Frederic, der junge Comte de Maurepas, und Gilbert, der alternde Marquis de La Fayette, standen zusammen an der Reling der Kanalbarkasse und sahen auf Lake Irrakwa hinaus. Das Segel der Marie-Philippe war inzwischen deutlich zu sehen; stundenlang hatten sie zugesehen, wie es über diesen kleinsten und seichtesten der großen Seen auf sie zufuhr.
Frederic konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal wegen seines Volkes derartig gedemütigt gefühlt hatte. Vielleicht damals, als der Kardinal Soundso versucht hatte, Königin Marie-Antoinette zu bestechen. Aber damals war Frederic natürlich noch ein Junge gewesen, gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt, unreif und jung, ohne Lebenserfahrung. Er hatte geglaubt, daß Frankreich unmöglich eine schlimmere Demütigung hätte widerfahren können als das Bekanntwerden der Tatsache, daß ein Kardinal tatsächlich geglaubt hatte, er könne die Königin mit einem Diamantenhalsband bestechen. Inzwischen wußte er natürlich, daß die eigentliche Demütigung darin bestanden hatte, daß ein französischer Kardinal überhaupt so töricht hatte sein können zu glauben, daß es sich lohnen würde, die Königin zu bestechen; sie hätte doch allerhöchstens versuchen können, den König zu beeinflussen, aber da der alte König Louis selbst auf niemanden Einfluß hatte, wäre es auch schon dabei geblieben.
Ein persönliche Demütigung tat schon weh, doch die Demütigung der eigenen Familie war noch viel schlimmer. Die Demütigung der eigenen gesellschaftlichen Stellung aber war eine schier unerträgliche Qual. Die grauenhafteste aller menschlichen Qualen jedoch war es, die eigene Nation gedemütigt zu sehen.
Und nun stand er hier auf einer armseligen Kanalbarkasse, einer amerikanischen Kanalbarkasse, die an der Mündung eines amerikanischen Kanals festgemacht war, und erwartete einen französischen General. Warum war dieser Kanal nicht französisch? Warum waren die Franzosen nicht die ersten gewesen, die diese raffinierten Schleusen erfunden und einen Kanal um die kanadische Seite der Wasserfälle gebaut hatten?
»Nun kocht nicht gleich vor Wut, mein lieber Frederic«, murmelte La Fayette.
»Ich koche nicht, mein lieber Gilbert.«
»Dann eben schnauben. Ihr schnaubt unentwegt.«
»Ich schnüffle. Ich habe eine Erkältung.« Kanada war wirklich der Abfallkübel der französischen Gesellschaft, dachte Frederic zum tausendstenmal. Selbst mit dem Adel, den es hierher verschlug, war es nicht weit her. Dieser Marquis de La Fayette, ein Mitglied des — nein, sogar ein Gründungsmitglied der Clubs der Feuillants, was praktisch besagte, daß er ein deklarierter Verräter gegen König Charles war. Demokratisiertes Geschwätz. Genausogut hätte er gleich ein Jakobiner sein können wie dieser Terrorist Robespierre. Natürlich hatte man La Fayette ins kanadische Exil geschickt, wo er nur wenig Schaden anrichten konnte. Das bedeutete, nur wenig Schaden außer, Frankreich auf diese ungehörige Weise zu demütigen.
»Unser neuer General hat mehrere Stabsoffiziere mitgebracht«, sagte La Fayette, »mitsamt Gepäck. Es scheint sinnlos, vom Schiff zu gehen und die erbärmliche Reise in Wagen und Kutschen hinter sich zu legen, wenn man auch alles zu Wasser befördern kann. So bekommen wir wenigstens Gelegenheit, einander kennenzulernen.«
Da La Fayette auf seine übliche grobschlächtige Art (eine Schande für die Aristokratie!) darauf bestand, die fragliche Angelegenheit ebenso grobschlächtig zu behandeln, blieb Frederic nichts anderes übrig, als sich auf sein Niveau herunterzubegeben und ebenso deutlich und offen zu reden. »Ein französischer General sollte nicht über fremden Boden reisen müssen, um seinen Posten zu erreichen!«
»Aber mein lieber Frederic, er wird doch keinen einzigen Fuß auf amerikanischen Boden setzen! Nur von Boot zu Boot, er bleibt die ganze Zeit auf dem Wasser.«
La Fayettes Geschwätz war nervtötend. Warum nur hatte Frederics Vater nicht ein kleines Stück länger in der Gunst des Königs bleiben können, damit Frederic lange genug in Frankreich geblieben wäre, um auf irgendeinen eleganten Posten befördert zu werden, beispielsweise zum Herrn des Italienischen Parademarsches oder so ähnlich — gab es überhaupt so etwas? —, jedenfalls irgendwohin, wo es anständiges Essen und Musik und Tanz und Theater gab — ah, Moliere! In Europa, wo er einem zivilisierten Feind die Stirn hätte bieten können, den Österreichern etwa oder den Preußen oder sogar — obwohl dies den Begriff zivilisiert doch ein wenig überstrapazieren hieß — den Engländern. Statt dessen war er nun hier gestrandet, saß für immer in der Falle — es sei denn, daß Vater sich wieder in die Gunst des Königs einschleichen konnte —, mit armseligen, ungebildeten Engländern konfrontiert, dem Abschaum der englischen Gesellschaft, ganz zu schweigen von den Holländern und Schweden und Deutschen — ach, er konnte es nicht einmal mehr ertragen, auch nur darüber nachzudenken. Und die Verbündeten waren sogar noch schlimmer! Stämme von Roten, die nicht einmal Ketzer waren, von Christen ganz zu schweigen. Das waren richtige Heiden, und die Hälfte aller militärischen Operationen in Detroit bestand nur daraus, diese widerlichen, blutigen Trophäen aufzukaufen…
»Aber mein lieber Frederic, Ihr erkältet Euch ja wohl doch noch«, meinte La Fayette.
»Kein bißchen.«
»Ihr habt gezittert.«
»Ich bin erschauert.«
»Ihr müßt aufhören zu schmollen und das Beste daraus machen. Die Irrakwa waren sehr kooperativ. Sie haben uns mit der Gouverneursbarkasse versorgt, ohne etwas dafür zu verlangen, als eine Geste des guten Willens.«
»Gouverneursbarkasse! Gouverneur? Meint Ihr etwa diese fette, widerliche, rothäutige Heidenfrau?«
»Für ihre rote Haut kann sie auch nichts, und eine Heidin ist sie auch nicht. Tatsächlich ist sie Baptistin, was fast das gleiche ist wie Christin, nur etwas lauter.«
»Wer soll sich mit diesen ganzen englischen Ketzereien noch auskennen?«
»Mir scheint, daran ist etwas durchaus Elegantes. Eine Frau als Gouverneur des Staats Irrakwa, noch dazu eine Rote, gleichberechtigt mit den Gouverneuren von Sushwa-henny, Pennsylvania, New Amsterdam, New Sweden, New Orange, New Holland…«
»Manchmal glaube ich, daß Ihr diese abscheulichen kleinen Vereinigten Staaten Eurem Heimatland vorzieht.«
»Im Grunde meiner Seele bin ich ein Franzose«, erwiderte La Fayette milde. »Aber ich bewundere den amerikanischen Geist des Egalitarismus.«
Schon wieder dieser Egalitarismus. Der Marquis de La Fayette war wie ein Klavier mit einer einzigen Taste. »Ihr vergeßt wohl, daß unser Feind in Detroit Amerikaner sind.«
»Und Ihr vergeßt, daß unser eigentlicher Feind die Horde illegaler Squatter sind, egal aus welchem Volk sie stammen mögen, die sich im Reservat der Roten niedergelassen haben.«
»Das ist spitzfindig. Es sind alles Amerikaner. Alle kommen sie durch New Amsterdam oder Philadelphia auf ihrem Weg nach Westen. Also werden sie von Euch hier im Osten ermutigt — sie wissen ja alle, wie sehr Ihr ihre antimonarchistische Philosophie bewundert. Und ich muß dann für ihre Skalps bezahlen, wenn die Roten sie draußen im Westen massakrieren.«
»Aber, aber, Frederic! Ihr dürft mich nicht einmal im Scherz des Antimonarchismus zeihen. Wer dessen überführt wird, den erwartet Mr. Guillotins raffinierte Maschine.«
»Ach, nun seid doch mal ernsthaft, Gilbert. Gegen einen Marquis würde man die doch nie einsetzen. Aristokraten, die diese verrückten demokratischen Ideen verbreiten, werden nicht geköpft. Man schickt sie einfach nur nach Quebec.« Frederic lächelte. »Und jene, die man wirklich verabscheut, schickt man zum Niagara.«
»Was habt denn dann Ihr um alles in der Welt angestellt, um nach Detroit geschickt zu werden?« murmelte La Fayette.
Schon wieder eine Demütigung. Hörte das denn niemals auf?
Die Marie-Philippe war inzwischen nahe genug herangekommen, um einzelne Seeleute auszumachen und ihre Rufe zu hören, als das Schiff schließlich in Port Irrakwa einfuhr. Irrakwa, der südlichste der Großen Seen, war der einzige, der für größere Schiffe tauglich war, dafür sorgten die Niagarafälle. In den letzten drei Jahren, seit die Irrakwa ihren Kanal fertiggestellt hatten, wurde fast alle Fracht, die an den Fällen vorbei zum Lake Canada verbracht werden sollte, am amerikanischen Ufer angelandet und von dort aus den Niagarakanal emporbefördert. Die französischen Hafenstädte lagen im Sterben. Eine geradezu peinlich große Zahl von Franzosen war ans andere Ufer des Sees gezogen, um auf der amerikanischen Seite zu leben, wo die Irrakwa ihnen nur zu gern Arbeit gaben. Und der Marquis de La Fayette, der doch angeblich der oberste Gouverneur des gesamten Kanada südlich und westlich von Quebec war, schien zu allem Überfluß nicht einmal das geringste dagegen zu haben. Wenn Frederics Vater wieder jemals in die Gunst des König Charles gelangen sollte, würde Frederic schon dafür sorgen, daß La Fayette der erste Aristokrat wurde, der die Schneide der Guillotine zu spüren bekam. Was er hier in Kanada getan hatte, war reiner Hochverrat.
Als könnte er Frederics Gedanken lesen, klopfte La Fayette ihm auf die Schulter und sagte: »Gleich, habt nur Geduld.« Einen Augenblick lang überfiel Frederic der wahnwitziges Gedanke, daß La Fayette soeben in aller Ruhe seine eigene Hinrichtung wegen Hochverrats prophezeite.
Doch La Fayette sprach lediglich über die Tatsache, daß die Marie-Philippe inzwischen nahe genug gekommen war, um an der Pier anzulegen. Die Irrakwa-Schauermänner fingen die Leine auf und befestigten sie am Ankerspill. Dann begannen sie einen Singsang in ihrer unaussprechlichen Sprache, während sie das Schiff einholten. Sofort nach dem Anlegen fingen sie damit an, auf der einen Seite die Fracht zu löschen und auf der anderen die Passagiere an Land steigen zu lassen.
»Ist das nicht raffiniert, wie sie das Löschen der Fracht beschleunigen«, meinte La Fayette. »Alles wird einfach auf diese schweren Wagen geladen, die auf Schienen ruhen — auf Schienen, genau wie Bergwerkswagen! Und dann ziehen die Pferde alles hier hinauf, so reibungslos und so leicht, wie man es sich nur wünschen kann. Wißt Ihr, auf Schienen kann man nämlich sehr viel schwerere Lasten bewegen als auf gewöhnlichen Räderwagen. Stephenson hat es mir das letzte Mal erklärt, als ich hier war. Das liegt daran, daß man nicht zu steuern braucht.« Und so plapperte er immer weiter. Und natürlich dauerte es nur kurze Zeit, bis er wieder über Stephensons Dampfmaschine sprach, die nach La Fayettes Überzeugung einmal das Pferd ersetzen würde. Er hatte einige davon in England oder in Schottland oder sonstwo gebaut, doch jetzt lebte er in Amerika. Aber hatte La Fayette Stephenson etwa eingeladen, seine Dampfwagen in Kanada zu bauen?
O nein — La Fayette war es völlig zufrieden, sie für die Irrakwa bauen zu lassen, wobei er irgendwelche idiotischen Ausreden vor sich hinmurmelte. Etwa, daß die Irrakwa bereits Dampfmaschinen für ihre Webstühle benutzten und sich die ganze Kohle auf der amerikanischen Seite befände. Doch Frederic de Maurepas kannte die Wahrheit. La Fayette glaubte, daß die Dampfmaschine den Handel und das Reisen unendlich viel schneller und billiger machen würde. Und er glaubte auch, daß es besser für die Welt sei, wenn man sie in einer Demokratie aufbaute! Natürlich glaubte Frederic selbst nicht im entferntesten daran, daß diese Maschinen jemals so schnell werden würden wie Pferde, aber La Fayette glaubte an sie. Daß er sie nicht nach Kanada eingeführt hatte, war also schierer Hochverrat.
Frederic mußte das Wort stumm mit den Lippen geformt haben. Oder La Fayette konnte wirklich die Gedanken anderer lesen — Frederic hatte Gerüchte gehört, daß La Fayette diese Fähigkeit besäße. Vielleicht hatte La Fayette es aber auch nur erraten. Oder der Teufel hatte es ihm eingegeben. Jedenfalls lachte La Fayette laut auf und sagte: »Frederic, wenn ich Stephenson seine Eisenbahn in Kanada hätte bauen lassen, dann hättet Ihr mich wegen Vergeudung von Geldmitteln für reinen Unfug festnehmen lassen. Aber wenn Ihr einen Bericht schreiben solltet, in dem Ihr mich des Hochverrats bezichtigt, weil ich Stephenson dazu ermutigt habe, in Irrakwa zu bleiben, dann wird man Euch nach Hause zurückbeordern und in einer wattierten Zelle einsperren!«
»Ich sollte Euch des Hochverrats bezichtigen?« fragte Frederic. »Nichts läge mir ferner.« Dennoch bekreuzigte er sich für den Fall, daß es doch der Teufel gewesen war, der es La Fayette verraten hatte. »Haben wir jetzt nicht genug davon, die Schauermänner beim Löschen der Fracht zu beobachten? Ich denke, wir sollen uns mit einem Offizier treffen.«
»Warum seid Ihr jetzt so begierig, ihn kennenzulernen?« fragte La Fayette. »Gestern habt Ihr mich noch ständig daran erinnert, daß er von gemeiner Herkunft ist. Ich meine, Ihr hättet sogar gesagt, daß er im Dienstgrad eines Korporals in die Armee eingetreten sei.«
»Inzwischen ist er General geworden, und Seine Majestät hat es für tunlich erachtet, ihn zu uns zu schicken.« Frederic sprach mit steifer Höflichkeit. Dennoch bestand La Fayette darauf, amüsiert zu lächeln. Eines Tages, Gilbert, eines Tages…
Mehrere Offiziere in voller Ausgehuniform stolzierten die Anlegestelle auf und ab, doch niemand von ihnen besaß Generalsrang. Offensichtlich wartete der Held der Schlacht von Madrid auf einen großen Auftritt. Oder erwartete er etwa, daß ein Marquis und der Sohn eines Comte kommen und ihn in seiner Kabine begrüßen würden? Undenkbar.
Und tatsächlich dachte er auch nicht daran. Die Offiziere traten zurück, und von ihrer beider Position an der Reling der Kanalbarkasse konnten de Maurepas und La Fayette zusehen, wie er von der Marie-Philippe auf den Pier hinunter stieg.
»Oh, ein sehr großer Mann ist er ja nicht«, meinte Frederic.
»In Südfrankreich werden sie nicht sonderlich groß.«
»Südfrankreich!« erwiderte Frederic abfällig. »Mein lieber Gilbert, er stammt aus Korsika.«
»Er hat die spanische Armee binnen drei Wochen geschlagen, während sein vorgesetzter Offizier wegen Dysenterie indisponiert war«, erinnerte ihn La Fayette.
»Ein Akt der Subordination, für den man ihn hätte kassieren müssen«, meinte Frederic.
»Oh, da bin ich ganz Eurer Meinung«, sagte La Fayette, »nur hat er tatsächlich den Krieg gewonnen, müßt Ihr wissen, und solange König Charles die Krone Spaniens seiner Sammlung von Kopfbekleidungen hinzufügen konnte, hielt er es wohl für unpassend, ausgerechnet jenen Soldaten vor ein Kriegsgericht zu stellen, der sie für ihn gewonnen hatte.«
»Zunächst einmal kommt die Disziplin. Jeder Mann muß seinen Platz kennen und dort bleiben, sonst gibt es ein Chaos.«
»Zweifellos. Nun, man hat ihn ja tatsächlich bestraft. Sie haben ihn zum General gemacht, ihn aber auch hierher geschickt. Sie wollten ihn nicht beim Italienfeldzug dabeihaben. Seine Majestät hätte zwar nichts dagegen, Doge von Venedig zu werden, aber dieser General Bonaparte könnte sich vergessen, er könnte noch das Kardinalskollegium festsetzen und König Charles zum Papst ausrufen lassen.«
»Euer Sinn für Humor grenzt schon ans Verbrecherische.«
»Frederic, schaut Euch den Mann doch nur an.«
»Ich schaue ihn mir doch gerade an.«
»Dann schaut ihn eben nicht an. Schaut Euch alle anderen an. Schaut Euch seine Offiziere an. Habt Ihr schon jemals Soldaten gesehen, die so viel Liebe für ihren Kommandanten zeigten?«
Zögernd wandte Frederic den Blick von dem korsischen General ab und musterte die Subalternen, die gelassen hinter ihm schritten. Nicht wie Höflinge — niemand schien sich an bestimmte Positionen drängen zu wollen. Es war wie… Frederic fand nicht die passenden Worte dafür…
»Es ist, als wüßte jeder Mann, daß Bonaparte ihn liebt und schätzt.«
»Ein lächerliches System, sofern das sein System sein sollte«, meinte Frederic. »Man kann seine Subalternen nicht im Zaum halten, wenn sie nicht ständig darum bangen müssen, ihre Stellung zu verlieren.«
»Gehen wir ihm entgegen, um ihn zu begrüßen.«
»Absurd! Er hat zu uns zu kommen!«
Doch wie üblich ließ La Fayette kein Zögern zwischen Wort und Tat verstreichen — schon befand er sich auf dem Pier, schritt die letzten paar Ellen entlang, um vor Bonaparte stehenzubleiben und seinen Salut abzunehmen. Frederic jedoch kannte seine eigene Stellung im Leben und auch die Bonapartes; Bonaparte würde schon zu ihm kommen müssen. Man mochte Bonaparte vielleicht zum General machen, aber einen Herren konnte man nie aus ihm machen.
La Fayette strahlte natürlich. »General Bonaparte, es ist uns eine Ehre, Euch hierzuhaben. Ich bedaure nur, daß wir Euch nicht die Bequemlichkeiten von Paris bieten können …«
»Mein Herr Gouverneur«, sagte Bonaparte — und brachte natürlich alle Anredefloskeln durcheinander, »ich habe die Bequemlichkeiten von Paris nie kennengelernt. Alle meine glücklichsten Augenblicke im Leben verbrachte ich im Felde.«
»Und es sind auch die glücklichsten Augenblicke Frankreichs, wenn Ihr Euch im Felde befindet. Kommt, laßt mich Euch General de Maurepas vorstellen. Er wird in Detroit Euer vorgesetzter Offizier sein.«
Frederic vernahm die kleine Pause, bevor La Fayette das Wort Vorgesetzter ausgesprochen hatte. Frederic wußte, wann man ihn lächerlich machte. Ich werde mir jede Verletzung merken, Gilbert, und ich werde Euch alles zurückzahlen.
Das Löschen der Ladung durch die Irrakwa verlief sehr zügig; es dauerte keine Stunde, bis die Kanalbarkasse sich wieder auf den Weg machte. Natürlich verbrachte La Fayette den ersten Nachmittag damit, Bonaparte alles über Stephensons Dampfmaschine zu erzählen. Bonaparte tat interessiert, stellte alle nur erdenklichen Fragen über die Möglichkeit von Mannschaftstransporten und darüber, wie schnell sich hinter einer vorrückenden Armee Schienen legen ließen und wie leicht diese Schienenstraßen durch Feindestätigkeit gestört werden konnten — doch das war alles so langweilig und ermüdend, daß Frederic sich gar nicht vorstellen konnte, wie Bonaparte es nur aushielt. Natürlich mußte ein Offizier so tun, als würde er sich für alles interessieren, was sein Gouverneur sagte, aber Bonaparte trieb die Sache auf die Spitze.
Es dauerte nicht lange, da war Frederic vom Gespräch so gut wie ausgeschlossen, doch das bekümmerte ihn nicht. Er ließ seine Gedanken abschweifen, erinnerte sich an diese Schauspielerin Soundso, die diese eine Rolle so wunderbar gespielt hatte, was war es doch noch gleich gewesen, oder war es doch eine Ballerina? Jedenfalls erinnerte er sich an ihre Beine, welch anmutige Beine! Doch sie hatte sich geweigert, mit ihm nach Kanada zu kommen, trotz seiner Liebesbeteuerungen und seines Versprechens, daß er ihr hier ein Haus bauen und einrichten würde, das noch viel schöner war als jenes, das er für seine Frau erbaut hatte. Wenn sie doch nur mitgekommen wäre. Natürlich hätte sie auch am Fieber sterben können wie seine Frau. So war es vielleicht doch das beste. Ob sie immer noch in Paris auf der Bühne stand? Bonaparte wurde das natürlich nicht wissen, aber vielleicht hatte einer seiner jüngeren Offiziere sie gesehen. Er würde Erkundigungen einziehen müssen.
Natürlich speisten sie am Tisch der Gouverneurin Rainbow, da es der einzige Tisch an Bord der Kanalbarkasse war. Die Gouverneurin hatte ihr Bedauern darüber ausrichten lassen, daß sie die erlauchten französischen Gäste leider nicht würde persönlich aufsuchen können, hoffte aber, daß ihr Dienstbotenstab es ihnen bequem machen würde. Frederic, der davon ausgegangen war, daß dies wohl einen Irrakwa-Chefkoch bedeuten mußte, hatte sich schon auf ein weiteres, langweiliges Rotenmahl aus zähem Hirschfleisch eingestellt — so etwas konnte man ja wohl kaum Wildbret nennen! —, doch der Küchenchef hatte sich ausgerechnet als Franzose entpuppt! Ein Hugenotte, oder, genauer, der Enkel von Hugenotten, doch er war nicht nachtragend, und so erwies sich das Essen als ausgezeichnet. Niemand hätte an diesem Ort von gutem französischen Essen zu träumen gewagt — ja nicht einmal von Essen im würzigen amerikanischen Stil.
Beim Essen dann versuchte Frederic sich stärker an dem Gespräch zu beteiligen, nachdem er zuerst auch den letzten Bissen vertilgt hatte. Er tat sein Bestes, um Bonaparte die schier unmögliche militärische Situation im Südwesten zu schildern. Er zählte die Probleme nacheinander auf — die undisziplinierten Roten, die ihre Verbündeten waren, und der nicht abebbende Strom von Einwanderern. »Am schlimmsten allerdings sind unsere eigenen Soldaten. Das ist ein unbeirrbar abergläubischer Haufen, wie es die unteren Klassen ja immer sind. In allem und jedem sehen sie ein Omen. Da braucht ein holländischer oder deutscher Siedler einfach nur einen Zauber an seine Tür zu hängen, und schon muß man unsere Soldaten praktisch dazu prügeln, hineinzugehen.«
Bonaparte nippte an seinem Kaffee (barbarisches Getränk! Doch er schien es ebenso zu genießen wie die Irrakwa), dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, um Frederic mit seinem steten, bohrenden Blick zu mustern. »Soll das heißen, daß Ihr gemeine Fußsoldaten bei Hausdurchsuchungen begleitet?«
Bonapartes herablassendes Gehabe war empörend, doch bevor Frederic die vernichtende Antwort loswurde, die ihm auf der Zunge lag, lachte La Fayette laut los. »Napoleon«, fragte er, »mein teurer Freund, so steht es also um unseren angeblichen Feind in diesem Krieg! Wenn die größte Stadt in einem Umkreis von fünfzig Meilen aus vier Häusern und einer Schmiede besteht, führt man keine Hausdurchsuchungen mehr durch. Dann ist jedes Haus vielmehr eine Festung des Feindes.«
Napoleons Stirn legte sich in Falten. »Dann konzentrieren sie ihre Kräfte nicht zu Armeen?«
»Sie haben noch nie eine Armee ins Feld geschickt, nicht seit General Wayne vor Jahren den Häuptling Pontiac niedergeworfen hat, und selbst das war eine englische Armee. Die Vereinigten Staaten besitzen zwar einige Forts, aber die liegen alle am Hio.«
»Warum stehen diese Forts dann noch?«
La Fayette gluckste wieder. »Habt Ihr denn nicht die Berichte darüber gelesen, wie es dem englischen König in seinem Krieg gegen die Rebellen von Appalachee ergangen ist?«
»Ich war anderweitig beschäftigt«, bemerkte Bonaparte.
»Ihr braucht uns nicht daran zu erinnern, daß Ihr in Spanien gekämpft habt«, sagte Frederic. »Wir wären auch alle nur zu gern dort gewesen.«
»Wärt Ihr das?« murmelte Bonaparte.
»Laßt mich zusammenfassen«, sagte La Fayette, »was mit der Armee von Lord Cornwallis geschah, als er sie von Virginia in die Hauptstadt von Appalachee, Franklin, führen wollte, oben am oberen Tennizy.«
»Nein, laßt mich es tun«, warf Frederic ein. »Eure Zusammenfassungen sind für gewöhnlich länger als das Original, Gilbert.«
La Fayette wirkte verärgert, weil Frederic ihn unterbrochen hatte, doch schließlich war er selbst es gewesen, der darauf beharrt hatte, daß sie sich als Generalsbrüder beim Vornamen ansprechen sollten. Wenn La Fayette wie ein Marquis behandelt werden wollte, mußte er schon aufs Protokoll bestehen. »Nur zu«, sagte La Fayette.
»Cornwallis ist ausgezogen, um die Armee von Appalachee aufzuspüren. Doch er hat sie nie gefunden. Gewiß, er fand eine Menge leere Blockhäuser, die er auch niederbrennen ließ — aber die lassen sich schon an einem Tag durch neue ersetzen. Und jeden Tag starb ein halbes Dutzend seiner Soldaten im Musketenfeuer oder wurde verwundet.«
»Büchsenfeuer«, berichtigte La Fayette.
»Ja, es ist wahr, diese Amerikaner ziehen gezogene Gewehrläufe vor«, warf Frederic ein.
»Mit Büchsen kann man keine richtigen Salven abschießen, und sie lassen sich auch nur sehr langsam laden«, bemerkte Bonaparte.
»Die schießen überhaupt keine Salven ab, es sei denn, sie sind in der Mehrzahl«, erwiderte La Fayette.
»Ich erzähle jetzt die Geschichte«, unterbrach ihn Frederic. »Cornwallis kam nach Franklin und mußte erkennen, daß seine halbe Armee tot war, verwundet oder damit beschäftigt, die Nachschubwege zu sichern. Benedict Arnold — der General von Appalachee — hatte die Stadt befestigt. Erdaushebungen, Balustraden, Gräben, die Hügel hinauf und die Hügel hinunter. Lord Cornwallis versuchte die Stadt zu belagern, doch die Cherriky bewegten sich so leise, daß die Wachposten der Cavaliers sie nie hörten, wie sie nachts Vorräte herbeischafften. Geradezu teuflisch, wie diese Weißen von Appalachee so eng mit den Roten zusammenarbeiteten — sie haben sie von Anfang an zu Bürgern gemacht und es hat sich für sie tatsächlich ausgezahlt. Truppen aus Appalachee überfielen Cornwallis' Nachschubwege so häufig, daß es keinen Monat dauerte, bis deutlich wurde, daß Cornwallis selbst der Belagerte war und nicht etwa der Belagerer. So kapitulierte er schließlich mit seiner gesamten Armee, und der englische König mußte Appalachee die Unabhängigkeit gewähren.«
Bonaparte nickte feierlich.
»Und jetzt kommt das Raffinierteste dabei«, sagte La Fayette. »Nachdem er kapituliert hatte, wurde Cornwallis in Franklin City eingelassen und mußte feststellen, daß man schon lange vor seiner Ankunft sämtliche Familien evakuiert hatte. Das ist das Besondere dieser Amerikaner hier draußen an der Grenze der Wildnis. Die können jederzeit aufbrechen und sich irgendwoanders hinbegeben. Man kann sie nicht festnageln.«
»Aber man kann sie töten«, meinte Bonaparte.
»Dazu muß man sie aber erst einmal fangen«, erwiderte La Fayette.
»Sie besitzen Äcker und Höfe«, wandte Bonaparte ein.
»Ja, man könnte versuchen, jeden Hof ausfindig zu machen«, räumte La Fayette ein, »aber wenn man dann dort eintrifft, ist entweder niemand zu Hause oder nur eine schlichte Bauernfamilie. Kein einziger Soldat. Es gibt einfach keine Armee. Sobald man aber wieder abzieht, wird man aus dem Hinterhalt aus dem Wald beschossen. Das ist dann vielleicht derselbe bescheidene Bauer, vielleicht aber auch nicht.«
»Ein interessantes Problem«, antwortete Bonaparte. »Man weiß also nie, wer der Feind ist. Er konzentriert seine Kräfte nicht.«
»Weshalb wir auch mit den Roten arbeiten«, erklärte Frederic. »Schließlich können wir ja schlecht selbst herumgehen und unschuldige Bauernfamilien ermorden, oder?«
»Also bezahlt Ihr die Roten dafür, daß sie sie für Euch töten.«
»Ja. Es funktioniert recht gut«, bestätigte Frederic, »und wir hegen auch keine Absichten, etwas anderes zu tun.«
»Gut? Es funktioniert gut?« versetzte Bonaparte abfällig. »Vor zehn Jahren gab es westlich der Appalachee Mountains keine fünfhundert amerikanische Haushalte. Inzwischen gibt es zwischen den Appalachees und dem My-Ammy zehntausend Haushalte, und immer noch ziehen immer mehr gen Westen.«
La Fayette zwinkerte Frederic zu. Frederic haßte es, wenn er sich so gab. »Napoleon hat unsere Depeschen gelesen«, warf La Fayette fröhlich ein. »Er hat unsere Einschätzungen der amerikanischen Siedlertätigkeit im Reservat auswendig gelernt.«
»Der König wünscht, daß dieses amerikanische Eindringen auf französisches Gebiet aufhört, und zwar sofort«, sagte Bonaparte.
»Ach, tut er das?« konterte La Fayette. »Auf welch seltsame Weise er es dann doch zeigt!«
»Seltsam? Immerhin hat er mich geschickt«, antwortete Bonaparte. »Das bedeutet, daß er einen Sieg erwartet.«
»Aber Ihr seid doch ein General«, wandte La Fayette ein. »Generäle haben wir hier bereits.«
»Und außerdem«, warf Frederic ein, »führt nicht Ihr das Kommando. Ich führe das Kommando.«
»Die oberste militärische Verfügungsgewalt hat hier der Marquis«, wandte Bonaparte ein.
Frederic begriff ganz und gar: La Fayette besaß auch die Verfügungsgewalt, Frederic unter Bonapartes Befehl zu stellen, wenn er das wünschte. Er warf La Fayette einen besorgten Blick zu, doch der strich sich gerade in aller Ruhe Gänseleberpastete auf sein Brot. La Fayette lächelte gütig. »General Bonaparte steht unter Eurem Kommando, Frederic. Das wird sich nicht ändern. Niemals. Ich hoffe, daß das klar ist, mein lieber Napoleon.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Napoleon. »Ich würde nicht im Traum daran denken, das zu ändern. Ihr müßt wissen, daß der König auch noch mehr als nur Generäle nach Kanada schickt. Im Frühling treffen tausend Soldaten hier ein.«
»Ja, schön, ich bin sehr beeindruckt zu erfahren, daß er versprochen hat, wieder zusätzliche Truppen zu schicken — haben wir solche Versprechen nicht schon Dutzende Male gehört, Frederic? Es ist mir stets ein Trost, wieder ein Versprechen des Königs zu vernehmen.« La Fayette leerte sein Weinglas. »Aber Tatsache ist, mein teurer Napoleon, daß wir bereits Soldaten haben, die nichts anderes tun, als in den Garnisonen von Fort Detroit und Fort Chicago herumzusitzen und mit Bourbon Skalps einzukaufen. Welch eine Verschwendung von Bourbon! Die Roten trinken ihn wie Wasser, und er bringt sie um.«
»Wenn wir keine Generäle brauchen und keine Soldaten«, fragte Bonaparte herablassend, »was brauchen wir denn dann Eurer Meinung nach, um diesen Krieg zu gewinnen?«
Frederic konnte sich nicht entscheiden, ob er Bonaparte dafür verabscheute, daß er in einem solch beleidigenden Ton mit einem Aristokraten sprach, oder ob er ihn dafür schätzte, daß er in einem solch ungehobelten Ton mit dem verabscheuungswürdigen Marquis de La Fayette redete.
»Um zu siegen? Zehntausend französische Siedler«, erwiderte La Fayette. »Den Amerikanern ein Gegengewicht schaffen, Mann um Mann, Frau um Frau, Kind um Kind. Wir müssen es in diesem Teil des Landes unmöglich machen, irgendwelche Geschäfte abzuwickeln, ohne Französisch zu sprechen. Wir müssen sie zahlenmäßig besiegen.«
»Niemand kommt hierher, um in einem derart wilden Land zu leben«, sagte Frederic, wie er es schon viele Male zuvor getan hatte.
»Bietet ihnen freien Grund und Boden an, und sie werden kommen«, widersprach La Fayette.
»Pöbel«, höhnte Frederic. »Noch mehr Pöbel brauchen wir ja hier wohl kaum.«
Bonaparte musterte La Fayettes Gesicht einen Augenblick, ohne etwas zu sagen. »Der wirtschaftliche Wert dieser Ländereien liegt im Pelzhandel«, sagte er dann ruhig. »Der König hat sich in diesem Punkt sehr deutlich ausgedrückt. Er wünscht keine europäischen Siedlungen außerhalb der Forts.«
»Dann wird der König diesen Krieg eben verlieren«, meinte La Fayette fröhlich, »egal, wie viele Generäle er uns schickt. Und damit, meine Herren, wäre dieses Essen wohl beendet.«
La Fayette erhob sich und verließ sofort den Tisch.
Bonaparte drehte sich zu Frederic um, der sich ebenfalls gerade erheben wollte. Er streckte die Hand vor und berührte Frederics Handgelenk. »Bleibt, bitte«, sagte er. Nein, tatsächlich hatte er nur ›Bleibt‹ gesagt, doch für Frederic fühlte es sich so an, als würde er bitte sagen, als wollte er tatsächlich, daß Frederic bei ihm blieb, daß er Frederic schätzte und verehrte…
»Mein Herr de Maurepas«, murmelte der korsische Korporal. Oder sagte er lediglich Maurepas, während Frederic sich den Rest einfach einbildete? Was er auch sagte, seine Stimme klang voller Respekt, Vertrauen, Hoffnung…
Also blieb Frederic.
Bonaparte sagte fast nichts. Nur die üblichen Artigkeiten. Wir sollten gut zusammenarbeiten. Wir können dem König auf geeignete Weise dienen. Ich werde Euch helfen, wo ich nur kann.
Doch für Frederic waren es viel mehr als bloße Worte. Die Verheißung zukünftiger Ehrungen, der triumphalen Rückkehr nach Paris. Sieg über die Amerikaner, und vor allem die Zurechtweisung La Fayettes, ein Triumph über den demokratischen, verräterischen Marquis. Er und dieser Bonaparte würden es gemeinsam schaffen. Einige wenige Jahre Geduld, das Aufbauen einer solch großen Armee von Roten, daß es die Amerikaner provozierte, ebenfalls eine Armee zusammenzustellen; und dann könnten sie diese amerikanische Armee besiegen und nach Hause zurückkehren. Mehr brauchte es nicht. Es war fast ein Fieber der Hoffnung und des Vertrauens, das Frederics Herz erfüllte, bis…
Bis Bonaparte die Hand von Frederics Handgelenk nahm.
Es war, als hätte Bonapartes Hand die Verbindung zu einer gewaltigen Quelle der Lebenskraft und der Wärme hergestellt, sobald die Berührung endete, wurde ihm kalt und matt. Doch Bonaparte lächelte immer noch, und Frederic sah ihn an und erinnerte sich an dieses Gefühl der Verheißung, das er soeben empfunden hatte. Wie hatte er nur jemals glauben können, daß die Zusammenarbeit mit Bonaparte etwas anderes sein könnte als gedeihlich? Der Mann kannte seinen Platz, soviel war sicher. Frederic würde Bonapartes unbestreitbare militärische Fähigkeiten benutzen, und gemeinsam würden sie siegen und im Triumph nach Frankreich zurückkehren…
Bonapartes Lächeln verblaßte, und wieder empfand Frederic das vage Gefühl eines Verlusts.
»Ich wünsche Euch einen guten Abend«, sagte Bonaparte. »Wir werden uns am Morgen sehen, mein Herr.«
Der Korse verließ den Raum.
Hätte Frederic seine eigene Miene sehen können, so hätte er darin vielleicht etwas wiedererkannt: In seinem Gesicht spiegelte sich jener Ausdruck der Liebe und Hingabe, den alle jüngeren Offiziere Bonapartes aufwiesen. Doch er konnte sein eigenes Gesicht nicht sehen. In dieser Nacht legte er sich mit einem größeren Gefühl des Friedens und der Zuversicht, der Hoffnung und der Aufregung zu Bett als jemals zuvor in seinen langen Jahren in Kanada. Er fühlte sich sogar… Was, was für ein Gefühl ist das nur, fragte er sich — ah, ja. Intelligent. Er fühlte sich sogar intelligent.
Es war tiefe Nacht, aber die Kanalarbeiter waren fleißig, pumpten mit ihrer lärmenden Dampfmaschine Wasser in die Schleuse. Es war ein Wunderwerk der Ingenieurkunst, das steilste Schleusensystem aller Kanäle der Welt. Der Rest der Welt wußte nichts davon. Europa hielt Amerika noch immer für ein Land von Wilden. Doch der unternehmerische Geist der Vereinigten Staaten von Amerika, vom Beispiel des alten Zauberers Ben Franklin inspiriert, ermunterte Erfindungen und Fleiß. Gerüchten zufolge hatte ein Mann namens Fulton ein dampfgetriebenes Schiff gebaut, das den Hudson hinauf und hinunter fuhr — ein Dampfboot, das man König Charles angeboten und das zu finanzieren er sich geweigert hatte! In Suskwahenny und Appalachee bohrten sich Kohlenzechen ins Erdreich. Und hier im Staate Irrakwa übertrumpften die Roten die Weißen noch bei ihrem eigenen Spiel, indem sie Kanäle bauten, dampfgetriebene Wagen, die auf Schienenstraßen fuhren, dampfgetriebene Webstühle, die die Baumwolle der Kronkolonien ausspien und sie in feine Garne verwandelten, die allen Produkten Europas standhalten konnten — zum halben Preis. Diese Entwicklung stand erst an ihrem Beginn, doch schon jetzt steuerte bereits über die Hälfte aller Schiffe, die den St. Lawrence River hinaufkamen, Irrakwa an und nicht etwa Kanada.
La Fayette stand an der Reling, bis die Schleuse gefüllt war und man es den Feuern der Dampfmaschine gestattete, zu verlöschen. Dann ertönte das Klappklappklapp der Kanalpferde, und das Boot glitt wieder durch das Wasser. La Fayette wandte sich von der Reling ab und ging ruhig die Treppen zu seiner Kabine hinauf. Bei Tagesanbruch würden sie in Port Buffalo sein. De Maurepas und Bonaparte würden gen Westen nach Detroit reisen. La Fayette würde ins Gouverneursgebäude in Niagara zurückkehren. Dort würde er sitzen, Befehle erteilen und zusehen, wie die Politik von Paris jede Zukunft der Franzosen in Kanada zunichte machte. La Fayette konnte nicht das geringste tun, um die Amerikaner, die Roten wie die Weißen, daran zu hindern, Kanada zu übertreffen und es abzuhängen. Aber er konnte einige wenige Dinge tun, die dabei halfen, Frankreich zu einem Staat zu machen, der ebenso kühn wie Amerika nach der Zukunft greifen würde.
In seinen Gemächern legte sich La Fayette aufs Bett und lächelte. Er konnte sich vorstellen, was Bonaparte heute nacht mit dem armen, hohlköpfigen Freddie getan hatte. Der junge Comte de Maurepas war zweifellos seinem Charme erlegen. La Fayette hätte Ähnliches passieren können, doch hatte man ihn vorgewarnt, wozu Bonaparte fähig war, wie er die Leute dazu brachte, ihm ihr Leben anzuvertrauen. Für einen General war es ein sehr brauchbares Talent, solange er es nur auf seine Soldaten anwandte, damit diese gern für ihn starben. Doch Bonaparte setzte es gegen jedermann ein, solange er glaubte, daß er damit davonkommen konnte. Deshalb hatte La Fayettes guter Freund Robespierre ihm auch ein bestimmtes, juwelenbesetztes Amulett geschickt. Der Gegenzauber gegen Bonapartes Charme. Und auch ein Fläschchen Pulver — das endgültige Mittel gegen Bonaparte, falls er sich auf keine andere Weise beherrschen lassen sollte.
Keine Sorge, Robespierre, mein guter Freund, dachte La Fayette, Bonaparte wird schon am Leben bleiben. Er glaubt, daß er Kanada zu seinen eigenen Zwecken manipuliert, aber ich werde ihn manipulieren, um den Zielen der Demokratie zu dienen. Bonaparte ahnt es zwar noch nicht, aber wenn nach Frankreich zurückkehrt, wird er bereit sein, das Kommando einer Revolutionsarmee zu übernehmen, um mit seinen Fähigkeiten die Tyrannei der herrschenden Klasse zu beenden, anstatt sie dazu zu benutzen, das allerunwürdigste Haupt des König Charles mit weiteren bedeutungslosen Kronen zu schmücken.
Denn La Fayettes Talent bestand nicht darin, die Gedanken anderer Menschen zu lesen, wie de Maurepas argwöhnte, aber es kam dem schon sehr nahe. La Fayette wußte schon bei der allerersten Begegnung, was andere Männer und Frauen am meisten begehrten. Und wenn man das wußte, ließ sich alles andere erraten. La Fayette kannte Napoleon bereits besser als Napoleon sich selbst. Er wußte, daß Napoleon Bonaparte die Welt regieren wollte. Und vielleicht würde er das sogar erreichen. Doch hier in Kanada würde La Fayette erst einmal Napoleon Bonaparte regieren. Er schlief ein, das Amulett in der Hand, das ihm Sicherheit gewährte.