Das Land um den Licking River fühlte sich anders an. Alvin bemerkte es nicht sofort, weil er gewissermaßen auf Sparflamme lief. Er merkte überhaupt nicht viel. Das ganze Laufen war ihm ein einziger langer Traum. Doch als Ta-Kumsaw ihn ins Feuersteinland führte, veränderte sich dieser Traum. Egal, was er im Traum schaute, überall um ihn waren winzige Funken eines tiefschwarzen Feuers zu sehen. Nicht wie das Nichts, das immer am Rande seines Gesichtsfeldes lauerte. Nicht wie das tiefe Schwarz, das das Licht aufsaugte und es nie wieder freigab. Nein, dieses Schwarz leuchtete und ließ Funken stieben.
Und als sie aufhörten zu laufen und Alvin wieder zu sich kam, verblaßten diese schwarzen Feuer zwar ein wenig, verschwanden aber nicht ganz. Ohne auch nur nachzudenken, schritt Alvin auf eines davon zu, auf ein schwarzes Lodern in einem Meer von Grün, beugte sich vor und nahm es auf. Ein Feuerstein. Ein großer Feuerstein.
»Ein Zwanzig-Pfeile-Feuerstein«, sagte Ta-Kumsaw.
»Er schimmert schwarz und brennt kalt«, bemerkte Alvin.
Ta-Kumsaw nickte. »Willst du ein roter Junge werden? Dann mache Pfeilspitzen mit mir.«
Alvin lernte schnell. Er hatte Erfahrung im Bearbeiten von Gestein. Beim Feuerstein jedoch zählte die Kante und nicht die glatte Fläche. Seine ersten beiden Pfeilspitzen wirkten unbeholfen, doch dann gelang es ihm, sich in den Stein hineinzufühlen und seine natürlichen Falten und Brüche zu erspüren, um ihn auseinanderzubrechen. Seine vierte Pfeilspitze brauchte er nicht erst zu bearbeiten. Er benutzte einfach nur die Finger und zog die Pfeilspitze sanft aus dem Feuerstein hervor.
Ta-Kumsaws Gesicht blieb ausdruckslos. Die meisten Weißen glaubten, daß er immer so aussah. Sie glaubten, daß der rote Mann und ganz besonders Ta-Kumsaw niemals etwas fühlte, weil er sich seine Gefühle nie anmerken ließ. Doch Alvin hatte ihn lachen und weinen sehen, und er hatte all die anderen Gesichter an ihm erblickt, wenn seine Miene ausdruckslos blieb, in Wirklichkeit sehr viel empfand.
»Ich habe schon viel mit Steinen gearbeitet«, sagte Alvin. Er hatte ein Gefühl, als würde er sich entschuldigen.
»Feuerstein ist kein einfaches Gestein«, sagte Ta-Kumsaw. »Kiesel im Fluß, Felsen, das sind Steine. Das hier aber ist lebendiger Stein, Stein, der Feuer enthält, die harte Erde, die das Land uns großzügig gibt. Nicht herausgehauen und gefoltert, wie die Weißen es mit ihrem Eisen tun.« Er hielt Alvins vierte Pfeilspitze empor. »Stahl kann nie eine solch scharfe Kante bekommen.«
»Es ist so ziemlich die vollkommenste Kante, die ich je gesehen habe«, meinte Al.
»Keine Bearbeitungsspuren«, sagte Ta-Kumsaw. »Ein Roter, der diesen Feuerstein sieht, wird sagen: Das Land hat den Stein so wachsen lassen.«
»Aber Ihr wißt es besser«, warf Al ein. »Ihr wißt, daß es nur eine Fertigkeit von mir ist.«
»Eine Fertigkeit beugt das Land«, entgegnete Ta-Kumsaw. »Wie ein Riß im Fluß das Wasser an seiner Oberfläche aufwühlt. So ist es mit dem Land, wenn ein Weißer seine Fertigkeit einsetzt. Aber nicht bei dir.«
Alvin grübelte eine Weile darüber nach. »Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr sehen könnt, wo andere Leute ihre Rutengängerei oder Beschwörungen oder Zauberei betrieben haben?«
»Wie den schlechten Gestank eines Kranken, der seinen Darm leert«, antwortete Ta-Kumsaw. »Aber du — was du tust, ist rein. Es ist wie ein Teil des Landes. Ich dachte, ich würde dich lehren, ein Roter zu werden, statt dessen gewährte dir das Land Pfeilspitzen wie ein Geschenk.«
Wieder war Alvin danach zumute, sich zu entschuldigen. Es schien Ta-Kumsaw zornig zu machen, daß er solche Dinge zu tun vermochte. »Ich habe ja niemanden darum gebeten«, sagte er. »Ich bin einfach nur der siebente Sohn eines siebenten Sohnes und das dreizehnte Kind.«
»Diese Zahlen — sieben, dreizehn —, Ihr Weißen schert Euch darum, aber dem Land bedeuten sie nichts. Das Land hat wahre Zahlen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs — diese Zahlen findest du, wenn du im Wald stehst und dich umschaust. Wo bleibt da die Sieben? Wo ist die Dreizehn?«
»Vielleicht sind sie deshalb so stark«, meinte Alvin. »Vielleicht, weil sie nicht natürlich sind.«
»Warum liebt das Land dann dieses Unnatürliche, was du tust?«
»Ich weiß es nicht, Ta-Kumsaw. Ich bin erst zehn und werde bald elf.«
Ta-Kumsaw lachte. »Zehn? Elf? Sehr schwache Zahlen!«
Sie verbrachten die Nacht dort, am Rande des Feuersteinlands. Ta-Kumsaw erzählte Alvin die Geschichte dieses Orts, daß er die beste Feuersteingegend im ganzen Land war. So viele Feuersteine die Roten hier auch holen mochten, immer wieder kamen neue aus dem Boden hervor und lagen einfach herum, um aufgehoben zu werden. In vergangenen Jahren hatte der eine oder andere Stamm immer wieder einmal versucht, diesen Ort für sich zu beanspruchen. Dann waren sie mit Kriegern gekommen und hatten alle getötet, die hier Feuersteine holen wollten. Sie hatten geglaubt, daß sie auf diese Weise als einzige Pfeile bekommen würden, die anderen Stämme aber nicht. Doch es war anders gekommen. Denn kaum hatte ein Stamm seine Schlachten gewonnen und das Land besetzt, als die Feuersteine einfach verschwanden. Die Mitglieder des Stammes mochten suchen, soviel sie wollten, nie fanden sie auch nur einen einzigen Stein mehr. Schließlich zogen sie fort, ein anderer Stamm kam, und plötzlich gab es wieder mehr Feuersteine denn je.
»Dieser Ort gehört allen. Alle Roten leben hier in Frieden miteinander. Kein Töten, kein Krieg, kein Streit — sonst bekommt der Stamm keine Feuersteine.«
»Ich wünschte mir, daß die ganze Welt so aussähe«, meinte Alvin.
»Weißer Junge, wenn du meinem Bruder lange genug zuhörst, wirst du glauben, daß sie es tut. Nein, verteidige ihn nicht. Er geht seinen Weg, und ich gehe den meinen. Ich glaube, daß auf seinem Weg mehr Menschen ums Leben kommen werden, Rote wie Weiße, als auf meinem.«
In der Nacht träumte Alvin. Er sah sich, wie er um den ganzen Achtgesichtigen Hügel schritt, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der ein Pfad den steilen Hang hinaufführte. Dann kletterte er hinauf und erreichte den Gipfel. Die silberblättrigen Bäume schwankten im sanften Wind und blendeten ihn, als das Licht der Sonne sich in ihnen spiegelte. Er schritt auf einen der Bäume zu und erblickte darin das Nest eines Kardinalvogels. Jeder Baum besaß ein einziges Kardinalvogelnest.
Bis auf einen. Der war anders als die anderen. Er war älter, knorriger, mit Ästen, die sich nicht nach oben, sondern in die Breite ausdehnten wie bei einem Obstbaum. Und die Blätter waren aus Gold, nicht aus Silber, so daß sie nicht so hell leuchteten; aber sie waren weich und schimmerten. Im Baum erblickte er runde weiße Früchte und wußte, daß sie reif waren. Doch als er danach griff, um eine zu essen, hörte er Gelächter und Gejohle. Er blickte sich um und sah alle Menschen, die er je in seinem Leben kennengelernt hatte, und sie lachten ihn aus. Bis auf einen — Geschichtentauscher. Er stand da und sagte: »Iß.« Und Alvin pflückte eine Frucht vom Baum, dann führte er sie an die Lippen und biß hinein. Sie war saftig und fest, und der Geschmack war süß, bitter, salzig und sauer zugleich, so kräftig, daß ihn ein Prickeln durchschoß — aber gut, ein Geschmack, den er für immer behalten wollte.
Gerade wollte er einen zweiten Biß nehmen, als er sah, daß die Frucht aus seiner Hand verschwunden war und nun am Baum keine einzige Frucht mehr hing. »Im Augenblick brauchst du nur einen Bissen«, sagte Geschichtentauscher. »Merke dir, wie sie schmeckt.«
»Das werde ich nie vergessen«, antwortete Alvin.
Die anderen lachten noch immer, lauter denn je, doch Alvin beachtete sie nicht. Er hatte von der Frucht gekostet, und alles, was er jetzt noch wollte, war, seine Familie zum selben Baum zu führen und sie davon essen zu lassen; alle, die er je kennengelernt hatte, hierherzuführen, ja selbst Fremde, um sie davon kosten zu lassen. Wenn sie davon nur kosteten, dachte Alvin, würden sie wissen.
»Was würden sie wissen?« fragte Geschichtentauscher.
Alvin fiel es nicht ein. »Einfach wissen«, sagte er. »Alles wissen. Alles, was gut ist.«
»Das ist richtig«, meinte Geschichtentauscher. »Nach dem ersten Bissen weiß man.«
»Und was ist mit dem zweiten?«
»Nach dem zweiten Bissen lebt man ewig«, antwortete Geschichtentauscher. »Und das ist etwas, was du lieber gar nicht erst ins Auge fassen solltest, mein Junge. Bilde dir niemals ein, du könntest ewig leben.«
Am Morgen erwachte Alvin mit dem Geschmack der Frucht im Mund. Er mußte sich dazu zwingen, daran zu glauben, daß es nur ein Traum gewesen war. Ta-Kumsaw war bereits aufgestanden. Er schürte ein kleines Feuer und hatte zwei Fische aus dem Licking River herbeigerufen. Nun staken Holzspieße in ihren Mäulern. Einen Fisch reichte er Alvin.
Doch Alvin wollte nicht essen. Denn dann würde es den Geschmack der Frucht aus seinem Mund vertreiben. Dann würde er anfangen zu vergessen, wo er sich doch erinnern wollte. Gewiß, er wußte, daß er irgendwann wieder etwas essen mußte — man konnte ziemlich dünn werden, wenn man die ganze Zeit das Essen verweigerte. Aber hier und heute wollte er nichts essen.
Doch hielt er den Spieß fest und sah zu, wie die Forelle brutzelte. Ta-Kumsaw sprach und erzählte ihm davon, wie man Fische und andere Tiere herbeirief, wenn man Nahrung brauchte. Man bat sie zu kommen. Wenn das Land wollte, daß man aß, kamen sie; vielleicht kam aber auch ein anderes Tier, das war nicht wichtig, man aß einfach nur, was das Land einem gab. Alvin dachte über den Fisch nach, den er gerade briet. Wußte das Land denn nicht, daß er heute morgen nichts essen würde? Oder hatte es ihm diesen Fisch geschickt, um ihm zu sagen, daß er doch etwas essen müsse?
Es war weder das eine noch das andere. Denn kurz bevor die Fische fertig waren, hörten sie ein Krachen und Stampfen, das ihnen verriet, daß sich ein Weißer näherte.
Ta-Kumsaw saß völlig still da, zückte aber nicht einmal sein Messer. »Wenn das Land einen weißen Mann hierher führt, dann ist er nicht mein Feind«, sagte Ta-Kumsaw.
Wenige Sekunden später trat der weiße Mann auf die Lichtung. Dort, wo er noch nicht kahl war, war sein Haar weiß. Er trug einen Hut. Über seine Schulter hatte er einen schlaff aussehenden Beutel geschlungen; er trug keinerlei Waffen. Alvin wußte sofort, was sich in dem Beutel befand. Ein paar Kleider zum Wechseln, etwas Nahrung und ein Buch. Ein Drittel des Buchs bestand aus einzelnen Sätzen, von Menschen geschrieben, die damit das Wichtigste festgehalten hatten, das sie mit eigenen Augen gesehen hatten. Zwei Drittel des Buchs jedoch waren mit einem Lederriemen versiegelt. Darin schrieb Geschichtentauscher seine eigenen Geschichten, jene, die er glaubte und für wichtig hielt.
Denn der Weiße war Geschichtentauscher, den Alvin nie in seinem Leben wiederzusehen geglaubt hatte. Und als er diesen alten Freund plötzlich erblickte, wußte Alvin auch, warum gleich zwei Fische Ta-Kumsaws Ruf gefolgt waren. »Geschichtentauscher«, sagte Alvin. »Ich hoffe, daß Ihr hungrig seid, denn ich habe hier einen Fisch, den ich für Euch gebraten habe.«
Geschichtentauscher lächelte. »Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, Alvin, und ich bin auch sehr dankbar für diesen Fisch.«
Alvin reichte ihm den Spieß. Geschichtentauscher setzte sich ins Gras, Alvin und Ta-Kumsaw gegenüber auf der anderen Seite des Feuers. »Recht vielen Dank auch, Alvin«, sagte Geschichtentauscher. Er holte sein Messer hervor und begann damit, Scheiben von dem Fisch abzuschälen. Sie zischten, als sie seine Lippen berührten, doch er schmatzte nur und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ta-Kumsaw verzehrte ebenfalls seinen Fisch, und Alvin beobachtete beide. Ta-Kumsaw wandte den Blick keine Minute von Geschichtentauscher ab.
»Das ist Geschichtentauscher«, erklärte Alvin. »Der Mann, der mir das Heilen beigebracht hat.«
»Ich habe es dir gar nicht beigebracht«, widersprach Geschichtentauscher. »Ich habe dir nur eine Vorstellung davon gegeben, wie du es dir selbst beibringen könntest. Und ich habe dich dazu überredet, es zu versuchen.« Den nächsten Satz richtete Geschichtentauscher an Ta-Kumsaw. »Er war doch fest dazu entschlossen, lieber zu sterben, als seine Fähigkeit dazu zu benutzen, sich selbst zu heilen, könnt Ihr das glauben?«
»Und das hier ist Ta-Kumsaw«, stellte Alvin vor.
»Oh, das wußte ich sofort, als ich Euch sah. Wißt Ihr überhaupt, welch eine Legende Ihr unter den Weißen seid? Ihr seid wie Saladin während des Kreuzzugs — sie bewundern Euch mehr als ihre eigenen Führer, obwohl sie wissen, daß Ihr geschworen habt, so lange zu kämpfen, bis Ihr den letzten weißen Mann aus Amerika vertrieben habt.«
Ta-Kumsaw antwortete nicht.
»Ich bin vielleicht zwei Dutzend Kindern begegnet, die auf Euren Namen getauft wurden, die meisten von ihnen waren Jungen, und es sind alles Weiße. Und die Geschichten… wie Ihr weiße Gefangene vor dem Feuertod gerettet habt, wie Ihr den Leuten, die Ihr aus ihrem Heim vertrieben habt, Nahrung brachtet, damit sie nicht verhungerten. Manche dieser Geschichten glaube ich sogar.«
Ta-Kumsaw war mit seinem Fisch fertig und legte den Spieß ins Feuer.
»Ich habe auch eine Geschichte gehört, als ich hierher kam, wie Ihr zwei Weiße aus Vigor Church gefangengenommen und ihren Eltern Ihre blutbefleckten Kleider geschickt habt. Wie Ihr sie zu Tode gemartert habt, um zu zeigen, daß Ihr jeden Weißen vernichten wollt — Mann, Frau, Kind. Wie ihr gesagt habt, daß Ihr nun jeden weißen Mann aus Amerika vertreiben wollt.«
Zum ersten Mal seit Geschichtentauschers Ankunft ergriff Ta-Kumsaw das Wort. »Und habt Ihr diese Geschichte auch geglaubt?«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Geschichtentauscher. »Aber das lag daran, daß ich die Wahrheit bereits kannte. Wißt Ihr, ich habe nämlich eine Nachricht von einem Mädchen erhalten, die ich kannte — inzwischen ist sie eine junge Dame geworden.« Er holte einen zusammengefalteten Brief aus seiner Rocktasche, drei Blätter Papier, die mit Schrift bedeckt waren. Er reichte sie Ta-Kumsaw.
Ohne ihn anzuschauen, gab Ta-Kumsaw den Brief an Alvin weiter. »Lies ihn mir vor«, sagte er.
»Aber Ihr könnt doch Englisch lesen«, widersprach Alvin.
»Nicht hier«, erklärte Ta-Kumsaw.
Alvin sah den Brief an, alle drei Seiten, und mußte zu seiner Überraschung feststellen, daß er ihn auch nicht lesen konnte. Die Buchstaben sahen alle vertraut aus. Wenn er sie genauer ansah, konnte er sie sogar benennen.
DER-MACHER-BRAUCHT-DICH, so fing es an, aber das ergab für Al überhaupt keinen Sinn. Er war sich nicht einmal sicher, in welcher Sprache der Brief geschrieben war. »Ich kann es auch nicht lesen«, sagte er und gab ihn Geschichtentauscher zurück. Geschichtentauscher musterte den Brief eine Zeit, dann lachte er und steckte ihn wieder in eine Rocktasche. »Ach, da ist aber eine Geschichte für mein Buch! Ein Ort, wo man nicht lesen kann.«
Zu Alvins Überraschung fing Ta-Kumsaw an zu lächeln. »Nicht einmal Ihr?«
»Ich weiß, was drin steht, weil ich ihn schon einmal gelesen habe«, erwiderte Geschichtentauscher. »Aber heute kann ich kein einziges Wort ausmachen. Selbst wenn ich weiß, welches Wort es eigentlich sein soll. Was ist das denn für ein Ort hier?«
»Wir sind im Feuersteinland«, sagte Alvin.
»Wir befinden uns im Schatten des Achtgesichtigen Hügels«, erklärte Ta-Kumsaw.
»Ich wußte gar nicht, daß man als Weißer überhaupt hierher kommen könnte«, meinte Geschichtentauscher.
»Ich auch nicht«, antwortete Ta-Kumsaw. »Aber nun haben wir hier einen weißen Jungen und einen weißen Mann.«
»Letzte Nacht habe ich von Euch geträumt«, erzählte Alvin. »Ich habe geträumt, daß ich auf dem Gipfel des Achtgesichtigen Hügels stehe und daß Ihr bei mir wart und mir Sachen erklärt habt.«
»Darauf verlaß dich lieber nicht«, sagte Geschichtentauscher. »Ich bezweifle, daß es auf dem Achtgesichtigen Hügel etwas gibt, das ich irgend jemandem erklären könnte.«
»Wie seid Ihr hierhergekommen?« fragte Ta-Kumsaw. »Wenn Ihr gar nicht wußtet, daß Ihr ins Feuersteinland kommen würdet?«
»Sie hat mir gesagt, ich solle den Musky-Ingum hinaufgehen und an einem weißen Fels den Weg nach links nehmen. Sie sagte, daß ich dort an einem Feuer Alvin Miller Junior mit Ta-Kumsaw finden würde.«
»Wer hat Euch all das erzählt?« wollte Alvin wissen.
»Eine Frau«, erwiderte Geschichtentauscher. »Eine Fackel. Sie hat mir gesagt, daß sie dich in einer Vision geschaut hat, Alvin, in einem Kristallturm, das ist jetzt kaum mehr als eine Woche her. Sie war es, die den Mutterkuchen von deinem Gesicht gezogen hat, als du geboren wurdest. Seitdem hat sie über dich gewacht, wie es eine Fackel eben tut. Sie ist mit dir in den Turm eingetreten und hat durch deine Augen geschaut.«
»Der Prophet hat auch gesagt, daß jemand bei uns sei«, meinte Alvin.
»Sie hat auch durch seine Augen geschaut«, erzählte Geschichtentauscher, »und sie hat all seine Zukünfte gesehen. Der Prophet wird sterben. Morgen früh. Von einer Kugel aus dem Lauf deines eigenen Vaters getroffen, Alvin.«
»Nein!« hei Alvin.
»Es sei denn«, fuhr Geschichtentauscher fort, »es sei denn, daß Measure noch rechtzeitig kommt, um deinem Vater zu zeigen, daß er noch am Leben ist, daß Ta-Kumsaw und der Prophet ihm nie irgendwelche Wunden zugefügt haben und dir auch nicht.«
»Aber Measure ist doch schon vor Tagen losgegangen!«
»Das stimmt, Alvin. Aber er wurde von Gouverneur Harrisons Leuten gefangengenommen. Harrison hat ihn in seiner Gewalt, und heute, vielleicht sogar in diesem Augenblick, ist einer von seinen Leuten dabei, ihn umzubringen. Er bricht ihm die Knochen, bricht ihm das Genick. Morgen wird Harrison Prophetstown mit seinen Kanonen angreifen und alle töten. Sämtliche Einwohner. Es wird so viel Blut fließen, daß der Tippy-Canoe und der Wobbish bis zum Hio rot gefärbt werden.«
Ta-Kumsaw sprang auf. »Ich muß zurück. Ich muß …«
»Ihr wißt, wie weit Ihr davon entfernt seid«, warf Geschichtentauscher ein. »Ihr wißt, wo Eure Krieger sind. Selbst wenn Ihr die ganze Nacht und den ganzen Tag liefet, so schnell, wie nur ihr Roten es könnt…«
»Morgen mittag«, sagte Ta-Kumsaw.
»Dann wird er bereits tot sein«, versetzte Geschichtentauscher.
Ta-Kumsaw schrie auf vor Schmerz, so laut, daß die Vögel ebenfalls Schreie ausstießen und davonstoben.
»Einen Augenblick noch! Wenn wir nichts dagegen tun könnten, hätte sie mich ja wohl kaum losgeschickt, um euch beiden nachzujagen, oder? Begreift ihr denn nicht, daß wir es hier mit einem Plan zu tun haben, der größer ist als wir alle? Warum wurden ausgerechnet Alvin und Measure von den Roten Harrisons entführt? Warum seid ihr jetzt hier und ich auch, ausgerechnet an diesem Tag, da man uns am meisten braucht?«
»Man braucht uns dort«, wandte Ta-Kumsaw ein.
»Das glaube ich nicht«, widersprach Geschichtentauscher. »Wenn man uns dort brauchte, dann würden wir auch dort sein. Nein, man braucht uns gerade hier.«
»Ihr seid wie mein Bruder, der versucht, mich in seine Pläne einzupassen!«
»Ich wünschte, ich wäre wie Euer Bruder. Er hat Visionen und sieht, was geschieht, während ich lediglich einen Brief von einer Fackel erhalte. Aber hier bin ich nun, und hier seid auch Ihr, und wenn wir nicht hier sein sollten, dann wären wir es einfach nicht, ob Euch das nun gefällt oder nicht.«
Alvin mochte das Gerede über das, was geschehen sollte, nicht. Wer machte denn nur diese Annahmen? Was wollte Geschichtentauscher damit sagen — daß sie alle nur Marionetten waren? Gab es da jemanden, der sie irgendwie umherbewegte, so, wie es ihm gerade gefiel? »Wenn irgend jemand es so darauf abgesehen hat, alles zu leiten«, wandte Alvin ein, »dann hat er jedenfalls ziemlichen Mist gebaut, uns in eine solche Lage zu bringen.«
Geschichtentauscher grinste. »Dir liegt die Religion wirklich nicht, nicht wahr, mein Junge?«
»Ich glaube einfach nur nicht, daß irgend jemand uns zu irgend etwas zwingt.«
»Das habe ich auch nicht behauptet«, sagte Geschichtentauscher. »Ich sage nur, daß die Dinge nie so schlimm werden, als daß wir sie nicht noch irgendwie verbessern könnten.«
»Nun, Vorschläge lasse ich mir gern gefallen. Was soll ich denn nach der Meinung dieser Fackel tun?« fragte Alvin.
»Sie sagt, daß du den Berg besteigen und Measure heilen sollst. Frag mich nicht nach Einzelheiten — das ist alles, was sie gesagt hat. In dieser Gegend gibt es keinen Berg, der diesen Namen verdient hätte, und Measure befindet sich in einem Keller hinter dem Haus von Vinegar Reiley…«
»Das kenne ich«, sagte Alvin. »Ich bin schon einmal dagewesen. Aber ich kann nicht… Ich meine, ich habe doch noch nie versucht, jemanden zu heilen, der sich nicht direkt vor mir befand.«
»Genug Gerede«, warf Ta-Kumsaw ein. »Weißer Junge, der Achtgesichtigen Hügel hat dich in einem Traum gerufen. Dieser Mann ist gekommen, um dir zu sagen, daß du den Berg besteigen sollst. Alles beginnt, wenn du ihn besteigst. Sofern du es kannst.«
»Manche Dinge enden auch auf dem Achtgesichtigen Hügel«, meinte Geschichtentauscher.
»Was weiß ein Weißer schon von diesem Ort?« fragte Ta-Kumsaw.
»Überhaupt nichts«, antwortete Geschichtentauscher. »Aber ich habe vor vielen Jahren am Bett einer sterbenden Irrakwa-Frau gekniet, und sie sagte mir, was das Wichtigste in ihrem Leben gewesen war. Sie war die letzte Irrakwa gewesen, die jemals im Achtgesichtigen Hügel gestanden hatte.«
»Die Herzen der Irrakwa sind alle weiß geworden«, sagte Ta-Kumsaw. »Heute würde der Achtgesichtige Hügel sie nicht mehr einlassen.«
»Aber bin ich nicht auch weiß?« wandte Alvin ein.
»Eine sehr gute Frage«, meinte Ta-Kumsaw. »Der Hügel wird dir die Antwort darauf geben. Vielleicht lautet die Antwort, daß du nicht hinaufgehst und daß alle sterben. Komm.«
Er führte sie den Weg entlang, bis sie an einen steilen Hügel gelangten, der dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsen war. Es war kein Pfad zu sehen. »Das ist das Gesicht des roten Mannes«, erklärte Ta-Kumsaw. »Hier steigt der rote Mann empor. Der Pfad ist fort. Hier kannst du nicht hinaufsteigen.«
»Wo dann?« fragte Alvin.
»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Ta-Kumsaw. »Es heißt, daß man immer einen anderen Hügel vorfindet, je nachdem, von welcher Seite man ihn besteigt. Es wird erzählt, daß man die uralte Stadt der Erbauer auf dem Hügel findet, wenn man das Gesicht der Erbauer besteigt. Klettert man am Tiergesicht hoch, so gelangt man in ein Land, wo ein Riesenbüffel als König herrscht, ein seltsames Tier mit Hörnern, die ihm aus dem Maul hervortreten, und einer Nase wie eine schreckliche Schlange; und riesige Berglöwen mit Zähnen, so lang wie Speere; und alle verneigen sich vor ihm und verehren ihn. Wer weiß, ob diese Geschichten stimmen? Heute erklimmt niemand mehr diese Gesichter.«
»Gibt es auch ein Gesicht des weißen Mannes?« fragte Alvin.
»Es gibt das Gesicht des roten Mannes, das Gesicht der Erbauer, das Tiergesicht. Von vier weiteren Gesichtern kennen wir die Namen nicht«, antwortete Ta-Kumsaw. »Vielleicht ist eines davon das Gesicht des weißen Mannes. Kommt.«
Er führte sie um den Hügel. Der ragte steil zu ihrer Linken empor. Nirgendwo war ein Pfad zu sehen. Alvin erkannte alles, was sie erblickten. Sein Traum aus der vergangen Nacht war wahr gewesen, zumindest insoweit, als Geschichtentauscher bei ihm war und er um den Hügel herumwanderte, bevor er ihn erstieg.
Sie gelangten zum letzten der unbekannten Gesichter. Kein Pfad. Alvin wollte zum nächsten weiter.
»Das hat keinen Zweck«, wandte Ta-Kumsaw ein. »Keines der acht Gesichter wird uns nach oben führen. Das nächste ist wieder das Gesicht des roten Mannes.«
»Ich weiß«, antwortete Alvin, »aber da liegt doch der Pfad!«
Und dort lag er tatsächlich. Genau auf der Grenze zwischen dem Gesicht des roten Mannes und dem unbekannten daneben.
»Du bist wirklich ein halber Roter«, meinte Ta-Kumsaw.
»Geh schon hoch«, forderte Geschichtentauscher ihn auf.
»In meinem Traum wart Ihr aber zusammen mit mir dort oben«, widersprach Alvin.
»Das mag sein«, meinte Geschichtentauscher. »Aber Tatsache ist, daß ich diesen Pfad, von dem ihr beide sprecht, nicht erkennen kann. Für mich sieht das hier genauso aus wie alle anderen Seiten auch. Deshalb schätze ich, daß ich wohl nicht eingeladen bin.«
»Geh«, befahl Ta-Kumsaw. »Beeile dich.«
»Dann kommt Ihr mit«, erwiderte Alvin. »Ihr seht doch den Pfad, nicht wahr?«
»Ich träume nicht vom Hügel«, lehnte Ta-Kumsaw ab. »Und was du hier schauen wirst, wird zur einen Hälfte das sein, was der rote Mann sieht, und zur anderen Hälfte ein neuer Ort, den ich niemals schauen sollte. Geh jetzt, vergeude keine Zeit mehr. Das Leben meines und deines Bruders wird davon abhängen.«
»Ich bin durstig«, sagte Al.
»Trinke dort«, antwortete Ta-Kumsaw. »Falls der Hügel dir Wasser anbietet. Und iß, wenn der Hügel dir Nahrung anbietet.«
Also machte sich Al auf den Weg und kletterte den Hügel hinauf. Der Hügel war steil, aber er konnte sich an Wurzeln festhalten, und schon bald hatte der Pfad den Gipfel erreicht.
Alvin hatte geglaubt, daß es sich um einen einzigen Hügel mit acht Hängen handelte. Nun jedoch konnte er sehen, daß jeder der acht Hänge ein eigener Hügel für sich war und zwischen ihnen eine tiefe Mulde lag. Das Tal wirkte viel zu groß, der Hügel gegenüber war viel zu weit entfernt. Aber hatte Alvin nicht heute morgen zusammen mit Ta-Kumsaw und Geschichtentauscher den ganzen Hügel umrundet? Vorsichtig stieg er den grasbewachsenen Hang hinunter. Als er schließlich unten im Tal angekommen war, befand er sich am Rande eines Grasstücks, auf dem Bäume mit silbernem Laub wuchsen, genau wie in seinem Traum. Doch wie sollte er hier Measure finden und heilen? Was hatte der Hügel überhaupt damit zu tun? Inzwischen war es Nachmittag, sie hatten so lange gebraucht, um den Hügel zu umwandern — möglicherweise lag Measure bereits im Sterben, und er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, ihm zu helfen.
Es fiel ihm nichts anderes ein als weiterzugehen. Eigentlich wollte er das Tal durchqueren und einen der anderen Hügel erforschen. Doch seltsam: So weit er auch gehen mochte, so viele silbrig belaubte Bäume er auch hinter sich ließ, der Hügel, auf den er zuging, blieb immer gleich weit entfernt. Das machte ihm angst — würde er möglicherweise für alle Zeiten hier oben gefangen bleiben? —, und er eilte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Schon nach wenigen Minuten erreichte er die Stelle, an der seine Fußspuren den Hang hinunterführten. Ganz gewiß war er doch sehr viel weitergegangen! Einige weitere Versuche überzeugten ihn davon, daß das Tal in alle Richtungen unendlich weit fortführte bis auf jene, aus der er gekommen war. In dieser Richtung sah es so aus, als befände er sich stets im Mittelpunkt, so weit er auch fortgehen mochte.
Alvin hielt Ausschau nach dem goldbelaubten Baum mit den reinen weißen Früchten, doch er konnte ihn nicht ausmachen, was ihn allerdings auch nicht überraschte. Noch immer hatte er den Geschmack der Frucht aus seinem Traum im Mund. Er würde sie weder im Wach- noch im Traumzustand jemals wieder zu kosten bekommen, weil der zweite Bissen ihn ewig würde leben lassen. Es machte ihm nicht viel aus, diesen zweiten Bissen nicht zu bekommen. Einem Jungen seines Alters war der Tod noch nicht sehr nahe.
Er hörte Wasser. Ein Bach, klares kaltes Wasser, das schnell über Steine strömte. So etwas war natürlich unmöglich. Das Tal des Achtgesichtigen Hügels war völlig eingeschlossen. Wenn das Wasser hier so schnell strömte, weshalb füllte sich das Tal dann nicht, bis es zu einem See geworden war? Und woher sollte so ein Strom überhaupt kommen? Der Hügel war von Menschenhand erschaffen, wie alle anderen Hügel im Land, obwohl keiner von ihnen so alt war wie dieser. Aus Hügeln, die von Menschenhand erschaffen waren, traten keine Bäche hervor. Dieses Wasser machte ihn mißtrauisch. Andererseits waren ihm schon manche unmögliche Dinge im Leben widerfahren.
Ta-Kumsaw hatte ihm gesagt, er solle trinken, wenn der Hügel ihm Wasser anböte, also kniete er nieder und trank, wobei er das Gesicht voll ins Wasser stieß und es mit dem Mund aufsaugte. Es vertrieb den Geschmack der Frucht nicht. Tatsächlich war er danach eher noch stärker.
Alvin kniete an der Uferböschung nieder und betrachtete das gegenüberliegende Ufer. Dort floß das Wasser anders. Tatsächlich schwappte es ans Ufer wie Meereswellen, und als ihm dieser Gedanke gekommen war, meinte Alvin zu erkennen, daß die Form des gegenüberliegenden Ufers genauso aussah wie die Landkarte der Ostküste, die Brustwehr-Gottes ihm einmal gezeigt hatte. Klar und deutlich kehrte die Erinnerung wieder. Dort, wo die Küste sich nach außen bog, war Carolina in den Kronkolonien. Die tiefe Bucht dort hinten war das Chase-a-bick, und hier vorne war die Mündung des Potty-Mack, der die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und den Kronkolonien bildete.
Alvin erhob sich und trat über den Bach.
Es war einfach nur Gras. Er schaute keine Flüsse oder Städte, keine Grenzen, keine Wege. Doch von der Küste aus konnte er ziemlich genau spüren, wo das Hio-Land war und wo sich dieser Hügel hier befand. Er machte zwei Schritte vorwärts und er blickte plötzlich Ta-Kumsaw und Geschichtentauscher, die vor ihm auf dem Boden saßen und ihn völlig überrascht ansahen.
»Ihr seid also doch noch heraufgeklettert«, sagte Alvin.
»Nichts dergleichen«, widersprach Geschichtentauscher. »Wir sind die ganze Zeit hiergeblieben, seitdem du fortgegangen bist.«
»Warum bist du wieder zurückgekommen?« fragte Ta-Kumsaw.
»Aber ich bin doch überhaupt nicht zurückgekommen«, antwortete Alvin. »Ich befinde mich hier unten im Hügeltal.«
»Im Tal?« fragte Ta-Kumsaw.
»Wir sind hier unterhalb des Hügels«, bemerkte Geschichtentauscher.
Dann begriff Alvin alles. Nicht so gut, als daß er es hätte in Worte kleiden können, aber gut genug, um zu nutzen, was der Hügel ihm beschert hatte. Er konnte auf diese Weise durch das Land reisen, hundert Meilen mit einem Schritt, um die Menschen aufzusuchen, die er aufsuchen mußte. Die Menschen, die er kannte. Wie Measure zum Beispiel. Alvin grüßte die beiden auf ihn wartenden Männer, indem er die Hand grüßend an die Stirn legte, dann machte er einen kleinen Schritt — und sie verschwanden.
Es war ihm ein leichtes, Vigor Church aufzuspüren. Der erste Mensch, der er erblickte, war Brustwehr-Gottes, der gerade auf den Knien betete. Alvin sprach ihn nicht an, denn er fürchtete, daß Brustwehr ihn möglicherweise für die Erscheinung eines Toten halten würde. Doch wo befand sich Brustwehr gerade? Zu Hause? In diesem Fall mußte sich Vinegar Reileys Farm ein Stück in die andere, entgegengesetzte Richtung befinden, östlich der Stadt. Er drehte sich um.
Da sah er seinen Vater, der neben Mutter saß. Pa schmirgelte gerade einige Musketenkugeln glatt, die er gegossen hatte, und Ma flüsterte auf ihn ein. Sie war zornig, und Pa war es auch. »Frauen und Kinder, die leben in dieser Stadt dort! Selbst wenn der Prophet und Ta-Kumsaw unsere Jungen getötet haben sollten, diese Frauen und Kinder dort haben es nicht getan. Du bist auch nicht besser als sie, wenn du ihnen auch nur ein Haar krümmst. Wenn du auch nur einen dieser Menschen dort tötest, dann werde ich dich nie wieder in dieses Haus einlassen, dann werde ich dich nie wiedersehen. Das schwöre ich dir, Alvin Miller!«
Pa polierte weiter, nur kurz hielt er inne, um zu sagen: »Sie haben meine Jungen getötet.«
Alvin wollte antworten, er öffnete den Mund, um zu sagen: »Aber ich bin doch gar nicht tot, Pa!«
Doch es ging nicht. Er brachte kein Wort heraus. Er war auch nicht hierhergeführt worden, um seinen Eltern eine Vision zu bescheren. Measure war es, den er suchen mußte, sonst würde Pas eigene Kugel den leuchtenden Mann töten.
Es war nicht weit, kein ganzer Schritt. Alvin schob die Füße nur wenige Zoll vor, worauf Ma und Pa verschwanden. Kurz erblickte er Calm und David, die ihre Gewehre abfeuerten — wahrscheinlich übten sie schießen. Und Wastenot und Wantnot, die Schrot in den Lauf einer Kanone stopften. Und endlich schaute er Measure.
Sein Bruder mußte tot sein. Allen Anschein nach war sein Genick gebrochen, und seine Arme und Beine waren auch völlig zerschmettert. Alvin blieb stehen und schickte seinen Funken in den Körper seines Bruders hinein, der vor ihm am Boden lag.
Nie im Leben hatte Alvin solchen Schmerz erlebt. Es war nicht Measures Schmerz, es war sein eigener. Es war Alvins Gespür dafür, wie die Dinge sein sollten, sein Gespür für die rechte Gestalt der Dinge; im Inneren von Measures Körper war nichts heil. Teile von ihm waren abgestorben, das Blut staute sich in seinem Bauch, sein Hirn war nicht mehr mit dem Körper verbunden, es war das schrecklichste Durcheinander, das Alvin je gesehen hatte; alles war falsch, so falsch, daß es ihn schmerzte, es auch nur mit anzusehen, ein Schmerz, der so stechend war, daß er aufschreien mußte. Doch Measure hörte ihn nicht. Measure konnte nicht mehr hören. Wenn Measure vielleicht auch nicht tot sein mochte, so war der Tod doch nur noch einen halben Zoll von ihm entfernt.
Als erstes erspürte Alvin das Herz. Es pumpte noch, aber in den Adern strömte nicht mehr viel Blut. Das war das erste, was Alvin richten mußte, er mußte die Blutbahnen heilen und das Blut wieder dort hinbringen, wo es hingehörte, es mußte durch seine ihm vorbestimmten Kanäle strömen.
All das brauchte Zeit. All die gebrochenen Rippen, die aufgerissenen Organe. All die Knochen, die aneinandergefügt werden mußten, ohne daß auch nur eine helfende Hand dagewesen wäre, um etwas an die richtige Stelle zu rücken — manche der Knochen saßen so schief, daß er sie nicht aus eigener Kraft richten und heilen konnte. Er mußte warten, bis Measure erwachte, um ihm zu helfen.
Also drang Alvin in Measures Gehirn ein, in die Nerven, die seine Wirbelsäule hinabliefen, und heilte es alles, machte es wieder so, wie es sein mußte.
Measure erwachte mit einem langen, entsetzlichen Schrei der Qual. Er lebte, und der Schmerz war zu ihm zurückgekehrt, schärfer und deutlicher als je zuvor. Es tut mir leid, Measure. Ich kann dich nicht heilen, ohne den Schmerz zurückzuholen. Und ich muß dich unbedingt heilen, sonst müssen viel zu viele unschuldige Menschen sterben.
Alvin bemerkte nicht einmal, daß die Nacht bereits angebrochen war und daß die Hälfte der Arbeit noch vor ihm lag.