12. Kanonen

Measure hörte sie erst wenige Sekunden vorher kommen, kurz bevor die Tür aufschwang und Licht den Keller durchflutete. Zeit genug, um den letzten Rest Erde beiseite zu werfen, den Lendenschurz in den Hirschledergürtel zu schieben und auf die Kartoffeln zu kriechen.

Sie vergeudeten keine Zeit auf eine Inspektion des Gefängnisses, erspähten folglich auch nicht das Loch, das inzwischen gute zwei Fuß unter der Hinterwand hindurchführte. Statt dessen zerrten sie ihn hinaus und schlugen hinter ihm die Kellertür zu.

»Wie ein Schwein«, meinte Harrison. »Widerlich. Ihr seht aus wie ein Roter.«

»Ihr habt mich doch in dieses Erdloch werfen lassen«, erwiderte Measure. »Da habe ich nicht vor, auch noch sauber herauszukommen.«

»Mein Junge, Ihr habt eine ganze lange Nacht Zeit gehabt, Euch die Sache zu überlegen«, sagte Harrison. »Und jetzt müßt Ihr Euch entscheiden. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie Ihr mir nützlich sein könnt. Entweder, indem Ihr am Leben bleibt und allen davon erzählt, wie man Euren Bruder zu Tode gemartert hat, wie er jede Sekunde einen Schrei ausgestoßen hat. Ihr macht eine gute Geschichte daraus und erzählt auch alles über Ta-Kumsaw und den Propheten, daß sie dabei waren und die eigenen Hände ins Blut des Jungen tauchten. Wenn Ihr eine solche Geschichte erzählt, dann ist es die Sache wert, Euch am Leben zu halten.«

»Ta-Kumsaw hat mein Leben vor Euren Chok-Taw Roten gerettet«, widersprach Measure. »Das ist die einzige Geschichte, die ich erzählen werde. Außer, daß ich natürlich auch erwähnen werde, daß Ihr wolltet, ich solle eine andere Geschichte erzählen.«

»Das habe ich mir gedacht«, meinte Harrison. »Aber selbst wenn Ihr mich angelogen und versprochen hättet, die Geschichte in meiner Fassung zu erzählen, hätte ich Euch wahrscheinlich doch nicht geglaubt. Wir sind uns also einig. Wir treffen die andere Wahl.«

Measure wußte, daß Harrison vorhatte, seinen Leichnam mit allen Spuren der Folter vorzuzeigen. Als Toter konnte er niemandem erzählen, wer ihm die Schnitt- und Brandwunden zugefügt hatte. Nun, dachte Measure, du wirst schon sehen, daß ich so tapfer sterben werde wie ein Mann.

Harrison winkte einem großen, häßlichen Schiffer zu, der an der Wand lehnte.

»Mike Fink, das hier ist ein weißer Überläufer, der allen Schandtaten Ta-Kumsaws und seiner Bande von Kindermördern und Vergewaltigern beigewohnt hat. Ich hoffe, daß Ihr ihm einige seiner Knochen brechen werdet.«

Fink stand da und überlegte. »Ich schätze, er wird mächtig viel Geschrei machen, Gouverneur.«

»Nun, dann müßt Ihr ihn eben knebeln.« Harrison holte ein Taschentuch aus seiner Jackentasche. »Hier, stopft ihm das in den Mund.«

Fink gehorchte. Measure versuchte, den Blick von ihm abzuwenden, versuchte, der Furcht mit Ruhe zu begegnen. Das Taschentuch verstopfte seinen Mund, bis er würgen mußte. Er konnte sich nur beherrschen, indem er langsam und ruhig durch die Nase atmete. Fink band sein eigenes rotes Halstuch so dicht um Measures Gesicht, daß der Knebel noch tiefer in die Kehle gedrückt wurde.

»Knochen brechen, so etwas tun die Roten aber nicht«, meinte Fink. »Meistens schneiden und sengen sie.«

»Nun, wir haben keine Zeit für so etwas. Den Körper könnt Ihr auch noch ansengen, nachdem er tot ist. Es geht uns darum, eine farbenfrohe Leiche zu erhalten, Mike, nicht darum, diesem Jungen Schmerz zuzufügen. Wir sind schließlich keine Wilden, zumindest die meisten von uns.«

Mike gluckste, dann streckte er den Arm vor, nahm Measure an der Schulter und trat ihm auf die Füße. Nie in seinem Leben hatte Measure sich so hilflos gefühlt. Fink war keinen Zoll größer als er, und Measure kannte einige Ringerkniffe, doch Fink versuchte gar nicht erst, mit ihm zu kämpfen. Einfach nur ein Griff und ein Tritt, und schon lag Measure auf dem Boden.

»Müßt Ihr ihn nicht erst festbinden?« fragte Harrison.

Zur Antwort packte Fink Measures linkes Bein so fest und riß es so hoch, daß Measure über den Boden glitt. Keine Chance, selbst einen Tritt zu plazieren. Dann schlug Fink Measures Bein hart und heftig auf seinen eigenen Oberschenkel. Die Beinknochen brachen wie Zündholz. Measure schrie in den Knebel hinein, dann hätte er fast das Taschentuch eingesaugt, als er nach Luft japste. Nie in seinem Leben hatte er solche Schmerzen erlitten. Einen wahnwitzigen Augenblick lang dachte er: So hat sich Alvin gefühlt, als dieser Mühlstein ihm aufs Bein gefallen ist.

»Nicht hier drin«, sagte Harrison. »Bringt ihn hinaus. Erledigt das im Keller.«

»Wie viele Knochen soll ich ihm brechen?« fragte Fink.

»Alle.«

Fink packte Measure am Arm und am Bein und warf ihn über die Schulter. Trotz seines Schmerzes versuchte Measure den einen oder anderen Hieb zu plazieren, doch Fink riß seinen Arm herunter und brach ihn am Ellenbogen.

Auf dem Weg hinaus war Measure kaum noch bei Bewußtsein. In der Ferne hörte er jemanden rufen: »Wen habt Ihr da?«

Fink brüllte zurück: »Haben einen roten Spion gefangen, der hier herumgeschlichen ist!«

Die Stimme in der Ferne kam Measure irgendwie vertraut vor, doch er konnte sich nicht stark genug konzentrieren, als daß ihm eingefallen wäre, wer es war. »Reißt ihn in Stücke!« rief der andere.

Fink antwortete nicht. Mit einem Tritt öffnete er die Tür und war auch schon hindurchgegangen, als sie wieder zurückschlug und gegen Measures Wade prallte, was den Schmerz noch verstärkte. Warum bin ich noch nicht ohnmächtig? fragte er sich.

Doch er verlor das Bewußtsein nicht. Beide Beine waren oberhalb und unterhalb des Knies gebrochen, die Finger zurückgebogen und aus den Gelenken gerissen, die Hände zermalmt, die Arme an den Ellenbogen zertrümmert — und die ganze Zeit blieb er wach, wenngleich der Schmerz irgendwann in der Ferne beinahe verschwand, bis er eher eine Erinnerung an den Schmerz war als der Schmerz selbst.

In der Ferne ertönte Gejohle.

Jemand kam herbeigelaufen. »Der Gouverneur sagt, Ihr sollt schnell fertig werden, er will Euch sofort sprechen.«

»Ich bin in einer Minute fertig«, erwiderte Fink.«

Er ließ Measure auf den Boden fallen, dann trampelte er auf seinem Brustkasten herum, bis die Rippen fast alle gebrochen waren, um ihn dann an Arm und Haaren ein Stück aufzurichten und ihm das Ohr abzubeißen. Mit einem letzten, verzweifelten Aufwallen des Zorns, spürte Measure, wie es abgerissen wurde. Dann verpaßte Fink seinem Kopf einen scharfen Ruck. Measure hörte, wie sein Genick brach. Fink schleuderte ihn auf die Kartoffeln. Er rollte auf den Rücken und stürzte in das Loch, das er gegraben hatte. Erst als sein Gesicht sich in die Erde senkte, hörte der Schmerz auf, und tiefe Dunkelheit fuhr heran.

Fink ließ die Tür mit einem Tritt zuschnellen, legte den Riegel vor und kehrte ins Haus zurück. Draußen vor dem Haus war das Gejohle noch lauter geworden. Harrison kam ihm aus seinem Büro entgegen. »Laßt die Angelegenheit fürs erste«, sagte Harrison. »Im Augenblick brauchen wir keine Leiche, um die Dinge aufzuheizen. Die Kanonen sind gerade eingetroffen, und wir werden am Morgen angreifen.«

Harrison eilte zur vorderen Veranda, und Mike Fink folgte ihm. Kanonen? Was hatten Kanonen damit zu tun, ob man eine Leiche brauchte oder nicht? Für wen hielt er Mike eigentlich, für einen Mörder etwa? Hooch umzubringen war eine Sache gewesen, und einen Mann in einem fairen Kampf zu töten, das war eine andere. Aber einen jungen Mann mit einem Knebel im Mund umzubringen, das konnte man mit nichts vergleichen. Als er das Ohr abgebissen hatte, hatte er sich einfach unwohl gefühlt. Es war keine Trophäe eines fairen Kampfes gewesen. Es hatte ihn richtig deprimiert. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, auch noch das andere Ohr abzubeißen.

Mike stellte sich neben Harrison und sah zu, wie die Pferde die vier Kanonen stramm zogen. Er wußte, wie Harrison diese Geschütze einsetzen wollte, er hatte seine Planung mitbekommen. Zwei hier, zwei dort, so sie die rote Stadt von zwei Seiten mit Feuer bestreichen konnten.

Das ist nicht meine Art von Kampf, dachte Mike. Überhaupt keine Herausforderung, als würde man auf Froschkindern herumtrampeln. So etwas kann man tun, ohne darüber nachzudenken. Aber dann nimmt man die toten Frösche nicht auf, stopft sie aus und hängt sie an die Wand, so etwas tut man einfach nicht.

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