fackeln, sangen die Kinder:


...als sie zum Schrank kam, war er leer,

Und für den Hund, da gab ’s nichts mehr!


»Kinder!« rief es. »Was ist das für ein Vers? Wo habt ihr den gelernt?«

»Er ist uns einfach eingefallen, so ganz plötzlich. Sind nur Worte, die wir nicht verstehen.«

Türen wurden zugeschlagen. Die Straßen lagen verlassen. Über den blauen Hügeln ging ein blaugrüner Stern auf.

Überall auf der Nachtseite des Mars erwachten die Menschen und lauschten ihren Geliebten, die in der Dunkelheit lagen und vor sich hin summten.

»Was ist das für eine Melodie?« fragten sie verwundert.

Und in tausend Villen erwachten mitten in der Nacht Frauen von ihren eigenen Schreien. Tränen rannen ihnen übers Gesicht, und sie mußten getröstet werden. »Ruhig, ruhig, schlaf wieder ein. Hab’ keine Angst. Du hast nur geträumt.«

»Morgen wird etwas Schreckliches geschehen.«

»Nichts wird geschehen. Es ist alles in Ordnung.«

Ein hysterisches Schluchzen. »Es kommt näher, immer näher und näher!«

Es war ruhig auf dem Mars kurz vor Anbruch des neuen Tages, ruhig wie in einem tiefen schwarzen Brunnen; die Sterne spiegelten sich im Wasser der Kanäle, die Kinder atmeten tief und hatten sich in ihren Betten zusammengerollt, schliefen mit ihren Spinnen in den Händen; die Verliebten lagen sich in den Armen; die Monde waren untergegangen und die Fackeln kalt; die Amphitheater lagen verlassen da.

Das einzige Geräusch kurz vor Aufsteigen der Dämmerung kam von einem Nachtwächter, der in der Ferne durch eine einsame Straße ging, ganz allein in der Dunkelheit, und dabei ein sehr seltsames Lied summte.

Загрузка...