7. Gefangenschaft

Alvin Junior fühlte sich nie klein, es sei denn, daß er auf dem Rücken eines großen Pferdes saß. Nicht, daß er ein schlechter Reiter gewesen wäre — er kam mit Pferden ganz gut zurecht, sie warfen ihn nicht ab und er gab ihnen nie die Gerte. Nur hatte man die Steigbügel ganz hochschnallen und neue Löcher ins Leder stanzen müssen, damit er überhaupt reiten konnte. Al sehnte sich nach dem Tag, da er die Größe eines Erwachsenen haben würde. Andere mochten ihm zwar erzählen, daß er für sein Alter recht groß war, doch für Alvin bedeutete das gar nichts. Wenn man zehn Jahre alt war, dann war ›groß für sein Alter‹ immer noch alles andere als groß.

»Das gefällt mir nicht, meine Jungen ausgerechnet während dieser Rotenunruhen fortzuschicken«, sagte Faith Miller.

Mutter machte sich immer Sorgen, aber sie hatte auch guten Grund dazu. Sein ganzes Leben lang war Al irgendwie tolpatschig gewesen, hatte er ständig Unfälle gehabt. Zum Schluß wurde alles zwar wieder gut, aber häufig war es nur sehr knapp ausgegangen. Am schlimmsten war es vor wenigen Monaten gewesen, als der neue Mühlstein ihm aufs Bein gefallen war, wodurch er sich einen sehr häßlichen Bruch zugezogen hatte. Es hatte so ausgesehen, als würde er sterben. Und das, obwohl er wußte, daß er die Kraft besaß, sich selbst zu heilen.

Seitdem der leuchtende Mann in jener Nacht zu ihm ins Zimmer gekommen war, als er noch sechs Jahre alt gewesen war, hatte Al seine magische Fertigkeit nie benutzt, um sich selbst zu helfen. Gewiß, er konnte Steine für seinen Vater schneiden und hauen, weil das allen half. Dabei berührte er den Stein mit den Fingern, erspürte ihn, spürte die verborgenen Stellen im Stein auf, wo dieser brechen konnte, und rückte dann alles zurecht, sorgte dafür, daß es so lief, wie es sollte; dann kam der Stein genau richtig aus dem Fels, genau so, wie er es haben wollte. Doch niemals für sich selbst.

Und als er dann sein Bein gebrochen hatte und die ganze Haut abgeschürft gewesen war, da hatten alle gewußt, daß er sterben mußte. Und Al hätte seine Fähigkeit nie darauf verwandt, sich selbst zu heilen, ja, er hätte es nicht einmal versucht, wäre der alte Geschichtentauscher nicht dagewesen. Geschichtentauscher hatte gefragt, warum er sein Bein nicht selbst heilte. Und so hatte Al ihm erzählt, was er noch nie einer Menschenseele verraten hatte, die Sache mit dem leuchtenden Mann. Und Geschichtentauscher hatte ihm auch geglaubt und ihn nicht für verrückt gehalten. Er hatte Al dazu gebracht, sich noch einmal genau daran zu erinnern, was der leuchtende Mann gesagt hatte. Und da war Al wieder eingefallen, daß der leuchtende Mann nur zu ihm gesagt hatte: »Mach alle Dinge ganz.«

Mach alle Dinge ganz. Gehörte sein Bein denn nicht auch zu ›allen Dingen‹? Und so hatte er es so gut wieder gerichtet, wie er es eben konnte. Dazu hatte noch sehr viel mehr gehört, aber alles in allem hatte er seine eigene Kraft mit Hilfe seiner Familie dazu verwandt, sich selbst zu heilen. Deshalb war er überhaupt noch am Leben.

Doch in jenen Tagen hatte er dem Tod ins Auge geblickt, und er hatte sich nicht so sehr vor ihm gefürchtet, wie er geglaubt hatte. Er hatte gespürt, daß sein Körper nur eine Art Schuppen war, ein Unterschlupf für schlechtes Wetter, bis sein Haus fertig gebaut war. Wenn er starb, würde es gar nicht schlimm sein. Nur anders; und vielleicht auch besser.

Und als seine Mutter dann immer und immer wieder von den Roten angefangen hatte und wie lebensgefährlich es sei, hatte er nicht darauf geachtet. Nicht, weil er glaubte, daß sie im Unrecht sei, sondern weil es ihm nicht sonderlich wichtig war, ob er starb oder nicht.

Nein, ganz so stimmte das auch wieder nicht. Er hatte noch sehr viel zu tun, obwohl er noch nicht genau wußte, was, so daß es ihn geärgert hätte, zu sterben. Auf jeden Fall hatte er nicht vor, zu sterben. Es jagte ihm nur nicht so viel Furcht ein wie manchen anderen Leuten.

Sein großer Bruder Measure versuchte Ma zu beruhigen. »Es wird uns schon nichts passieren, Mama«, sagte Measure. »Unruhen gibt es nur unten im Süden, und wir werden die ganze Zeit auf befestigten Straßen reisen.«

»Auf diesen Straßen verschwinden jede Woche Leute«, erwiderte sie. »Diese Franzosen in Detroit kaufen immer noch Skalps, und es spielt überhaupt keine Rolle, was Ta-Kumsaw und seine Wilden tun, ein einziger Pfeil genügt schon, um euch zu töten…«

»Ma«, erwiderte Measure. »Wenn du Angst davor hast, daß die Roten uns erwischen, dann solltest du eigentlich wollen, daß wir gehen. Ich meine, in Prophetstown, genau gegenüber am anderen Ufer, wohnen mindestens zehntausend Rote. Das ist inzwischen die größte Stadt westlich von Philadelphia, und alle Einwohner sind Rote. Wenn wir jetzt nach Osten reisen, dann entkommen wir den Roten sogar…«

»Dieser einäugige Prophet macht mir keine Sorgen«, versetzte sie. »Er spricht nie vom Töten. Ich meine einfach nur, daß ihr nicht…«

»Es spielt keine Rolle, was du meinst«, sagte pa.

Ma drehte sich zu ihm um. »Sag du mir nicht, daß es keine Rolle spielt, was ich…«

»Es spielt keine Rolle, was ich meine«, erwiderte Pa. »Es spielt keine Rolle, was irgend jemand meint, und das weißt du auch.«

»Wenn dem so sein sollte, dann weiß ich nicht, weshalb der Herr uns überhaupt ein Gehirn gegeben hat, Alvin Miller!«

»Al wird nach Osten zum Hatrack River reisen, um bei einem Hufschmied in die Lehre zu gehen«, antwortete Pa. »Ich werde ihn vermissen, du wirst ihn vermissen, wahrscheinlich werden alle ihn vermissen außer Reverend Thrower, aber der Lehrvertrag ist nun einmal unterschrieben, und Al Junior wird reisen. Anstatt zu klagen, daß du sie nicht ziehen lassen willst, solltest du den Jungen also lieber einen Abschiedskuß geben und ihnen zuwinken.«

Der Blick, den sie Pa zuwarf, hätte Milch gerinnen lassen. »Ich werde meinen Jungen schon ihren Abschiedskuß geben und sie winkend verabschieden«, warf sie ein. »Ich brauche dich nicht, um mir das zu sagen. Du brauchst mir überhaupt nichts zu sagen.«

»Ich schätze nicht«, sagte Pa. »Aber ich sage es dir trotzdem, und ich nehme an, daß du mir diesen Gefallen schon noch erwidern wirst, wie du es schon immer getan hast.« Er streckte die Hand zu Measure empor, um auf Wiedersehen zu sagen. »Bring ihn nur sicher hin und komm sofort zurück«, trug er ihm auf.

»Du weißt, daß ich das tun werde«, erwiderte Measure.

»Deine Ma hat recht, jeder Schritt ist gefährlich, also halte die Augen offen.«

»Das werde ich tun, Pa.«

Und dann verabschiedete Ma sich von Measure, während Pa zu Al hinüberschritt. Er verpaßte ihm einen ordentlichen Klaps aufs Bein und schüttelte auch seine Hand. Es freute Alvin, daß Pa auch ihn wie einen erwachsenen Mann behandelte.

»Ich fürchte mich nicht vor den Roten«, sagte Al. Er sprach sehr leise, damit Ma ihn nicht hören konnte. »Aber ich wünschte mir wirklich, ich müßte nicht gehen.«

»Das weiß ich, Al«, erwiderte Pa. »Aber du mußt gehen. Es ist zu deinem eigenen Besten.«

Dann bekam Pa diesen merkwürdigen traurigen Gesichtsausdruck, den Al Junior schon mehr als einmal bemerkt, aber nie verstanden hatte. Pa war ein seltsamer Mann. Es hatte lange gedauert, bis Al das begriffen hatte. Denn erst als er älter wurde, begann Al, seinen Vater mit anderen Männern zu vergleichen. Mit Brustwehr-Gottes Weaver zum Beispiel, dem wichtigsten Mann in der Stadt, der immer vom Frieden mit den Roten sprach und das Land der Roten und der Weißen auf Karten festhielt — dem alle mit Respekt lauschten. Aber wenn Pa etwas sagte, nahm niemand das so ernst, man diskutierte vielleicht ein wenig, aber man wußte, daß es nicht wirklich wichtig war. Wenn Reverend Thrower von seiner Kanzel über Tod und Wiedergeburt und Höllenfeuer und den Lohn des Himmels sprach — hörte ihm jeder zu. Sie hörten anders zu als bei Brustwehr, mit mehr Respekt, weil es immer um Religion ging und nicht um irgendwelche Alltagssorgen.

Wenn Pa dagegen redete, hörten die anderen Leute ihm zwar zu, aber manchmal machten sie sich auch lustig. »Oh, Alvin Miller, Ihr redet aber auch gern, nicht!« Al bemerkte es, und am Anfang hatte es ihn zornig gemacht. Doch dann hatte er erkannt, daß die Leute, wenn sie in Schwierigkeiten waren und Hilfe brauchten, nicht etwa zu Reverend Thrower oder Brustwehr-Gottes gingen, denn keiner von denen wußte besonders viel darüber, wie er die Art von Problemen lösen konnte, die die Leute von Zeit zu Zeit hatten. Thrower mochte ihnen vielleicht sagen, wie sie nicht in die Hölle kamen, aber das war ja auch erst dann wichtig, wenn sie tot waren; und Brustwehr mochte ihnen zwar erklären, wie sie mit den Roten Frieden halten konnten, aber das war hohe Politik. Aber wenn sie sich wegen einer Feldgrenze stritten oder nicht wußten, was sie mit einem Jungen tun sollten, der immer frech zu seiner Mutter war, oder wenn die Getreidekäfer ihr Saatgut aufgefressen hatten und sie nichts mehr zum Säen hatten, dann kamen die Leute zu Al Miller. Wenn Al Junior seinen Pa also mit anderen Männern verglich, wußte er zwar, daß Pa etwas seltsam war und Dinge tat, deren Grund nur er allein kannte. Aber er wußte auch, daß man Pa vertrauen konnte. Vor Brustwehr-Gottes und Reverend Philadelphia Thrower mochten die Leute zwar Respekt haben, aber Al Miller vertrauten sie.

Und auch Al Junior vertraute seinem Pa. Selbst wenn er sein Zuhause nicht verlassen wollte, selbst wenn er dem Tod so nahe gewesen war, daß er eine Lehrzeit und ähnliche Dinge für Zeitverschwendung hielt — was spielte es schon für eine Rolle, welches Handwerk er erlernte, gab es im Himmel etwa Hufschmiede? Aber er wußte doch, daß er gehen würde, wenn Pa meinte, daß es für ihn das beste sei. So wie die Leute immer wußten, daß es richtig war, wenn Al Miller zu ihnen sagte: »Tut einfach dies und jenes, dann kommt schon alles ins Lot.«

Er hatte Pa gesagt, daß er nicht gehen wollte; und Pa hatte geantwortet, er solle dennoch gehen, es sei zu seinem Besten. Mehr brauchte Alvin Junior nicht zu wissen. Er hatte genickt und getan, was Pa gesagt hatte; nicht etwa, weil es ihm an Temperament gefehlt hätte oder weil er sich vor seinem Pa fürchtete, wie andere Jungen es taten. Er kannte seinen Pa einfach nur gut genug, um seinem Urteil zu vertrauen. So einfach war das.

»Ich werde dich vermissen, Pa.« Und dann wich Pa einen Schritt zurück, um Ma Platz zu machen, damit sie ihn verabschieden konnte. Die Tränen liefen ihr das Gesicht herunter, aber sie hatte keine allerletzte Liste von Geboten und Verboten für ihn parat, wie sie sie für Measure hatte. Sie küßte einfach nur seine Hand, klammerte sich daran, sah ihm in die Augen und sagte: »Wenn ich dich heute gehen lasse, werde ich dich nie mehr wiedersehen, solange ich lebe, nicht.«

»Nein, Ma, sag nicht so etwas«, erwiderte er. »Mir wird schon nichts Schlimmes passieren.«

»Denk nur an mich«, sagte sie. »Und behalte das Amulett, das ich dir gegeben habe. Du mußt es die ganze Zeit tragen.«

»Was bewirkt es denn?« fragte er und holte es wieder aus der Tasche. »So eins kenne ich noch gar nicht.«

»Mach dir darüber mal keine Gedanken, behalte es immer nur in der Nähe.«

»Das werde ich tun, Ma.«

Dann führte Measure sein Pferd neben Al Juniors Reittier. »Wir müssen los«, sagte er.

»Dann geht schon«, sagte Ma. »Geht schon, meine Jungen.«

Doch sie waren kaum eine Rute weiter, bevor Pa ihnen nachgerannt kam und Measures Pferd am Zügel packte. »Jungen, denkt immer dran! Die Flüsse immer nur über die Brücken überqueren! Habt ihr mich gehört? Nur die Brücken benutzen! Von hier bis zum Hatrack River besitzt jeder Fluß eine Brücke.«

»Ich weiß, Pa«, sagte Measure. »Ich habe nämlich mitgeholfen, sie zu bauen.«

»Ihr sollt sie benutzen! Mehr sage ich gar nicht. Und wenn es regnen sollte, dann macht ihr halt und sucht euch ein Haus, wo ihr rasten könnt, habt ihr mich gehört? Ich will nicht, daß ihr im Regen draußen bleibt.«

Feierlich versprachen sie es und machten sich schließlich auf den Weg.

Etwa auf halber Strecke zwischen der Farm der Hatches und der Bjornsons hatte der letzte Sturm einen Baum entwurzelt und damit den halben Weg blockiert. Zu Pferd konnten sie zwar daran vorbeikommen, doch so etwas ließ man nicht einfach unbeachtet. Vielleicht kam irgendwann einmal jemand in einem Wagen vorbei, der es eilig hatte, möglicherweise in einer stürmischen Nacht. Und so stiegen sie ab, verzehrten das Mittagessen, das Ma ihnen mitgegeben hatte, und machten sich mit ihren Äxten an die Arbeit. Es war schwere, schweißtreibende Arbeit, aber es war auch gute Arbeit, und alles in allem dauerte es kaum mehr als eine Stunde.

Natürlich unterhielten sie sich dabei. Sie kamen auf die Geschichten von dem Massakern der Roten im Süden zu sprechen. Measure war ziemlich skeptisch. »Klar, ich habe diese Geschichten auch gehört, aber wenn sie so grausam waren, dann nur, weil die Leute sie mit der Zeit ausgeschmückt haben. Diejenigen, die tatsächlich dort unten gelebt haben und vertrieben wurden, erzählen immer nur, daß Ta-Kumsaw gekommen ist und ihre Schweine und Hühner vertrieben hat, das ist alles. Von denen hat nie jemand was über grausame Metzeleien berichtet.«

Al, der ja erst zehn Jahre alt war, war dennoch geneigt, die Geschichten zu glauben; je blutiger sie waren, um so lieber. »Vielleicht haben sie ja immer gleich ganze Familien getötet, so daß keine mehr davon berichten konnte.«

»Jetzt denk doch mal darüber nach, Al! Das leuchtet nicht ein. Ta-Kumsaw will doch, daß die Weißen von dort verschwinden, nicht wahr? Er will, daß sie sich zu Tode ängstigen, damit sie ihre Sache packen und gehen, nicht wahr? Dann müßte er doch wohl auch mindestens einen am Leben lassen, der von dem Massaker berichten kann. Und selbst wenn das nicht so wäre, hätte man doch wenigstens ein paar Leichen finden müssen, oder?«

»Woher kommen die Geschichten denn dann?«

»Brustwehr-Gottes meint, daß Harrison solche Lügen verbreitet, um die Leute gegen die Roten aufzuhetzen.«

»Na, was den Brand seines Hauses und seines Stakets angeht, hat er ja wohl kaum gelogen. Das konnten die Leute doch wohl genau sehen, daß die abgebrannt sind. Und daß seine Frau und sein kleiner Junge dabei umkamen, hat er auch nicht erfunden, oder?«

»Natürlich sind die niedergebrannt, Al. Aber vielleicht waren es ja gar keine Feuerpfeile Ta-Kumsaws, die den Brand entzündet haben. Hast du daran schon mal gedacht?«

»Der Gouverneur Harrison wird doch wohl kaum sein eigenes Haus niederbrennen und seine eigene Familie umbringen, nur damit er die Leute gegen die Roten aufhetzen kann«, meinte AI. »Das ist doch wohl Blödsinn.«

Und so spekulierten auch sie über die Rotenunruhen im südlichen Teil des Wobbish-Landes, wie es zur Zeit allgemein üblich war.

Plötzlich aber waren sie von einem Dutzend Roter umringt. So nahe an ihrem Elternhaus, in einer Gegend, die sie die letzten zehn Jahre immerhin vier- oder fünfmal im Jahr durchstreift hatten, waren sie einfach nicht achtsam genug gewesen.

Es dauerte ein paar Momente, bevor sie sich zu fürchten begannen. In Prophetstown gab es haufenweise Rote, sie kamen ziemlich regelmäßig, um in Brustwehrs Laden Handel zu treiben. Also sagte Alvin, bevor er sie überhaupt richtig angeschaut hatte: »Hallo!«

Sie erwiderten sein Hallo nicht. Ihre Gesichter waren bemalt.

»Das sind keine Hallo-Roten«, sagte Measure leise. »Die haben Musketen.«

Damit war sicher, daß sie nicht aus Prophetstown stammten. Der Prophet trug seinen Anhängern auf, niemals die Waffen des weißen Mannes zu benutzen. Ein wahrer Roter brauchte nicht mit dem Gewehr zu jagen, weil das Land seine Bedürfnisse kannte und weil das Wild nahe genug für ihn herankam, um sich mit Pfeil und Bogen erlegen zu lassen. Der einzige Grund, weshalb ein Roter ein Gewehr in die Hand zu nehmen brauchte, meinte der Prophet, war Mord. Und Mord war eine Sache der Weißen. Es war also klar, daß diese Roten hier nicht sonderlich viel auf die Worte des Propheten geben konnten.

Alvin, der gerade das Seil in der Hand hielt, mit dem sie den Baumstamm weggeschafft hatten, sah einem der Roten direkt ins Gesicht. Anscheinend mußte er seine Angst offenbart haben, denn die Augen des Roten begannen zu glitzern, und er lächelte.

Dann streckte er die Hand vor.

»Gib ihm das Seil«, sagte Measure.

»Das ist unser Seil«, widersprach Al. Doch allmählich begriff er, daß das jetzt wohl keine Rolle spielte. Also reichte er ihm beide Seile.

Der Rote nahm sie ganz freundlich entgegen. Er und seine Leute machten sich sogleich an die Arbeit, zogen den Jungen die Oberbekleidung aus und fesselten ihre Arme so straff auf dem Rücken, daß ihnen die Schultergelenke weh taten.

»Was sollen die mit unseren Kleidern?« fragte Al.

Zur Antwort schlug einer der Roten ihn hart ins Gesicht. Er mußte das Geräusch mögen, das dabei entstand, denn er wiederholte den Schlag. Der Schmerz trieb Al die Tränen in die Augen, doch er schrie nicht auf, teils weil er so überrascht war, teils weil es ihn wütend machte und er ihnen keine Befriedigung verschaffen wollte. Zu prügeln gefiel den anderen Roten, auch sie begannen nun, Measure ins Gesicht zu schlagen. Sie prügelten auf die Jungen ein, bis die halb benommen waren und ihre Wangen innen und außen bluteten.

Einer der Roten plapperte etwas, dann reichte man ihm Als Hemd. Er hackte mit seinem Messer darauf ein und rieb dann Als blutendes Gesicht damit ab. Offensichtlich genügte ihm das Blut nicht, denn nun nahm er sein Messer und schnitt Al damit in die Stirn. Blut spritzte sogleich hervor, und Al spürte einen tiefen Schmerz und schrie zum ersten Mal. Measure brüllte sie an, sie sollten von Al ablassen, aber es war hoffnungslos. Jedermann wußte, daß man des Todes war, wenn ein Roter erst einmal damit angefangen hatte, einen mit dem Messer zu bearbeiten.

Kaum hatte Al aufgeschrien, als die Roten anfingen zu lachen und juchzende Geräusche auszustoßen. Dieser Haufen wollte richtigen Ärger machen, und Al dachte wieder an all die Geschichten, von denen er gehört hatte. Die berühmteste war vielleicht die Geschichte von Dan Boone, einem Mann aus Pennsylvania, der eine Weile versucht hatte, in den Kronkolonien zu siedeln. Das war zu einer Zeit gewesen, als die Cherriky noch gegen den weißen Mann gekämpft hatten, und eines Tages wurde Dan Boones Junge entführt. Die Roten hatten kaum mehr als eine halbe Stunde Vorsprung vor Boone. Es war, als würden sie mit ihm spielen. Ab und an hielten sie an, um dem Jungen Hautstücke aus dem Leib zu schneiden oder ihm ein Auge auszustechen, irgend etwas, was schlimmen Schmerz verursachte und ihn aufschreien ließ. Boon hörte seinen Jungen schreien und folgte ihm, zusammen mit seinen Nachbarn, mit ihren Musketen bewaffnet und halb verrückt vor Zorn. Sie kamen an die Stelle, wo der Junge gemartert worden war, und die Roten waren verschwunden, im ganzen Wald war keine einzige Spur zu sehen, und dann hörten sie schon wieder einen Schrei. An diesem Tag legten sie zwanzig Meilen zurück, und schließlich, gegen Nachtanbruch, fanden sie den Jungen, von drei verschiedenen Bäumen herabhängend. Man erzählte sich, daß Boone das nie vergessen hatte, danach konnte er nie wieder einem Roten in die Augen sehen, ohne an diesen Zwanzigmeilentag zu denken.

Auch Al dachte jetzt an diesen Zwanzigmeilentag, wie der die Roten lachen hörte, wie er den Schmerz spürte, nur den Beginn des Schmerzes, wissend, daß diese Roten, was immer sie sonst noch vorhaben mochten, zunächst einmal mit zwei toten weißen Jungen anfangen wollten, und daß es ihnen nichts ausmachen würde, wenn es dabei etwas laut wurde. Sei still, sagte er bei sich. Sei still.

Sie rieben ihm mit seinen zerfetzten Kleidern das Gesicht ab, und Al versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Mit Mühe gelang es ihm, trotz seines Schmerzes und der Unruhe die größten Venen und Arterien in seinem Körper zu erspüren und sie wieder zu verschließen. Als sie zum letzten Mal mit einem Hemd über sein Gesicht wischten, spritzte aus seiner Stirn kein Blut mehr.

Measure hatten sie noch nicht mit dem Messer bearbeitet. Er blickte Al an, und sein Gesichtsausdruck wirkte krank. Al kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, was er dachte: Daß Ma und Pa ihm Al anvertraut hatten und er nun völlig versagt hatte. Doch es war verrückt, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Was gerade geschah, hätte in jedem Blockhaus irgendwo in dieser Gegend geschehen können, und niemand hätte es verhindert. Selbst wenn Al und Measure nicht auf eine lange Reise ausgezogen wären, hätten sie sich gerade auf diesem Weg befinden können. Doch Al konnte Measure nichts dergleichen sagen, es blieb ihm nicht viel anderes übrig, als zu lächeln.

Als zu lächeln und zu versuchen, seine Wunde so gut wie möglich zu heilen. Dafür zu sorgen, daß an seiner Stirn alles wieder so wurde, wie es sein sollte. Er konzentrierte sich darauf, und es fiel ihm immer leichter, während er den Roten zusah.

Sie redeten nicht viel. Sie wußten recht genau, was sie zu tun hatten. Sie nahmen die blutverschmierten Kleider und banden sie auf die Sättel. Dann ritzte einer von ihnen die englischen Buchstaben ›Ta-Kumsaw‹ in den einen Sattel und ›Prophet‹ in den anderen. Einen Augenblick lang war Al überrascht, daß der Rote Englisch schreiben konnte, doch dann sah er, wie er die Buchstaben von einem Papier ablas, das er zusammengefaltet in seinem Lendenschurz verwahrt hatte. Ein Papier!

Dann hielt je ein Roter eines der Pferde am Zügel, während ein anderer den Tieren mit einem Messer in die Flanken stach. Es waren nur kleine, nicht allzu tiefe Stiche, aber sie genügten, um die Pferde wild zu machen, bis sie austraten und sich aufbäumten. Die Pferde warfen die beiden Roten um, die sie festgehalten hatten, und jagten davon, den Weg entlang, der sie nach Hause führte.

Eine Nachricht. Es ging um eine Nachricht. Diese Roten wollten, daß man sie verfolgte, daß ein ganzer Haufen Weißer die Musketen aufnahm und die Pferde bestieg und ihnen folgte. Wie Daniel Boone in der Geschichte. Al und Measure hatten nicht die geringste Chance, davonzukommen. Selbst wenn Al die Fesseln gelöst hätte — was ihm nicht weiter schwergefallen wäre —, hätten zwei weiße Jungen die Roten im Wald niemals abhängen können. Nein, diese Roten hatten sie so lange in ihrer Gewalt, wie sie wollten. Doch Al kannte ein paar Kniffe, wie er sie daran hindern konnte, bestimmte Dinge mit ihnen anzustellen. Und es würde auch in Ordnung sein, diese Fähigkeiten einzusetzen, denn es würde ja nicht nur für ihn sein, sondern für seinen Bruder und seine Familie und irgendwie auch für die Roten selbst. Denn wenn wirklich etwas Schlimmes passieren sollte, wenn zwei weiße Jungen tatsächlich zu Tode gefoltert würden, dann würde es einen grausamen Krieg zwischen Roten und Weißen geben. Solange er dabei niemanden tötete, durfte Al sein Talent ruhig einsetzen.

Als die Pferde fort waren, legten die Roten um Als und Measures Hals Lederriemen und zerrten sie hinter sich her. Measure war ein großer Mann, größer als jeder der Roten, so daß er sich vorbeugen mußte. Das Laufen fiel ihm schwer, und der Riemen saß sehr straff. Al folgte dichtauf und konnte daher mitansehen, wie man Measure behandelte. Aber es war nicht schwer für Al, in diesen Riemen einzudringen und ihn zu strecken, ihn immer weiter zu strecken, bis er nur locker um Measures Hals hing und lang genug war, daß Measure beinahe aufrecht laufen konnte. Das Ganze geschah so langsam, daß die Roten es nicht bemerkten. Doch AI wußte, daß ihnen schon früh genug auffallen würde, was er da tat.

Jedermann wußte, daß Rote keine Fußabdrücke hinterließen. Und wenn Rote Weiße als Gefangene nahmen, trugen sie sie meistens an Armen und Beinen wie aufgebrochenes Rotwild, damit die tolpatschigen Weißen keine Spuren hinterließen. Diese Roten also wollten verfolgt werden, da sie es zuließen, daß Al und Measure unentwegt Spuren hinterließen.

Andererseits sollte es aber auch nicht allzu leicht werden, sie zu finden. Nach einem schier endlosen Marsch gelangten sie an einen Bach und schritten ein Stück stromaufwärts, um dann noch etwa eine weitere Meile zu gehen, bevor sie schließlich an einer Lichtung hielten und ein Feuer machten.

In der Nähe gab es keine Farmen, aber das besagte nicht viel. Inzwischen würden die Pferde mit der blutigen Kleidung, den Wunden in ihren Flanken und den in die Sättel geritzten Namen zu Hause eingetroffen sein. Inzwischen würde jeder weiße Mann im ganzen Gebiet seine Familie nach Vigor Church bringen, wo sie von wenigen Männern bewacht werden konnte, während der Rest sich auf die Suche nach den vermißten Jungen machte. Inzwischen würde Ma bleich vor Entsetzen sein, während Pa die anderen Männer unentwegt antrieb, sie sollten keine Minute vergeuden, sie müßten die Jungen finden, wenn sie nicht bald kämen, würde er allein losreiten! Und die anderen würden zu ihm sagen: Beruhigt Euch, beruhigt Euch, allein könnt Ihr auch nicht viel ausrichten, wir kriegen sie schon, darauf könnt Ihr wetten. Und niemand würde zugeben, was doch alle wußten — daß Al und Measure bereits so gut wie tot waren.

Doch Al hatte nicht vor, tot zu sein. O nein. Er wollte ganz und gar lebendig sein.

Die Roten machten ein richtig großes und heißes Feuer, und das war bestimmt nicht zum Kochen gedacht. Da die Sonne schon grell und heiß brannte, schwitzten Al und Measure beträchtlich. Sie schwitzten noch mehr, als die Roten ihnen auch noch die Unterwäsche vom Leibe schnitten, so daß sie nun völlig nackt waren.

Plötzlich bemerkte einer der Roten Als Stirn. Er nahm ein großes Bündel Unterwäsche und rieb damit über Als Gesicht, rieb ziemlich fest, um das getrocknete Blut zu entfernen. Dann begann er auf die anderen einzuplappern. Alle versammelten sich um Al, schauten sich erst seine Stirn an und dann Measure. Al wußte, wonach sie suchten. Und er wußte auch, daß sie es nicht finden würden. Denn er hatte seine Stirn ohne jede Narbe geheilt, sein ganzes Gesicht war völlig ungezeichnet. Und auf Measures Stirn war natürlich auch nichts zu erkennen, da sie ihn nicht mit dem Messer bearbeitet hatten. Das würde ihnen für eine Weile zu denken geben.

Doch Al verließ sich nicht auf seine Heilkräfte, was ihre Rettung betraf. Es war zu schwierig sie einzusetzen, sie waren zu langsam — die Roten konnten mit Sicherheit schneller schneiden, als Al heilen konnte. Viel besser war es, wenn er seine Fähigkeit auf Dinge wie Stein und Metall anwandte.

Als sich nun einer der Roten vor Measure hinsetzte und ein Messer zückte, wartete Al nicht erst ab, bis er zu schneiden begann. Er holte sich das Messer geistig in seinen Kopf, den Stahl der Klinge — das Messer eines weißen Mannes, so wie sie auch die Musketen des weißen Mannes trugen. Er fand die Schneide und die Spitze, flachte sie ab, glättete sie, rundete sie.

Der Rote setzte das Messer auf Measures nackte Brust und versuchte zu schneiden. Measure wappnete sich gegen den Schmerz. Doch das Messer hinterließ ebensowenig eine Spur auf Measures Haut, wie es ein Löffel getan hätte.

Al hätte beinahe losgelacht, als er sah, wie der Rote sein Messer wieder absetzte und es erstaunt musterte. Er ließ die Klinge über seinen eigenen Finger fahren, um sie zu prüfen; Al dachte daran, sie in diesem Augenblick wieder rasierklingenscharf zu machen, aber die Regeln lauteten, daß er seine Fähigkeiten nur dazu verwenden durfte, die Dinge zu richten, nicht aber, um Verletzungen hervorzurufen. Die anderen scharrten sich um den Roten, schauten das Messer an. Einige von ihnen zogen den Roten auf, wahrscheinlich glaubten sie, daß er seine Klinge nicht sonderlich gepflegt hatte. Diese Zeit aber nutzte Al dazu, die anderen Stahlschneiden der roten Männer aufzuspüren und sie glatt und rund zu machen. Als er damit fertig war, hätten sie mit ihren Messern nicht einmal mehr eine Erbsenschote durchschneiden können.

Tatsächlich zogen nun alle anderen auch ihre Messer, um sie zu prüfen, ließen die Schneiden erst über Als oder Measures Haut fahren, um einander schließlich anzuschreien und sich anscheinend darüber zu zanken, wer an dem Ganzen schuld war.

Doch schließlich hatten sie eine Aufgabe zu erledigen. Sie sollten diese weißen Jungen martern oder sie wenigstens schlimm genug zerstückeln, damit ihre Leute nach Rache zu dürsten begannen, sobald sie die Leichen gefunden hatten.

Also zückte einer der Roten seinen altmodischen Tommy-hawk mit der steinernen Klinge und schwang ihn vor Als Gesicht, fuchtelte ordentlich damit herum, um ihm Angst einzujagen. Al nutzte die Zeit, um den Stein aufzuweichen, das Holz zu schwächen, die Riemen zu lockern, die alles zusammenhielten. Als der Rote die Waffe schließlich hob, um wirklich zuzuschlagen, fiel sie auseinander. Das Holz war vollkommen durchgefault, der Stein fiel in Stücken zu Boden, und selbst der Riemen war gespalten und zerfranst. Der rote Mann schrie auf und sprang zurück, als hätte ihn eine Klapperschlange gebissen.

Ein weiterer Roter mit einer Steinaxt legte Measures Hand auf einen Stein und schlug zu, um ihm die Finger abzuhacken. Doch auch diese Sache war für Al nicht weiter schwierig. Hatte er nicht auch ganze Mühlsteine gebrochen und geschnitten, wenn es sein mußte? Also prallte das Beil hallend auf den Stein, und Measure keuchte auf. Aber als der Rote den Tommy-hawk wieder aufnahm, lag Measures Hand völlig unversehrt da, während die steinerne Klinge fingerförmige Abdrücke aufwies, als bestünde sie aus weicher Butter.

Die Roten heulten auf, blickten einander ängstlich an, offenbarten Furcht und Wut angesichts des seltsamen Geschehens. Da er ein Weißer war, konnte Alvin nicht wissen, daß das Schlimmste an der ganzen Sache darin bestand, daß sie überhaupt nichts spürten, wie es sonst bei den Zaubern des weißen Mannes doch der Fall gewesen war. Für gewöhnlich empfanden sie den Zauber eines Weißen als eine Art Höcker in ihrem Landgespür, doch das, was Alvin tat, beeinträchtigte das Land nicht im geringsten, nichts sah anders aus, als es hätte sein sollen. Es war, als hätten sich für sie plötzlich die Naturgesetze auf den Kopf gestellt, plötzlich war Stahl weich geworden und Fleisch hart, war Gestein morsch und Leder so reißfähig wie Gras. Sie suchten nicht bei Al oder Measure nach der Ursache dieses Geschehens. Soweit sie es begreifen konnten, hatten sie es hier mit irgendeiner Naturkraft zu tun.

Alvin sah nur ihre Furcht und ihre Verwirrung, was ihm durchaus behagte. Doch er wurde nicht übermütig; es war ihm klar, daß es einige Dinge gab, mit denen er nicht zurechtzukommen wußte. Das Wasser, zum Beispiel. Wenn sie auf den Gedanken kommen sollten, die beiden Jungen zu ertränken, würde Al nicht wissen, wie er sich und Measure retten könnte. Er war erst zehn, und da ihn Regeln einschränkten, die er nicht verstand, hatte er noch nicht genau herausgefunden, wozu sein Talent nützlich war oder wie es funktionierte.

Immerhin hatte er Glück: Sie dachten nicht ans Ertränken. Aber an Feuer dachten sie. Höchstwahrscheinlich hatten sie das von Anfang an geplant: Die Leute erzählten sich immer Geschichten von Marteropfern, im New England der Rotenkriege, die mit geschwärzten Füßen in der auskühlenden Asche eines Feuers gestanden hatten, wo sie hatten mitansehen müssen, wie ihre eigenen Zehen verkohlten, bis der Schmerz und der Blutverlust ihrem Leben ein Ende gesetzt hatten. Alvin sah, wie sie das Feuer schürten und gleißend brennende Zweige darauflegten, damit es aufloderte. Er wußte nicht, wie er einem Feuer die Hitze nehmen konnte, er hatte es noch nie versucht. Also dachte er so schnell nach, wie er nur konnte, und als sie Measure gerade unter die Arme griffen und ihn zum Feuer zerrten, begab er sich im Geiste ins Innere des Feuerholzes und zerbrach es, ließ es zu Staub zerbröckeln, damit es ganz schnell abbrannte, alles auf einmal, in einem Feuer, das so schnell aufloderte, daß es einen lauten Knall gab und ein greller Lichtblitz gen Himmel schoß. So schnell loderte es auf, daß es einen Windstoß erzeugte, der aus allen Richtungen gleichzeitig auf die Stelle zuwehte, wo gerade zuvor noch das Feuer gewesen war, und es erzeugte für einen kurzen Augenblick einen Wirbelwind, der die Asche aufsaugte und sie auseinanderstieben ließ, bis sie wie Staub wieder niederging.

Einfach so: Nichts war vom Feuer übriggeblieben bis auf feinen Staub, der sich wie Nebel über die ganze Lichtung verteilte.

Oh, die Roten heulten und sprangen und tanzten und schlugen sich selbst auf Brust und Schulter. Und während sie sich aufführten wie bei einer irischen Beerdigung, lockerte Al seine und Measures Fesseln, hoffte wider besseren Wissen, daß es ihnen vielleicht doch noch gelingen würde zu fliehen, bevor ihre Familie und die Nachbarn sie fanden und das Schießen und Töten begann.

Measure spürte natürlich, wie sich die Fesseln lockerten, und warf Alvin einen scharfen Blick zu; bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihn das Geschehen ebenso verwirrt wie die Roten. Natürlich wußte er sofort, daß Alvin dahintersteckte, doch Alvin hatte ihm ja nicht erklären können, was er vorhatte, so daß Measure davon ebenso überrascht worden war wie die anderen. Nun aber sah er Alvin an und nickte, und dann begann er damit, seine Arme aus den Fesseln zu winden. Bisher hatte keiner der Roten es bemerkt, und vielleicht würden sie doch noch einen Vorsprung bekommen, oder vielleicht — ganz vielleicht — würden die Roten so aufgeregt sein, daß sie nicht einmal versuchen würden, sie zu verfolgen.

Doch in diesem Augenblick änderte sich alles schlagartig. Im Wald ertönte Geheul, das sich plötzlich wiederholte, bis es sich anhörte wie dreihundert Eulen im Kreis. Measure mußte einen Augenblick gedacht haben, daß Al auch dies bewirkt hatte, so jedenfalls sah er seinen kleinen Bruder an — aber die Roten wußten sofort, was es war. Die Furcht in ihren Mienen verriet Al jedoch, daß ihre Pläne offensichtlich durchkreuzt worden waren.

Aus dem Wald, der die Lichtung umgab, traten zunächst Dutzende, dann einhundert Rote hervor. Alle trugen sie Pfeil und Bogen — nicht eine Muskete war darunter —, und so, wie sie sich kleideten und ihr Haar trugen, erkannte Al, daß es Shaw-Nee waren, noch dazu Anhänger des Propheten.

Einer der Roten trat aus der Schar hervor, ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit einem Gesicht so hart und scharf wie Stein. Er feuerte einige hart klingende Worte ab, und sofort begannen die gestellten Roten zu plappern, zu faseln, zu flehen. Sie benahmen sich wie die Kinder, dachte Al, wie Kinder, die etwas getan hatten, was eigentlich verboten war, und die nun von ihrem Vater dabei erwischt worden waren.

Dann vernahmen sie vor allen ein Wort in all dem Gejammer — einen Namen: Ta-Kumsaw. Als sah zu Measure hinüber, um festzustellen, ob er es gehört hatte, und Measure blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, um ihn das gleiche zu fragen. Und beider Lippen formten zur gleichen Zeit denselben Namen: Ta-Kumsaw.

Hieß das etwa, daß Ta-Kumsaw hier das Kommando hatte? War er zornig auf ihre Peiniger, weil sie beim Martern versagt hatten oder weil sie die weißen Jungen überhaupt gefangengenommen hatten? Die Roten würden es ihnen gewiß nicht erklären. Sicher konnte Al sich nur dessen sein, was sie taten. Die Neuankömmlinge nahmen den anderen die Musketen ab und führten sie in den Wald. Nur ein Dutzend Roter blieb bei Al und Measure zurück. Unter ihnen auch Ta-Kumsaw.

»Es heißt, daß Ihr Finger aus Stahl habt«, sagte Ta-Kumsaw.

Measure blickte antwortheischend zu Al hinüber, doch Al fiel nichts ein. Also antwortete Measure ihm doch, indem er die Hände hob und mit den Fingern zappelte. »Sind ganz gewöhnliche Finger«, meinte er.

Ta-Kumsaw streckte den Arm aus und nahm ihn bei der Hand — es mußte ein kräftiger, harter Griff sein, denn Measure versuchte die Hand zurückzuziehen, konnte es aber nicht. »Eisenhaut«, sagte Ta-Kumsaw. »Läßt sich nicht mit Messer schneiden. Läßt sich nicht verbrennen. Jungen aus Stein.«

Er zog an Measure, bis dieser aufrecht stand, dann schlug er ihm mit der freien Hand hart auf den Oberarm. »Steinjunge, wirf mich zu Boden!«

»Ich kann nicht mit dir ringen«, widersprach Measure. »Ich will mit niemanden kämpfen.«

»Wirf mich!« befahl Ta-Kumsaw. Und dann löste er seinen Griff etwas, stemmte einen Fuß vor und wartete, bis Measure ebenfalls seinen Fuß vorstellte. Mit abgewandtem Gesicht, Mann gegen Mann, wie die Roten es bei ihren Spielen taten. Nur daß dies kein Spiel war, nicht für diese Jungen, die dem Tod ins Auge geblickt hatten und immer noch keine Gewißheit hatten, daß er hinter der nächsten Ecke nicht doch noch auf sie lauerte.

AI wußte nicht, was er tun sollte, aber wollte irgend etwas tun, um die sich wandelnden Ereignisse wieder einzuholen. So dachte er kaum über die Konsequenzen nach, als er im gleichen Augenblick, da Measure und Ta-Kumsaw aneinander zerrten und drückten, den Boden unter Ta-Kumsaws Fuß ganz locker werden ließ, so daß dieser durch seine Kraft plötzlich in den Schmutz stürzte.

Die anderen Roten hatten über den Ringkampf gelacht und gescherzt, doch als sie nun sahen, daß der größte Häuptling aller Stämme, ein Mann, dessen Name von Boston bis New Orleans jedermann kannte, so zu Boden ging, erstarb ihr Lachen plötzlich. Auf der ganzen Lichtung war kein einziges Geräusch mehr zu vernehmen. Ta-Kumsaw stand auf und musterte das Erdreich unter seinen Füßen, kratzte mit dem Fuß daran. Inzwischen war es natürlich wieder fest geworden. Doch er trat ein paar Schritte zur Seite aufs Gras und streckte erneut die Hand vor.

Diesmal war Measure schon etwas selbstbewußter und griff nach der Hand — doch Ta-Kumsaw riß sie im letzten Augenblick beiseite. Ganz still stand er da, ohne Measure oder Al oder sonst jemanden anzuschauen, starrte nur in die Leere, seine Miene war hart und gefaßt. Dann wandte er sich an die anderen Roten und ließ ein Stakkato von Shaw-Nee-Lauten auf sie los. Es hörte sich nicht sonderlich freundlich an, und als er damit fertig war, waren Al und Measure wieder gefesselt. Und als ihre zerfetzten Unterhosen von ihnen herabfielen und sie stolpern ließen, kam Ta-Kumsaw mit wütendem Gesicht zu ihnen hinüber und riß ihnen die Wäsche mit bloßen Händen vom Leib. Doch dies war nicht die Zeit für Proteste. Sie wußten nicht, wo Ta-Kumsaw sie hinbrachte, und da ihnen auch nichts anderes übrigblieb als mitzukommen, hatte es wohl wenig Zweck, zu fragen.

Noch nie in ihrem Leben waren Al und Measure so lang oder so weit gelaufen. Eine Stunde nach der anderen, Meile um Meile, nie allzu schnell, aber ohne Pause. Auf diese Weise konnte sich ein Roter schneller zu Fuß fortbewegen als ein Weißer auf einem Pferd.

Al bemerkte sehr schnell, daß die Roten anders durch den Wald gingen als er und Measure. Die einzigen Geräusche, die er hörte, waren seine und Measures Schritte. Da Al ein Stück weiter hinten ging, konnte er Measure beobachten. Der Rote, der Measure führte, pflegte Äste mit dem Körper beiseite zu biegen, die daraufhin nachgaben. Doch sobald Measure das gleiche versuchte, peitschten sie gegen seine Haut und brachen ab. Die Roten traten auf Zweige, ohne das leiseste Geräusch zu machen, während Al an derselben Stelle stolperte oder sich an der rauhen Rinde die Haut aufriß. Als Junge war Al es gewohnt, barfuß zu gehen, so daß seine Fußsohlen eine Hornhaut hatten. Measure trug schon seit einigen Jahren Erwachsenenstiefel, und Al sah, wie er bereits nach einer halben Meile zu bluten begann.

Und so kam Al auf die Idee, daß er die Füße seines Bruders heilen könnte. Er versuchte es, doch am Anfang fiel es ihm schwer, weil ihm das Laufen die Konzentration nahm. Aber er gab nicht auf, dachte nicht mehr an das Laufen und begab sich im Geiste ins Innere der Wunden. Danach war alles ein Kinderspiel. Er heilte die Füße, machte sie zäher, schwieliger. Dann spürte er, wie Measures Körper nach mehr Atemluft verlangte; so drang er im Geiste in die Lungen seines Bruders ein, um sie zu öffnen. Als Measure nun einatmete, konnte sein Körper mehr aus der Luft herausholen. Al hatte zwar keine genaue Vorstellung davon, was er da tat, aber er wußte, daß es funktionierte, weil der Schmerz in Measures Körper nachließ und sein Bruder nicht mehr so schnell ermüdete und nach Luft japste.

Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst richtete, stellte Al fest, daß er die ganze Zeit, während er Measure geholfen hatte, auf keinen Zweig getreten war, der unter ihm zerbrochen wäre, und er war auch von keinem zurückschnellenden Ast gepeitscht worden. Jetzt aber begann er wieder zu stolpern und Astwerk zu zerbrechen und sich die Haut aufzureißen. Zunächst glaubte er, daß dies auch vorher der Fall gewesen sei, nur daß er es eben nicht so recht bemerkt hätte, weil er mit Measure beschäftigt gewesen war. Aber kaum hatte er sich das eingeredet und begonnen, es selbst zu glauben, als er merkte, daß sich der Klang der Umwelt verändert hatte. Nun hörte er nur Atmen und bleichhäutige Füße auf dem Boden aufstampfen oder altes Laubwerk beiseite fegen. Dann und wann war ein Vogel oder eine summende Fliege zu hören. Nichts Bemerkenswertes, nur daß Al sich genau daran erinnerte, daß er nun, seitdem er Measures Körper geheilt hatte, etwas anderes nicht mehr hören konnte, was vorher dagewesen war, eine Art Musik, eine Art… grüner Musik. Ach, das war doch Unsinn! Musik konnte doch keine Farbe haben. Al schob den Gedanken beiseite, dachte einfach nicht mehr daran. Dennoch sehnte er sich danach, die Musik wieder zu vernehmen. Er wollte sie hören oder sehen oder riechen. Wie immer sie auch zu ihm kommen mochte, er wollte sie wiederhaben.

Und da war noch etwas. Bis er aus sich selbst herausgetreten war, um Measure zu helfen, war es seinem eigenen Körper auch nicht besonders gut gegangen; tatsächlich war er fast völlig erschöpft gewesen. Jetzt aber war alles in Ordnung, seinem Körper ging es gut, er atmete tief, Beine und Arme fühlten sich an, als könnte er in alle Ewigkeit so weitergehen, sie waren in ihrer Bewegung so beharrlich wie Bäume in ihrer Reglosigkeit. Vielleicht lag es daran, daß er zusammen mit Measure auch sich selbst irgendwie geheilt hatte. Doch das glaubte er nicht so recht, denn er wußte immer, was er tat und was nicht. Nein, Al Junior glaubte, daß es seinem Körper aus einem anderen Grund besser ging. Und dieser andere Grund gehörte entweder zur grünen Musik oder verursachte sie. Genauer bekam Al es nicht heraus.

Wie sie so weiterliefen, hatten Al und Measure keine Gelegenheit, sich miteinander zu unterhalten, bis die Nacht einbrach und sie ein Dorf der Roten an einer Biegung eines dunklen, tiefen Flusses erreichten. Ta-Kumsaw führte sie mitten ins Dorf, dann ging er davon und ließ sie stehen. Der Fluß war vielleicht hundert Ellen von ihnen entfernt, zwischen ihnen und dem Wasser lag der grasbewachsene Abhang.

»Meinst du, wir schaffen es bis zum Fluß, ohne daß sie uns erwischen?« flüsterte Measure.

»Nein«, erwiderte Al. »Und außerdem kann ich nicht schwimmen. Pa hat mich ja nie ans Wasser gelassen.«

Dann kamen all die Roten Frauen und Kinder aus ihren Lehmhütten und zeigten mit den Fingern auf die beiden nackten Weißen, auf den Mann und den Jungen, und lachten und bewarfen sie mit Grasbüscheln. Zuerst versuchten Al und Measure dem auszuweichen, doch da lachten die Roten um so mehr und rannten immer und immer wieder um sie herum, bewarfen sie aus verschiedenen Winkeln mit Schlamm, versuchten, sie im Gesicht zu treffen. Schließlich setzte Measure sich einfach aufs Gras, legte das Gesicht auf die Knie und ließ sie werfen, soviel sie wollten. Al tat es ihm gleich. Plötzlich brüllte jemand einige wenige Worte, und die Roten hörten auf zu werfen. Als er den Blick hob, sah Al, wie Ta-Kumsaw davonging, während zwei seiner Krieger dablieben und dafür sorgten, daß nichts geschah.

»Soweit bin ich in meinem ganzen Leben noch nicht gelaufen«, sagte Measure.

»Ich auch nicht«, erwiderte Al.

»Am Anfang glaubte ich, ich würde sterben, so müde war ich«, fuhr Measure fort. »Und dann war ich über den toten Punkt hinweg. Ich hätte nicht gedacht, daß ich das schaffen würde.«

Al sagte nichts.

»Oder hast du etwas damit zu tun gehabt?«

»Etwas vielleicht«, meinte Al.

»Ich weiß nie, was du eigentlich kannst, Alvin.«

»Ich auch nicht«, entgegnete Al, was auch der Wahrheit entsprach.

»Als dieses Beil auf meine Finger herabsauste, da glaubte ich, ich würde nie wieder arbeiten können.«

»Sei bloß froh, daß sie nicht versucht haben, uns zu ertränken.«

»Du und das Wasser schon wieder«, versetzte Measure. »Nun, ich bin jedenfalls froh, daß du es getan hast, Al. Obwohl die Dinge vielleicht ein wenig besser stehen würden, wenn du den Häuptling beim Ringen nicht hättest ausgleiten lassen.«

»Warum nicht?« fragte Al. »Ich wollte nicht, daß er dir weh tut…«

»Du konntest es nicht wissen, Al, deshalb brauchst du dir auch keine Vorwürfe zu machen. Aber diese Art von Ringen dient nicht dazu, dem anderen weh zu tun, es ist eine Art Prüfung. Der Männlichkeit und der Schnelligkeit und was weiß ich. Wenn er mich besiegt, ich aber fair mit ihm gekämpft hätte, dann hätte mir dies seinen Respekt errungen; und wenn ich ihn im fairen Kampf besiegt hätte, dann hätten wir einander ebenfalls respektiert. Brustwehr hat mir davon erzählt.«

Alvin dachte darüber nach. »War das also sehr schlimm, daß ich ihn habe stürzen lassen?«

»Ich weiß es nicht. Es hängt davon ab, weshalb es ihrer Meinung nach geschehen ist. Vielleicht glauben sie, daß es bedeutet, daß Gott auf meiner Seite ist oder so.«

»Glauben sie denn an Gott?«

»Immerhin haben sie doch einen Propheten, nicht wahr? Genau wie in der Bibel. Ich hoffe nur, daß sie nicht glauben, daß ich ein Feigling und Betrüger bin, denn dann wird es mir nicht besonders gut ergehen.«

»Dann werde ich ihnen einfach sagen, daß ich es war«, meinte Al.

»Tu das nur nicht«, ermahnte ihn Measure. »Uns hat nur gerettet, daß sie nicht wußten, daß du es warst, der ihre Messer und Beile und so verändert hat. Hätten sie das gewußt, Al, dann hätten sie dir den Schädel zertrümmert, hätten dich in Stücke gehauen, und dann mit mir gemacht, was sie wollten. Gerettet hat uns nur, daß sie nicht wußten, woher das alles kam.«

Dann sprachen sie darüber, wieviel Sorgen Pa und Ma sich jetzt machen würden, spekulierten darüber, wie wütend Ma wohl sein mochte, oder ob sie vielleicht zu besorgt war, um zornig auf Pa zu sein. Und dann mußten ja inzwischen auch Männer nach ihnen suchen.

»Die werden darüber beraten, Krieg gegen die Roten zu führen«, meinte Measure. »Das weiß ich genau. Da gibt es jede Menge Leute aus Carthage, die Ta-Kumsaw sowieso schon genug hassen, weil er in diesem Jahr ihr Vieh vertrieben hat.«

»Aber Ta-Kumsaw hat uns doch gerettet«, widersprach Al.

»So sieht es wenigstens aus. Er hat uns aber nicht nach Hause gebracht, ja, er hat uns nicht einmal gefragt, wo wir zu Hause sind. Und wie kommt es, daß er genau im richtigen Augenblick erschien, wenn er nichts damit zu tun haben sollte? Nein, Al, ich weiß zwar nicht, was hier vorgeht, aber Ta-Kumsaw hat uns nicht gerettet. Oder wenn er es getan hat, dann hatte er dafür seine eigenen Gründe, und ich glaube, ich werde mich lieber nicht darauf verlassen, daß er uns Gutes tun will. Außerdem habe ich nicht besonders viel dafür übrig, mitten in einem Dorf der Roten nackt herumsitzen zu müssen.«

»Ich auch nicht. Und ich habe Hunger.«

Es dauerte jedoch nicht lange, bevor Ta-Kumsaw persönlich mit einem Topf Maisbrei zu ihnen kam. Es war beinahe komisch anzusehen, wie dieser hochgewachsene rote Mann, der sich wie ein König aufführte, einen Topf schleppte wie irgendeine rote Frau. Doch nach dieser anfänglichen Überraschung bemerkte Al, daß es bei Ta-Kumsaw richtig elegant aussah.

Er stellte den Topf vor Al und Measure und nahm zwei Streifen von rotem, gewobenem Stoff auf, die um seinen Hals hingen. »Bedeckt euch«, sagte er und reichte jedem von ihm einen Stoff streifen. Doch sie hatten keine Ahnung, wie man einen Lendenschurz band, worauf Ta-Kumsaw lachte und Al aufstehen hieß. Dann kleidete er Al selbst an und zeigte es Measure, damit der sich auch bedecken konnte. Das war zwar nicht die richtige Kleidung, aber immer noch besser, als splitternackt zu sein.

Dann nahm Ta-Kumsaw auf dem Rasen Platz, zwischen ihm und ihnen stand der Topf, und er zeigte ihnen, wie man den Brei aß — indem er die Hand hineintauchte, einen lauwarmen, geleedicken Klumpen hervorholte und ihn sich in den offenen Mund warf. Das Zeug schmeckte so fade, daß Alvin sich beinahe übergeben hätte. Measure bemerkte es und sagte: »Iß!« Also aß Alvin, und nachdem er erst einmal etwas heruntergeschluckt hatte, spürte er, wie sein Magen nach mehr verlangte, auch wenn es ihn immer noch reichlich Überwindung kostete, seine Kehle dazu zu bringen, den Transport zu übernehmen.

Als sie den Topf ganz geleert hatten, stellte Ta-Kumsaw ihn beiseite. Dann musterte er Measure eine Weile. »Wie hast du mich zum Stürzen gebracht, weißer Feigling?« fragte er.

Da wollte Al das Wort ergreifen, doch Measure antwortete viel zu schnell und laut: »Ich bin kein Feigling, Häuptling Ta-Kumsaw, und wenn Ihr jetzt mit mir ringt, wird es ein fairer Kampf sein.«

Ta-Kumsaw lächelte grimmig. »Damit du mich vor all diesen Frauen und Kindern zu Boden stürzen kannst?«

»Ich war es«, sagte Alvin.

Ta-Kumsaw wandte langsam den Kopf zu ihm um, ohne daß sein grimmiges Lächeln erstarb — aber es wirkte nun nicht mehr so grimmig. »Sehr kleiner Junge«, sagte er. »Sehr nutzloses Kind. Du kannst den Boden unter meinen Füßen lockern?«

»Ich habe einfach nur ein magisches Talent«, sagte Alvin. »Ich wußte ja nicht, daß du ihm nicht weh tun wolltest.«

»Ich habe ein Beil gesehen«, berichtete Ta-Kumsaw. »Mit solchen Fingerabdrücken.« Er zog einige Kurven in die Luft, um das Muster darzustellen, das Measures Finger in der Schneide des Beils hinterlassen hatten. »Hast du das getan?«

»Das ist nicht recht, einem Mann die Finger abzuhacken!«

Ta-Kumsaw lachte laut auf. »Sehr gut!« Dann beugte er sich vor. »Die Talente des weißen Mannes machen Lärm, sehr viel Lärm. Aber das, was du tust, ist so leise, daß niemand es sieht.«

Al wußte nicht, wovon er sprach.

In der Stille, die nun folgte, sprach Measure kühner denn je. »Was habt Ihr mit uns vor, Häuptling Ta-Kumsaw?«

»Morgen werden wir wieder laufen«, sagte er.

»Warum laßt Ihr uns dann nicht einfach nach Hause gehen? Inzwischen müssen mindestens hundert Nachbarn von uns die Verfolgung aufgenommen haben, so wild und wütend wie Hornissen. Das wird ziemlich viel Ärger geben, wenn Ihr uns nicht nach Hause zurück laßt.«

Ta-Kumsaw schüttelte den Kopf. »Mein Bruder will Euch haben.«

Measure sah erst Alvin an, dann blickte er wieder zu Ta-Kumsaw hinüber. »Ihr meint den Propheten?«

»Tenskwa-Tawa«, erklärte Ta-Kumsaw.

Measure machte ein angewidertes Gesicht. »Soll das heißen, daß er, nachdem er vier Jahre lang sein Prophetstown aufgebaut hat, ohne daß irgend jemand ihm Schwierigkeiten gemacht hat, während der weiße und der rote Mann richtig gut miteinander auskamen, daß er jetzt weiße Gefangene nimmt und sie martert und …«

Ta-Kumsaw klatschte einmal laut in die Hände. Measure verstummte. »Chok-Taw haben euch gefangen! Chok-Taw haben versucht, euch umzubringen! Meine Männer töten nicht, es sei denn, um unser Land und unsere Familien vor weißen Dieben und Mördern zu beschützen. Und Tenskwa-Tawas Leute töten überhaupt nicht.«

Zum ersten Mal hörte Al davon, daß es zwischen Ta-Kumsaws Leuten und denen des Propheten Unterschiede gab.

»Woher habt Ihr dann gewußt, wo wir waren?« wollte Measure wissen. »Woher habt Ihr gewußt, wir Ihr uns finden könnt?«

»Tenskwa-Tawa hat euch gesehen«, erwiderte Ta-Kumsaw. »Er hat mir gesagt, ich soll mich beeilen und euch holen, euch vor den Chok-Taw retten, nach Mizogan bringen.«

Measure, der mit Brustwehr-Gottes' Landkarten besser vertraut war als Alvin, erkannte den Namen wieder. »Das ist der große See, wo Fort Chicago liegt.«

»Wir gehen nicht nach Fort Chicago«, widersprach Ta-Kumsaw. »Wir gehen zum heiligen Ort.«

»Zu einer Kirche?« fragte Alvin.

Ta-Kumsaw lachte. »Ihr Weißen! Wenn ihr einen Ort heilig macht, baut ihr Mauern um ihn herum, damit nichts von dem Land hineinkommt. Euer Gott ist nichts und nirgends, deshalb baut ihr eine Kirche, in der nichts Lebendiges ist, eine Kirche, die irgendwo sein könnte, es spielt keine Rolle — nichts und nirgendwo.«

»Nun, was macht einen Ort denn sonst heilig?« wollte Alvin wissen.

»Wenn der rote Mann dort mit dem Land spricht und das Land ihm antwortet.« Ta-Kumsaw grinste. »Schlaft jetzt. Wir werden losgehen, solange es noch dunkel ist.«

»Es wird aber ziemlich kühl werden, heute nacht«, meinte Measure.

»Die Frauen werden euch Decken bringen. Krieger brauchen keine. Wir haben Sommer.« Ta-Kumsaw entfernte sich einige Schritte, dann drehte er sich wieder zu Alvin um. »Weaw-Moxiky ist hinter dir gegangen, weißer Junge. Er hat gesehen, was du getan hast. Versuche nicht, dein Geheimnis vor Tenskwa-Tawa zu verbergen. Er wird es merken, wenn du lügst.« Dann war der Häuptling auch schon verschwunden.

»Wovon redet der?« fragte Measure.

»Ich wünschte, ich wüßte es«, antwortete Al. »Es wird mir schwerfallen, die Wahrheit zu sagen, wenn ich gar nicht weiß, was die Wahrheit ist.«

Schon bald kamen die Decken. Al kuschelte sich an seinen großen Bruder, mehr um Mut zu schöpfen als wegen der Wärme. Gemeinsam flüsterten sie noch eine Weile, versuchten, einen Sinn in das Ganze zu bringen. Wenn Ta-Kumsaw von Anfang an nichts mit der Sache zu tun gehabt hatte, weshalb hatten die Chok-Taw dann seinen und den Namen des Propheten in die Sättel geritzt? Und selbst wenn das ein Täuschungsmanöver gewesen sein sollte, würde es einen schlimmen Eindruck machen, wenn Ta-Kumsaw schließlich doch die Gefangenen bei sich hatte und sie zum Lake Mizogan brachte, anstatt sie einfach nach Hause zurückkehren zu lassen. Es würde mächtig viel Reden verlangen, um diese Sache nicht in einen Krieg münden zu lassen.

Doch schließlich wurden sie müde und schliefen ein.

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