In seinem ganzen Leben hatte Alvin noch nie so viel Wasser auf einmal gesehen. Er stand oben auf einer Sanddüne und blickte über den See. Measure stand neben ihm, eine Hand auf Als Schulter gelegt.
»Pa hat mir aufgetragen, dich vom Wasser fernzuhalten«, sagte Measure, »und jetzt schau mal, wo sie dich nun hinbringen.«
Der Wind war heiß und heftig, manchmal wallte er auf und ließ Sandkörner wie winzige Pfeile umherschießen. »Dich aber auch«, meinte Al.
»Sieh mal, da braut sich ein richtiges Gewitter zusammen.«
Weitab im Südwesten wurden die Wolken schwarz und häßlich. Das war kein gewöhnlicher Sommerregen. Blitze zuckten über das Antlitz der Wolken. Der Donner kam sehr viel später. Als Alvin zusah, hatte er plötzlich das Gefühl, als könnte er viel weiter schauen als vorher, als könnte er das Brodeln in den Wolken erkennen, die Hitze und die Kälte spüren, die eisige Luft, die in die Tiefe fegte, die heiße Luft, die emporjagte, wie sich alles im riesigen Kreis des Himmels wand.
»Ein Tornado«, sagte Al. »In dem Sturm dort steckt ein Tornado.«
»Ich kann keinen erkennen«, meinte Measure.
»Er kommt. Schau doch mal, wie die Luft sich dort dreht. Schau dir das nur an.«
»Ich glaube dir, Al. Aber es gibt hier keinen Platz, wo man sich unterstellen könnte.«
»Schau dir nur diese ganzen Leute an«, sagte Alvin. »Wenn es uns hier erwischt…«
»Seit wann kannst du das Wetter voraussagen?« fragte Measure. »Das hast du noch nie getan.«
Darauf wußte Al keine Antwort. Er hatte tatsächlich noch nie einen Sturm so deutlich in seinem Inneren gespürt wie jetzt. Es war wie die grüne Musik, die er gestern nacht gehört hatte; seitdem diese Roten ihn gefangengenommen hatten, geschahen alle möglichen merkwürdigen Dinge. Doch er durfte keine Zeit mehr damit verlieren, darüber nachzudenken, woher er das wußte — es genügte, daß er es wußte. »Ich muß irgend jemanden warnen.«
Alvin stürzte so schnell die Düne hinunter, wie nie zuvor in seinem Leben. Measure jagte ihm nach und rief: »Sie haben uns gesagt, wir sollen so lange hier oben bleiben bis …« Ein Windstoß ließ ihn verstummen. Al mußte die Augen mit der Hand abschirmen, das Gesicht vom Wind abwenden, mußte alles tun, was verhinderte, daß er geblendet wurde, während er auf die Roten zulief, die sich am Ufer versammelt hatten.
Ta-Kumsaw war leicht auszumachen, und dies nicht nur, weil er so groß war. Die anderen Roten hatten viel Raum um ihn herum gelassen, und er stand da wie ein König. Al lief direkt auf ihn zu. »Es kommt ein Tornado!« schrie er. »In der Wolke dort drüben stecken Tornados!«
Ta-Kumsaw legte den Kopf zurück und lachte; der Wind war so laut, daß Al ihn kaum hören konnte. Dann griff Ta-Kumsaw über Als Kopf hinweg, um die Schulter eines anderen zu berühren, der vor ihm stand. »Das ist der Junge!« rief Ta-Kumsaw.
Al blickte den Mann an, den Ta-Kumsaw berührte. Dieser andere Rote benahm sich überhaupt nicht wie ein König — überhaupt nicht wie Ta-Kumsaw. Er war etwas gebeugt, und es fehlte ihm ein Auge, schlaff hing das Lid über der leeren Höhle. Er wirkte angespannt, seine Arme waren eher drahtig als muskulös, die Beine waren regelrecht verkümmert. Doch als Al ihm ins Gesicht blickte, erkannte er ihn wieder.
Ganz kurz ließ der Wind nach.
»Leuchtender Mann«, sagte Al.
»Schabenjunge«, erwiderte Tenskwa-Tawa, Lolla-Wossiky, der Prophet.
»Dich gibt es wirklich«, sagte Al. Kein Traum, keine Vision. Ein wirklicher Mann, der am Fußende seines Bettes gestanden hatte, verschwindend und wieder erscheinend, mit einem Gesicht, das so grell wie Sonnenlicht geleuchtet hatte, daß es die Augen geschmerzt hatte, es anzublicken. »Ich habe dich nicht geheilt!« sagte Al. »Das tut mir leid.«
»Doch, das hast du getan«, erwiderte der Prophet.
Dann fiel Al wieder ein, weshalb er die Düne hinuntergelaufen und in das Gespräch zwischen den beiden größten Roten auf der ganzen Welt geplatzt war, diesen Brüdern, deren Namen jeder Weiße jenseits der Appalachees kannte.
»Tornados!« rief er.
Wie um ihm zu antworten, peitschte der Wind wieder auf, jetzt heulte er schon. Al drehte sich um und sah, daß das, was er geschaut und gespürt hatte, nun Wirklichkeit wurde. Am Himmel bildeten sich vier Wirbel, die aus der Mitte des Sturmes heraushingen wie Schlangen von einem Baum.
Alle vier kamen auf sie zu, berührten jedoch noch nicht den Boden.
»Jetzt!« rief der Prophet.
Ta-Kumsaw reichte seinem Bruder einen Pfeil mit einer Feuersteinspitze. Der Prophet setzte sich in den Sand und rammte die Spitze des Pfeils erst in die Sohle seines linken, dann in die seines rechten Fußes. Sofort strömte das Blut aus den Wunden hervor. Nun machte er dasselbe mit seinen Händen, rammte den Pfeil tief in die Handflächen hinein.
Ohne nachzudenken stieß Al einen Schrei aus und begann, seinen Geist in den Körper des Propheten eindringen zu lassen, um die Wunden zu heilen.
»Nein!« rief der Prophet. »Das ist die Macht des roten Mannes — das Blut seines Körpers — das Feuer des Landes!«
Dann stand er auf, drehte sich um und schritt in den Lake Mizogan hinein.
Nein, nicht in den See, sondern auf ihn. Alvin traute seinen Augen nicht, doch unter den blutigen Füßen des Propheten wurde das Wasser so glatt und flach wie Glas, und der Prophet stand darauf. Sein Blut bildete eine tiefrote Pfütze auf der Oberfläche. Wenige Ellen entfernt wurde das Wasser unruhig, die vom Wind aufgepeitschten Wogen liefen auf die glatte Stelle zu, um plötzlich ihrerseits flach zu werden, ruhig und glatt.
Der Prophet ging immer weiter, hinaus auf das Wasser, seine blutigen Fußabdrücke markierten den glatten Weg durch den Sturm.
Al sah zu den Tornados zurück. Die waren inzwischen ganz nahe, tobten beinahe über ihren Köpfen. Er spürte, wie sie sich in seinem Inneren wanden, als wäre er Teil der Wolken; es waren die großen, tobenden Gefühle seiner eigenen Seele.
Draußen auf dem Wasser hob der Prophet die Hände und deutete auf einen der Wirbel. Fast im selben Augenblick erhoben sich die anderen drei, wurden von den Wolken wieder aufgesaugt und verschwanden. Der eine jedoch kam näher, bis er direkt über dem Propheten schwebte, etwa hundert Fuß über ihm; nah genug, um den See am Rande des glasigen, glatten Prophetenwegs aufpeitschen zu lassen, als wollte das Wasser die Wolken mit sich reißen; es begann zu kreiseln, strudelte unter dem Wirbel im Wind herum und herum.
»Komm!« rief der Prophet.
Alvin konnte ihn zwar nicht hören, doch er sah seine Augen — selbst auf diese Entfernung —, sah seine Lippen sich bewegen und wußte, was der Prophet wollte. Alvin zögerte nicht. Er trat auf das Wasser hinaus.
Doch als er begann, den warmen, glatten Glaspfad des Propheten entlangzuschreiten, da schrie Measure ihn an, griff nach ihm. Doch bevor er den Jungen berühren konnte, hatten die Roten ihn schon gepackt und zurückgerissen; er schrie Alvin zu, er solle zurückkommen, er solle nur nicht auf dieses Wasser hinausgehen…
Alvin hörte ihn und hatte schreckliche Angst. Doch der leuchtende Mann wartete auf ihn unter dem Schlund des Tornados. In seinem Inneren spürte Al eine Sehnsucht, wie Moses sie empfunden hatte, als er den brennenden Busch schaute — ich muß unbedingt stehenbleiben und diese Dinge anschauen, hatte Moses sich gesagt, und das sagte Alvin sich nun auch, ich muß hingehen und schauen, was es ist. Denn das war nichts, was im natürlichen Universum zu geschehen pflegte, es gab keine Beschwörung und keinen Zauber, keine Hexerei, von denen er je gehört hätte, die einen Tornado herbeirufen und einen sturmgepeitschten See in Glas verwandeln konnten.
Was immer dieser rote Mann da tat, es war das Wichtigste, was Al in seinem Leben jemals gesehen hatte. Und der Prophet liebte ihn. Das war etwas, an dem Al nicht zweifeln konnte. Der leuchtende Mann hatte einmal am Fußende seines Bettes gestanden und ihn belehrt. Al erinnerte sich, daß sich der leuchtende Mann damals auch eine Wunde zugefügt hatte. Was immer der Prophet tat, er benutzte dazu sein eigenes Blut und seinen eigenen Schmerz. Al war von Ehrfurcht erfüllt, als er auf das Wasser hinausschritt.
Hinter ihm löste sich der Pfad auf und verschwand. Al spürte, wie die Wellen an seinen Fußsohlen leckten. Es jagte ihm Angst ein, doch solange er vorwärts schritt, geschah ihm nichts. Und schließlich stand er vor dem Propheten, der die Arme ausstreckte und Alvins Hände in seine nahm. »Stelle dich neben mich«, rief der Prophet. »Stelle dich hierher ins Auge des Landes und schau!«
Dann sank der Tornado schnell in die Tiefe, das Wasser sprang empor, erhob sich um sie wie eine Mauer. Sie standen genau in der Mitte des Tornados, wurden in die Höhe gewirbelt…
Bis der Prophet eine blutige Hand vorstreckte und die Wasserfontäne berührte, worauf auch diese so glatt und hart wurde wie Glas. Nein, nicht wie Glas. Es war so klar und so sauber wie ein Tropfen Tau auf einem Spinnweben. Es gab keinen Sturm mehr, nur noch Al und den leuchtenden Mann in der Mitte eines Turmes aus Kristall, der hell war und durchsichtig.
Nur, daß Al nicht wie durch ein Fenster hinaus auf den See oder den Sturm oder das Ufer schauen konnte. Statt dessen erblickte er andere Dinge.
Er schaute einen Planwagen, der in einem reißenden Fluß gefangen war, einen Baum, der wie ein Rammbock herantrieb, und einen jungen Mann, der auf den Baum zusprang, ihn herumriß und vom Wagen ablenkte. Und dann sah er den Mann, wie er sich im Wurzelwerk des Baumes verhedderte und gegen einen Felsen geschmettert wurde, herumwirbelte und flußabwärts trieb, während er die ganze Zeit darum kämpfte, am Leben zu bleiben, noch eine kleine Weile zu atmen, weiterzuatmen, weiterzuatmen …
Er schaute eine Frau, die ein Kind gebar, und ein kleines Mädchen, das danebenstand und die Hand vorstreckte und ihren Bauch berührte. Das Mädchen rief etwas, und die Hebamme schob die Hand hinein und zog den Kopf des Säuglings hervor. Die Mutter begann zu bluten. Das kleine Mädchen griff nach unten und riß dem Baby etwas vom Gesicht; das Baby schrie. Der Mann im Fluß hörte diesen Schrei irgendwie, wußte, daß er nun lange genug gelebt hatte, und starb.
Al wußte nicht, was er davon halten sollte. Bis er die flüsternde Stimme des Propheten an seinem Ohr vernahm: »Das erste, was du hier siehst, ist der Tag, an dem du geboren wurdest.«
Das Baby war Alvin Junior; der Mann, der gestorben war, war sein Bruder Vigor gewesen. Doch wer war das Mädchen, das ihm den Mutterkuchen vom Gesicht gerissen hatte? Al hatte sie noch nie in seinem Leben gesehen.
»Ich werde es dir zeigen«, sagte der Prophet. »Dieses Bild bleibt nur ein paar Momente, und ich muß auch selbst noch einige Dinge schauen, aber ich werde es dir zeigen.« Er nahm Alvin bei der Hand, und gemeinsam stiegen sie durch die Glassäule empor.
Es fühlte sich nicht wie Fliegen an, nicht wie das Emporschnellen eines Vogels; es war, als gäbe es weder Oben noch Unten. Der Prophet zog ihn in die Höhe, doch Al begriff nicht, wie er sich selbst aufsteigen ließ. Aber das spielte auch keine Rolle. Dazu gab es zuviel zu sehen. Er konnte in alle beliebigen Richtungen schauen und durch die Turm wand etwas anderes sehen. Bis er begriff, daß jeder Augenblick der Zeit, jedes menschliche Wesen durch diese Turmmauer sichtbar sein mußte. Wie sollte man sich da zurechtfinden? Wie sollte man nach einer bestimmten Geschichte in den Hunderten, Tausenden, Millionen von Augenblicken der vergangenen Zeit suchen?
Der Prophet hielt an, zog den Jungen in die Höhe, bis er sehen konnte, was der Prophet schaute, bis ihre Wangen sich aneinanderpreßten und ihr Atem sich vermischte.
Laut hämmerte der Herzschlag des Propheten in Alvins Ohr.
»Schau«, sagte der Prophet.
Alvin erblickte eine Stadt, die im Sonnenlicht schimmerte. Es schienen Türme aus Eis oder klarem Glas zu sein, denn als die Sonne hinter der Stadt unterging, wurde ihr Licht um kein bißchen matter, und die Stadt warf auch keine Schatten auf das sie umgebende Weideland. In der Stadt waren Menschen, die sich wie helle Schatten hin und her bewegten, die ohne Treppen oder Flügel die Türme hinauf- und hinabstiegen. Doch wichtiger als das, was er sah, war, was er fühlte, wie er diesen Ort betrachtete. Keinen Frieden, nein, an seinem Gefühl war nichts Ruhiges. Er war aufgeregt, sein Herz pumpte so schnell wie das eines Pferdes in vollem Galopp. Die Menschen dort waren nicht vollkommen — manchmal waren sie zornig, manchmal traurig. Doch niemand hungerte, und niemand war unwissend, und niemand mußte etwas tun, nur weil ein anderer ihn dazu zwang. »Wo liegt diese Stadt?« flüsterte Alvin.
»Ich weiß es nicht«, sagte der Prophet. »Jedesmal, wenn ich hierher komme, sehe ich sie in einer anderen Gestalt. Manchmal diese hohen, dünnen Türme, manchmal große Kristallkuppeln, manchmal Menschen, die auf einem Meer aus Kristallen im Feuer leben. Ich glaube, daß diese Stadt in der Vergangenheit viele Male erbaut wurden. Ich glaube, daß sie noch einmal erbaut werden wird.«
»Wirst du sie erbauen? Ist das das Ziel von Prophetstown?«
Dem Propheten traten Tränen in die Augen — sie strömten aus dem gesunden Auge. »Der rote Mann kann diesen Ort nicht allein erbauen«, sagte er. »Wir sind Teil des Landes, und diese Stadt ist mehr als das Land allein. Das Land ist Gut und Böse, Leben und Tod zusammen, die grüne Stille.«
Alvin dachte an sein Gefühl der grünen Musik, sagte aber nichts, weil der Prophet Dinge aussprach, die er hören wollte, und Al war klug genug, um zu wissen, daß es manchmal besser war, zuzuhören als zu reden.
»Aber diese Stadt«, fuhr der Prophet fort, »diese Kristallstadt ist Licht ohne Dunkelheit, Sauberkeit ohne Schmutz, Gesundheit ohne Krankheit, Stärke ohne Schwäche, Überfluß ohne Hunger, Trank ohne Durst, Leben ohne Tod.«
»Die Leute dort sind aber nicht alle glücklich«, wandte Alvin ein. »Sie leben nicht ewig.«
»Ah«, sagte der Prophet. »Du siehst nicht dasselbe wie ich.«
»Was ich sehe, ist, daß sie sie erbauen.« Al furchte die Stirn. »An einem Ende erbauen sie die Stadt und am anderen Ende bricht sie zusammen.«
»Ah«, meinte der Prophet, »die Stadt, die ich schaue, wird nie fallen.«
»Aber was ist denn das für ein Unterschied? Wie kommt es, daß wir beide nicht dasselbe sehen?«
»Ich weiß es nicht, Schabenjunge. Ich habe dies noch nie jemandem gezeigt. Und nun geh zurück, warte unten auf mich. Ich muß noch einige Dinge schauen, bevor die Zeit wieder beginnt.«
Alvin brauchte nur daran zu denken, daß er in die Tiefe wollte, und schon sank er bis zum Boden, bis zum leuchtenden, klaren Boden. Boden? Es hätte ebensogut die Decke sein können. Hier strömte das Licht genauso empor wie durch die Außenwände, und er sah auch Bilder.
Er erblickte eine riesige Staubwolke, die immer schneller und schneller herumwirbelte, doch anstatt Staub auszusenden, saugte sie ihn ein, und plötzlich begann sie zu glühen, geriet in Brand und wurde zur Sonne. Alvin wußte etwas über Planeten, weil Thrower von ihnen gesprochen hatte, so daß er nicht überrascht war, als er glühende Lichtpunkte erblickte, die schon ziemlich bald matt wurden. Und nach einer Weile war da kein Staub mehr, der mit Dunkelheit vermischt war, sondern nur noch Planeten und leerer Raum. Er sah die Erde, sie war ganz winzig, doch dann kam er näher und merkte, wie groß sie doch war, wie schnell sie sich drehte, eine Seite vom Sonnenlicht beschienen, die andere Seite dunkel. Es schien, als würde er am Himmel stehen und auf die beschienen Seite hinabblicken, doch er konnte gleichzeitig alles sehen, was geschah. Erst war da kahler Fels, der Vulkane hervorspie; dann griffen Pflanzen aus dem Ozean nach Luft, wurden groß, wurden zu Farnen und Bäumen. Er sah Fische im Meer umherspringen, krabbelndes Leben am Ufer, wo die Flut es anspülte, und dann Insekten und andere kleine Lebewesen, die umherhüpften und an Blättern knabberten und einander fingen und auffraßen. Diese Tiere wurden immer größer und größer, und zwar so schnell, daß Alvin die Veränderungen nicht mehr richtig verfolgen konnte, während die Erde sich drehte und er zusah, bis riesige, monströse Kreaturen erschiene, von denen er noch nie gehört hatte, einige mit langen, schlangengleichen Hälsen und Zähnen und Kieferladen, die so aussahen, als könnten sie mit einem einzigen Biß ganze Bäume ausreißen. Und dann waren sie verschwunden, und es gab Elefanten und Antilopen und Tiger und Pferde, alles Leben auf der Erde, ähnlich dem, wie Al es kannte. Doch nirgendwo in alledem erblickte er den Menschen. Er schaute Affen und behaarte Wesen, die einander mit Steinen schlugen, Wesen, die auf den Hinterbeinen gingen, aber so dumm aussahen wie Frösche.
Und dann sah er doch Menschen, obwohl er sich zuerst nicht sicher war, weil sie schwarz waren, und er hatte in seinem ganzen Leben erst einen einzigen schwarzen Mann gesehen, einen Sklaven, der einem Hausierer aus den Kronkolonien gehörte, der vor zwei Jahren zufällig durch Vigor Church gekommen war. Aber sie sahen durchaus wie menschliche Wesen aus, schwarz oder nicht, und sie pflückten Früchte von Bäumen und Beeren von Sträuchern, fütterten einander, gefolgt von einer Schar kleiner Negerkinder. Zwei der Kleinen gerieten in Streit, worauf der größere den kleineren tötete. Da kam der Vater zurück und trat den Jungen, der den anderen getötet hatte, und schickte ihn fort. Dann nahm er den Toten auf und trug ihn zu der Mutter, und beide weinten, bis sie das tote Kind schließlich auf den Boden legten und mit Steinen bedeckten. Dann sammelten sie ihre Familie und zogen weiter, und nur wenig später aßen sie wieder, und die Tränen trockneten, und sie gingen einfach immer weiter. Das sind bestimmt Menschen, dachte Alvin. Genauso sind die Menschen.
Die Erde drehte sich weiter, und als sie ihre Umdrehung vollzogen hatte, waren alle möglichen Menschen zu sehen, schwarze in den heißen Ländern, hellhäutige in den kalten Ländern, und dazwischen gab es alle möglichen Mischformen. Bis auf Amerika. Als das im Licht der Sonne erschien, sah er überall so ziemlich dieselbe Rasse, alles Rote, ob im Norden oder Süden, ob in heißen oder kalten, feuchten oder trockenen Gebieten. Und verglichen mit dem Rest der Welt, war das Land friedlich. Es war seltsam für ihn anzusehen, denn als der große Teil der Landmassen vorbeizog mit all den verschiedenen Rassen und Völkern, veränderte sich alles mit jeder Umdrehung der Erde, bewegten sich ganze Länder von einem Ort an den anderen, verschoben sich ständig, und überall und unentwegt herrschten Kriege. In dem kleineren Land, Amerika, gab es zwar auch Kriege, doch da verlief alles langsamer und sanfter. Die Menschen lebten nach einem anderen Rhythmus. Das Land besaß seinen eigenen Herzschlag, sein eigenes Leben.
Von Zeit zu Zeit kamen weitere Menschen aus der Alten Welt — hauptsächlich Fischer. Sie waren vom Kurs abgetrieben, von Stürmen in die Irre geführt worden, flüchteten vor Feinden. Sie kamen und führten eine Weile lang ihr Alte-Welt-Leben in Amerika, versuchten schnell zu bauen, sich schnell fortzupflanzen und soviel zu töten, wie sie nur konnten. Es war wie eine Krankheit. Doch dann schlossen sie sich entweder den Roten an und verschwanden, oder sie fanden den Tod. Keiner von ihnen behielt jemals die alten Sitten bei.
Bis heute, dachte Alvin. Als wir kamen, da waren wir einfach zu stark. Alvin spürte eine Hand auf seiner Schulter.
»Hier hast du also geschaut«, sagte der Prophet. »Was hast du gesehen?«
»Ich glaube, ich habe die Erschaffung der ganzen Welt geschaut«, meinte Al. »Genau wie in der Bibel. Ich glaube, ich habe gesehen…«
»Ich weiß, was du gesehen hast. Das sehen alle, die jemals an diesen Ort gekommen sind.«
»Ich dachte, du hättest gesagt, daß ich der erste sei, den du hierhergebracht hast.«
»Es gibt viele Tore, die zu diesem Ort führen. Manche schreiten durch das Feuer hinein. Andere durchs Wasser. Andere wiederum, indem sie in der Erde vergraben werden. Manche fallen durch die Luft. Sie gelangen an diesen Ort und sehen. Sie kehren zurück und berichten, was sie erinnern, soviel, wie sie verstanden haben, und erzählen davon, so gut sie dafür Worte finden, und andere lauschen ihnen und behalten soviel davon, wie sie verstehen können. Dies ist der Ort der Schau.«
»Ich will nicht mehr gehen«, sagte Alvin.
»Nein, und der andere will es auch nicht.«
»Wer? Ist denn hier noch jemand?«
Der Prophet schüttelte den Kopf. »Sein Körper nicht. Aber ich spüre ihn in mir, wie er durch mein Auge blickt.« Er berührte den Wangenknochen unter seinem gesunden Auge. »Nicht durch dieses, durch das andere.«
»Weißt du denn nicht, wer es ist?«
»Ein Weißer«, sagte er. »Es macht nichts. Wer immer es ist, er hat keinen Schaden angerichtet. Ich glaube, vielleicht… vielleicht wird er Gutes tun. Jetzt gehen wir.«
»Aber ich möchte doch alles über diesen Ort erfahren!«
Der Prophet lachte. »Du könntest ewig leben und dennoch nicht alles schauen. Es verändert sich schneller, als ein Mensch sehen kann.«
»Wie kann ich jemals hierher zurückkehren? Ich möchte alles sehen, alles!«
»Ich werde dich nie wieder hierherbringen«, sagte der Prophet.
»Warum nicht? Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Sei still, Schabenjunge. Ich werde dich nie wieder hierher zurückbringen, weil ich selbst nie wieder hierher zurückkommen werde. Dies ist das letzte Mal, ich habe das Ende all meiner Träume geschaut.«
Zum ersten Mal begriff Alvin, wie traurig der Prophet aussah. Sein Gesicht wirkte fahl vor Trauer.
»Ich habe dich an diesem Ort geschaut. Ich habe gesehen, daß ich dich hierher bringen mußte. Ich habe dich in der Gewalt der Chok-Taw gesehen. Ich habe meinen Bruder ausgeschickt, um dich zu holen, um dich zurückzubringen.«
»Kannst du nie wieder hierher zurückkommen, weil du mich hierher gebracht hast?«
»Nein. Das Land hat sich entschieden. Das Ende wird bald kommen.« Er lächelte, aber er war ein grausiges Lächeln. »Euer Prediger, Reverend Thrower, der hat mal zu mir gesagt… Wenn dein Fuß krank wird, schneide ihn ab. Richtig?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Ich aber«, meinte der Prophet. »Dieser Teil des Landes ist bereits krank. Schneide ihn ab, damit der Rest des Landes leben kann.«
»Was meinst du damit?«
»Der rote Mann wird sich westlich des Mizzipy niederlassen. Der weiße Mann wird im Osten bleiben. Der rote Teil des Landes wird leben. Der weiße Teil des Landes wird tot sein und abgeschnitten. Voller Rauch und Metall, voller Gewehre und Tod. Die roten Männer, die im Osten bleiben, werden weiß werden. Und weiße Männer werden die Grenze des Mizzipy nicht überschreiten.«
»Es gibt bereits weiße Männer westlich vom Mizzipy. Hauptsächlich Trapper und Händler, aber auch schon ein paar Farmer mit ihren Familien.«
»Ich weiß«, sagte der Prophet. »Aber was ich heute hier geschaut habe — ich weiß, wie ich den weißen Mann dazu bringen kann, nie wieder nach Westen zu ziehen, und wie ich den roten Mann dazu bringen kann, nie mehr im Osten zu bleiben.«
»Wie willst du das denn tun?«
»Wenn ich es verrate«, erklärte der Prophet, »dann wird es nicht geschehen. Manche Dinge an diesem Ort darf man nicht erzählen, sonst verändert er sich und sie verschwinden.«
»Ist es die Kristallstadt?« wollte Alvin wissen.
»Nein«, widersprach der Prophet. »Es ist der Blutfluß. Es ist der Eisenwald.«
»Zeig es mir!« verlangte der Junge. »Laß mich schauen, was du geschaut hast!«
»Nein«, schlug der Prophet es ihm ab. »Du würdest das Geheimnis nicht wahren.«
»Warum nicht? Wenn ich dir mein Wort gebe, werde ich es auch nicht brechen!«
»Du kannst mir den ganzen Tag dein Wort geben, immer wieder, Schabenjunge, aber wenn du diese Vision schautest, würdest du vor Furcht und Schmerz aufschreien. Und du würdest es deinem Bruder erzählen. Du würdest es deiner Familie erzählen.«
»Wird ihnen etwas geschehen?«
»Nicht ein einziger aus deiner Familie wird sterben«, sagte der Prophet. »Alle werden gesund und unversehrt sein, wenn dies vorbei ist.«
»Zeig es mir!«
»Nein«, erwiderte der Prophet. »Ich werde jetzt den Turm zerstören, und du wirst dich an das erinnern, was wir hier getan und gesagt haben. Doch die einzige Möglichkeit für dich, jemals wieder hierherzukommen und Dinge zu schauen, besteht darin, die Kristallstadt zu finden.«
Der Prophet kniete an der Stelle nieder, wo die Mauer auf den Boden traf. Er schob seine blutverschmierten Finger in die Mauer und hob sie an. Sie löste sich auf, wurde zu Wind. Jetzt waren sie von der Szenerie umgeben, die sie scheinbar vor vielen Stunden zurückgelassen hatten: Das Wasser, der Sturm, der Wirbel, der über ihnen wieder in die Wolken zurückkehrte. Blitze zuckten um sie herum, und der Regen fiel so schnell herab, daß das Ufer verschwand.
Der Prophet schritt an den Rand, der dem Ufer am nächsten war, und trat auf das stürmische Wasser hinaus. Unter der Berührung seines Fußes wurde es hart, wogte aber noch etwas — es war nicht so fest wie die Plattform. Der Prophet griff nach hinten, nahm Alvin bei der Hand, zog ihn auf den neuen Pfad, den er auf dem See erschuf. Er war nicht annähernd so glatt wie zuvor, und je mehr der Pfad sich bewegte, um so schwieriger wurde es, über die Wellen zu schreiten.
»Wir sind zu lange geblieben!« rief der Prophet.
Alvin konnte das schwarze Wasser unter der dünnen Kristallschicht haßerfüllt brodeln fühlen. Das Nichts aus einem uralten Alptraum, das den Kristall durchstoßen wollte, um AI zu packen, ihn zu ertränken und in Stücke zu reißen, in allerwinzigste Stücke, um ihn in die Finsternis hinauszuschleudern.
»Das war nicht ich!« rief Alvin.
Der Prophet drehte sich um, nahm ihn auf und hob ihn auf seine Schultern. Der Regen prasselte auf ihn nieder, der Wind versuchte, ihn von den Schultern des Propheten zu reißen. Alvin klammerte sich an Tenskwa-Tawas Haar fest. Er spürte nun, wie die Füße des Propheten mit jedem Schritt tiefer im Wasser einsanken. Hinter ihnen war nicht mehr das leiseste Anzeichen eines Pfads zu erkennen, alles war verschwunden, immer höher und höher wogten die Wellen.
Der Prophet stolperte, stürzte; auch Alvin stürzte, nach vorn, wissend, daß er ertrinken würde…
Und dann fand er sich auf dem nassen Sand des Strands wieder, vom Wasser beleckt, das den Sand unter ihm fortspülte, um ihn wieder hinauszuzerren. Doch kräftige Hände packten unter seine Achseln, rissen ihn hoch, den Dünen entgegen.
»Der Prophet ist noch dort draußen!« rief Alvin. Oder er glaubte zumindest, daß er es rief — er brachte kaum einen Ton heraus. Es hätte ohnehin nichts ausgemacht, allzu laut war der Wind. Er öffnete die Augen, und sie wurden von Sand und Regen gepeitscht.
Dann spürte er Measures Lippen an seinem Ohr und hörte ihn brüllen: »Der Prophet ist in Ordnung! Ta-Kumsaw hat ihn herausgeholt! Ich habe wirklich geglaubt, daß du tot wärst, als dieser Wirbel dich mitgerissen hat! Bist du in Ordnung?«
»Ich habe alles geschaut!« rief Alvin. Aber er war inzwischen zu erschöpft und fiel in einen tiefen Schlaf.